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Die Spur der Grausamkeit (Die schwarze Venus 2) Die Spur der Grausamkeit (Die schwarze Venus 2) - eBook-Ausgabe

Veronika Rusch
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Die Josephine-Baker-Verschwörung

— Spannungsreicher historischer Krimi aus Wien

„Wieder ist es ihr gelungen, ihre fiktiven Charaktere perfekt in den historischen Kontext einzubinden. Sie verknüpft, fesselnd erzählt, Fakten mit Fiktion. Und mutet ihren Lesern genau wie Novak überraschende Wendungen zu. Das Buch ist spannend bis zum Schluss. Ein großes Vergnügen.“ - Garmisch-Partenkirchner Tagblatt

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Die Spur der Grausamkeit (Die schwarze Venus 2) — Inhalt

„Die Schwarze Venus“-Trilogie: Historische Spannung um eine legendäre Figur – Josephine Baker, Tänzerin, Vordenkerin, Kämpferin!
Band 2 „Die Spur der Grausamkeit“ spielt in Wien 1928: Bei Josephine Bakers Ankunft in der Stadt fällt ein rätselhafter Schuss. Als kurz darauf die grausam zugerichtete Leiche eines Mannes gefunden wird, begreift Tristan Nowak, dass die Verschwörer noch nicht aufgegeben haben. Mit seinem Versuch, sie zu finden, bringt er nicht nur sich selbst in Gefahr, sondern auch die Frau, die er liebt …  
In ihren historischen Kriminalromanen (Bd. 1: „Der Tod ist ein Tänzer“, Bd. 2: „Die Spur der Grausamkeit“, Bd. 3: „Die Dunkelheit der Welt“) macht Veronika Rusch die faszinierende Tänzerin und Sängerin Josephine Baker, die man auch „Die schwarze Venus“ nannte, zur zentralen Figur einer groß angelegten Verschwörung. Die drei Bände führen die Leser in drei glamouröse Hauptstädte – Berlin, Wien und Paris – und von den goldenen Zwanzigern bis ins Paris des Jahres 1942: Drei Schicksale treffen wieder und wieder aufeinander, ein Mann, gezeichnet durch den Krieg, eine Frau, entschlossen, die Welt zu erobern, ein Gegner, gefährlich und unberechenbar …

„›Der Tod ist ein Tänzer‹ ist ein großartiger historischer Roman, eine gelungene Mischung aus Fakten und Fiktion, unheimlich atmosphärisch und spannend bis zum Schluss. Dieser Roman macht unbedingt Lust auf Teil zwei und drei.“ WDR 4

Die Josephine-Baker-Verschwörung
Band 1: Der Tod ist ein Tänzer
Band 2: Die Spur der Grausamkeit
Band 3: Die Dunkelheit der Welt

€ 12,99 [D], € 13,40 [A]
Erschienen am 31.05.2021
496 Seiten, Klappenbroschur
EAN 978-3-492-06242-8
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 31.05.2021
496 Seiten
EAN 978-3-492-99820-8
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Leseprobe zu „Die Spur der Grausamkeit (Die schwarze Venus 2)“

1
Berlin, April 1926


Als er den Fahrer bat, ihn zu dem Boxclub in der Grenadierstraße zu fahren, war er sich nicht im Klaren darüber, was ihn erwartete. Sein Bestreben war es lediglich, seinen Widersacher in Augenschein zu nehmen. Bisher kannte er nur dessen Namen und wusste, dass er rote Haare hatte. Als er ihn aber dann tatsächlich sah, war er für einen Moment versucht, an eine Fata Morgana zu glauben, an einen bösen Streich, den sein überreiztes Gehirn ihm spielte.
Nowak stand vor dem Boxclub auf dem Bürgersteig, zusammen mit einigen seiner [...]

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1
Berlin, April 1926


Als er den Fahrer bat, ihn zu dem Boxclub in der Grenadierstraße zu fahren, war er sich nicht im Klaren darüber, was ihn erwartete. Sein Bestreben war es lediglich, seinen Widersacher in Augenschein zu nehmen. Bisher kannte er nur dessen Namen und wusste, dass er rote Haare hatte. Als er ihn aber dann tatsächlich sah, war er für einen Moment versucht, an eine Fata Morgana zu glauben, an einen bösen Streich, den sein überreiztes Gehirn ihm spielte.
Nowak stand vor dem Boxclub auf dem Bürgersteig, zusammen mit einigen seiner Spießgesellen, allesamt kräftige, finster aussehende Männer. Sie rauchten, ein paar hatten eine Flasche Bier in der Hand, und alle genossen sichtlich die ersten warmen Sonnenstrahlen dieses Frühlings, was sie mit Sicherheit nicht hätten tun können, wenn alles nach Plan verlaufen wäre. Nowak selbst lehnte lässig an der Hausmauer, die Hemdsärmel hochgekrempelt, und scherzte mit einem dunkelhaarigen, am Hals tätowierten Mann. Sie lachten.
Sein Blick glitt über Nowaks Haare. Ungläubig musterte er den dunklen Rotton, der in der Sonne leuchtete, die unverwechselbaren störrischen Wirbel, die ihm die Haare immer wieder ins Gesicht fallen ließen. Mit tonloser Stimme bat er seinen Fahrer, unauffällig etwas näher heranzufahren. Der Wagen rollte langsam weiter, bis ihn nur noch ein paar Meter von dem Boxclub trennten. Jetzt konnte er Nowak genau betrachten.
Der Mann, der ihn herausgefordert und bis aufs Blut gereizt hatte, war gut zehn Jahre jünger als er, mittelgroß, und obwohl er ziemlich durchtrainiert wirkte, sah er nicht wie der muskelbepackte Boxer aus, den er nach den Beschreibungen vor Augen gehabt hatte. Er hatte zwar breite Schultern, aber sein Körper war schlank, eher sehnig als massig, und seine Bewegungen waren geschmeidig. Er hatte die helle Haut der Rothaarigen und ein schmales, kantiges Gesicht.
Sein Herz machte einen hastigen Sprung, so als habe es sich erst jetzt besonnen weiterzuschlagen, und die verzweifelte Hoffnung, sich getäuscht zu haben, verflog. Er hätte das Profil unter Tausenden wiedererkannt, die arrogante Linie von Stirn und Nase, das kräftige Kinn, die spöttisch zusammengekniffenen Augen. Dann wandte Nowak plötzlich den Kopf und sah direkt in seine Richtung.
Er wich ruckartig zurück. „Fahren Sie los!“, herrschte er den Fahrer an, und als dieser auf das Gaspedal trat, drückte er sich in den Sitz, ohne noch einmal nach draußen zu blicken. Er hatte genug gesehen. Glühender Hass stieg in Wogen in ihm auf und nahm ihm die Luft. Voller Abscheu starrte er auf die verbliebenen Stummel seiner beiden fehlenden Finger. Dieser Mann, der sich Nowak nannte, war nicht erst sein Widersacher, seit er seine Pläne durchkreuzt hatte. Er war sein Todfeind.
Er hatte ihm das Schlimmste angetan, wozu ein Mensch fähig war.




2
Wien, Dienstag, 14. Februar 1928


Als Tristan hinaus auf den Bahnhofsvorplatz trat, wehte ihm ein eisiger Ostwind entgegen, der direkt aus Russland zu kommen schien. Es lag kein Schnee, und der Himmel über der Stadt war sternenklar. Er kam Tristan höher und dunkler vor als zu Hause, und die Sterne funkelten stärker, was vermutlich daran lag, dass der Bahnhofsplatz nicht so hell strahlte, wie er es von Berlin gewohnt war. Zwar gab es auch hier überall elektrische Straßenbeleuchtung, hohe, elegant geschwungene Bogenlampen, doch ihr Licht war gedämpfter, diffuser, weniger aufdringlich. Fast schien es Tristan, als scheuten sich die Lampen, allzu grell zu leuchten, um nicht Dinge zu enthüllen, die lieber im Dunkeln blieben. Die Lichter von Berlin dagegen waren schamlos, sie legten das Schöne und das Hässliche, das Offensichtliche und das Geheimnisvolle gleichermaßen bloß. Er zog ein letztes Mal am Stummel seiner Zigarette, warf die Kippe achtlos in den Rinnstein und sah sich nach einem Taxi um. Die Zugpassagiere, die mit ihm angekommen waren, begannen sich bereits zu zerstreuen. Als Tristan auf den Taxistand zuging, fuhr gerade das letzte Auto mit dem schwarz-weißen Würfelmuster an den Türen weg. Er blieb stehen und fluchte leise.
„Brauchn S’ einen Träger, gnädiger Herr?“, sprach ihn jemand an. Tristan drehte sich um. Hinter ihm stand ein mickriges Männlein undefinierbaren Alters in einer schmuddeligen Jacke und mit einer Schiebermütze auf dem Kopf. Er hatte kohlschwarze, schlau funkelnde Augen, einen zerfransten Kosakenschnurrbart und einen Goldzahn, der hervorblitzte, wenn er sprach. Tristan musterte die dürre Gestalt, an dem die Kleider hingen wie an einem Kleiderständer, und schüttelte den Kopf. „Danke, nein.“ Er hatte nur für ein paar Tage gepackt, seine Reisetasche war nicht schwer, doch selbst wenn, fiele es ihm mit Sicherheit leichter, sie zu tragen, als diesem schwindsüchtigen Klappergestell.
„Wissen S’ denn, wohin?“ Der Mann trat einen Schritt näher. „Gestatten, Anton Lowatschek.“ Er tippte sich an seine Mütze. „Nur für den Fall, dass Sie nicht wissen, wohin, wüsst ich nämlich, wo ich Sie zum Übernachten hinschicken tät.“
„Ach ja?“ Tristan musterte den Mann. Er schien ihm nicht besonders vertrauenerweckend. „Ich suche ein Hotel, nicht allzu weit vom Zentrum …“
„Ja, eh! Da hab ich genau das Richtige für Sie. Ich führ Sie auch hin. Kostet Sie nur ein paar Groschen.“
Anton Lowatschek sah Tristan erwartungsvoll an, und als dieser nach kurzer Überlegung nickte, wollte er nach der Reisetasche greifen, aber Tristan schüttelte den Kopf. „Die trage ich schon selbst.“ Er folgte dem kleinen Mann, der jetzt flink um den Bahnhof herumging und zielsicher in eine der Gassen einbog, die im rechten Winkel zum Bahnhofsgebäude verliefen. Dabei redete er ununterbrochen, gestikulierte, deutete hierhin und dorthin und lieferte offenbar Erklärungen zu der Gegend, in der sie sich befanden. Tristan verstand höchstens die Hälfte von dem, was Anton Lowatschek von sich gab, was zum einen an seinem ausgeprägten Wiener Dialekt lag und zum anderen daran, dass er fast so schnell redete, wie er dahinwieselte. Nach rund zehn Minuten bogen sie in eine weitere, nur spärlich beleuchtete und sehr lange Gasse ein, an deren Ende sich, soweit Tristan verstand, die angepriesene Herberge befinden sollte. Schließlich blieben sie vor einem schlichten, etwas in die Jahre gekommenen Haus im Biedermeierstil stehen. Es war ziegelrot gestrichen, mit weiß abgesetzten Fenstern. Über der Tür hing eine große, kugelrunde Milchglaslampe, und darüber stand: Hotel Vollmond.
„Da wär ma’s jetzt“, sagte Lowatschek und ließ dabei seinen Goldzahn aufblitzen. Er wirkte fast so stolz, als handle es sich um sein Hotel.
Tristan musterte das Haus. Es sah ganz passabel aus. Und seine Ansprüche waren ohnehin nicht besonders hoch. „Danke.“ Er gab seinem Begleiter den vereinbarten Lohn. Dieser deutete eine Verbeugung an. „Wann S’ mich mal wieder brauchen, fragen S’ einfach am Bahnhof nach dem Lowatschek. Die kennen mich da alle. Und wenn’s Ihnen nichts ausmacht, tät ich mich freun, wenn Sie der gnädigen Frau Salminger sagen täten, dass ich Sie hergebracht hab.“
Tristan versprach es, Lowatschek tippte sich an die zerknautschte Mütze und eilte den Weg zurück, den sie eben gekommen waren.
Tristan wollte gerade die Eingangstür öffnen, als er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Er war es inzwischen so gewöhnt, auf das kleinste Detail, auf jedes Geräusch und jede unerwartete Bewegung in seiner Umgebung zu achten, dass er augenblicklich in Alarmbereitschaft versetzt wurde. Er ließ die Klinke los und wandte den Kopf. Reflexartig war er versucht, gleichzeitig nach seiner Pistole zu greifen, bis ihm einfiel, dass sich diese nicht unter seinem Jackett, sondern ganz unten in seiner Reisetasche befand. Lautlos trat er aus dem Licht der Lampe und fixierte den unbeleuchteten Hauseingang schräg auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo er die Bewegung wahrgenommen hatte. Kurz darauf trat ein Mann daraus hervor. Er hatte seinen Hut tief ins Gesicht gezogen und trug einen schwarzen Mantel. Einen Augenblick lang blieb er stehen, und Tristan hatte das deutliche Gefühl, dass der Mann direkt zu ihm herüberblickte, obwohl sein Gesicht im Schatten lag und er seine Miene nicht sehen konnte. Dann drehte der Mann sich um und ging gemächlich davon.
Tristan sah ihm einen Moment lang unschlüssig nach, dann schüttelte er den Kopf und schalt sich überreizt. Wie hatte er nur daran denken können, seine Pistole zu ziehen, nur weil jemand aus einem Hauseingang trat? Wer sollte ihm hier, unmittelbar nach seiner Ankunft in dieser ihm völlig fremden Stadt, etwas Böses wollen?

„Guten Abend, der Herr.“ Die Stimme schien von nirgendwoher zu kommen. Das Foyer des Hotels war nur schummrig beleuchtet. Mit den zahlreichen gerahmten Bildern an der einen und einem deckenhohen, mit Büchern, Zeitschriften und allerlei Nippes vollgestopften Regal an der anderen Wand wirkte es ein bisschen wie das Wohnzimmer einer alten Dame. Der große Käfig mit dem grünen Papageienpärchen am Fenster verstärkte den Eindruck noch. Eine Sitzgruppe mit verblichenem Gobelinmuster stand vor einem offenen Kamin, in dem ein Feuer brannte, doch niemand saß dort, und die Rezeption war nicht besetzt. Die Luft war erfüllt von süßlich orientalischem Rauch, der jedoch nicht vom Kaminfeuer herrührte. Tristan sah sich um und bemerkte, wie sich hinter dem hohen Tresen der Rezeption etwas regte. Eine kleine Frau erhob sich aus einem Lehnsessel, und sie sah so steinalt aus, dass es ihn wunderte, dass sie sich überhaupt noch bewegte. Ihre spärlichen grauen Haare hatte sie am Hinterkopf zu einem walnussgroßen Dutt zusammengezurrt, und ihre Haut war pergamentartig, fast durchscheinend und von blauen Adern durchzogen. Die alte Dame war sorgfältig zurechtgemacht, trug ein elegantes grünes Kleid mit Schleife am faltigen Hals und ein Schultertuch, leuchtend orangefarbenen Lippenstift, Lidstrich, grünen Lidschatten und Ohrringe mit smaragdgrünen Steinen. Sie rauchte eine Zigarillo, was den intensiven Geruch erklärte.
„Sie wünschen?“, fragte sie, und ihre Stimme war für eine so gebrechliche Person überraschend klar und kräftig.
Tristan kam näher und erkundigte sich nach einem Zimmer, und da er vermutete, dass es sich bei der Dame um die gnädige Frau Salminger handelte, von der Anton Lowatschek gesprochen hatte, hielt er sich auch gleich an sein Versprechen und erwähnte, dass dieser ihn hergebracht habe.
Das Gesicht der Frau legte sich in tausend Falten, als sie lächelte. „Der Lowatschek. Ein guter Kerl. Bringt mir oft Gäste.“ Sie nickte Tristan beifällig zu, als stiege er in ihrer Achtung allein deshalb, weil er sich von dem seltsamen Vogel hatte herbringen lassen.
„Er ist kein Dienstmann, oder? Er trägt keine Uniform“, sagte Tristan, neugierig geworden, was es mit seinem beflissenen Begleiter auf sich hatte.
„Er war mal einer. Aber sie haben ihm die Kommission abgenommen“, erwiderte die alte Frau, während sie sich eine Lesebrille aufsetzte, die an einer Kette um ihren Hals hing, und mit gichtgekrümmten Händen langsam in einem großen Buch blätterte. An fast jedem ihrer knochigen Finger prangte ein Ring. „Hat nicht viel Glück gehabt im Leben, der Anton. Zuerst war er im Waisenhaus, da war es schon schwer für ihn, überhaupt was zu werden, und dann, als er sich grad so aufgerappelt hatte, ist er in Hefn gekommen …“ Als sie Tristans verständnisloses Gesicht sah, übersetzte sie ins Hochdeutsch: „Ins Zuchthaus haben sie ihn gesteckt. Danach war die Konzession als Dienstmann weg. Und jetzt schlägt er sich so durch, und seine alten Kollegen lassen ihn a bisserl was mitverdienen. Die meisten jedenfalls. Von mir kriegt er für jeden Gast eine Provision.“ Frau Salminger beugte sich über den Tresen und tätschelte Tristans Hand. „Das haben Sie gut gemacht, dass Sie mit dem mitgegangen sind. Auf den Lowatschek kann man sich verlassen.“ Sie reichte ihm einen Meldeblock und einen Stift. „Name und Anschrift“, sagte sie dann, jetzt ganz geschäftsmäßig. „Und dann bräuchte ich noch Ihren Ausweis.“ Letzteres kam fast entschuldigend, so als erwarte sie, dass diese Bitte auf Widerstand stieß. „Die Stadt verlangt das, und wir sind ein anständiges Hotel.“
„Kein Problem.“ Tristan griff in die Innentasche seines Mantels und legte ihr seinen Ausweis hin. Er war nagelneu. Und falsch. Tristan hatte ihn sich extra für diese Fahrt machen lassen, bei einem Fälscher, der ihm empfohlen worden war, und er hatte eine Stange Geld dafür bezahlt. Außer dem falschen Militärpass und der Geburtsurkunde mit seinem richtigen Namen hatte er bislang keine Papiere besessen und auch nicht gebraucht. Seit dem Krieg war er nicht mehr aus Berlin herausgekommen, hatte keinerlei Ambitionen gehabt, irgendwo anders hinzugehen. Abgesehen davon, dass er in den ersten Jahren nicht das Geld für eine Reise gehabt hätte, war ihm die Aussicht auf Neues nach der Zeit auf den Schlachtfeldern in Belgien und Frankreich auch nicht besonders verlockend erschienen.
Es war auch nicht so, dass es ihn inzwischen mehr reizte, fremde Städte zu besuchen. Berlin war seine Stadt, sein Territorium, dort fühlte er sich sicher. In Wien war Tristan nur aus einem einzigen Grund, und wenn er ehrlich zu sich war, war dieser Grund eher zweifelhaft und nicht dazu geeignet, sein grundsätzliches Unbehagen, was Reisen und fremde Orte anbelangte, zu zerstreuen. Im Gegenteil. Je länger die Fahrt hierher gedauert, je mehr Zeit er zum Nachdenken gehabt hatte, desto mehr war er davon überzeugt, dass die Entscheidung hierherzukommen, ein Fehler gewesen war.
Die Hotelwirtin öffnete das kleine graue Heft, das absolut echt aussah, oder womöglich sogar echt war, so genau wusste Tristan über die Arbeitsweise des Fälschers nicht Bescheid. Auf der Innenseite prangte sein Foto, mit Stempel und Unterschrift, und darunter stand der Name, der ihm inzwischen – zumindest was den Nachnamen anbelangte – zu einer zweiten Haut geworden war. Obwohl er ihn schon so lange trug, hatte es ihn dennoch eigentümlich berührt, ihn zum ersten Mal unter seinem Bild in einem offiziellen Dokument stehen zu sehen.
„Jan Nowak“, las sie und hob forschend den Kopf. „Stammen Sie aus Polen?“
Tristan schüttelte den Kopf. „Ich bin Berliner.“
„Ist eh gleich.“ Sie reichte ihm den Ausweis zurück. „Nowak heißen bei uns viele. Meistens Juden. Es bedeutet neuer Mann. Aber das wissen Sie ja wahrscheinlich.“
Tristan nickte unverbindlich und versuchte dabei, seine Überraschung zu verbergen. Er hatte sich noch nie Gedanken über die Bedeutung des Namens gemacht. Aber neuer Mann war so passend, dass man hätte meinen können, er hätte ihn sich allein deswegen ausgesucht.
Die alte Dame legte einen Zimmerschlüssel auf den Tresen, an dem eine Kugel aus massivem Messing hing, und deutete zur Treppe, die neben der Rezeption nach oben führte. „Erster Stock. Nach der Stiege rechts. Frühstück gibt’s von halb acht bis neun. Wasserklosett und Duschbad ist auf dem Gang neben dem Stiegenhaus.“ Dann griff sie nach einem Gehstock, der an der Wand lehnte. Er war glänzend schwarz und hatte einen silbernen Pferdekopf als Griff. Den Stock fest umklammert schlurfte sie mit kleinen Schritten und krummem Rücken zu einer Tapetentür, die Tristan bis dahin gar nicht bemerkt hatte, und verschwand dahinter. Tristan blieb allein im Foyer zurück. Er nahm den schweren Schlüssel und seine Reisetasche und stieg die knarzende, mit einem abgetretenen blutroten Teppich ausgelegte Treppe nach oben.
Sein Zimmer war riesig und sah aus wie ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert. Das Bett war aus Mahagoniholz und ebenfalls von beeindruckender Größe, ebenso der wuchtige Schrank und der Schreibtisch. Es gab ein breites Sofa, einen Waschtisch und sogar einen offenen Kamin, der allerdings kalt war. Stattdessen stand in einer Ecke ein Kohleofen. An den hohen, dunkelgrün tapezierten Wänden hingen großformatige Frauenakte in Öl. Er zog den Mantel aus, warf ihn aufs Bett und ging zu einem der beiden Fenster. Die Gasse lag still und verlassen da. Kein Mann, keine Maus war zu sehen, nur eine einzelne Laterne einige Meter entfernt beleuchtete das Kopfsteinpflaster, der Rest lag im Dunkeln. Er trat näher heran und sah nach unten. Sein Zimmer befand sich direkt über dem Eingang, wo die milchige Kugellampe die Illusion eines vom Himmel gefallenen Vollmonds suggerierte. Ein großer Nachtfalter schwirrte trotz der Kälte um das Licht, stieß gegen das Glas und nahm dann taumelnd erneut Anlauf. Immer und immer wieder. Tristan kam der unangenehme Gedanke, dass er selbst eine gewisse Ähnlichkeit mit diesem Falter hatte. Auch er kreiste seit zwei Jahren um ein Licht, das unerreichbar war, und hatte dafür etwas aufs Spiel gesetzt, was womöglich viel wertvoller gewesen war.




3

Wenn Tristan an Helene dachte und es ihm dabei gelang, ihre schmerzhafte letzte Begegnung auszublenden, fiel ihm als Erstes der Tag der Prüfung ein. Es war im letzten Jahr, Anfang Dezember gewesen. Er hatte sie zusammen mit Fanny und den Mädchen abgeholt. Die Universität zu Berlin war im Palais des Prinzen Heinrich am Boulevard Unter den Linden untergebracht und wirkte in seiner weitläufigen U-Form herrschaftlich und Ehrfurcht gebietend wie ein Schloss. Als sie darauf zugingen, die Mädchen schnatternd und aufgeregt, Fanny nur scheinbar abgeklärt, waren ziemlich widersprüchliche Gefühle in ihm hochgekommen, und er war kurz versucht gewesen, einfach umzudrehen. Am Ende hatte er sich dann aber zusammengerissen und war weitergegangen. Schließlich ging es um Helene und nicht um ihn. Was keine seiner Begleiterinnen ahnte und was er auch niemandem verraten würde, war die Tatsache, dass er nicht das erste Mal hier war.
Sein letzter Besuch der Universität lag allerdings viele Jahre zurück, hatte gewissermaßen in einem anderen Leben stattgefunden. Dennoch konnte er sich an jedes Detail erinnern. An den weitläufigen Vorplatz, die geschäftig umhereilenden Studenten mit den Büchern unter den Armen, die hohe Eingangshalle, in die sie gleich treten würden und in der jeder Schritt von den Wänden widerhallte und jedes gewechselte Wort irgendwie bedeutsam klang. An einem sonnigen Maitag im Jahr 1912, an seinem vierzehnten Geburtstag, hatte ihm sein Vater die Universität gezeigt. Er hatte sich gewünscht, dass Tristan später einmal hier studierte. Rechtswissenschaften wie er selbst, oder Medizin, zur Not auch Philosophie, Geschichte, Literatur, Hauptsache, etwas Ziviles, etwas, was der Menschheit zugutekam und sie nicht zu zerstören trachtete, so hatte er sich ausgedrückt. Sie waren gemeinsam durch die heiligen Hallen spaziert, wie sein Vater sie ein wenig spöttisch und dennoch liebevoll bezeichnete, hatten die Hörsäle und die Bibliothek besichtigt und einen alten Professor besucht, der sich an seinen Vater als Student erinnerte. Nach diesem Besuch hatte ihm sein Vater den Füllfederhalter geschenkt, mit dem er damals seine Examina geschrieben hatte, und sie waren zusammen ins Café Kranzler gegangen. Tristan hatte jede Minute dieses Tages genossen, er war stolz darauf gewesen, allein mit seinem Vater den Tag verbringen zu dürfen und behandelt zu werden, als sei er schon erwachsen. Dennoch hatte er zwei Jahre später mit einer einzigen falschen Entscheidung alle Hoffnungen, die sein Vater in ihn gesetzt hatte, für immer zerstört. Und er hatte keine Ahnung, wo der Füllfederhalter geblieben war.
„Sollen wir hier warten oder reingehen?“ Doros rauchige Stimme riss ihn abrupt aus seinen bitteren Gedanken.
Er schrak zusammen. „Wie?“
„Du träumst wohl auch von ’ner Professorenkarriere, was, Nowak?“, kicherte sie und knuffte ihn scherzhaft in die Seite. „Überlass das mal lieber unserem Lenchen. Ich glaub nicht, dass die hier Verwendung für ’nen zerbeulten Boxer ausm Scheunenviertel haben.“
„Der Nowak und Professor!“ Fanny schnaubte, als sie Doros Worte hörte. „Dass ick nich lache. Genügt schon, wenn eene solche Flausen im Kopp hat. Ihr andern behaltet mal schön de Beene uffm Boden.“
„Beene uffm Boden? Was denn noch alles!“ Doro verdrehte theatralisch die Augen. „Ich dachte immer, wir sollen die Beine breitmachen …“
Die anderen lachten lauthals los, und Fanny versetzte Doro eine Kopfnuss. „Halt bloß die Gusche, du freches Luder“, sagte sie, jedoch mit einem gutmütigen Grinsen im Gesicht. Dann zupfte sie ihr Kostüm zurecht und wandte sich an Tristan. „Wat meenste, lassen die uns hier überhaupt rin?“
Tristan, der zur Feier des Tages den besten Anzug trug, den er besaß – inzwischen waren es einige mehr als noch vor zwei Jahren, wo er tagein, tagaus dasselbe abgetragene Jackett und alte Hosen getragen hatte –, musterte das bunte Grüppchen Frauen, das jetzt mit ihm vor dem großen Eingangsportal der Universität stand. Die fünf Frauen hatten sich genau wie er in Schale geworfen, allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Fanny, die Namensgeberin von Fannys Wohnheim für junge Mädchen, das in Wirklichkeit ein gepflegter kleiner Puff mit Rundumservice war, hatte ihre unübersehbare Leibesfülle in ein hautenges schwarzes Wollkostüm gezwängt und trug darüber einen Mantel mit Fuchskragen. Ihre kohlschwarz gefärbten Haare waren wie immer zu einem hohen, bienenkorbartigen Dutt aufgetürmt, die Ohrringe groß und glitzernd, die Strümpfe mit Naht. Dorothea, die alle nur Doro nannten, trug ein feuerrotes Kleid, das in etwa die gleiche Farbe wie ihre Haare hatte und ihre Kurven äußerst vorteilhaft zur Geltung brachte. Darüber hatte sie ein wollenes schwarzes Cape drapiert. Auch wenn sie die Masse ihrer Haare mithilfe einer züchtigen Flechtfrisur gebändigt hatte, hatte sie noch immer eine gewisse Ähnlichkeit mit einer glühenden Fackel, an der man sich schnell verbrennen konnte, wenn man ihr zu nahe kam. Frieda dagegen, mit ihrem Kleinmädchengesicht und den zu einer Gretlfrisur aufgesteckten weißblonden Haaren, wirkte mit ihren rot geschminkten Lippen und den Schuhen mit schwindelerregend hohen Absätzen wie eine Zwölfjährige in den Sachen ihrer Mutter, was, wie Tristan vermutete, durchaus beabsichtigt war. Viele Männer standen auf so etwas. Einzig die rundliche, semmelblonde Babette und Olga, schmal und blass, mit streng gescheitelten Haaren, machten einen unauffälligen Eindruck, was vermutlich daran lag, dass die beiden Fannys Service nur im Nebenerwerb in Anspruch nahmen und tagsüber ein mehr oder weniger bürgerliches Leben führten.
Tristan erwiderte Fannys fragenden Blick mit einem Lächeln. „Wer, bitte, sollte uns daran hindern wollen, Helene nach ihrer Prüfung gebührend zu empfangen?“
„Recht haste, Nowak!“, rief Doro, öffnete schwungvoll die Tür und stolzierte hinein. Die anderen folgten ihr.
In der Eingangshalle warteten bereits einige andere Angehörige, überwiegend stolze oder bange Eltern und ein paar Freunde und Freundinnen auf die Studenten, deren letzte mündliche Prüfung heute anstand. Ihre Köpfe fuhren herum, als die Truppe eintrat. Tristan bemerkte die spöttischen bis interessierten Mienen der Männer sowie die versteinerten Gesichter der Frauen, die hastig die Köpfe abwandten, sobald Doro, die sich eine Zigarette angezündet hatte, sie, den Rauch aufreizend langsam ausstoßend, herausfordernd betrachtete. Eine Frau im Pelzmantel schüttelte den Kopf und flüsterte ihrem Mann, der den Blick nicht von Doro abwenden konnte, etwas zu. Hastig wandte auch er sich ab.
„Schau sie dir an, diese elenden Heuchler“, flüsterte Doro halblaut. „Hier kuschen sie vor ihren Weibern, und wenn es dunkel ist, kommen sie angeschlichen, all die geilen Böcke, und warten nur darauf, dass wir ihnen einen …“
„Sei stille“, zischte Fanny. „Wir machen unserem Lenchen hier keine Schande, hörste?“
Doro klappte den Mund zu und schwieg.
Als die ersten Prüflinge den Gang entlanggelaufen kamen, fast nur junge Männer, die meisten mit erleichtertem Gesichtsausdruck, manche auch mit betretenen Mienen, ein junger Mann weinte sogar, wurde Tristan nervös. Er drehte den Strauß Rosen, den er in den Händen hielt, unschlüssig hin und her, wusste plötzlich nicht mehr, wohin damit. Was, wenn sie durchgefallen war? Helene hatte seit Jahren auf diesen Moment hingearbeitet. Anfangs hatte sie selbst nicht recht daran geglaubt, doch in der letzten Zeit war sie immer fleißiger geworden, hatte wochenlang nur über ihren Büchern gesessen, sich regelrecht hineingefressen, geflucht und geschimpft und viele Vormittage lang mit Tristan über Kants Kategorischen Imperativ, die Existenz Gottes oder das Recht auf Glück diskutiert. Tristan hatte dazu nicht recht viel beizutragen gehabt, er hatte sich nur vage an den Unterricht im Gymnasium erinnert und sich insgeheim gefragt, weshalb sich Helene ausgerechnet Philosophie für ihr Studium ausgesucht hatte. Dennoch hatte er sie nach Kräften unterstützt, und wenn Zeit war, hatte er sie Definitionen und Begriffe abgefragt und ihre Arbeiten gelesen, die sie für die Professoren schreiben musste. Und jetzt standen sie hier, und wenn alles gut gegangen war, würde Helene, die ihren Lebensunterhalt wie die anderen Mädchen seit Jahren in Fannys Wohnheim für junge Mädchen verdiente, tatsächlich einen Universitätsabschluss in der Tasche haben.
Tristan stieß geräuschvoll die Luft aus, als eine blonde junge Frau heranstürmte und die Frau im Pelzmantel, die eben noch über Tristan und die Frauen den Kopf geschüttelt hatte, freudestrahlend umarmte.
Fanny warf ihm einen Blick zu. „Dit Lenchen packt dit och. Glaub mir, Nowak. Die is helle.“
Tristan nickte. „Ich weiß, Fanny. Ich weiß …“
Inzwischen hatte sich die Eingangshalle mit Studenten gefüllt. Die meisten von ihnen strahlten, die wenigen, die nicht bestanden hatten, schlichen leise davon. Die erhabene, Ehrfurcht gebietende Stille von vorhin war verflogen, der Raum war erfüllt von Lachen und aufgeregten Stimmen. Von Helene noch immer keine Spur. Dann, endlich kam eine zierliche Gestalt den Flur entlang. Tristan straffte sich, und die Frauen stießen sich an.
„Da kommt sie.“
„Wie guckt sie?“
„Lacht sie?“
Helene lachte nicht. Sie ging langsam, wirkte klein und schmal in den flachen Schuhen und dem mokkabraunen Hosenanzug, den sie sich extra für die mündliche Prüfung gekauft hatte, obwohl Doro der Meinung gewesen war, Hosen wären doch wirklich das Allerletzte, wenn die Prüfer Männer wären. Helenes dichte, stark gelockte kastanienbraune Haare waren kinnlang geschnitten und hinter die Ohren gestrichen, und ihre Wangen glühten. Auf ihrem Gesicht lag ein ungläubiger Ausdruck.
Als sie näher kam und Tristan ansah, erkannte er, dass ihre Augen leuchteten, und er wusste, dass alles gut gegangen war. Er seufzte erleichtert auf und wollte ihr die Rosen geben, dessen Papier von seinem nervösen Händedruck ganz feucht und zerknittert war, doch Helene flog ihm um den Hals und zerdrückte damit auch die Rosen.
Jubel brach unter ihren Freundinnen aus, sie klatschten, lachten und redeten durcheinander, jede wollte Helene drücken und küssen, und Doro sprang um sie alle herum wie ein Derwisch.
Als sie kurz darauf auf dem Weg zur Straßenbahn gewesen waren, hatte Fanny stolz gesagt: „Dit möchte ich mal sehen, ob’s in Berlin noch ’n Puff gibt, der Huren mit Diplom beschäftigt.“

Tristan musste jedes Mal lächeln, wenn er daran dachte, auch jetzt wieder, während er am Fenster stand und auf die dunkle Gasse hinunterblickte.
Sie hatten damals den ganzen restlichen Tag Helenes Abschluss gefeiert. Fanny hatte alles aufgetischt, was ihr für diesen Anlass angemessen erschien. Es gab Fleischsuppe mit Klößchen, dann Königsberger Klopse mit Kartoffeln und viel Kapernsoße, Helenes Lieblingsgericht, außerdem Buletten mit Kartoffelsalat und als Nachtisch Kirschgrütze mit flüssiger Sahne und eine riesige Buttercremetorte. Nach Feierabend war Vito, Fannys Liebhaber, vorbeigekommen. Er hatte sein Akkordeon mitgebracht und italienische Schlager gespielt, und Tristan hatte zur Feier des Tages eine ganze Kiste Champagner organisiert. Seine Verbindungen waren trotz der Tatsache, dass er den Schwarzmarkthandel seit Freddys Tod aufgegeben hatte, noch immer recht gut. Seine engsten Freunde aus dem Boxclub, Kurt Herzfeld, Rudko Franzen und Otto Michalke, waren ebenfalls dazugekommen, und der junge Rudko entpuppte sich nicht nur als exzellenter Gitarrenspieler, der der alten, verstimmten Gitarre, die schon seit ewigen Zeiten in Fannys Salon an der Wand hing, erstaunliche Rhythmen entlockte, sondern auch als ausgesprochen talentierter Tänzer. Er tanzte reihum mit allen Frauen, doch besonders angetan hatte es ihm Frieda, die er am liebsten nicht mehr losgelassen hätte, was den anderen Mädchen nicht entging. Sie stießen sich an und rissen Witze, und Doro meinte: „Wenn du Frieda weiter so angrapschst, Rudko, musst du Eintritt bezahlen.“
Es war weit nach Mitternacht, als sich die Gesellschaft langsam auflöste. Kurt und Rudko, beide selbst nicht mehr nüchtern, mussten Otto stützen, während sie schwankend zu dritt die Treppe hinabstiegen, und Rudko warf noch vom unteren Treppenabsatz einen sehnsüchtigen Blick zu Frieda hinauf, die jedoch nur ihr rätselhaftes Puppenlächeln lächelte, ihm einen Handkuss zuwarf und dann in ihrem Zimmer verschwand.
Tristan dagegen blieb. Willig ließ er sich von Helene an der Hand nehmen und in ihr Zimmer führen, wo eine kleine, mit einem Tuch gedämpfte Nachttischlampe sanftes Licht verbreitete und ein frisch bezogenes, duftig aufgeschütteltes Bett wartete.
Bereits seit geraumer Zeit trafen sich Tristan und Helene regelmäßig, immer spät in der Nacht, nachdem ihr letzter Freier gegangen war. Manchmal schliefen sie miteinander, im Licht der kleinen Lampe, und zumindest für Tristan war es jedes Mal ein Versuch, die Erinnerung an die anderen Männer, die vorher da gewesen waren, auszulöschen. Oder zumindest eine Weile fernzuhalten. Meistens jedoch hielten sie sich nur fest, im Dunkeln, atmeten den Geruch des anderen, flüsterten einander Dinge ins Ohr, die sie bei Tage nicht zu sagen wagten. Es war eine Nachtbeziehung, die sie führten. Ein vages, schwebendes Miteinander, beschränkt auf ein kleines, kaltes Zimmer, das oft noch nach dem allzu üppigen Aftershave eines vorherigen Freiers stank und ihnen doch Geborgenheit und Wärme schenkte.
Heute jedoch war es anders. Helene nahm ihn vor aller Augen mit in ihr Zimmer, er musste nicht auf das Klopfzeichen an dem Rohr warten, das von oben hinunter und durch sein Zimmer im Boxclub führte und anzeigte, dass der letzte Freier gegangen war.
„Fanny hat mir bis zum Jahresende freigegeben“, hatte Helene lächelnd gesagt und langsam ihre strenge weiße Bluse aufgeknöpft.
„Keine Männer?“, hatte Tristan gefragt.
„Keine Männer außer dir.“

Tristan machte einen Schritt vom Fenster zurück und zog mit einer unwirschen Bewegung den Vorhang zu. Er durfte nicht mehr an Helene denken. Nicht an die uneingestandene Hoffnung, die er sich bei diesen Worten gemacht hatte, an seinen vergeblichen, ganz und gar idiotischen Wunsch, dass all die anderen Männer nie mehr zurückkämen. Und er mochte auch nicht an die Wut denken, die ihn gepackt hatte, als ihm klar geworden war, dass dem nicht so war. Er ballte seine Hände zu Fäusten, bis die Fingerknöchel weiß anliefen, und ließ dann abrupt wieder locker. Es gab Momente, da fürchtete er sich vor sich selbst.

Veronika  Rusch

Über Veronika Rusch

Biografie

Veronika Rusch ist Jahrgang 1968. Sie studierte Rechtswissenschaften und Italienisch in Passau und Rom und arbeitete als Anwältin in Verona, sowie in einer internationalen Anwaltskanzlei in München, bevor sie sich selbständig machte. Heute lebt sie als Schriftstellerin mit ihrer Familie in ihrem...

Pressestimmen
Garmisch-Partenkirchner Tagblatt

„Wieder ist es ihr gelungen, ihre fiktiven Charaktere perfekt in den historischen Kontext einzubinden. Sie verknüpft, fesselnd erzählt, Fakten mit Fiktion. Und mutet ihren Lesern genau wie Novak überraschende Wendungen zu. Das Buch ist spannend bis zum Schluss. Ein großes Vergnügen.“

Bielefelder - Das Magazin für Stadtmenschen

„Gekonnt verwebt Veronika Rusch Fakten und Fiktion, entwickelt ihre starken Figuren weiter und entfaltet einen Lesesog, der dem geneigten Leser auf vergnügliche Weise so einige Stunden der Nachtruhe stiehlt. Aber das ist es allemal wert. Ein höchst lesenswerter historischer Kriminalroman.“

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