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Die Richterin und das Todesspiel (Ein Fall für Mathilde de Boncourt 8) Die Richterin und das Todesspiel (Ein Fall für Mathilde de Boncourt 8) - eBook-Ausgabe

Liliane Fontaine
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Ein Südfrankreich-Krimi

— Spannende Urlaubslektüre – nicht nur für Frankreich-Fans
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€ 12,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 04.04.2025 In den Warenkorb
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Die Richterin und das Todesspiel (Ein Fall für Mathilde de Boncourt 8) — Inhalt

Ein eiskalter Mord im Spätsommer Südfrankreichs

In Nîmes hält der Verein „Freunde der Monarchie“ seine Jahrestagung ab. Die skurrile Forderung: Die französische Krone soll wieder das Land regieren. Es wird mit Protesten gerechnet, doch als ein Vorstandsmitglied ermordet wird, sind Mathilde de Boncourt und ihr Team gefragt. Ihre Ermittlungen deuten schnell auf ein Mitglied des französischen Adels hin, denn der Tote schrieb an einem Enthüllungsbuch über den wahren Erben des französischen Throns. Sah der Täter sich von dem Buch bedroht? Das einzige Manuskript ist verschwunden, und schon bald geschieht ein zweiter Mord …

Mathilde de Boncourt ermittelt:

Band 1: Die Richterin und die Tote vom Pont du Gard
Band 2: Die Richterin und die tote Archäologin
Band 3: Die Richterin und der Kreis der Toten
Band 4: Die Richterin und das Ritual des Todes
Band 5: Die Richterin und der Tanz des Todes
Band 6: Die Richterin und das Erbe der Toten
Band 7: Die Richterin und der Todesbote
Band 8: Die Richterin und das Todesspiel

Alle Bände sind in sich abgeschlossene Fälle und können unabhängig voneinander gelesen werden.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erscheint am 04.04.2025
384 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-32038-2
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€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erscheint am 04.04.2025
352 Seiten
EAN 978-3-492-60928-9
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Leseprobe zu „Die Richterin und das Todesspiel (Ein Fall für Mathilde de Boncourt 8)“

Kapitel 1

Paris

Fünf Monate zuvor

Jean-Marie de Plessis mochte Großstädte grundsätzlich nicht. Keine einzige fand Gnade vor seinen Augen. London, vollgestopft mit modernen, hässlichen Bauten, die dort nicht hingehörten. New York, hier konnte man nachts keinen Fuß vor die Hoteltür setzen, ohne dass man um sein Leben fürchten musste. Nach Berlin war er gar nicht erst gereist, weil die Züge nicht fuhren. Das neu erbaute Stadtschloss hätte ihn schon interessiert, doch als er im Fernsehen etwas über Demonstrationen in der deutschen Hauptstadt gesehen hatte und [...]

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Kapitel 1

Paris

Fünf Monate zuvor

Jean-Marie de Plessis mochte Großstädte grundsätzlich nicht. Keine einzige fand Gnade vor seinen Augen. London, vollgestopft mit modernen, hässlichen Bauten, die dort nicht hingehörten. New York, hier konnte man nachts keinen Fuß vor die Hoteltür setzen, ohne dass man um sein Leben fürchten musste. Nach Berlin war er gar nicht erst gereist, weil die Züge nicht fuhren. Das neu erbaute Stadtschloss hätte ihn schon interessiert, doch als er im Fernsehen etwas über Demonstrationen in der deutschen Hauptstadt gesehen hatte und wie voll es dort war, hatte er den Zugausfall als positive Schicksalsfügung hingenommen. Gut, Demonstrationen hatte Paris ebenfalls zu bieten. Mit Krawallen und allem Drum und Dran. Und überhaupt, es war ihm einfach zu laut und zu voll.

Er zog es vor, auf dem Land zu leben, nannte ein Château aus dem siebzehnten Jahrhundert sein Eigen, in dem er mit seiner Frau Alice, seiner Schwester Veronique, seinen Töchtern Margot und Noemi und den beiden Hunden lebte. Gott sei Dank waren die Vierbeiner der Familie, Beaucerons mit ausgezeichnetem Stammbaum, Rüden. Noch mehr Weiber würden ihn ins Grab bringen, pflegte er scherzhaft zu seinen Freunden zu sagen.

Château de Plessis, wie es nach seinem Erbauer, Florentin de Plessis hieß, war, finanziell betrachtet, ein Groschengrab. Mit dem Geld, das Jean-Marie als freiberuflicher Historiker verdiente, waren keine großen Sprünge zu machen. Seine Veröffentlichungen kauften nur einige wenige historisch Interessierte, ansonsten blieben sie Ladenhüter; ein paar Dutzend Exemplare seines letzten Buches, einhundertachtundsechzig Seiten über Louis le ­Pieux und die Bedeutung des Beinamens, der Fromme. Er hatte das Werk im Selbstverlag herausgegeben, einen Druckkostenzuschuss von seiner Schwester Veronique erhalten und sich gewünscht, der Verkauf würde wenigstens die Herstellungskosten einspielen. Mitnichten. Nun ruhte seine ganze Hoffnung auf dem nächsten Projekt.

Veronique war auch die Person, die es ihnen erlaubte, das Schloss instand zu halten und zu unterhalten. Ehemals verheiratet mit einem Millionär aus Nevada, der sie vor zehn Jahren aufgrund eines plötzlichen Herzstillstandes zur Witwe gemacht hatte, konnte sie die Familie mit dem geerbten Vermögen nicht nur unterstützen, sondern sie sorgte auch dafür, dass notwendige Reparaturen nicht mehr endlos aufgeschoben werden mussten. Der Preis dafür war das lebenslange Wohnrecht im Château, das Jean-Marie ihr eingeräumt hatte. Er selbst kam gut mit seiner Schwester zurecht, im Gegensatz zu Alice, die ihre Schwägerin anfangs am liebsten gleich wieder vor die Tür beziehungsweise das Schlossportal gesetzt hätte.

„Eher lasse ich die Räume gegen Eintritt der Öffentlichkeit zugänglich machen“, hatte sie gesagt, als Veronique den Wunsch äußerte, einige Zimmer im Schloss zu beziehen. Allein der Gedanke, dass wildfremde Menschen die kostbaren Teppiche verschmutzten oder womöglich an den seidenen Tapeten aus dem achtzehnten Jahrhundert herumkratzten, ließen Jean-Marie fast einen Blutsturz erleiden. Gott sei Dank hatte sich die Lage zwischen den beiden Frauen irgendwann beruhigt, auch wenn Alice immer mal wieder gegen Veronique stichelte.

Immerhin sorgte Veronique dafür, dass Margot und Noemi ein Leben in Saus und Braus führen und sich beruflich voll entfalten konnten. Beide lebten in London. Wahrscheinlich hatten sie sich gerade diese Stadt ausgesucht, weil sie wussten, dass ihr Vater eine Reise dorthin meiden würde wie die Pest. Die eine strebte eine Karriere als Modedesignerin an, die andere als Schauspielerin. Noemi hatte bereits einen Werbespot für ein Shampoo gedreht, den sie sich an Weihnachten gemeinsam mindestens zwanzigmal hatten anschauen müssen.

Jean-Marie de Plessis trat in Gedanken an seine Familie versunken auf den vorletzten Zebrastreifen der Avenue des Champs-Élysées, um von dort die Place de la Concorde auf der rechten Seite zu passieren. Nur mit einem beherzten Sprung zurück auf das Trottoir konnte er sich vor einem Lasten-Motorroller retten, dessen Fahrer, ohne mit der Wimper zu zucken, an ihm vorbeiraste.

Paris war Jean-Marie zu jeder Jahreszeit ein Graus, aber ganz besonders im Frühling und Sommer, wenn Touristenströme sich durch die Stadt wälzten. Wenn er allerdings gewissenhaft forschen und recherchieren wollte, führte kein Weg an der Hauptstadt und ihrer Bibliothèque nationale de France vorbei.

Kaum in Paris angekommen, sehnte er sich dann umgehend wieder nach seinem Schloss in der Champagne zurück, nach seinem Arbeitszimmer, diesem Hort der Ruhe, wo ihn niemand stören konnte und durfte. Jetzt war zwar März und Paris nicht ganz so überfüllt, doch es war immerhin noch später Winter. Von einem Vorfrühling war nichts zu spüren, und es war geradezu unsäglich kalt und unwirtlich. Bis gestern hatte es zwei Tage lang durchgeschneit, ungewöhnlich für Mitte März, und nun waren die Fußwege und Straßen grau und matschig. Jahreszeit und Wetter brachten allerdings den Vorteil mit sich, dass ihn nicht permanent irgendwelche Amerikaner oder Asiaten anrempelten, in einem merkwürdigen Kauderwelsch nach einem Museum oder Restaurant fragten und dabei mit einem Reiseführer vor seiner Nase herumwedelten.

Nie würde er selbst so weit gehen, den Slogan der 1903 gegründeten und nicht mehr existierenden Fédération nationale antijuive laut herauszuposaunen. La France aux français, Frankreich den Franzosen. Das hatte die LŒuvre française, eine ultrarechte politische Gruppierung, bereits übernommen. Nein, mit solchen Leuten wollte er nichts zu schaffen haben. Allerdings ein wenig mehr den Blick auf das eigene Vaterland zu richten, wäre auch in den Zeiten eines vereinigten Europas ab und zu angebracht. Doch ganz gleich, ob die, die das Sagen hatten, nun in der Mitte, links oder rechts im politischen Spektrum angesiedelt waren, ihre Tage würden sowieso irgendwann gezählt sein, denn der wahre Regent Frankreichs würde von ganz oben bestimmt werden.

Beschwingt durch diese Zukunftsvision, durchquerte Jean-Marie den Jardin des Tuileries und atmete auf, als der Verkehrslärm bald nur noch gedämpft an seine Ohren drang. Gefällig blieben seine Augen an einer Handvoll Gärtner haften, die bereits dabei waren, den prächtigen Garten, den der Sonnenkönig Louis XIV. in dieser Form hatte anlegen lassen, auf den jährlich wiederkehrenden Ansturm, der in wenigen Wochen zu erwarten war, vorzubereiten. Und als hätte der Allmächtige ein Einsehen, schien nun die Sonne von einem blauen, wolkenlosen Himmel. Kaum zu glauben, dass für den nächsten Tag bereits wieder leichter Schneefall angekündigt worden war.

Er selbst bemerkte nicht die Blicke, die ihm der eine oder andere Vorbeieilende zuwarf. Hätte man diesen oder jene gefragt, um wen es sich bei dem groß gewachsenen Mann im dunklen, knöchellangen Mantel und mit dem ergrauten Haar, das wie ein Kranz seinen Kopf umgab, der hervorspringenden, leicht gebogenen Nase und den eisblauen Augen handele, hätten die einen geantwortet, vielleicht ein Angehöriger des Militärs. Andere hätten auf einen Aristokraten getippt, Dritte vielleicht gesagt, er sei ein Schauspieler, denn die Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Mimen Michel Piccoli war unverkennbar.

Jean-Maries Weg führte ihn weiter in die Rue Richelieu, in der sich sein Ziel, das altehrwürdige Gebäude der Bibliothèque Nationale de France, befand. Er freute sich, dass seine Recherchen hier ihren Ausgangspunkt hatten und nicht in der neuen BibliothèqueFrançois-Mitterrand in der Nähe der Seine. Unattraktiv war der Komplex, der aus vier Türmen in Form eines geöffneten Buches angelegt war, nicht, doch er bevorzugte das Altehrwürdige. Wie immer blieb er für ein paar Minuten bewundernd vor dem lang gestreckten Bibliothekskomplex stehen. Die früher königliche – bei diesem Gedanken machte sein Herz einen Sprung –, dann kaiserliche Nationalbibliothek war eine der am reichsten bestückten Einrichtungen dieser Art der Welt. Ihr Ursprung war die 1666 von Minister Jean-Baptiste Colbert gegründete königliche Bibliothek, für die ein Teil des Stadtpalastes von Kardinal Jules Mazarin genutzt worden war.

Die heutige Bibliothek war das Ergebnis eines Umbaus Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, der die Teile aus unterschiedlichen Bauphasen zu einem einheitlichen Großen und Ganzen zusammenfügte. Herzstück war der 1936 eingeweihte ovale Saal, darin einige der kostbarsten Stücke der Bibliothekssammlung, insbesondere Manuskripte, von denen sich Jean-Marie bereits häufig besonders interessante Exemplare bei einer der tüchtigen Kräfte der Bibliothek bestellt hatte.

Er hatte nach seinem Aufenthalt in Cannes eine Ahnung von dem gehabt, was er in Paris zu finden hoffte. Vielleicht sogar weniger eine Ahnung als vielmehr eine Idee, eine Hoffnung. Einer Eingebung folgend, hatte er in den Archives municipales in Cannes nach Kirchenbüchern gesucht, die die Zeit umfassten, in der der berühmteste und geheimnisvolle Gefangene, der Mann mit der Maske, auf der Insel Sainte-Marguerite inhaftiert gewesen war. Und tatsächlich existierten im Stadtarchiv solche Bücher aus den Jahren 1687 bis 1698, der Zeit, als der Unbekannte hinter den Kerkermauern sein Dasein fristete. Jean-Marie hätte laut jubeln können, als er tatsächlich auf einen Namen gestoßen war.

Abbé Hippolyte Rimbaud war der Priester gewesen, der den Mann mit der Maske regelmäßig besuchte und ihm religiösen Beistand gab. Der Geistliche schien völlig verarmt gestorben zu sein, und kein Historiker hatte sich bisher die Mühe gemacht, sein Leben zu erforschen. Gott sei Dank. Wie und warum das Wenige, das Rimbaud hinterlassen hatte, nach Paris gelangt war, konnte sich Jean-Marie nicht erklären. Gestern dann war er im Findbuch der Bibliothek auf den Nachlass gestoßen, „Nachlass Rimbaud, Cannes. Varia“. Dazu einige Kürzel und eine Jahreszahl, die ihn geradezu elektrisiert hatten. „S-M, 1687“. Dazu hatte jemand notiert „Auv“. Dies konnte alles oder nichts bedeuten. Er hoffte auf alles. Der Karton enthielt nach den Angaben des Findbuches unvollständig erhaltene Texte, Briefe, Notizen und Aufzeichnungen.

Jean-Marie hängte seinen Mantel in den Garderobenraum, ging zur Anmeldung, zeigte seinen Benutzerausweis vor und schritt, wie immer ehrfurchtsvoll, in den ovalen Lesesaal, genannt Le Paradis ovale. Er legte den Kopf in den Nacken und genoss einen Moment den Anblick der von hohen eisernen Stützen getragenen, mächtigen, vom Sonnenlicht durchfluteten Kuppel. Der riesige Raum war ein wahres Meisterwerk der Ingenieurskunst.

Geduldig stellte er sich dann an der Ausgabe an. Dieser Schatz, er hoffte, sein Fund würde sich als solcher erweisen, hatte so lange im Depot geschlummert, da kam es auf ein paar Minuten mehr bis zur Entdeckung auch nicht an. Und da war er, ein Karton, wie er bereits vermutet hatte. Die Mitarbeiterin entnahm ihn einem Regal und stellte ihn vor Jean-Marie ab. Dabei hüstelte sie und räusperte sich anschließend. Anklagend schaute sie auf die dünne Staubschicht, mit der der Deckel aus Pappe überzogen war. Sichtbar waren Fingerabdrücke, vermutlich des Mitarbeiters, der die Schachtel gesucht, gefunden und herbeigebracht hatte.

Jean-Marie schmunzelte. Ein gutes Zeichen. Niemand hatte nach seinem „Schatz“ in letzter Zeit gefragt. Wie oft hatte er voller Hoffnung eine vergleichbare Schachtel entgegengenommen, die in Archiven, Bibliotheken, Museen oder Schlössern lagen, jahrzehntelang niemanden interessierten, mit dem Staub des Vergessens und der Vergangenheit bedeckt.

Er trug den Karton an seinen Leseplatz. Die Schachtel maß etwa dreißig mal vierzig Zentimeter, in der Höhe gut zehn Zentimeter. In einer Ecke prangte der Bibliotheksstempel, handschriftlich war darunter die Signatur zum Auffinden des Kartons in seinem Archivlager säuberlich auf einem Etikett zu lesen, auch wenn dessen Ecken eingerissen waren. Der graue Bindfaden, der die Schachtel verschloss, war genauso verknotet, wie Jean-Marie es in zig Archiven und Bibliotheken vorgefunden hatte: kreuzweise um den Karton geschlungen, oben einfach mit einer einzelnen Schleife gebunden, sodass man nur einmal am Ende des Fadens ziehen musste, um die dünne Schnur zu entfernen.

Nachdem er den Faden sorgfältig zusammengewickelt hatte – so wie er ihn vorgefunden hatte, würde er ihn später wieder um die Schachtel schnüren –, pustete er über den Deckel. Staub wirbelte wie feiner Nebel auf und tanzte im Sonnenlicht, das durch das riesige Glasdach der Kuppel und die runden Tambourfenster auf seinen Platz schien.

Jean-Marie zog die weißen dünnen Baumwollhandschuhe über, mit denen er grundsätzlich bei allen archivierten Akten arbeitete, um den kostbaren Inhalt vor Schweiß und Schmutz zu schützen. Er hob den gesamten Inhalt aus dem Karton und legte ihn vor sich ab. Bereits jetzt schlug sein Herz so laut, dass er glaubte, die Frau am Nebentisch müsse das Pochen hören. Obenauf lagen lose Blätter. Aufstellungen offenbar eines Klosters oder einer Kirchengemeinde, die Speisung von Armen betreffend. Kein Datum, allerdings für ihn eindeutig Blätter aus dem späten siebzehnten Jahrhundert. Voller Spannung faltete er die Briefe auseinander, deren Siegellack vor langer Zeit aufgebrochen worden war. Zeilen an einen Monseigneur Beaufort. Er legte sie enttäuscht zur Seite. Es folgten Papiere in Klarsichthüllen.

Missmutig schüttelte Jean-Marie den Kopf. Er hielt nichts von diesen Hüllen. Die Dinger brachten es glatt fertig, den kostbaren Inhalt zu zerstören, denn die Weichmacher des Kunststoffs hatten eine fatale Wirkung auf das alte Papier. Es waren Abrechnungen einer Schneiderei, Forderungen an eine gewisse Madame de Fontenay, aber für ihn vollkommen uninteressant. Kurz fragte er sich, ob Madame die Rechnung jemals bezahlt hatte. Immerhin ging es um mehrere Hundert Livres, was nach heutiger Währung durchaus mehrere Tausend Euro wären.

Jean-Marie arbeitete sich Blatt für Blatt vor. Gelegentlich entwich ihm ein tiefer Seufzer. Nichts, aber wirklich rein gar nichts von Bedeutung war bisher dabei gewesen. Was hatte es nur mit dem Kürzel S-M auf sich? War es pures Wunschdenken seinerseits, dass sich dahinter das verbarg, was er sich erhoffte? Hatte er es übersehen? Hieß S-M vielleicht nichts anderes als Sainte-Marie? Verbarg sich hinter seinem „Schatz“ nicht mehr als eine Notiz zu einem Kirchenbau Sainte-Marie de was auch immer in der Auvergne, für die das Kürzel Auv. stehen könnte, errichtet im Jahr 1687?

Während er grübelte, hatte Jean-Marie sich bis zum Ende des kleinen Stapels vorgearbeitet. Resigniert betrachtete er den Papierhaufen und das Gebetbuch, das zuunterst gelegen hatte. Die Paroissien Romain, eine Sammlung von Gebeten, war in Leder gebunden, die Buchstaben darauf in Gold geprägt. Sicher ein interessantes Stück, das man eigentlich aus diesem Karton befreien sollte, aber nicht das, wonach er suchte.

Vielleicht war ihm jemand zuvorgekommen und hatte das geheimnisvolle Blatt, von dem er nicht wusste, ob es überhaupt existierte und welchen Inhalt, wenn es denn existierte, es verbarg, entdeckt und eingesteckt. Nein, das war unmöglich. Man konnte nicht durch Zufall darauf aufmerksam geworden sein. Nur durch eine ganz gezielte Suche. So wie er.

Erneut nahm er sich Blatt für Blatt vor. Nichts. Zuletzt griff er wieder nach dem Gebetbuch, schüttelte es, wie er es vorhin schon einmal getan hatte, doch kein loses Papier wollte herausfallen. Jean-Marie seufzte. Ein wenig neugierig geworden, wem das kostbar eingebundene Buch gehört haben mochte und wo es wohl gedruckt worden war, er tippte auf Limoges, blätterte er die ersten Seiten auf. Der Atem stockte ihm, seine Hände begannen zu zittern. Da war es.

Der Siegellack, mit dem das Blatt zum Brief verschlossen gewesen war, hatte sich zwischen der dritten und vierten Seite festgeklebt. Vorsichtig löste er das Papier aus dem Gebetbuch heraus und öffnete es. Sein Mund wurde trocken, seine Augen mit jedem Wort größer. Er hatte auf Außerordentliches gehofft, aber nicht mit dem, was der Inhalt des Briefes preisgab.

Wieder und wieder las er die Zeilen. Der Himmel über dem Kuppeldach hatte sich mittlerweile verdunkelt. Er hatte vollkommen die Zeit vergessen. Der Blick auf seine Armbanduhr sagte Jean-Marie, dass die Bibliothek in einer halben Stunde schließen würde. Und dann tat er etwas, was er selbst als Sakrileg betrachtete, etwas, für das er jeden Kollegen, jede Kollegin aufs Schärfste verurteilt hätte.

Vorsichtig blickte er nach links und rechts. Dann faltete er den Brief zusammen und ließ ihn vorsichtig mit zitternder Hand in der Tasche seines Tweed-Sakkos verschwinden.

 

Kapitel 2

Château de Boncourt

Anfang August

Mathilde de Boncourt bog mit ihrem grünen Peugeot Cabrio in die von Zypressen gesäumte Einfahrt zum Château de Boncourt ein, dem Weingut und jahrhundertealten Sitz ihrer Familie. Die Zikaden, die unsichtbar in den Zweigen der Bäume saßen, gaben ihr Bestes, die sommerlichen Temperaturen bewegten sich in einem noch erträglichen Rahmen, und das Wochenende stand vor der Tür. Es war einer der Tage, an denen man sich rundum wohlfühlen konnte und der dazu geschaffen war, einfach einmal nichts zu tun, die Arbeit als Untersuchungsrichterin im Palais de Justice von ­Nîmes zu vergessen und sich von ­Odile, der guten Seele der Familie, ein wenig verwöhnen zu lassen.

Mathildes Lebensgefährte, Rachid Bouraada, Commandant der Police judiciaire in ­Nîmes, hielt sich seit zwei Tagen in Algerien auf, wohin er seinen Vater zu einer Beerdigung begleitete. Am Montag wäre er wieder da, und Mathilde hoffte, dass sich die Proteste gegen die Tagung der Königstreuen im friedlichen Rahmen halten würden. Wenn nicht, bekämen Rachid und seine Kollegen alle Hände voll zu tun.

Diese Veranstaltung der ARM, der Amis de la renaissance de la monarchie, fand ab Montag hinter den Mauern der Universität von ­Nîmes, die im ehemaligen Fort Vauban ihren Sitz hatte, statt und warf seit Tagen ihre Schatten voraus. Die wenigsten Bewohner der Stadt interessierten sich überhaupt für dieses Treffen. Lediglich die Ankündigung, ein Vertreter des französischen Hochadels aus dem Hause Orléans würde ein Grußwort sprechen, hatte anfangs in der lokalen Presse für eine gewisse Aufmerksamkeit gesorgt, war aber kurz darauf wieder dementiert worden.

Diese ganze Versammlung wäre wahrscheinlich ohne großes Tamtam vonstattengegangen, wenn nicht in diesem Presseartikel die Frage gestellt worden wäre, wie sehr rechts der Mitte eine solche royalistische Bewegung stünde. Daraufhin hatte sich die linke Szene bemüßigt gefühlt, Demonstrationen gegen die ewig Gestrigen anzukündigen, mit Störungen während der Tagung zu drohen, bis hin zu der Ankündigung, die Universität besetzen zu wollen, sich notfalls auf den Zuwegen festzukleben, um den Teilnehmern so den Zutritt zu verwehren. Sollte es tatsächlich so weit kommen, hoffte Mathilde, dass in diesem Fall die Polizei nicht so hart durchgreifen würde, wie sie es vor einiger Zeit in Paris fertiggebracht hatte.

Dort hatten zehn Aktivisten der Klimabewegung Dernière Rénovation den Verkehr auf der Pariser Stadtautobahn blockiert und sich mit den Händen auf den Asphalt geklebt. Die Mitglieder der herbeigerufenen Sondereinheit – eine solche überhaupt herbeizurufen, hatte Mathilde schon übertrieben gefunden – rissen rücksichtlos die festgeklebten Hände vom Straßenbelag. Coralie Mollard und Felix Tourrain, engste Mitarbeiter von Mathilde, waren entsetzt gewesen, als sie die ins Netz gestellten Aufnahmen sahen, in denen die jungen Leute vor Schmerzen schrien. Der Polizeieinsatz hatte nur kurz gedauert, nach weniger als zwanzig Minuten war die Straße geräumt gewesen und der Verkehr wieder geflossen.

Mathilde wünschte sich, dass es erst gar nicht zu solchen Szenen kommen würde. Wenn die Demonstrierenden clever waren, würden sie feststellen, dass von diesem Verein sowieso nichts zu befürchten war. Und wenn sie sich doch öffentlich zu der Tagung und ihren Inhalten äußern wollten, es vielleicht mit dem Verteilen von Flugblättern und einem stillen Protest vor den Toren der Uni gut sein ließen. Niemand mit klarem Verstand würde überhaupt daran denken, die Demokratie gegen eine Neuauflage der Monarchie eintauschen zu wollen.

Mathilde sog tief den würzigen Geruch ein, den die Nadelbäume in der Wärme des Sommers verströmten, und schob ihre Sonnenbrille auf die rotblonden Haare. Sie schmetterte gut gelaunt die letzten Zeilen eines angesagten Chansons von Slimane mit. Est-ce que tu m’aimes? Est-ce que tu m’aimes? Est-ce que tu m’aimes, ou pas? Liebst du mich? Oder liebst du mich nicht? Die Frage stellte sich ihr und Rachid nicht, aber das Lied war einfach ein schönes Chanson, das der Liebe huldigte.

Sie parkte ihren Wagen neben dem von Vivienne und stieg aus. Erstaunt schaute sie sich um. Niemand zu sehen. Normalerweise kamen die Hunde angesprungen, ganz gleich, wer nun mit dem Auto vorfuhr. Wahrscheinlich waren sie, wie so oft, mit Sébastien – Viviennes Sohn und Mathildes Cousin – unterwegs. Babou und Henri, die beiden Labradore, liebten die langen Spaziergänge durch die Weinfelder mit Sébastien, der immer ein Leckerchen für sie dabeihatte und unermüdlich Stöckchen warf. Sébastien, der unter der Woche in einer Wohngruppe für junge Menschen mit dem Downsyndrom in ­Nîmes lebte, verbrachte die Wochenenden im Schloss und genoss wie Mathilde die Zeit mit der Familie.

Mittlerweile hatte Rémy de Boncourt, Mathildes Großvater, das Geschäft mit dem Wein an seinen Neffen Philippe weitergegeben, der mit seiner Frau Lucette und den beiden jüngsten Söhnen, den Zwillingen Arthur und Noah, ebenfalls auf dem Landsitz lebte, während die beiden älteren Söhne auswärts studierten.

In der Eingangshalle schnupperte Mathilde, doch kein Duft, der kulinarische Genüsse versprach, stieg in ihre Nase. Üblicherweise war ­Odile um diese Zeit in der Küche zugange und bereitete die unzähligen Köstlichkeiten vor, die sie von Freitagabend bis Sonntag auf den Tisch zauberte. Kein Bellen, kein Rascheln, kein Zuschlagen der Kühlschranktür, kein Summen von ­Odile, das ihre Arbeit begleitete. Es war geradezu gespenstisch still. Mathilde marschierte zur Küche, dem Herzstück des Gebäudes, und schob die Tür auf.

„Bin da-ha“, posaunte sie und breitete die Arme aus, um sie um ­Odile zu schlingen und ihr drei Küsschen auf die Wangen zu drücken. Aber keine ­Odile weit und breit. Die Küche war verwaist. Keine Töpfe auf dem Herd, kein Gemüse, das auf dem alten Refektoriumstisch darauf wartete, geputzt und geschnitten zu werden.

„Nanu, wo sind denn alle?“, fragte Mathilde laut.

Sie ging in den Salon, das Kaminzimmer, die Bibliothek, die zugleich das Arbeitszimmer ihres Großvaters war. Niemand da. Die Hundekörbchen und Sessel, in denen Henri und Babou zu gerne ihr Mittagsschläfchen hielten oder herumlümmelten, waren leer.

Mathilde kehrte in die Halle zurück, von der eine Steintreppe mit ausgetretenen Stufen ins Obergeschoss führte. Geschmückt war der großzügige Eingangsbereich mit zahlreichen Familienporträts und Landschaftsbildern. Im Obergeschoss lagen die Schlafräume, Gästezimmer und die Appartements, die Vivienne und Mathilde bewohnten. Endlich vernahm sie ein Lebenszeichen, auch wenn es nur das Brummen eines Staubsaugers war.

»­Odile? Bist du oben?«

Mathilde folgte dem Geräusch, das sie in den hinteren Bereich des Flurs führte. Die Tür zu einem der Gästezimmer war nur angelehnt. Sie schob sie auf.

»­Odile?«

Sie schien sie gar nicht zu hören, so verbissen kämpfte ­­Odile gegen unsichtbaren Schmutz auf dem wertvollen Teppich, der vor dem Bett ausgelegt war. Mathilde trat heran und tippte ihr auf die Schulter. Mit einem leisen Schrei drehte sich die ältere Frau um.

Mon Dieu, hast du mich erschreckt! Ich hab fast einen Herzinfarkt bekommen. Als ob das, was uns erwartet, nicht ausreichen würde.“

Anklagend zeigte sie auf eine barocke Kommode mit drei Schubladen, deren Front elegant nach vorne gewölbt war. Das Möbel aus mittelbraunem Nussbaumholz glänzte wie Honig. Darauf lag, ordentlich zusammengefaltet, Bettwäsche.

»Salut, meine liebste ­Odile.« Mathilde umarmte ihre Ziehmutter und küsste sie herzhaft. „Was ist denn hier los? Bekommen wir Besuch? Und warum zerrst du den Staubsauger so brutal über den Boden. Sieht ganz so aus, als würdest du irgendeinen Ärger mit ihm ausfechten“, schrie sie ­Odile ins Ohr. Dann drückte sie mit dem Fuß auf den Schalter an der Rückseite des fleißigen Haushaltshelfers, und der Motor erstarb.

­Odile schnaufte. „Salut, ma petite. Ich bin noch zu gar nichts gekommen. Dein Großvater sagte mir, dass er heute Nachmittag anreisen wird. Dann ist er mit den Hunden verschwunden. Das wird ihm allerdings gar nichts nutzen. Irgendwann werden sich die beiden über den Weg laufen. Vivienne ist mit Lucette in die Stadt. Einkaufen. Sie bringen dann Sébastien mit zurück. Ich weiß, dass Rémy ihn nicht leiden kann, aber er konnte auch nicht Nein sagen, als er sich bei uns eingeladen hat. Hast du gewusst, dass er Allergiker ist? Nein? Ich sauge mir hier allmählich die Seele aus dem Leib. Hausstaubmilben. Die sind wahrscheinlich überall. Ich kann doch nicht das ganze Schloss von ihnen befreien.“

­Odile wischte sich über die Stirn, auf der mittlerweile Schweißperlen glänzten, so sehr hatte sie sich in Rage geredet. Mathilde hatte bisher nur stumm zugehört. Jetzt nutzte sie die kurze Verschnaufpause.

Wer kommt? Wem kann grand-père nicht aus dem Weg gehen? Wer lädt sich denn selbst zu uns ein?“ Sie runzelte die Stirn.

„Mathilde, es ist ja nicht nur er. Ich muss noch ein weiteres Zimmer vorbereiten. Warum hat dein Großvater nicht gesagt, die Zimmer wären unbewohnbar? Schimmel an den Wänden? Oder sonst was? Sie hätten sich ja in einem Hotel einmieten können. Aber nein, die ›Sippschaft‹, so hat dein Großvater sie genannt, möchte hier residieren. Residieren, so hat sie es genannt, deine Verwandtschaft.“ ­Odiles Brauen zogen sich zusammen.

Jetzt war es heraus. Mathilde ließ sich auf die nächstbeste Sitzgelegenheit fallen. Sie ahnte bereits, wer sich da im Château de Boncourt breitmachen wollte.

„Ich brauche einen starken Kaffee und etwas zu essen. Lass das Staubsaugen. Ich mach nachher weiter und kümmere mich um die Gästezimmer“, sagte sie.

„Eine gute Idee. Das ist lieb von dir“, stimmte ­Odile zu und tätschelte Mathilde liebevoll die Wange.

Die beiden Frauen gingen in die Küche, ohne zunächst ein weiteres Wort über das zu verlieren, was ihnen bevorstand. Mathilde setzte die Kaffeemaschine in Gang, während ­Odile aus dem riesigen Kühlschrank Butter, einen irdenen Topf mit selbst gemachter Rillettes von der Ente, Salami und ein Glas Erdbeermarmelade auf den Tisch trug. Die unförmige Salami war noch nicht angeschnitten.

„Hm, ist das eine Jesus?“, fragte Mathilde und griff zu einem Messer. „Eine meiner Lieblingssalamis.“

­Odile nickte. „Habe ich vom Markt mitgebracht. Eine Jesus du Pays Basque.“

Während Mathilde mit einem scharfen Messer Scheiben von der Räucherwurst abschnitt, stellte ­Odile zwei bols auf den Tisch, die Schalen, aus denen sie am liebsten ihren café au lait tranken. Die Schale aus Mathildes Kindheit verzierten die Bilder von Tintin und seinem kleinen Foxterrier Milou. Sie durfte niemals in die Spülmaschine gesteckt werden, da ansonsten die Helden aus früheren Tagen verblassten, im schlimmsten Fall sogar verschwinden würden. Mathilde legte ein halbes Baguette dazu, das offenbar vom Frühstück übrig geblieben war.

Nach einem ersten Schluck Milchkaffee und einer Scheibe Brot, die sie dick mit Butter und Salami bestückt hatte, sagte sie: „Raus mit der Sprache. Loulou, Francis oder Roger? Oder wen haben wir sonst noch in der buckeligen Verwandtschaft, der infrage käme?“

„Sprich nicht mit vollem Mund“, ermahnte ­Odile sie streng. Dann seufzte sie und stellte ihre bol mit einem Knall auf dem Holztisch ab. „Loulou.“ Sie rollte mit den Augen. „Das letzte Mal, als er hier war, das muss gut sieben Jahre her sein, hat er sich aufgeführt, als sei er der Schlossherr und wir seine Lakaien.“

„Warum hat grand-père nicht einfach gesagt, wir seien alle unterwegs, im Urlaub, auf der Weinmesse, oder was weiß ich. Oder hätten Corona, seien ansteckend. Oder die Pest. Tödliche Gefahr lauert im Schloss. Und wenn es nur Loulou ist, warum dann ein weiteres Gästezimmer vorbereiten?“

„Pff, im Urlaub. Wann war dein Großvater jemals im Urlaub? Weinmesse ist im Moment keine. So dämlich sind seine Großneffen schließlich nicht, um das nicht nachzuprüfen. Gut, eine Krankheit vorzuschieben, das wäre eine Möglichkeit gewesen. Aber Rémy ist ein Ehrenmann, nie würde er lügen. Und außerdem sagt er, es sei die Familie, und so oft würden sie uns nun auch wieder nicht heimsuchen. Und den anderen Gast kenne ich überhaupt nicht persönlich. Ein entfernter Verwandter, der in der Vendée lebt. Christian Fleury. Sagt dir das was?“

Mathilde schüttelte den Kopf.

„Der Name sagt mir gar nichts. Also grand-père hat die Flucht ergriffen. Wo steckt er denn?“ Mathilde bestrich das nächste Stück Brot dick mit Butter, kleckste sich Marmelade darauf und biss herzhaft hinein.

„Er hat nicht das Weite gesucht, er ist mit den Hunden raus. Er müsse nachdenken, hat er gesagt.“ ­Odile schüttelte den Kopf. „Allerdings glaube ich kaum, dass er Loulou von seiner Idee abbringen kann. Übrigens möchte er nicht mehr Loulou genannt werden, sondern Louis.“

„Ach, aber er hieß doch schon immer Loulou. Und von welcher Idee sprichst du?“

„Aber jetzt heißt er nicht mehr so.“

Loulou, Francis und Roger waren die Söhne von Rémys verstorbener Cousine, einer geborenen de Boncourt. Madeleine de Boncourt hatte sich mit dem Gutsbesitzer Thadée de Roquemajour vermählt, innerhalb von fünf Jahren drei Söhne geboren und war vor zehn Jahren in der Auvergne verstorben.

„Arbeiten alle drei auf dem Gut mit?“

„Francis und Roger. Sie züchten jetzt Biorinder, hat Thadée deinem Großvater erzählt. Er hat gestern angerufen. Er hält natürlich gar nichts von den Hirngespinsten seines Ältesten.“

„Ach ja, die Idee. Hirngespinste? Um was geht es denn? Und was sucht er deswegen ausgerechnet bei uns?“

»Er nimmt an dieser Tagung in ­Nîmes teil. Genau wie dieser Christian Fleury. Die Tagung dieser Königstreuen. So ein Humbug. Loulou glaubt, herausgefunden zu haben, dass er königlichen Geblüts ist, und möchte seinen Anspruch auf den Thron geltend machen. Sobald er wieder besetzt wird. Dieser Fleury übrigens auch.«

Mathilde verschluckte sich an dem Kaffee, von dem sie eben getrunken hatte. Sie hustete und hätte beinahe Kaffee und Brotbröckchen auf dem Tisch verteilt. Dann brach sie in lautes Gelächter aus.

„Was erzählst du da?“ Sie wischte sich die Tränen aus den Augen.

­Odile dagegen verzog keine Miene. „Du hast ganz richtig gehört. Loulou erhebt Anspruch auf den französischen Thron. Darum scheint es doch auf dieser Tagung zu gehen. Die Frage zu klären, wer König von Frankreich wird. Daher möchte er nun eben Louis genannt werden. Der wievielte wäre er dann? Louis XIX.? Und Christian Fleury wäre dann wohl Christian I. Es sei denn, er überlegt sich einen neuen Namen. Wie der Papst.“ ­Odile lachte. »Sie werden also die meiste Zeit in ­Nîmes bei der Tagung sein. Wenigstens das. Und bei uns übernachten sie und fühlen sich wahrscheinlich schon wie die neuen Regenten. Hoffentlich kommt es nicht zu einem Duell um den Thron zwischen den beiden.«

„Dann sind sie spätestens nächsten Freitag wieder verschwunden. Die Königstreuen tagen bis Donnerstag.“ Mathilde schob den Teller mit dem Brot von sich weg.

„Ach, du weißt davon?“ ­Odile begann, die Lebensmittel wieder zurück in den Kühlschrank zu räumen, während Mathilde die Teller, das Besteck und die Kaffeeschalen flink von Hand spülte.

„Ja, allerdings. Ich bin nicht involviert, aber höchstwahrscheinlich wird Rachid es sein. Aus der linken Szene brauen sich Demonstrationen gegen die Royalisten zusammen. Solange einfach nur friedlich demonstriert wird, ist es in Ordnung. Es sollte nur nicht in Straßenschlachten zwischen den unterschiedlichen Meinungsträgern enden. Ich hoffe darauf, dass sie sich aus dem Weg gehen und die Königsgegner einfach nur ein paar Flugblätter verteilen. Wahrscheinlich hätte niemand etwas von dieser Tagung groß mitbekommen, wenn nicht die Presse die Frage aufgeworfen hätte, inwieweit es unter den Royalisten Gruppierungen gibt, die dem rechten politischen Lager nahestehen. Ultrakonservative, die mit Nachdruck das Ziel verfolgen, Frankreich so schnell wie möglich zu einem König zu verhelfen. Ich frage mich allerdings, ob sie da gerade auf Loulou gewartet haben.“

„Das wohl kaum“, meinte ­Odile trocken. „Ich glaube auch nicht, dass sich die Häuser, die Jahrhunderte den König gestellt haben, das gefallen lassen. Das grenzt schon an Hochstapelei, einfach so daherzukommen und Anspruch auf die Krone zu erheben.“

„Napoleon hat man ebenfalls als Emporkömmling beschimpft. Und er wurde sogar zum Kaiser gekrönt. Was einem Korsen recht ist, kann einem de Boncourt nur billig sein.“ Erneut bekam Mathilde einen Lachanfall. „Und wie wäre es überhaupt mit einer Frau. Mathilde I.“

­Odile schüttelte lächelnd den Kopf.

„Was hör ich da? Fängst du jetzt auch noch damit an?“

Rémy de Boncourt streckte den Kopf durch die Küchentür, während sich die beiden Hunde an ihm vorbeiquetschten und sofort um Mathilde herumwuselten. Wenn Mathilde da war, gab es immer ein besonderes Leckerchen aus einer ganz speziellen Schublade, in der alles lag, was Hundeherzen begehrten und Hundemägen liebten.

„Zuerst grand-père“, sagte Mathilde und strich Babou und Henri liebevoll über das glänzende Fell. Dann drückte sie ihren Großvater an sich, der mittlerweile in die Küche getreten war, und küsste ihn zur Begrüßung.

„Keine Angst, ich habe keine Ambitionen“, sagte sie leichthin. „Es ist noch etwas Kaffee da, möchtest du?“

„Da bin ich ja erleichtert“, brummte Rémy und setzte sich an den Tisch.

Mathilde verteilte rasch ein paar Hundekuchen, die sich die Labradore unter dem Tisch schmecken ließen, und stellte ihrem Großvater einen bol mit Kaffee hin, in den er sich zwei Löffel Zucker schaufelte.

„Ich weiß nicht so genau, ob ich über diese Idiotie lachen soll oder mir die zwei einmal vorknöpfe, um sie davon abzuhalten, sich auf den Königsthron zu bewerben. Man kann sich mit so etwas doch nur lächerlich machen. Ich habe keine Ahnung, was in den Köpfen von Loulou und Christian vorgeht.“ Rémy trank einen Schluck, gab einen dritten Löffel hinzu und rührte um. „Vielleicht kannst du ihnen das ausreden, Mathilde. Ich möchte nicht, dass sich ein de Boncourt der Lächerlichkeit preisgibt.“

„Nun, er ist ja ein de Roquemajour“, warf Mathilde ein. „Und hat Fleury überhaupt was mit uns zu tun? Stammt er aus unserem Familienzweig?“

­Odile und Mathilde setzten sich zu Rémy an den Tisch. Das Schnarchen der Hunde, die nach dem ausgiebigen Spaziergang durch die sonnenbeschienenen Weinfelder müde geworden waren, drang rhythmisch und beruhigend an die Ohren ihrer geliebten Menschen.

Rémy seufzte tief. „Fleurys Großmutter war eine Cousine deiner verstorbenen Großmutter. Also sehr entfernte Verwandtschaft. Und was Loulou angeht, ist er, wie du sagtest, Gott sei Dank ein de Roquemajour. Ich hoffe, er erwähnt gar nicht erst, dass er zu unserer Sippe gehört. Und wenn Loulou recht hätte und er hätte aufgrund seiner Herkunft einen Anspruch auf den Thron, mon Dieu, dass ich das überhaupt ausspreche, dann wäre allerdings Thadée vor ihm dran.“ Jetzt verzog sich das Gesicht des alten Mannes zu einem Grinsen. „Er würde aber verzichten, hat er mir gesagt. Er hält das Ganze ebenso für Unsinn wie ich. Nun, Loulou hat Ahnenforschung betrieben und sich bis zu den Nachkommen von Louis-Philippe von Orléans gearbeitet, von denen irgendwann eine Tochter in die Familie de Roquemajour eingeheiratet hat.“

„Und das ist alles?“, fragte Mathilde, als ihr Großvater dem nichts mehr hinzufügte.

„Das ist alles“, bestätigte Rémy.

„Dann könnte schließlich jeder von uns kommen und einen Anspruch erheben. Ich bin sicher, wenn wir weit genug in der Ahnentafel zurückgehen, finden wir ebenfalls jemanden, der mit einer Person aus dem Haus Bourbon oder Orléans zusammenhängt.“ Mathilde schüttelte verständnislos den Kopf.

„So sehe ich das auch. Allerdings muss es jemand Loulou klarmachen. Er hat sich offenbar geradezu in die Idee hineingesteigert. Ich habe es nur ungefähr wiedergegeben, was ihn veranlasst, wirklich zu glauben, er sei Thronprätendent. Und Monsieur Christian Fleury leitet seine Herkunft von einer Schwester Napoleons ab. Ich befürchte, er strebt sogar den Titel eines Kaisers an. Nun, ich habe Besseres zu tun, als mir jetzt schon darüber den Kopf zu zerbrechen. Mathilde, ich zähle auf dich. Die beiden royalen Herrschaften werden zum Abendessen da sein. Du kannst doch gut mit Menschen umgehen, sie überzeugen, dass sie sich mit so etwas der Lächerlichkeit preisgeben.“

„Ich werde es versuchen.“ Mathilde fühlte sich bei dem Gedanken, den beiden Männern ihre Idee auszureden, nicht sonderlich wohl und befürchtete, damit sowieso zu scheitern.

„Man muss ihnen klarmachen, dass es da Anwärter gibt, die weit vor ihnen stehen würden, wenn es denn in Frankreich je wieder einen royalen Herrscher geben würde. Wie Thadée mir gesagt hat, ist dieses Thema überhaupt das Kernthema dieser ganzen bescheuerten Tagung. Wer wäre König, oder von mir aus Kaiser, von Frankreich, wenn irgendeine Form der Monarchie wieder eingeführt werden würde. Thadée meinte, über diese Frage würden sie sich wohl die Köpfe heiß diskutieren. Solange sie sich diese nicht gegenseitig einschlagen, sollen sie machen.“

„Aber warum gerade jetzt diese Diskussion?“, fragte ­Odile.

Rémy zuckte ratlos mit den Schultern.

„Ich denke, ich kann es erklären.“ Mathilde schob vorsichtig Henri, der es sich im Schlaf auf ihren Füßen bequem gemacht hatte, zur Seite. „Diese Zusammenkünfte der Königstreuen gibt es schon länger. Sie finden immer in verschiedenen Städten statt. Zuletzt waren sie in Metz. Dass nun das Interesse an einer Königsdiskussion gestiegen ist, liegt wohl an Großbritannien. Ich vermute, als Charles den Thron bestiegen hat, ging es so richtig los. Dann hat Margrethe von Dänemark nach Jahrzehnten abgedankt und den Weg für ihren Sohn frei gemacht. Der hat zwar mit weniger Pomp seine Herrschaft angetreten, aber das Volk hat was zu feiern und fühlt sich mit seinem Königshaus als Mittelpunkt wahrscheinlich irgendwie besonders. Und das fehlt uns. Die beiden führenden Häupter des Hauses Orléans und der Bourbonen haben nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie bereitstünden, Frankreich als Könige zu dienen. Die Frage ist nur, wer von beiden würde das Rennen machen? Dem Volk ist es vielleicht sogar egal. Es gibt sicher eine ganze Reihe Menschen, die sich vergleichbare Zustände wie in Großbritannien oder anderen Ländern mit Königshäusern für Frankreich wünschen. Etwas Glamour auf der einen Seite, auf der anderen vielleicht eine Person, die die Geschicke des Landes in die Hand nimmt, Perspektiven aufzeigt, Frankreich in eine, wie sie glauben, glanzvolle Zukunft führt. Nur wird das wohl niemals Loulou de Roquemajour sein.“

»Habe ich da etwa eben meinen Namen gehört? Rémy, mein Lieber. ­Odile. Und Mathilde ist auch da. Wie schön, euch nach all den Jahren wiederzusehen.«

Ertappt drehten die drei Angesprochenen ihre Köpfe. Breit grinsend stand der Mann in der Tür, der sich in ­Nîmes um den französischen Thron bewerben wollte.

Liliane Fontaine

Über Liliane Fontaine

Biografie

Liliane Fontaine ist der Geburtsname der Krimiautorin und Kunsthistorikerin Liliane Skalecki, die in Saarlouis nahe der französischen Grenze geboren wurde. Sie promovierte an der Universität des Saarlandes in den Fächern Kunstgeschichte und Klassische und Vorderasiatische Archäologie und wohnt heute...

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