Die Organisation des Terrors - Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945 Die Organisation des Terrors - Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945 - eBook-Ausgabe
„Eine erschütternde Lektüre“ - Der Tagesspiegel
Die Organisation des Terrors - Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945 — Inhalt
Die Terror-Agenda der Nationalsozialisten
Lange galten Himmlers Dienstkalender der beiden letzten Kriegsjahre als verschollen – bis man sie in einem russischen Archiv in der Nähe von Moskau fand. Die darin erfolgten Eintragungen sind deshalb so brisant, weil dieser Zeitraum den Höhepunkt der deutschen Gräueltaten an den Völkern Europas markiert. Erstmals werden sie nun durch ausgewiesene Experten für die Geschichte des Holocaust und der NS-Diktatur entschlüsselt und einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Der spektakuläre Fund belegt, wie diese Verbrechen vom Reichsführer-SS initiiert und organisiert wurden. Die Kalendernotizen zeigen zudem, wer an diesen Entscheidungen beteiligt war, wer zum engsten Kreis um Himmler gehörte und wie jene Männer handelten, die Europa zerstörten und für den größten Massenmord der Geschichte verantwortlich sind.
Leseprobe zu „Die Organisation des Terrors - Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943-1945“
Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943–1945
Im Spätherbst 1945 trafen in Moskau mehr als 2600 Kisten mit deutschen Dokumenten ein, die Sondereinheiten der Roten Armee und des Geheimdienstes NKWD in Niederschlesien in ihren Besitz gebracht hatten. Im März 1946 wurden diese Unterlagen zusammen mit weiteren Beuteakten, die inzwischen in der sowjetischen Hauptstadt eingetroffen waren, an das neu geschaffene Sonderarchiv des Innenministeriums der UdSSR übergeben. Unter den mehr als 1,5 Millionen Akten befanden sich auch Aufzeichnungen des Persönlichen [...]
Der Dienstkalender Heinrich Himmlers 1943–1945
Im Spätherbst 1945 trafen in Moskau mehr als 2600 Kisten mit deutschen Dokumenten ein, die Sondereinheiten der Roten Armee und des Geheimdienstes NKWD in Niederschlesien in ihren Besitz gebracht hatten. Im März 1946 wurden diese Unterlagen zusammen mit weiteren Beuteakten, die inzwischen in der sowjetischen Hauptstadt eingetroffen waren, an das neu geschaffene Sonderarchiv des Innenministeriums der UdSSR übergeben. Unter den mehr als 1,5 Millionen Akten befanden sich auch Aufzeichnungen des Persönlichen Stabes des Reichsführers-SS Heinrich Himmler, u. a. die von seiner SS-Adjutantur geführten täglichen Terminblätter für die Jahre 1937/38 sowie 1941–1944. Die 1954 vom KGB übernommenen Bestände blieben bis zum Ende der Sowjetunion für die Forschung unzugänglich. Anfang der 1990er-Jahre wurden dann die Diensttagebücher für die Jahre 1941/42 „entdeckt“ und 1999 veröffentlicht. Die entsprechenden Aufzeichnungen für die Jahre 1943/44 blieben bis auf Weiteres verschwunden.
2013 vereinbarte das Deutsche Historische Institut in Moskau mit dem Verteidigungsministerium der Russischen Föderation und dessen Zentralarchiv in Podolsk eine Digitalisierung der dort befindlichen Wehrmachtsunterlagen. Im Bestand 500, Findbuch 12493, der Akten der SS und Polizei enthält, fanden sich zwei dicke Ordner, die die verloren geglaubten Terminblätter für 1943 und 1944 enthielten. Das Sonderarchiv in Moskau hatte die Himmler-Aufzeichnungen mit weiterem Aktenmaterial in den 1960er-Jahren an das Militär übergeben. Mehr als siebzig Jahre nach Kriegsende können sie nunmehr dank gemeinsamer deutsch-russischer Anstrengungen der Öffentlichkeit vorgelegt werden.
Der Dienstbetrieb des Persönlichen Stabes Reichsführer-SS und Himmlers SS-Apparat
Seit Himmler im Januar 1929 Chef der damals noch kleinen SS – gerade einmal 280 Mann stark – wurde, übernahm er während der NS-Diktatur immer mehr Funktionen, von denen hier nur eine Auswahl genannt werden soll: Reichsführer-SS und Chef der deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern (17. Juni 1936), Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums (7. Oktober 1939), Verantwortlicher für die Partisanenbekämpfung im Gebiet der Zivilverwaltung (18. August 1942), Reichsminister des Innern (24. August 1943), Chef der Heeresrüstung und Befehlshaber des Ersatzheeres (20. Juli 1944), Bevollmächtigter für die Reform der Wehrmacht (2. August 1944), Chef des Kriegsgefangenenwesens (1. Oktober 1944), Beauftragter des Führers für die Organisation des nationalen Widerstandes im Osten (18. Oktober 1944). Dazu fungierte er ab dem 30. November 1944 als Oberbefehlshaber Oberrhein, vom 21. Januar bis 21. März 1945 befehligte der RF-SS die Heeresgruppe Weichsel. Obgleich Himmler nicht selten seine Kompetenzen auf ihm vertraute Mitarbeiter übertrug, lässt die beeindruckende Machtfülle erahnen, welche Schlüsselrolle Himmler innerhalb des NS-Regimes, gerade im Verlauf der zweiten Kriegshälfte, innehatte. Mit seiner Ämterhäufung erreichte Himmler, der zugleich die Verantwortung für den Holocaust, die blutige Besatzungspolitik und das KZ-System trug, eine Machtposition, die nur von der Hitlers übertroffen wurde.
In Himmlers unmittelbarer Umgebung herrschte ein reger Betrieb verschiedener Adjutanturen und Stäbe der SS und Polizei. Eine zentrale Stellung nahm hierbei der Persönliche Stab Reichsführer-SS ein, dessen Führung Himmler nach einer Operation des langjährigen Chefs des Stabes, SS-Obergruppenführer Karl Wolff, im März 1943 selbst übernommen hatte. Für den unmittelbaren Dienstbetrieb beim RF-SS waren seine verschiedenen Abteilungen zuständig. Die Hauptabteilung „Persönliches Referat“ im Persönlichen Stab stand unter der Führung von Dr. Rudolf Brandt, der sich fast immer in der unmittelbaren Umgebung seines Chefs aufhielt. Mit umfangreichen Vollmachten ausgestattet, zeichnete Brandt als besondere Vertrauensperson für alle an Himmler herangetragenen Vorgänge zuständig, die die Allgemeine SS betrafen. Als Reichsminister des Innern setzte ihn Himmler später auch als Leiter des Ministerbüros ein. Brandt bündelte beim täglichen Postvortrag wichtige Schreiben und beantwortete Teile der Korrespondenz in eigener Verantwortung oder auf Weisung Himmlers. Zudem konnte er nicht selten entscheiden, wer unmittelbaren Zugang zum RF-SS erhielt. Als Chef der Polizei-Adjutantur amtierte im Persönlichen Stab Willy Suchanek. Der Verbindungsoffizier des Hauptamtes Ordnungspolizei zum RF-SS berichtete Himmler über polizeiliche Angelegenheiten und unterstützte ihn in der Befehlsgebung. Außerdem hatte der RF-SS mit der Hauptabteilung „SS-Richter“ die SS- und Polizeigerichtsbarkeit in seinem Persönlichen Stab verankert. Deren Chef Horst Bender lieferte Himmler nicht nur Entwürfe oder Vorschläge in juristischen Angelegenheiten von SS und Waffen-SS, er setzte dessen Entscheidungen als Oberster Gerichtsherr gelegentlich auch vor Ort durch. Die Waffen-SS wurde im Persönlichen Stab durch die Hauptabteilung Adjutantur Waffen-SS unter Werner Grothmann vertreten. Grothmann führte nicht nur den Dienstkalender und plante die Reisen Himmlers. Er war zudem für die Angelegenheiten der Waffen-SS verantwortlich und hielt den Kontakt zu deren Einheiten an der Front. Wie Brandt, Suchanek und Bender fungierte auch Grothmann als Übermittler von Informationen und war als Vorlagen-Geber unmittelbar an Entscheidungsprozessen des RF-SS beteiligt. Über die Strukturen seines Persönlichen Stabes konnte Himmler an den regulären Dienstwegen vorbei sowohl hinsichtlich der SS, aber auch in Partei und Staat Entscheidungen treffen bzw. Anliegen durchsetzen. Offizieller Dienstsitz des Persönlichen Stabes war die Prinz-Albrecht-Straße 8 in Berlin.
Mit Kriegsbeginn übte der RF-SS seine Tätigkeit überwiegend von sogenannten Feldkommandostellen aus, die zumeist in der unmittelbaren Nähe des Führerhauptquartiers lagen. Die Feldkommandostelle in Ostpreußen, eine Dreiviertelstunde von Hitlers „Wolfsschanze“ entfernt, trug den Namen „Hochwald“; das Quartier in Schitomir unweit des Führerhauptquartiers „Werwolf“ bei Winniza hieß „Hegewald“. Wenn sich Hitler auf dem Berghof bei Berchtesgaden aufhielt, bezog der RF-SS die bei Salzburg gelegene Feldkommandostelle „Bergwald“. Als Oberbefehlshaber Oberrhein nutzte er ab Ende Dezember 1944 die Feldkommandostelle „Tannenwald“, die sich auf Schloss Kransberg befand. Seine letzte Feldkommandostelle, „Birkenhain“, lag nördlich von Berlin bei Prenzlau, er übernahm sie am 1. Februar 1945 als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel. Das Gelände der Feldkommandostellen umfasste jeweils einen Gebäudekomplex mit Bahnanschluss samt Abstellgleis für den Sonderzug „Steiermark“. Für den Betrieb und die Sicherung der jeweiligen Feldkommandostelle waren bis zu 500 Mann abgestellt, hinzu kamen 88 SS-Leute als Zugbesatzung. Von den Feldkommandostellen aus unternahm der RF-SS zahlreiche Dienst-, Inspektions- und Frontreisen. Allein im ersten Halbjahr 1944 legte er auf 28 Flugreisen 16000 Flugkilometer zurück, 5310 Kilometer reiste Himmler mit dem Sonderzug und weitere 4835 Kilometer mit dem Pkw.
Neben dem Persönlichen Stab des RF-SS spielten die weiteren elf SS-Hauptämter eine Schlüsselrolle sowohl für den internen Dienstbetrieb der SS als auch für Himmlers politische Einflussnahme. Das SS-Hauptamt unter Gottlob Berger war vor allem für die Werbung von Rekruten und Freiwilligen für die Waffen-SS verantwortlich; außerdem lag in den Händen Bergers die politisch-ideologische Schulung der SS. Zu den Aufgaben des SS-Führungshauptamtes unter der Leitung von Hans Jüttner zählten die Aufstellung, Ausrüstung und Bewaffnung von Verbänden der Waffen-SS, die Ausbildung der SS-Führer, Unterführer und Spezialisten sowie die ärztliche Versorgung der SS-Soldaten. Dem von Ernst Kaltenbrunner geführten Reichssicherheitshauptamt unterstanden die Geheime Staatspolizei, der Sicherheitsdienst des RF-SS sowie die Kriminal- und Grenzpolizei. Es gliederte sich in sieben Ämter, von denen vor allem die Ämter IV (Gegnererforschung und -bekämpfung/Heinrich Müller), V (Reichskriminalpolizeiamt/Arthur Nebe) und VI (SD Ausland/Walter Schellenberg) für Himmler als Repressionsorgane von zentraler Bedeutung waren. Dem Hauptamt Ordnungspolizei stand Kurt Daluege vor, dem die Führung der uniformierten deutschen Polizei oblag. Im Sommer 1943 wurde er von Alfred Wünnenberg abgelöst, den Himmler allerdings nur mit der „Führung der Geschäfte“ beauftragte. Zahlreiche Polizeibataillone und -regimenter der Ordnungspolizei waren in den besetzten Gebieten bei der Partisanenbekämpfung eingesetzt und immer wieder an Mordaktionen beteiligt.
Das SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt war im März 1942 durch Oswald Pohl geschaffen worden. Seine fünf Amtsgruppen verwalteten die SS-eigenen Betriebe und Unternehmen. Das von Richard Glücks geführte Amt D (Konzentrationslagerwesen) zeichnete für das gesamte KZ-System verantwortlich; da der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz, Fritz Sauckel, ebenfalls Zugriff auf die KZ-Häftlinge verlangte, kam es immer wieder zu Konfrontationen mit diesem. Der Chef der Amtsgruppe C (Bauwesen), Hans Kammler, stieg in den letzten beiden Kriegsjahren kometenhaft auf; durch die von ihm betreute Untertageverlagerung der deutschen Rüstungsproduktion und seine Schlüsselstellung bei verschiedenen Waffenprogrammen – der V2-Rakete, dem Strahljäger Me-262 und dem Versuch, eine deutsche Atombombe zu entwickeln – wurde Kammler für Himmler im Machtpoker der Endphase zu einer immer wichtigeren Figur.
Das Hauptamt SS-Gericht lag in den Händen von Franz Breithaupt. Ihm unterstand das gesamte SS- und Polizeigerichtswesen, Anfang 1945 wurden seine Kompetenzen auch auf die Kriegsgefangenen ausgedehnt. Als Oberster Gerichtsherr behielt sich Himmler in einer Vielzahl von Fällen die letzte Entscheidung vor, insbesondere wenn es um straffällig gewordene SS-Männer und Polizisten ging. Mit dem Chef des SS-Personalhauptamtes, Maximilian von Herff, regelte Himmler zahlreiche Personalfragen des mittleren und höheren SS-Führerkorps, wobei seine Entscheidungen immer wieder „Besetzungskarusselle“ auslösten.
Dem Rasse- und Siedlungshauptamt stand Richard Hildebrandt vor. Das Hauptamt Volksdeutsche Mittelstelle, es zeichnete für die außerhalb des Deutschen Reiches lebenden „Volksdeutschen“ verantwortlich, wurde von Werner Lorenz geleitet. Eng mit ihm arbeitete das Stabshauptamt des Reichskommissars für die Festigung deutschen Volkstums zusammen, an dessen Spitze Ulrich Greifelt stand. Dem Hauptamt Dienststelle SS-Obergruppenführer Heißmeyer oblag schließlich die Führung der Nationalpolitischen Erziehungsanstalten.
Mit der Schaffung der Höheren SS- und Polizeiführer, regionaler Vertreter des RF-SS, hatte Himmler 1937 einen wichtigen Schritt zur Verschmelzung von SS und Polizei getan. Während des Krieges erlangten die von ihm persönlich ernannten HSSPF in den besetzten Gebieten eine Schlüsselstellung, da sie auf alle Kräfte von SS und Polizei zugreifen konnten. Besonders im besetzten Osteuropa setzten sie im Rahmen des Massenmordes an den Juden und bei der Partisanenbekämpfung Himmlers Vorstellungen einer harten Okkupationspolitik brutal durch. Ihr Einfluss stieg stetig, und gegen Ende des Krieges standen die HSSPF mit den SS-Hauptamtschefs auf einer Stufe.
Heinrich Himmler – Herr über die „innere Sicherheit“
Die Vernichtungspolitik des „Dritten Reiches“ erfolgte in enger Abstimmung zwischen Hitler und Himmler. In seinen rassistischen Vorstellungen nicht weniger radikal als der „Führer“, setzte Himmler ihrer beider Vorstellungen von der ethnischen und geografischen „Neuordnung“ Europas in Erlasse, Befehle und Anordnungen um, die den Tod von Millionen Menschen zur Folge hatten.
Hitler ist die wichtigste Bezugsperson im Dienstkalender. Für die Zeit von Januar 1943 bis März 1945 sind insgesamt 168 Treffen vermerkt, d. h. Hitler und der RF-SS trafen sich durchschnittlich etwa sechs Mal pro Monat. Die Periode, in der sie am häufigsten konferierten, fiel in die zweite Jahreshälfte 1943: Von August bis November 1943 sind 60 Zusammenkünfte verzeichnet. Die 21 Begegnungen im August 1943 veranschaulichen die enorme Bedeutung, die der RF-SS mit seinen verschiedenen Funktionen für Hitler inzwischen erlangt hatte. In diesem Monat spiegelt sich ihr Binnenverhältnis in komprimierter Form wider.
Die Entmachtung Mussolinis Ende Juli 1943 verursachte eine militärpolitische Krise. Zum Krieg in Osteuropa kam nun ein neuer Kriegsschauplatz in Süditalien hinzu. Er band zusätzliche Kräfte und erforderte für die Durchsetzung der Kriegs- und Vernichtungspolitik erfahrenes Personal. Hitler und Himmler beschlossen, den langjährigen Chef des Persönlichen Stabes RF-SS, SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS Karl Wolff, als HSSPF nach Italien zu entsenden. Unter Wolffs Kommando betrieben die Deutschen jetzt auch die Deportation der italienischen Juden.
In den Spätsommer und Herbst 1943 fiel die Endphase der „Aktion Reinhardt“. Zwischen Juli 1942 und November 1943 wurden etwa 1,5 Millionen Menschen aus ganz Europa in den Vernichtungslagern Treblinka, Belzec, Sobibor und im Konzentrationslager Lublin ermordet. Ein halbes Jahr später, im Mai 1944, verzeichnet der Dienstkalender noch einmal einen erhöhten Kommunikationsbedarf zwischen Hitler und Himmler. In diesem Monat begannen die Deportationen von über 450000 ungarischen Juden, von denen bis Juli 1944 über 320000 in den Gaskammern von Auschwitz ermordet wurden.
Am Abend des 20. August 1943 ernannte Hitler den RF-SS zum Reichsminister des Innern. Spätestens seit dem 16. August wusste Himmler von der unmittelbar bevorstehenden Umstrukturierung, denn an diesem Tag sprach er mit Kaltenbrunner am Telefon über die „Neuorganisation [des] M[inisteriums] d[es] I[nnern]“. Bei seinem Dienstantritt machte Himmler unmissverständlich klar, dass er die Behörde nicht als Minister, sondern als RF-SS führen werde; die Beamten hatten ihn mit „Reichsführer“ anzuschreiben, das Ministerbüro wurde ausgegliedert. Die praktische Leitung vertraute er zwei bewährten SS-Gruppenführern an, den Staatssekretären Wilhelm Stuckart (Inneres) und Leonardo Conti (Gesundheit).
Elf Monate nach seiner Ernennung zum Reichsminister des Innern, im Juli 1944, wurde Himmlers Machtbereich noch einmal erheblich ausgeweitet. Auslöser war das missglückte Attentat vom 20. Juli 1944. An diesem Tag ernannte Hitler um 17:00 Uhr den RF-SS zum Befehlshaber des Ersatzheeres (BdE) und unterstellte ihm damit die über zwei Millionen Mann an der „Heimatfront“. Anschließend flog Himmler nach Berlin, um die Lage in der Reichshauptstadt in den Griff zu bekommen. Überraschend kam seine Ernennung nicht, obwohl die SS am 20. Juli 1944 ihre „ursprüngliche und vornehmste Aufgabe […] für den Schutz des Führers zu sorgen“, nicht erfüllt hatte. Wie bereits im August 1943 erwuchsen aus einer Gefahrenlage für Hitler zusätzliche Kompetenzen für den RF-SS auf dem Gebiet der „inneren Sicherheit“.
Die meisten der elf Treffen im Monat Juli 1944 standen allerdings nicht mit dem Stauffenberg-Attentat in Zusammenhang, sondern lagen vor dem 20. Juli. Sie lassen sich auch nicht mit der am 6. Juni 1944 erfolgten Landung amerikanischer und britischer Truppen in der Normandie erklären, einem Ereignis, das keine unmittelbaren Auswirkungen auf die Intensität der gemeinsamen Treffen hatte. Erst als sowjetische Verbände am 22. Juni 1944 die Großoffensive „Bagration“ eröffneten, stieg die Zahl der Besprechungen spürbar an. Binnen weniger Tage zertrümmerte die Rote Armee die Heeresgruppe Mitte, die mehr als 400000 Mann verlor. Die daraus resultierende militärische Katastrophe der Wehrmacht dürfte der Hauptgrund für die vielen Zusammenkünfte in der ersten Julihälfte gewesen sein. Himmler hatte mit SS und Waffen-SS ein variabel einsetzbares Instrument anzubieten, das es Hitler erlaubte, die Verluste an der Front punktuell auszugleichen. Dazu dienten auch die zahlreichen Neuaufstellungen von Verbänden der Waffen-SS. Zudem sollte der RF-SS das Kommando über das Ersatzheer übernehmen, um Hitlers Forderung nach neuen Soldaten für die Front umzusetzen.
Das dienstliche Verhältnis Hitlers und Himmlers fand laut Dienstkalender am 20. Februar 1945 sein offizielles Ende. Der endgültige Bruch erfolgte allerdings erst Ende April 1945, als Hitler von Himmlers Bemühungen um einen Separatfrieden mit den westlichen Alliierten erfuhr. Bis dahin war der RF-SS als Herr über die „innere Sicherheit“ der mächtigste Mann im Staat nach Hitler selbst gewesen.
Himmler als Privatperson
Das Privatleben Heinrich Himmlers war ab 1943 auf ein Minimum reduziert, zumal er mit der zunehmenden Machtfülle und Ämterhäufung ständig zusätzliche Aufgabenfelder bearbeiten musste. Seine Tage in und außerhalb der Feldkommandostelle waren randvoll mit Terminen gespickt. Selbst Freizeitaktivitäten ließen sich nicht mehr vom Dienstalltag trennen. Oft ließ Himmler den Tag im Kreis seiner engsten Vertrauten mit „Doppelkopf“ ausklingen, und auch während des Kartenspiels wurden Dienstangelegenheiten besprochen und wichtige Entscheidungen getroffen.
Für Zerstreuung blieb wenig Zeit. Sogar die Filmvorführungen in der Feldkommandostelle hatten mehrheitlich dienstliche Funktion. In der ersten Hälfte des Jahres 1943 verpasste Himmler keine Wochenschau; nach Dienstreisen ließ er sich die versäumten Ausgaben nachträglich vorführen. Bisweilen kritisierte er die Machart einzelner Beiträge. Später ließ sein Interesse an der Wochenschau nach. Die Filmvorführungen in der Feldkommandostelle galten in der Regel Dokumentarfilmen, die mit seinem Aufgabenfeld oder der allgemeinen Kriegführung zusammenhingen. Unterhaltungsfilme wie „Münchhausen“ oder „Die Feuerzangenbowle“ blieben eine Ausnahme. Letzteren sah sich Himmler zusammen mit Hitler, Keitel und Dönitz in der Wolfsschanze an.
Himmler war zwar von schwächlicher körperlicher Konstitution, aber im Großen und Ganzen gesund. Im Dienst- und Tischkalender finden sich nur wenige Tage, die Himmler aufgrund von Krankheit ganz oder teilweise im Bett verbringen musste. Lediglich im März 1945 ließ sich Himmler für längere Zeit im Sanatorium in Hohenlychen behandeln, doch scheint weniger eine angebliche Angina als vielmehr die Flucht vor der Verantwortung als Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Weichsel der Grund hierfür gewesen zu sein.
In Anbetracht seines Lebensstils erstaunt Himmlers robuste Gesundheit. Sportliche Aktivitäten lassen sich an einer Hand abzählen. Der eigentliche Garant für Himmlers Wohlbefinden war der finnische Medizinalrat Felix Kersten, der sich mit einer auf Nervenreflexbehandlung basierenden wirkungsvollen Massagetherapie einen Namen gemacht hatte und Himmler seit 1939 behandelte. Seine Anwendungen sorgten dafür, dass der RF-SS arbeitsfähig blieb. Über die Jahre hatte sich zwischen beiden ein besonderes Vertrauensverhältnis entwickelt, das offenbar den Grad einer privaten Freundschaft erreichte. Kersten war auch privat immer wieder Himmlers Gast.
Einen wichtigen Platz in Himmlers Kalender nimmt seine Familie ein. Himmler hatte 1928 die geschiedene Krankenschwester Margarete Siegroth, geb. Boden, geheiratet. Aufgrund von Komplikationen bei der Geburt der gemeinsamen Tochter Gudrun im Jahr darauf konnte das Paar keine weiteren Kinder bekommen. Mutter und Tochter wohnten in Gmund am Tegernsee. Von seinen Feldkommandostellen aus telefonierte Himmler regelmäßig mit beiden, zudem schrieb er ihnen häufig Briefe und versorgte sie mit Geschenkpaketen.
Offizielle Termine in München verband Himmler gern mit einem privaten Abstecher nach Gmund. Meistens besuchte er zuvor das Grab seiner Eltern auf dem Münchener Südfriedhof. 1943 reiste Himmler zehn Mal nach Gmund, 1944 waren es immerhin noch sieben Besuche. Auf dem Grundstück befand sich zwar ebenfalls eine SS-Kommandostelle mit Büroräumen, doch ließ Himmler seine Dienstgeschäfte in Gmund meist ruhen. Vor allem widmete er sich dort seiner Tochter Gudrun („Püppi“), während das Verhältnis zu „Marga“ seit Längerem getrübt war. Der Grund hierfür war Himmlers außereheliche Beziehung.
Seit Ende 1938 hatte Himmler ein Verhältnis mit seiner zwölf Jahre jüngeren damaligen Privatsekretärin Hedwig Potthast, die er „Häschen“ nannte. Aus der Beziehung gingen zwei Kinder hervor. Um die Liaison geheim zu halten, hatte Potthast vor der Geburt des ersten Kindes den Persönlichen Stab RF-SS verlassen. Sie führte ein zurückgezogenes Leben in Berlin-Grunewald, später in Brückentin bei Hohenlychen und schließlich im oberbayerischen Schönau. Wie aus Briefen an ihre Schwester hervorgeht, fügte sie sich in die Rolle der Wartenden. Wie oft Himmler sie besuchte, lässt sich über den Dienstkalender nur indirekt erschließen. Im Frühjahr 1943 wurden die Tête-à-Tête im Dienstkalender als „Inspektionsreise“ bezeichnet, im März 1944 mit „Mark Brandenburg“ umschrieben. In den meisten Fällen wurde schlicht „unterwegs“ eingetragen, oder das entsprechende Dienst- und Tischkalenderblatt blieb leer. In vielen Fällen deutet die geografische Nähe des genutzten Flughafens auf einen Besuch bei der Geliebten hin. So legt der Dienstkalender nahe, dass der Umzug Hedwig Potthasts und ihres Sohnes Helge von Berlin-Grunewald nach Brückentin Anfang Juni 1943 stattfand. Fortan nutzte der RF-SS auffallend häufig den in der Nähe gelegenen Flughafen Rechlin.
1943 besuchte Himmler seine „Zweitfamilie“ mindestens 15 Mal. Im darauffolgenden Jahr lassen sich 18 Besuche in Brückentin und Schönau feststellen. Mit Sicherheit sah Himmler seine Geliebte weitaus öfter als seine Frau. Dennoch hielt er an seiner Ehe fest und schmiedete für die Zeit nach dem Krieg Pläne sowohl mit Hedwig Potthast als auch mit Marga Himmler.
Im Falle seiner Brüder Gebhard (1898–1982) und Ernst (1905–1945) Himmler, die beide im Windschatten Heinrichs Karriere gemacht hatten, verschwimmen die Grenzen zwischen Dienstlichem und Privatem. Bei den im Dienstkalender verzeichneten Treffen wurden die Brüder mit ihrem SS-Dienstgrad angeführt, was den Terminen einen offiziellen Anstrich verlieh. Es ist dennoch davon auszugehen, dass bei den Treffen in erster Linie familiäre Angelegenheiten besprochen wurden. So beschaffte Himmler den Familien seiner Brüder Ausweichquartiere für einen Umzug aus dem von Luftangriffen betroffenen Berlin. Im März 1943 brachte er Gebhards Frau Hilde mit ihren drei Kindern im Gästehaus von Gmund unter – sehr zum Missfallen seiner eigenen Frau, die mit ihrer Schwägerin häufig im Streit lag. Ernst wiederum erhielt für seine Ehefrau Paula und die vier Kinder im August 1943 einen geraubten polnischen Gutshof im Warthegau zugesprochen.
In der Endphase des Krieges, als die Front näher rückte, entsprach Himmler immer weniger den hehren Idealen, die er verkündete. Während er von seinen SS-Leuten blinde Siegeszuversicht und unbedingten Durchhaltewillen forderte, machte er sich selbst keine Illusionen über den weiteren Kriegsverlauf. Einen gravierenden Bruch mit dem Selbstverständnis der SS, das auf einem besonderen Treueverhältnis zum „Führer“ basierte, stellten insbesondere seine Geheimverhandlungen mit den westlichen Alliierten dar, die er Hitler gegenüber verschwieg. Er zeigte sich auch nicht bereit, den Untergang des Großdeutschen Reiches als sein persönliches Ende zu verstehen: Sich wie andere SS-Führer gemeinsam mit seiner Familie das Leben zu nehmen kam für ihn nicht in Betracht. Vielmehr schickte er seinen Adjutanten Paul Baumert in den Süden, um seine beiden Familien in Sicherheit bringen zu lassen, er selbst begab sich mit einigen Vertrauten nach Flensburg, um sich der Regierung Dönitz anzuschließen. Der entließ ihn am 6. Mai 1945 aus allen Ämtern. Nach der deutschen Kapitulation versuchte Himmler, mit falschen Papieren, einer Wehrmachtsuniform und einer Augenklappe notdürftig getarnt, sich nach Süden abzusetzen. Bei einer britischen Kontrolle im Raum Lüneburg wurde er aufgegriffen und rasch identifiziert. Am 23. Mai 1945 nahm er sich in Haft das Leben.
„Siebzig Jahre lang galt der Dienstkalender Heinrich Himmlers aus den letzten Kriegsjahren als verschollen – bis man die Aufzeichnungen 2015 in einem Archiv in der Nähe von Moskau fand. Ihr Inhalt ist deshalb so brisant, weil die Jahre 1943 bis 1945 den Höhepunkt der nationalsozialistischen Gräueltaten markieren. Erstmals werden diese Unterlagen nun durch ausgewiesene Experten für die Geschichte des Holocaust und der NS-Diktatur entschlüsselt und zugänglich gemacht. Der spektakuläre Fund belegt, wie „Die Organisation des Terrors” vom Reichsführer-SS initiiert wurde, wer an diesen Entscheidungen beteiligt war, wer zum engsten Kreis um Himmler gehörte und wie jene Männer handelten, die Europa zerstörten. ”
Felicitas von Lovenberg
„Uneingeschränkten Respekt verdienen die fünf Herausgeber für ihre wissenschaftliche und editorische Pionierleistung.“
„Die zentrale Quelle für die zweite Kriegshälfte. Es gibt kein vergleichbares Tagebuch. (...) Himmlers Kalender ist ein echter Sensationsfund!“
„Kein Buch für den Büchertisch. Ein Band zum Grausen. Ein Menetekel auf Papier, zum Denken und Gedenken. Unvermeidlich. Unverzichtbar.“
„Die historische Wahrheit wird auf Dauer stärker sein als alle Versuche, sie zu leugnen. Und damit das so bleiben kann, muss es immer wieder solche Bücher geben. Bücher, die einfach da sind.“
„Die exzellente Edition des Dienstkalenders 1943 bis 1945 erschließt ungeahnt umfangreiches Material für weitere Forschungen. Doch schon ein schneller Blick offenbart die ungeheure Verlogenheit des NS-Regimes und der SS, des ›schwarzen Ordens‹, der alles Mögliche war, nur ganz sicher keine Elite.“
„Eine erschütternde Lektüre“
„Die 1148 Seiten sind ein authentisches Dokument. Sie offenbaren das Grauen, das Himmler über ganz Europa brachte, in oft erschreckend biederen Worten.“
„(Die einzelnen Tagespunkte von Heinrich Himmler) ergeben natürlich keine Biographie, die viel mehr einordnet und bewertet, als die Auswertung dieser Ansammlung von Rohdaten. Aber das Wirken dieses Mannes, der sich zur zweitmächtigsten Figur des Dritten Reiches hinter Adolf Hitler emporarbeitete, wird beim Lesen deutlich.“
„Eine herausragende Dokumentation“
„(Das Buch) ist von abstoßender Wucht!“
„Es ist unfassbar. Und es bleibt unfassbar – auch nach der hervorragend editierten Lektüre des Dienstkalenders von Heinrich Himmler aus den Jahren 1943 bis 1945.“
„Seinen überragenden Wert erhält das Buch (…) durch die weit über eintausend Fußnoten und die Anmerkungen im Text selbst. Sie erklären die Geschichte hinter den dürren Einträgen und versetzen uns in die Lage, ein detailliertes Bild von der Amtsführung Heinrich Himmlers zu erhalten – und sie laden zu weiteren Forschungen ein.“
„Die bewundernswert detaillierte und mit aufwendigen Kommentaren versehene Edition enthüllt Himmlers Management des Todes.“
„Wohl kaum ein Dokument veranschaulicht die sogenannte ›Banalität des Bösen‹ so gut wie dieses Diensttagebuch.“
„Erst in dem Zusammenspiel zwischen den meist lapidaren Kalendereinträgen und dem von den Forschern akribisch recherchierten oft ungeheuerlichen Tagesgeschehen entfaltet die Publikation ihre ganze Wirkung.“
„Die Geschichte des Holocaust muss nicht neu geschrieben werden. Doch ist nun – nach den Editionen von Himmlers Kalendern für die Jahre 1940 und 1941/42 – die Tätigkeit eines der wichtigsten Akteure des NS-Regimes im Krieg so vollständig und detailliert dokumentiert wie kaum eines anderen.“
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