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Die Schwalben von Montecassino Die Schwalben von Montecassino - eBook-Ausgabe

Helena Janeczek
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Roman

— von der Autorin von „Das Mädchen mit der Leica“

„Roman? Doku-Fiktion? Familienchronik? Egal. Helena Janeczek hat ein großartiges Buch geschrieben.“ - Neue Ruhr Zeitung am Sonntag

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Die Schwalben von Montecassino — Inhalt

Ein großer historischer Roman über das Ende des Zweiten Weltkriegs in Italien
1944 geht der 2. Weltkrieg in Italien viel zu langsam zu Ende. So dauert es auch vier blutige Monate lang, die von den Deutschen besetzte Abtei Montecassino zu erobern. An den Flanken ihres Berges opfern sich Menschen aus aller Welt, doch die ungewöhnlichste Armee dort ist wohl die der Polen: Ihre Soldaten, unter ihnen viele Juden, kommen aus sowjetischen Lagern und gelangten in einer abenteuerlichen Irrfahrt nach Italien, um für Freiheit von Hitler und Stalin zu kämpfen. So auch Samuel „Milek“ Steinwurzel, Sohn jüdischer Holzhändler aus der (heutigen) Ukraine, den der Frieden in den Emilio verwandeln wird...

Kunstvoll verbindet Helena Janeczek Orte, Geschichten, Epochen, Schicksale zu einem allumfassenden, berührenden Epos des „italienischen Stalingrad“.

Helena Janeczek wirkt — wie schon ›Das Mädchen mit der Leica‹ — auch diesen Roman aus ganz unterschiedlichen Erzählsträngen: dem Schicksal eines jungen Texaners. Dem Versuch eines neuseeländischen Studenten zu verstehen, was sein Großvater, ein Maori, in diesem Krieg eigentlich zu suchen hatte. Der Geschichte von Janeczeks eigener Tante, die der Shoah nur entkam, weil die Sowjets sie zur Zwangsarbeit verurteilt hatten. Und den Erlebnissen von zwei Mailänder Abiturienten, die am Soldatenfriedhof von Montecassino Flugblätter verteilen, um nach verschwundenen polnischen Wanderarbeitern zu suchen - aber vielleicht noch mehr nach einem Platz auf der Welt, den sie Heimat nennen könnten. 

„Helena Janeczek hat ein unglaublich starkes Buch geschrieben. Darin wird Montecassino zum Krieg von uns allen, zu dem Ort, von dem wir alle kommen.“ Roberto Saviano

€ 24,00 [D], € 24,70 [A]
Erschienen am 28.07.2022
Übersetzt von: Verena von Koskull
432 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1443-6
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€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erschienen am 28.07.2022
Übersetzt von: Verena von Koskull
400 Seiten
EAN 978-3-8270-8060-8
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Leseprobe zu „Die Schwalben von Montecassino“

VOR DER SCHLACHT

Mailand, Piazzale Dateo – Segrate, Herbst 2007


„Alles, was in jedem Moment überall geschieht, ist die Vergangenheit.“

GUSTAV LANDAUER, anarchistischer Philosoph, Kulturminister der bayerischen Republik, 1919 von rechten Freischärlern erschlagen.

 

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“

HERAKLIT


Mein Vater war in Montecassino, er hat unter General Anders im Zweiten polnischen Korps gekämpft. Auf seinem Weg die Adria hinauf nach Bologna wurde er in Recanati verwundet. Während seiner Genesung auf einem Bauernhof lernte er ein Mädchen aus den [...]

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VOR DER SCHLACHT

Mailand, Piazzale Dateo – Segrate, Herbst 2007


„Alles, was in jedem Moment überall geschieht, ist die Vergangenheit.“

GUSTAV LANDAUER, anarchistischer Philosoph, Kulturminister der bayerischen Republik, 1919 von rechten Freischärlern erschlagen.

 

„Der Krieg ist der Vater aller Dinge.“

HERAKLIT


Mein Vater war in Montecassino, er hat unter General Anders im Zweiten polnischen Korps gekämpft. Auf seinem Weg die Adria hinauf nach Bologna wurde er in Recanati verwundet. Während seiner Genesung auf einem Bauernhof lernte er ein Mädchen aus den Marken kennen. Meine Mutter, den Grund, weshalb er in Italien blieb.

Italien, der Grund, weshalb ich nach über sechzig Jahren meinen Nachnamen mehrmals ins Telefon buchstabieren muss. Der Taxifahrer, der das nicht überhören konnte, erkundigt sich, ob ich zufällig aus Polen sei wie er.

„Wussten Sie, dass polnische Soldaten, die eine Italienerin heirateten, ihr Anrecht auf Staatsbürgerschaft verspielten, mit dem die Engländer sie als treue Mitstreiter im Kampf gegen die Nazis belohnten?“, frage ich, während am Ende der Straße bereits die Überführung auftaucht, die die Stadtgrenze von Mailand markiert.

Nein, das wusste er nicht.

Die Exilpolen sind mit ihren Frauen bis in die entlegensten Winkel der Erde emigriert, von Argentinien bis Australien, erzähle ich ihm. In Italien sind nach dem Krieg nur wenige geblieben, nur rund zweihundert – von den tausend am Fuß der Benediktinerabtei Begrabenen einmal abgesehen. Ein halbes Jahrhundert lang hat diese Handvoll Überlebender den Friedhof gepflegt, die Erinnerung an die Schlacht weitergegeben, die Beziehung zu Polen lebendig gehalten.

„Waren Sie einmal dort? Kennt man in Polen noch Czerwone Maki na Montecassino?“

Der Tag hat schlecht begonnen, Zugverspätung, Taxi, um es pünktlich zu schaffen, Diskussion mit dem Telefonanbieter, doch gerade scheint er sich zum Besseren zu wenden. Als wir die Via Corelli erreichen, lasse ich mich zu dem Lied vom roten Mohn in Montecassino hinreißen, und der Taxifahrer fällt beim Refrain mit ein.

„Do widzenia!“, verabschiede ich mich, gebe mehr Trinkgeld als sonst und mache mich leise summend auf den Weg ins Büro.

So hätte dieser Herbstmorgen laufen können, wäre mir das alles eingefallen. Aber ich habe dem Taxifahrer nie erzählt, dass mein Vater in Montecassino gekämpft hat. Ich habe ihm bloß gesagt, er stamme aus Polen und keine Ahnung was sonst noch, um seinen Fragenhunger zu stillen: „Woher kommt Ihr Vater? Seit wann leben Sie in Italien? Haben Sie noch Verwandte in Polen? Wo genau? Sehen Sie sich ab und zu? Warum sprechen Sie kein Polnisch?“

Ich stolperte hinter glaubhaften Antworten her, zahlte meine spontane Aufrichtigkeit mit der Plumpheit improvisierter Lügen. Ich hatte mir eine italienische Mutter gegeben, um meine spärlichen Polnischkenntnisse zu rechtfertigen, jedoch nicht mit den anderen Fragen gerechnet. Ich kam ins Schleudern, antwortete mit Halbwahrheiten und begriff, dass einem unter Zugzwang nichts Brauchbares einfällt und dass spontane Lügen hässlich sind. Dem Mann, der sie mir aus der Nase gezogen hatte, fiel das womöglich nicht auf, aber mir schon. Ich sah das schwindelerregende Gefälle zwischen dem, was ich erzählte, und dem, was ich verschwieg, und wie zerbrechlich der verbale Schutzschild war, den ich vor mir aufgespannt hatte, ohne ihn wirklich zu brauchen.

Ein einziges Wort hätte genügt – Montecassino –, und schon hätte er mich in Uniform und Waffen gesehen. Es hätte genügt, das Lied vom roten Mohn tatsächlich zu kennen, statt es nur in einem Film über die polnische Eroberung der zerstörten Abtei gehört zu haben, gesungen von der Tenorstimme Adam Astons, der bereits vor dem Krieg ein echter Star gewesen war und in Filmschmonzetten verewigt ist, in denen der Held zu den schmachtenden Klängen eines Tangos, angestimmt von einem befrackten Herrn im Kreis einer Zigeunerkapelle, die Hand der Heldin ergreift. Es hätte genügt zu wissen, dass Aston im wahren Leben Adolf Loewinsohn geheißen hatte und ein in Warschau geborener Jude war, den es 1939 in ein Theater nach Lwiw verschlagen hatte, ehe er die Sowjetunion 1942 mit General Anders’ Truppen verließ. Doch seine größte patriotische Tat war dieses Lied gewesen, aufgenommen 1944 in Rom, in Gedenken an seine im blühenden Mohn gefallenen Kameraden.

Auch mein Vater hatte eine schöne Stimme und war polnischer Jude: genau wie meine Mutter, meine Großeltern, meine Onkel und Tanten und alle meine Verwandten, die tatsächlich in Polen geblieben sind, wenn auch als Tote. Das war es, was ich dem neugierigen Taxifahrer nicht unter die Nase reiben wollte, erst recht nicht, als ich erfuhr, wo er herkam.

Kielce: die Geburtsstadt des Schriftstellers Gustaw Herling, ehemaliger Häftling im sowjetischen Gulag, ehemaliger Soldat des Zweiten Armeekorps, Überlebender von Montecassino. Diese Assoziation hätte ich mit dem Taxifahrer teilen können, aber der Name der Stadt beschwor etwas ganz anderes in mir herauf.

Kielce: Schauplatz des ersten großen Pogroms der Nachkriegszeit, Massaker an rund vierzig überlebenden Juden, woraufhin meine Eltern beschlossen, Polen für immer den Rücken zu kehren.

Wie der berühmte Sänger Adam Aston trug auch mein Vater einen anderen als seinen Geburtsnamen. Allerdings nicht als Künstlernamen, sondern weil er ihn zum Überleben brauchte.

Hätte er ihn abgelegt und seinen jüdischen Namen wieder angenommen, der Pole aus Kielce hätte mir in seinem Taxi keine Fragen gestellt.

Aber der falsche Name meines Vaters ist mein Nachname. Mit ihm bin ich geboren und aufgewachsen, tausendmal habe ich seine Herkunft erklärt, und häufig werde ich für eine Einwanderin, eine Pflegekraft, gar eine Nutte gehalten, weil ich in Italien heute einen slawischen Namen trage. Wie kann ich etwas für falsch halten, das mir seinen Stempel aufgedrückt hat? Wie kann es dieser Name sein, dem mein Vater sein Leben und ich meines verdanke? Was ist eine Täuschung, wenn sie wahrhaftig wird, wenn sie den Lauf der Geschichte zu ändern vermag, die Wirklichkeit formt und sich gleichfalls durch sie verändert? Zu was wird die Lüge, wenn sie sich als Rettung erweist?

Und welche Geschichten, frage ich mich schließlich, kann ich wiederum erzählen? Auf welche Legende kann ich zurückgreifen, bin ich doch der lebende Beweis, dass zwischen Wahrem und Falschem, zwischen Wirklichkeit und Fiktion eine brüchige Grenze verläuft, die Leben und Tod voneinander trennt? Was kann ich erzählen, wohl wissend, dass sich hinter jeder durch falsche Papiere geretteten Existenz ein schwindelerregender Abgrund wahrer Namen, vergessener Namen, verlorener Namen, verschwundener Namen auftut: ausgerottete Familien, Bürger aller Nationen, von den Bomben in schwarze Stümpfe verwandelt, bis zur Unkenntlichkeit zerfetzte Leiber, Leichen, die nie von den Schlachtfeldern getragen wurden, unbekannte Soldaten.

Ich, Helena Janeczek, geboren in München, seit über zwanzig Jahren wohnhaft in Italien, mit polnischen Wurzeln, weil meine jüdischen Eltern aus Polen kamen, und erst recht, weil ich einen slawischen Namen trage, habe, ohne bewusst danach zu suchen, eines schönen Herbsttages einen Ort gefunden: Einen Winkel der Welt, der am Ende sehr viel mehr war als eine Ausflucht, um einen Rattenschwanz plumper Lügen durch eine Geschichte zu ersetzen, die so sagenhaft klingt, dass sie bei ihren Zuhörern sämtliche Fragen erstickt.

Im Mittelpunkt steht eine Abtei: das erste Kloster des Abendlandes, viermal zerstört. Nur wenige Schritte darunter der polnische Friedhof. Weiter unten im Tal, gleich hinter Cassino, der des Commonwealth. Die Deutschen sind in Caira begraben, die Amerikaner in Anzio, die Franzosen in Venafro, die Italiener in Mignano Monte Lungo. Soldaten, die während des Italienfeldzugs und vor allem in der Schlacht um Montecassino gefallen sind, zu der man die vier alliierten Offensiven zwischen Januar und Mai 1944 zusammenfasst. Die Abtei wurde wiederaufgebaut und die Fundamente eines römischen Tempels sichtbar gelassen, den die Bomben ans Licht gebracht hatten; der Felssporn, auf dem sie sich erhebt, ist von dichtem Grün bewachsen, das die letzten Reste des Krieges zudeckt. Nur sind es viel mehr Tote als die auf den umliegenden Ehrenstätten Begrabenen: über dreißigtausend. Dreißigtausend von Millionen. Millionen Männer, aus den fernsten Winkeln angesogen und in den Trichter eines bergumsäumten Tales gespuckt.

Unter ihnen war ein Cousin meiner Mutter: Dolek Szer. Vermutlich hat auch ein guter Freund der Familie dort gekämpft: Emilio Steinwurzel. Beide waren im Zweiten polnischen Korps. Doch kann man höchstens von einem Taxifahrer aus Kielce erwarten zu wissen, dass die Polen an der Befreiung Italiens beteiligt waren. Ebenso wenig macht man sich die Mühe, die Kanadier und Neuseeländer zu erwähnen, wenn von den Angloamerikanern oder schlicht den „Amerikanern“ die Rede ist. Sogar die Italiener sind vergessen, die im Krieg der Alliierten bei den regulären Truppen kämpften statt im Widerstand. Wen wundert es da, dass sich kaum jemand an die Inder, Nepalesen, Maori, Algerier, Hawaii-Japaner, Brasilianer, Senegaler, an die mit der Jüdischen Brigade aus Palästina gekommenen Juden und an all die anderen Soldaten aus der ganzen Welt erinnert, die in Italien landeten. Die in Italien kämpften und häufig dort starben, weil der Strudel, der sie verschlang, nicht einfach Krieg, sondern Zweiter Weltkrieg hieß.

Zweiter Weltkrieg: Dort, datierbar durch einen falschen Pass, liegen meine Wurzeln. Zweiter Weltkrieg: einzig und unteilbar. Einziger Mahlstrom, der fast jeden Fleck der Erde erfasst, jedes Tier und jede Landschaft, der die Menschen durcheinanderwirbelt und zugleich eint und trennt. Zu groß, um ihn ganz zu erfassen, zu fern seine Protagonisten, um sie ohne das Vehikel der Fiktion zu erreichen. Und dennoch sind ihre Leben und ihre vom Vergessen zerfressenen Tode zu wahr, um sich nicht möglichst dicht an die Quellen zu halten, die ihre Bahnen beschreiben und ihren Weg von Kontinent zu Kontinent, von der Vergangenheit in die Gegenwart belegen.

Mein Vater hat nie in Montecassino gekämpft, er ist nie ein Soldat von General Anders gewesen. Doch vielleicht ist durch den Trichter aus Bergen, Tälern und Flüssen in der Ciociaria etwas von mir hindurchgegangen: ein Stück meiner selbst, verloren und wiedergefunden an einem geografischen Punkt, an einem Ort, der uns alle mit einschließt.


ERSTE SCHLACHT

12. Januar – 12. Februar 1944

Sergeant John „Jacko“ Wilkins, 36. Division „Texas“

San Marcos, Texas, 15. Juni 1939 – Cassino, 20. Januar 1944


Oh, die gelbe Rose von Texas ist das einzige Mädchen, das ich liebe,

Ihre Augen sind blauer als die texanischen Himmel,

Ihr Herz ist so groß wie Texas, und wohin ich auch gehe,

Werde ich mich ewig an sie erinnern, weil ich sie so sehr liebe.

 

Zahlreiche Rosen blühen entlang des Wegs,

Aber mein Herz ist in Amarillo, und dort werde ich bleiben,

Mit der gelben Rose von Texas, also muss ich schnell dorthin,

Denn ich war ihre erste Liebe und will die letzte sein.

 

Die Augen von Texas sind über euch, den lieben langen Tag,

Die Augen von Texas sind über euch, ihr entkommt ihnen nicht,

Glaubt nicht, ihr könntet ihnen des Nachts entfliehen oder am frühen Morgen,

Die Augen von Texas sind so lang über euch, wie Gabriels Horn ertönt.

The Yellow Rose of Texas, Volks- und Marschlied der Konföderierten Staaten von Amerika


Sergeant John „Jacko“ Wilkins – und jemanden wie ihn hat es gegeben – war der fünfte Sohn bescheidener Rancher aus San Marcos, Texas, die von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurden. Er war kaum älter als neunzehn, als er von zu Hause fortging. Nicht wegen des Hungers, denn die Wilkins hatten nie ernstlich darunter gelitten, sondern all der Entbehrungen wegen, die ihm eine staubige, schmachvolle Kindheit beschert hatten. Inzwischen liefen die Dinge besser, doch vier Jungs waren dennoch zu viele, um mit fünfzig Longhorns über die Runden zu kommen, und die Übernahme der Farm stand dem Erstgeborenen Henry jr. zu. Als Jacko der Familie mitteilte, er wolle sich zur Nationalgarde melden, zeigten sich denn auch alle einmütig stolz. Der Ruhm, aber vor allem der Schmerz, von Fort Alamo bis zum Bürgerkrieg, gehörten der Vergangenheit an, die 1918 an der Marne gefallenen Landsleute waren fern, und „Frankreich“ war ein Wort, um Parfums oder Seidenstrümpfe zu verkaufen, die sich niemand leisten konnte. Jetzt war die Nation groß, geeint und gestärkt, und „dem Heimatland zu dienen“ bedeutete vor allem, Brände zu bekämpfen, die die Weidegründe bedrohten. Dass diese Brände durch Dürre oder menschliche Gier entfacht wurden, die zumeist unsichtbar und unauslöschlich blieb, stand auf einem anderen Blatt. Um jeden Acre texanischen Boden zu kämpfen blieb dennoch unerlässlich.

Henry jr. brachte Jacko mit dem grünen Truck bis nach Austin, seine Mutter umarmte ihn, und um sich die Rührung nicht anmerken zu lassen, ging sie einen Extra-Proviant an Trockenfleisch und Eingemachtem holen. Sein Vater sagte: „God bless you, son“. Es war das Jahr 1939.

Als John „Jacko“ Wilkins zu Thanksgiving nach Hause kam, erzählte er, er habe ein Mädchen kennengelernt, Sally, und nach kurzem Zögern zog er eine Fotografie hervor, auf der sie freimütig lächelnd die obere Reihe ihrer nicht ganz geraden Zähne zeigte. Am unteren Rand des einer Westernlandschaft nachempfundenen Hintergrunds stand die Signatur des Fotografen aus San Antonio. Sally trug ein Blumenkleid, und ihre Beine steckten in einem Paar Cowboystiefel. Jacko wirkte daneben recht steif und linkisch in seiner Uniform. Aufrecht wie eine Säule und doch beinahe abwesend stand er da, woraus seine Mutter schloss, dass die Sache ernst war. Leider konnte Jacko zu Weihnachten nicht nach Hause kommen, weder allein noch mit seiner Verlobten, und am Erntedanktag des folgenden Jahres war es zu spät. Am 25. November 1940 wurde die gesamte texanische Nationalgarde zur 36. Division der Armee der Vereinigten Staaten.

Es lag in der Luft. Es lag in der Luft, seit die Hauptstadt der Seidenstrümpfe und Parfums im Juni gefallen war und der Blitz über London niederging, es lag in der Luft, seit Präsident Roosevelt nach dem Sommer das Gesetz zur ersten Wehrpflicht in Friedenszeiten verabschiedete, das Männer von einundzwanzig bis fünfunddreißig Jahren einbezog. Doch in San Marcos hielt man lieber an dem Gedanken fest, der Sohn und Bruder hätte weiterhin texanischen Boden zu verteidigen.

Zu Weihnachten wurden Jacko Wilkins und die 36. Division nach Camp Bowie, Texas, verlegt. Am Tag ihrer Ankunft, dem 14. Dezember 1940, tobte der heftigste Eissturm, den es in der Region je gegeben hatte. Einige deuteten ihn als unheilvolles Zeichen, die meisten aber, darunter Wilkins, nahmen das Wüten der Elemente als militärische Herausforderung. Es folgten monatelange Manöver und Übungen kreuz und quer durch die Nation, in Louisiana und in Carolina, in Camp Landing, Florida, in Camp Edwards, Massachusetts, und unweit von dort, wo die Pilgerväter an Land gegangen waren, in Martha’s Vineyard. Aus Monaten wurden vom Takt der Urlaube bestimmte Jahre, die Urlaube ein Sichaufteilen zwischen zu Hause und Sally, die Aufenthalte in San Marcos immer kürzer, nachdem alle zusammengekommen waren, um die Hochzeit zu feiern.

Kurz bevor er sich am 2. April 1943 im Hafen von New York einschiffte, schrieb Jacko an die Familie.

 

Ich bin stolz und glücklich, dass ich die gesamten Vereinigten Staaten kennenlernen durfte. Ich habe den Ozean gesehen, ich habe Palmen und Pinien gesehen, ich habe Tage mit Jungs verbracht, deren Ausdrucksweise mir so fremd und schwer verständlich war, wie es die meine für sie gewesen sein muss, ich habe mich an den Gedanken gewöhnt, dass viele von ihnen Schwarze sind. Dieses Land ist von einer Größe, die Ihr Euch nicht einmal vorstellen könnt, es ist in der Welt fraglos ohnegleichen und so stark und im Recht, dass wir bald mit dem Sieg in der Tasche heimkehren werden. Macht Euch um mich keine Sorgen, seid getrost, dass ich meine Pflicht erfülle, und das von ganzem Herzen.

Während der Atlantiküberquerung litt Jacko mehr als einmal an Seekrankheit und kotzte sich die Seele aus dem Leib. Nach der Ankunft im algerischen Arzew, wo die Vorbereitungsübungen für die Landung in Europa begannen, kollabierten zahlreiche Kameraden unter der Hitze und klagten über Durchfall, doch Wilkins blieb standhaft, schluckte Staub und benetzte die aufgesprungenen Lippen mit Speichel. Im marokkanischen Rabat wurde er befördert. Jacko konnte von Kindheit an schießen, auch krankes Vieh hatte er getötet, doch sein Talent mit der Pistole hatte sich bei der Nationalgarde gezeigt, als er eine Klapperschlange mit dem ersten Schuss in den Kopf getroffen hatte. Ein hervorragender Schütze, zäh und diszipliniert, von positivem Wesen und der Mission mit patriotischem Eifer verschrieben. Amerika hatte sich ein riesiges Kriegsheer geschmiedet, doch in diesem mächtigen, schlammgrünen Strom war jeder kostbar, der zu führen und zu befehlen verstand.

 

Große Neuigkeit: Ich wurde befördert. Ich habe noch keinen Kraut gesehen und bin schon Sergeant! Major Stratford hat zu mir gesagt, „Sieh zu, dass du dich als würdig erweist, Junge“, aber ich habe es als Kompliment genommen. Zum Feiern sind wir in die Stadt gegangen, in ein Bauchtanzlokal. Hier kommt auf zwanzig Männer nur eine Frau, ausnahmslos von Kopf bis Fuß verhüllt, häufig sieht man nur ihre Augen, manchmal auch tätowierte Muster über den Brauen. Das sind Stammesbräuche, und mit den Männern, so wurde uns gesagt, legt man sich besser nicht an. Trotzdem kann ich die Jungs verstehen. Plötzlich hatten sie diese zwischen Busen und Nabel nackten Frauen vor sich, die aufreizend mit Bauch und Hüften wackelten, und konnten einfach nicht mehr an sich halten. Natürlich hatten wir auch getrunken. Die Jungs steckten ihnen Dollars in den Büstenhalter oder in die Hosen: Das ist hier so üblich. Dann wollten sie mich in ein Bordell abschleppen, aber ich weigerte mich. Ich hoffe, es stört Dich nicht, dass ich Dir diese Dinge schreibe. Ich will damit nur sagen, dass ich in dem Moment an Dich gedacht habe und Du mir entsetzlich gefehlt hast. Du kannst Dir nicht vorstellen, welche Sehnsucht und Einsamkeit einen manchmal überkommt. Zum Beispiel abends auf dem Feldbett, wenn man knochenmüde ist, aber nicht einschlafen kann. Du kannst dir nicht vorstellen, in welcher Welt ich gelandet bin: arm, alt, dreckig, Menschen, die in dieser unverständlichen kehligen Sprache krakeelen, bettelnde Kinder, die einen wie Fliegen umschwirren, sengende Sonne und Staub. Inzwischen hoffe ich nur, dass sie uns bald zum Kampf in den echten Krieg schicken, damit all die hässlichen Gedanken ein Ende haben. Ich liebe Dich, Sally, das war es, was ich Dir sagen wollte.

Doch der marokkanische Sommer wollte nicht enden. Im August konnte Jacko die Augen nicht mehr davor verschließen, dass seine Kameraden sich einer nach dem anderen mit kleinen Jungen verdrückten, häufig mit denselben, Faid, Cherif und Mohammed, und er hielt sie sich mit zahllosen Zigaretten im Tausch für Datteln auf Abstand. Voll fassungsloser Wut sprach er mit Sallys Foto aus San Antonio darüber – „Sie versuchen hier, tüchtige Soldaten aus uns zu machen, Sally“, sagte er, „und machen uns zu Schwuchteln“ –, und manchmal masturbierte er sich verzweifelt in den Schlaf.

Als sie am 9. September 1943 dem Krieg entgegenfuhren, glitten sie in einer so sternklaren Nacht über ein so spiegelglattes Meer, dass die Soldaten, als General Eisenhowers Stimme aus den Lautsprechern schallte und die Kapitulation der Italiener verkündete, wie auf einem Kreuzfahrtschiff zu tanzen anfingen. Am Strand von Paestum, wo sie vor Morgengrauen anlandeten, war vom Feind nichts zu sehen, doch beim Vorrücken im ersten Tageslicht traf man auf seine entkörperte Gegenwart: Stacheldraht auf den Dünen, Minen, dann ein paar Jagdbomber, das Feuer der versteckten Panzer, die sie erwarteten, deutsche Mörser und Maschinengewehre auf den mittelalterlichen Türmen der Stadt. Mit beißendem Qualm in den Augen erhaschten sie einen Blick auf den griechischen Tempel, dem Gott jenes Meeres geweiht, das sie ausgespien hatte, ohne sich zu wundern, dass er unversehrt geblieben war. Endlich nahmen sie Paestum ein, erschöpft und verstört, gekämpft zu haben. Wer von ihnen abermals in diese Gegend kommen sollte – ob schon nach einigen Monaten oder erst ein halbes Jahrhundert später –, sollte beim Anblick des Poseidontempels wieder dieselbe Verblüffung empfinden, Markstein des unbewussten Moments, in dem sich die Erkenntnis, ein Überlebender zu sein, auf ewig eingeschrieben hatte. Doch damals konnte Sergeant Wilkins nichts weiter tun, als rennen und den Blick nach vorn zu richten, ohne die Gefallenen zu sehen, ohne dem Schauder nachzugeben, sobald er mit seinen Kampfstiefeln gegen einen von ihnen stieß und die grausige Weichheit eines menschlichen Körpers spürte. Er machte seinem Trupp ein Zeichen, lud und schoss. Zwei Tage später erfolgte vom Boden und aus der Luft der gnadenlose Gegenangriff. Während eines der Rückeroberungsgefechte um Altavilla Silentina wurde Jacko von einer Maschinengewehrsalve an der Brust verwundet, während seine Jungs sich gerade noch rechtzeitig auf den Boden werfen und tags darauf zurückerobern konnten, was von der Gemeinde noch übrig war. Während seiner Genesung hörte Wilkins Geschichten aus Neapel, wo Krieg und Armut jedwede Ordnung zunichtegemacht hatten, und mochten ihm diese Schilderungen übertrieben erscheinen, wie es solche Geschichten bisweilen sind, um einen Bettlägerigen ein wenig aufzumuntern, musste er doch den Berichten glauben, die ihn über die Geschehnisse an der Front auf dem Laufenden hielten. Zwei seiner Männer waren beim Angriff auf das Dörfchen San Pietro gefallen. Einer hatte sein Leben auf den Hängen des Monte Lungo gelassen, ein weiterer war von einer Mine der Volturno-Linie zerfetzt worden. Es war die Feiertagszeit zwischen Halloween und Weihnachten.

Jacko empfand es als seine Pflicht, den Angehörigen und Verlobten persönlich zu schreiben, was ihn in eine haltlose Wehmut stürzte. Aber es half ihm, die Langeweile in Schach zu halten, die zermürbend und zugleich von rastloser Spannung durchsetzt war und im gänzlichen Gegensatz zu den Gefechten stand, von denen er ausgeschlossen war. In Gedanken kehrte er zu dem Augenblick zurück, in dem sein soeben begonnener Krieg um Haaresbreite zu Ende gewesen wäre, nicht mehr als eine wirre Erinnerung, doch im Grunde gab es nicht viel zu begreifen. Was er begriff, war, dass die Verwundung ihn gerettet hatte, und er schwankte zwischen Schuldgefühl und Gottesdankbarkeit. Er versuchte, sich an Letztere zu halten, wappnete sich mit Geduld und übte sich in Vergessen und Zuversicht. Bis eines Tages einer seiner Jungs aus Indiana auftauchte und ihm aufgelöst erzählte, er habe sich während des Ausgangs die Syphilis bei einer neapolitanischen Prostituierten aus dem Viertel Pallonetto geholt, schön sei sie, wunderschön, aber – und er stammelte schluchzend wie ein Kind – sie sei ein Mann, und jetzt schäme er sich so sehr, dass er ebenso gut sterben könnte. Sergeant Wilkins beschwichtigte ihn, so gut er konnte, und ertappte sich dennoch bei dem zornigen Verlangen, diesen beschissenen Krieg zu führen, ihn zu gewinnen und heimzukehren, ihn zu führen und zu siegen, die Ziele und das große Hitlersche Übel, das man ihm eingebläut hatte, klar vor Augen, ohne jemals innezuhalten oder sich von dieser von Elend und Wahnsinn zerfressenen Welt anstecken zu lassen.

Im Januar verließ John Wilkins mit einem Verstärkungskonvoi das Lager im Schatten des Hauptquartiers der Alliierten, das im Königspalast von Caserta untergebracht war. Sie sollten die amerikanischen Stellungen im Nordosten kurz hinter der Grenze zu Latium erreichen, seit auch das letzte Gebirgsbollwerk, der Monte Trocchio, eingenommen und überwunden worden war. Es regnete. Es regnete fast immer, und auf den Gebirgsstraßen verwandelte sich das Wasser in klebrigen Schneeregen und schließlich in Schnee. Es war sehr viel kälter, als man es von einem Land namens Italien erwartet hätte, sehr viel kälter als in Texas, und zahlreiche Lastwagen blieben im Schlamm stecken, vor allem bergan. Doch Jacko konnte es kaum abwarten, endlich sein Regiment zu erreichen, das 141. Der 36. Division „Texas“, und seine innere Haltung entsprach seiner körperlichen Verfassung, die inzwischen gänzlich wiederhergestellt war. Er war ausgeruht, gut genährt, rasiert, flachste lautstark mit seinen Kameraden. Doch etwas von dem, was er sah, sammelte sich auf dem Grund seiner blauen Augen: Dörfer in Schutt und Asche, verheerte Olivenhaine, Kinder ohne Schuhe oder mit Lumpen an den Füßen neben ihren Müttern, die die Kleinsten auf dem Arm trugen und undefinierbare Bündel auf dem Kopf balancierten. Es war unklar, wohin diese Leute unterwegs waren, woher sie kamen, doch sie wanderten die Straße mit den monotonen Schritten eines Menschen entlang, der noch einen weiten Weg vor sich hat.

Italien war kalt, eng und vor allem dunkel, restlos dunkel: die Augen, Haare und Gesichter, die zerschlissenen Kleider und geschwärzten Felder, die geduckten, grauen Häuser, die niedrigen, grauen Himmel, die winterliche Finsternis. Und die nackten Füße der Kinder, die Füße dieser Kinder im Regen, die mit gleichgültigem Platschen im Schlamm versanken, ein Geräusch, das ihn, so ahnte Jacko, bis nach Hause begleiten würde. Womöglich würde er den nächtlichen Anblick der Toten, während er rannte und kämpfte, hinter sich lassen können, aber nicht diese Füße, die ihn überholten, während der Konvoi mühsam vorankroch, und wenn sie näher kamen, vertrieb er sie mit Schokolade oder Kaugummi oder einer Zigarette und sagte, „toma, amigo“. Erst dann wurden sie für einen kurzen Moment von großen, beklommenen Augen verdrängt, ehe eine verdreckte Hand nach den Gaben griff, etwas wie „senchiù“ über die rissigen Lippen kam und die Füße davonflitzten und den Schlamm höher spritzen ließen als zuvor. Dann lachten alle. Jedes Mal blickte sich Sergeant Wilkins nach jemandem um, um die Bemerkung loszuwerden, diese Kinder seien noch viel übler dran als die ärmsten Kinder der campesinos bei ihnen daheim, und jedes Mal fiel ihm ein, dass er unter den Soldaten, die auf diesem Laster saßen, der einzige Texaner war. Wer weiß, ob die anderen, die zur Division „Texas“ unterwegs waren, sein Spanisch drollig gefunden hatten.

Am Tag, als sie das Lager erreichten, wurde Wilkins von einer Erleuchtung durchzuckt und er konnte sich selbst von außen sehen. Er war der Held eines Comics, den er seit seiner Zeit bei der Nationalgarde liebte, Flash Gordon, der auf einem fremden Planeten gelandet war, während die übrig gebliebenen Männer seines Trupps – außer den vier Gefallenen waren zwei im Kampf schwer verwundet worden – sich äußerlich dem eroberten Land angeglichen hatten: lange Bärte, Augenringe, die Gesichter verschattet von der Mangelernährung, der Witterung, dem dünnen Schleier Dreck oder Ruß oder sonst etwas, den selbst die Ruhetage nicht hatten fortwischen können. Bald würde auch er so werden, es war seine Pflicht. Es war sogar ein Privileg, vom Planeten Amerika bis zu diesem entscheidenden Punkt gekommen zu sein, um die Gustav-Linie zu durchbrechen, die letzte Verteidigungslinie, die ihrem Vormarsch auf Rom noch im Weg stand. Doch nachts fand er keinen Schlaf. In drei Monaten waren die Gesichter der Kameraden, die seit der Landung in Salerno an seiner Seite gewesen waren, um Jahre gealtert. Jacko versuchte sich einzureden, dass Billy Morrison, Stanley Laughlin, Richard Gonzales und Jeff McVey zu Männern geworden waren, wie es im Krieg unvermeidlich war, doch auf seiner Brust spürte er die Hand lasten, mit der er ihnen zur Begrüßung auf die Schultern geklopft hatte, und sie fühlte sich fremd und gezeichnet an. Zum Glück schlief er ein, ehe ihm bewusst wurde, dass dieses Gefühl Angst war.

Der nächste Morgen war eisig, aber klar, und laut Vorhersage sollte sich das Wetter in den folgenden Tagen nicht ändern. Nach einem Frühstück mit Kaffee und Eipulver wurden Wilkins und seine Truppe zur Erkundung auf den Monte Trocchio geschickt. Die Sicht war hervorragend, die Deutschen waren dort unten, füllten das Liri-Tal zu ihren Füßen, doch der Blick wanderte immer wieder zu dem Gebäude auf dem Berggipfel, der vor ihnen aufragte. Die Abtei von Montecassino erhob sich auf dem Felsen, ihre wuchtige Silhouette war so vollkommen, so schön, klar und makellos, dass sie der festen Burg glich, als die Gott „The Lord is My Rock and My Fortress“ besungen wird. Die Deutschen hatten sich ins Zeug gelegt, um sie zu schützen, und eine Sicherheitszone um die Wiege des abendländischen Mönchtums gezogen, deren Fundamente der heilige Benedikt im Jahr 526 gelegt hatte, als auf dem neuen Kontinent noch nicht einmal die Wikinger angelandet waren. Der Offizier, der sie über die strategische und kulturelle Bedeutung der Abtei aufklärte, hatte sachlich geklungen, doch Jacko meinte in seiner Stimme einen unwilligen Unterton wahrzunehmen. Oder vielleicht war er es, der eine gänzlich neue Feindseligkeit gegen einen Feind verspürte, der in kurzer Zeit so vielen jungen Männern das Leben genommen hatte und nun alles daransetzte, diese Steine unversehrt zu lassen.

Doch zum Grübeln war keine Zeit. Man musste ins Tal zurück und sich für die entscheidende Stunde bereit machen. Seit einigen Tagen hatte die alliierte Offensive begonnen, im Nordwesten hatten die Franzosen in den Bergen angegriffen, im Südwesten versuchten die Briten, den Garigliano zu überqueren, doch bislang hatten diese Bemühungen keine durchschlagenden Erfolge gezeitigt, und man harrte auf das Eingreifen der Amerikaner. Ihnen, der 36. Division „Texas“, wurde die Ehre und die Bürde zuteil, die Gustav-Linie zu durchbrechen.

Aufklärungstrupps wurden vorangeschickt, die heil und gesund zurückkehrten. Daraufhin zogen die Pioniere los, um das Gelände zu entminen, Stacheldraht zu entfernen, die Strecke 

Helena Janeczek

Über Helena Janeczek

Biografie

Helena Janeczek wurde 1964 in München als Tochter einer jüdisch-polnischen Familie geboren und ging 1983 nach Italien. Sie lebt in Gallarate, wo sie auch ein Literaturfestival kuratiert. 1989 publizierte sie im Suhrkamp-Verlag einen Lyrikband (Ins Freie). Fortan schrieb sie auf Italienisch: 1997...

Pressestimmen
Freie Presse

„Helena Janeczek hat ein umfassendes und interessantes Epos geschrieben, das zudem gut lesbar ist. Ihm liegen umfangreiche Recherchen zugrunde.“

Neue Ruhr Zeitung am Sonntag

„Roman? Doku-Fiktion? Familienchronik? Egal. Helena Janeczek hat ein großartiges Buch geschrieben.“

ORF "ZIB"

„Janeczek verwebt persönliche Geschichten, Schicksale und historisch Verbürgtes zu einer dichten, spannenden Erzählung.“

Kommentare zum Buch
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