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Die steinerne Matratze

Die steinerne Matratze - eBook-Ausgabe

Margaret Atwood
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Erzählungen

„Mit ihrem neuen Kurzgeschichtenband schreibt Margaret Atwood brillant gegen das Klischee der sanften Seniorin an. (…) Die wahrhaft schönsten Momente ihrer Erzählungen sind jene Stellen, in denen etwas völlig Beiläufiges die Geschichte noch einmal ganz neu aufreißt.“ - SPIEGEL Online

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Die steinerne Matratze — Inhalt

„Verna hatte anfänglich nicht vorgehabt, jemanden zu töten.“ Mit diesem fulminanten ersten Satz beginnt die titelgebende Erzählung und sofort befindet man sich im Atwood-Kosmos, sofort wird man hineingezogen in eine Geschichte, die hintergründig, spannend und unglaublich komisch zugleich ist. Verna begibt sich auf eine Arktisreise, um endlich alles hinter sich zu lassen, um abzuschalten. Doch statt Ruhe, Weite, Eis und Schnee trifft sie unerwartet auf den Mann, der ihr Leben für immer veränderte, als er sie vor über fünfzig Jahren zum Schultanz lud, die unscheinbare, fleißige Verna Pritchard an der Seite des begehrten Footballstars. Wie Verna nun späte Rache übt, erzählt Atwood so lakonisch und souverän, wie es nur die „Queen der kanadischen Literatur“ (Literarische Welt) vermag, erzählt in einer einzigen Geschichte ein ganzes Leben. All ihre stilistische Virtuosität, die Leichtigkeit, den Witz und die Ironie legt Margaret Atwood in diesen Band, ein Glanzstück ihrer Erzählkunst.

€ 10,99 [D], € 10,99 [A]
Erschienen am 02.11.2016
Übersetzt von: Monika Baark
304 Seiten
EAN 978-3-8270-7907-7
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Leseprobe zu „Die steinerne Matratze“

ALPHINLAND

Der Eisregen rieselt herab, händeweise leuchtender Reis, den irgendein unsichtbar Feiernder wirft. Überall, wo er landet, entsteht eine Schicht aus körnigen Eiskristallen. Es ist ein herrlicher Anblick im Licht der Straßenlaternen: wie Feensilber, denkt Constance. Aber der Gedanke liegt bei ihr natürlich nahe; sie lässt sich viel zu leicht verzaubern. Die Schönheit ist eine Illusion und eine Warnung: Schönheit hat eine dunkle Seite, wie bei giftigen Schmetterlingen. Sie sollte an die Gefahren denken, die Risiken, das Leid, das dieser Eissturm [...]

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ALPHINLAND

Der Eisregen rieselt herab, händeweise leuchtender Reis, den irgendein unsichtbar Feiernder wirft. Überall, wo er landet, entsteht eine Schicht aus körnigen Eiskristallen. Es ist ein herrlicher Anblick im Licht der Straßenlaternen: wie Feensilber, denkt Constance. Aber der Gedanke liegt bei ihr natürlich nahe; sie lässt sich viel zu leicht verzaubern. Die Schönheit ist eine Illusion und eine Warnung: Schönheit hat eine dunkle Seite, wie bei giftigen Schmetterlingen. Sie sollte an die Gefahren denken, die Risiken, das Leid, das dieser Eissturm vielen Menschen zufügen wird; jetzt schon zufügt, wenn man den Fernsehnachrichten glauben darf.

Der Fernseher ist ein hochauflösender Flachbildschirm, den Ewan gekauft hat, um Eishockey und Football zu gucken. Constance hätte lieber wieder das alte Gerät mit seinen seltsam orangegetönten Menschen und seinem körnigen und verblassenden Bild: Es gibt Dinge, die sich in hoher Auflösung einfach nicht gut machen. Sie stört sich an den Poren, Falten und Nasenhaaren, den blendend weißen Zähnen, die einem aufgedrängt werden, so dass man sie unmöglich ignorieren kann, wie man es im wahren Leben täte. Es ist, als würde man gezwungen, jemandes Badezimmerspiegel zu sein, einer von der Sorte, der alles vergrößert: selten eine schöne Erfahrung.

Beim Wetter halten sich die Moderatoren glücklicherweise im Hintergrund. Sie haben ihre Landkarten, ihre ausladenden Gesten wie Kellner in glamourösen Dreißiger-Jahre-Filmen oder Zauberer beim Enthüllen der schwebenden Jungfrau. Sehen Sie, staunen Sie! Gigantische weiße Schwaden ziehen über den Kontinent! Unmengen davon!

Weiter geht’s mit der Sendung im Freien. Zwei junge Sprecher – ein junger Mann, eine junge Frau, beide in modischen schwarzen Parkas mit einer Aura aus blassem Fell ums Gesicht – kauern unter tröpfelnden Regenschirmen, während die Autos knirschend und mit angestrengt arbeitenden Scheibenwischern vorbeischleichen. Sie sind aufgeregt; sie sagen, so etwas hätten sie noch nie gesehen. Natürlich nicht, sie sind zu jung. Es folgen Katastrophenaufnahmen: eine Massenkarambolage, ein umgestürzter Baum, der ein Haus zerteilt hat, ein Knäuel aus Stromleitungen, vom Gewicht des Eises nach unten gedrückt und unheilvoll flackernd, eine Reihe Flugzeuge im Schneeregen, gestrandet auf einem Flughafen, ein dicker Lkw, der quer auf der Seite liegt und vor sich hin qualmt. Vor Ort sind ein Krankenwagen, ein Feuerwehrwagen und ein Haufen Rettungshelfer in Regenkleidung: Es gibt einen Verletzten, immer ein Anblick, der das Herz schneller schlagen lässt. Ein Polizist taucht auf, Eiskristalle färben seinen Schurrbart weiß; er bittet die Menschen in strengem Tonfall, zu Hause zu bleiben. Ganz im Ernst, sagt er den Zuschauern. Glauben Sie nicht, Sie könnten den Elementen trotzen! Seine hochgezogenen, ge-eisten Brauen sind edel wie auf den Plakaten für Kriegsanleihe-Kampagnen aus den vierziger Jahren. Constance erinnert sich noch an diese Plakate oder bildet sich’s zumindest ein. Aber womöglich erinnert sie sich auch nur an Geschichtsbücher oder Museumsexponate oder Dokumentarfilme: Manchmal ist es unheimlich schwer, diese Erinnerungen präzise festzumachen.

Und dann schließlich ein bisschen Pathos: Man sieht einen halb erfrorenen Straßenhund in einer rosa Babydecke. Besser wäre ein halb erfrorenes Baby gewesen, aber der Hund tut’s auch. Die beiden jungen Sprecher machen verzückte Gesichter; die junge Frau tätschelt den Hund, der kraftlos mit seinem nassen Schwanz wedelt. „Glück gehabt, Kleiner“, sagt der junge Mann. Was er damit sagen will: Das könnten Sie sein, wenn Sie sich nicht benehmen, nur dass Sie niemand retten wird. Der junge Mann dreht sich zur Kamera und guckt andächtig, obwohl klar ist, dass er sich köstlich amüsiert. Da kommt noch was auf uns zu, sagt er, das Zentrum des Sturms hat uns noch gar nicht erreicht! Chicago hat’s schlimmer erwischt, wie so oft. Bleiben Sie dran!

Constance schaltet den Fernseher aus. Sie geht durchs Zimmer, dimmt das Licht und dann setzt sie sich vors Fenster, blickt hinaus in die von Laternen beleuchtete Dunkelheit und sieht, wie sich die Welt in Diamanten verwandelt – Äste, Dächer, Stromleitungen, alles glitzert und funkelt.

„Alphinland“, sagt sie laut.

„Du wirst Salz brauchen“, sagt Ewan direkt in ihr Ohr. Als er zum ersten Mal mit ihr sprach, erschrak sie und hatte sogar Angst – Ewan war seit mindestens vier Tagen in nicht mehr konkret lebendem Zustand gewesen –, aber jetzt ist sie entspannter, was ihn anbelangt, so unberechenbar er auch sein mag. Es ist wundervoll, seine Stimme zu hören, auch wenn von einem Gespräch in dem Sinne nicht mehr die Rede sein kann. Seine Wortmeldungen sind eher einseitig: Wenn sie ihm antwortet, kommt selten eine Gegenreaktion. Aber so war es eigentlich schon immer zwischen ihnen.

Sie wusste nichts mit seinen Sachen anzufangen, danach. Erst ließ sie sie im Schrank hängen, aber es war zu verstörend, die Tür aufzumachen und die Jacketts und Anzüge auf den Bügeln zu sehen, die schweigend darauf warteten, dass Ewans Körper in sie hineinschlüpfte und sie spazieren führte. Die Tweed-sakkos, die Wollpullover, die karierten Arbeitshemden … die Sachen in die Altkleidersammlung geben, was vernünftig gewesen wäre, das konnte sie nicht. Wegwerfen konnte sie sie auch nicht: Das wäre nicht nur Verschwendung gewesen, sondern auch zu abrupt, als reiße man sich ruckartig ein Pflaster von der Haut. Also hatte sie sie zusammengefaltet und eingemottet und im obersten Geschoss in eine Truhe gepackt.

Tagsüber ist das völlig in Ordnung. Ewan scheint es nicht zu stören, und wenn sie auftaucht, klingt seine Stimme fest und munter. Eine Stimme, die vorausschreitet, die den Weg weist. Eine Stimme wie ein ausgestreckter Zeigefinger. Fahr hierhin, kauf dies, tu das! Ein leicht spöttischer Ton, neckend, erhellend: so war er oft zu ihr, vor seiner Krankheit.

Nachts jedoch werden die Dinge komplizierter. Es hat Albträume gegeben: ein Schluchzen aus dem Innern der Truhe, ein Wehklagen, ein Flehen um Befreiung. Fremde Männer tauchen an der Haustür auf und behaupten, Ewan zu sein, aber sie sind es nicht. Stattdessen sind sie bedrohlich, sie haben schwarze Trenchcoats an. Sie verlangen etwas Verworrenes, was Con-stan-ce nicht ausmachen kann, oder, schlimmer noch, sie bestehen darauf, Ewan zu sehen, sie drängen sich mit eindeutig mörderischen Absichten an ihr vorbei. „Ewan ist nicht zu Hause“, sagt sie inständig, trotz der gedämpften Hilfeschreie aus der Truhe unterm Dach. Während die Männer mit stampfenden Schritten die Treppe hinaufgehen, wacht sie auf.

Sie hat schon mit Schlaftabletten geliebäugelt, aber sie weiß, dass sie süchtig machen und zu Schlaflosigkeit führen können. Vielleicht sollte sie das Haus verkaufen und in eine Eigentumswohnung ziehen. Zum Zeitpunkt der Beerdigung wurde diese Idee von den Jungs forciert, die längst keine Jungs mehr sind und in Neuseeland und Frankreich leben, praktischerweise zu weit weg, um sie allzu oft zu besuchen. Die Jungs wurden nachhaltig unterstützt von ihren energischen und doch taktvollen und beruflich versierten Ehefrauen, einer Schönheitschirurgin und einer Wirtschaftsprüferin, und so waren es vier gegen eine. Aber Constance gab nicht nach. Sie kann das Haus nicht im Stich lassen, weil Ewan da drin ist. Wobei sie klug genug war, ihnen nichts davon zu erzählen. Sie haben ihr ohnehin immer eine leichte Form von Borderline unterstellt, wegen Alphinland, wobei sich der Ruch der Verrücktheit zu verflüchtigen beginnt, sobald ein solches Unterfangen richtig Geld abwirft.

Eigentumswohnung ist ein Euphemismus für Altenheim. Constance macht ihnen keinen Vorwurf: Sie wollen nur das Beste für sie, nicht nur das, was am einfachsten ist für sie selbst, und sie waren verständlicherweise entsetzt beim Anblick der Unordnung, sowohl in Constance selbst – wobei sie da ein Auge zugedrückt haben, schließlich war sie in Trauer – als auch, nur zum Beispiel, in ihrem Kühlschrank. In diesem Kühlschrank standen Lebensmittel, für die es keine vernünftige Erklärung gab. Das ist ja der reinste Sumpf, konnte sie sie denken hören. Ein Wunder, dass sie sich noch keine Lebensmittelvergiftung geholt hat. Aber natürlich nicht, denn sie hatte in jenen letzten Tagen ja kaum was gegessen, Kräcker, Scheibenkäse, Erdnussbutter direkt aus dem Glas.

Die Ehefrauen waren auf denkbar liebenswürdige Weise mit der Situation umgegangen. „Brauchst du das hier noch? Und das?“

„Nein, nein“, hatte Constance aufgeheult. „Ich will nichts davon! Schmeiß es weg!“

Die drei kleinen Enkelkinder, zwei Mädchen und ein Junge, waren auf eine Art Ostereiersuche geschickt worden nach Tassen Tee und Kakao, die Constance überall hatte stehen lassen und die jetzt mit grauer und blassgrüner Haut in diversen Entwicklungsstadien überzogen waren. „Guck mal, Maman! Hier ist schon wieder eine!“ „Ih, wie eklig!“ „Wo ist Opa?“

Im Altenheim hätte sie zumindest Gesellschaft. Und sie wäre die Verantwortung los, denn so ein Haus müsse instand gehalten werden, man müsse sich kümmern, und warum sollte sie sich mit alldem belasten? Das war die Idee, die ziemlich detailliert von ihren Schwiegertöchtern dargelegt wurde. Constance könne ja anfangen, Bridge zu spielen oder Scrabble, schlugen sie vor. Oder Backgammon, das angeblich wieder populär sei. Nichts, was allzu strapaziös oder aufwühlend sei fürs Gehirn. Irgendein harmloses Gesellschaftsspiel.

„Noch nicht“, sagte Ewans Stimme. „Du bist noch nicht so weit.“

Constance weiß, dass diese Stimme nicht real ist. Sie weiß, dass Ewan tot ist. Natürlich weiß sie das! Andere – andere, die kürzlich einen Menschen verloren haben – haben die gleiche Erfahrung gemacht oder eine ähnliche. Akustische Halluzinationen nennt man das. Sie hat davon gelesen. Das ist normal. Sie ist nicht verrückt.

„Du bist nicht verrückt“, sagt Ewan tröstend. Er kann so zärtlich sein, wenn er glaubt, es quäle sie etwas.

Er hat recht mit dem Salz. Sie hätte Anfang der Woche ihren Vorrat aufstocken sollen, aber sie hat’s vergessen, und wenn sie sich jetzt nicht um welches bemüht, wird sie in ihrem eigenen Haus zur Gefangenen werden, denn bis morgen wird sich die Straße in eine Eislaufbahn verwandelt haben. Was, wenn die Eisschicht über Tage nicht schmilzt? Ihr könnten die Vorräte ausgehen. Sie könnte zu einem dieser Fälle werden – einsame alte Frau, Unterkühlung, Hunger –, denn schließlich, wie Ewan schon früher immer bemerkt hat, kann man nicht nur von Luft leben.

Sie wird sich hinauswagen müssen. Selbst eine einzige Tüte Streusalz wird reichen für die Treppe und den Weg, so dass niemand zu Tode kommt, sie eingeschlossen. Der Eckladen: er ist nur zwei Straßen weiter. Sie wird ihr Einkaufswägelchen mitnehmen müssen, rot und ebenfalls wasserdicht, denn das Salz wird einiges wiegen. Nur Ewan hat das gemeinsame Auto gefahren; ihr eigener Führerschein ist vor Jahrzehnten abgelaufen, denn nachdem sie richtig eingetaucht war in Alphinland, hatte sie das Gefühl, zu unkonzentriert zu sein, um Auto zu fahren. Alphinland erfordert intensives Nachdenken. Nebensächlichkeiten wie Stoppschilder haben da keinen Platz.

Es muss schon jetzt ziemlich glatt sein da draußen. Sie könnte sich das Genick brechen bei dieser Eskapade. Zögernd steht sie in der Küche. „Ewan, was soll ich tun?“, fragt sie.

„Reiß dich zusammen“, sagt Ewan mit fester Stimme. Was wenig aufschlussreich ist, aber das war sein üblicher Weg, auf eine Frage zu reagieren, wenn er sich nicht festnageln lassen wollte. Wo warst du, ich hab mir solche Sorgen gemacht, hattest du einen Unfall? Reiß dich zusammen. Liebst du mich wirklich? Reiß dich zusammen. Hast du eine Affäre?

Nach einigem Wühlen findet sie in der Küche einen großen Gefrierbeutel, schüttet den Inhalt aus, drei verschrumpelte haarige Karotten, nimmt die kleine Blechschaufel und füllt die Tüte mit Asche aus dem Kamin. Seit Ewan aufgehört hat, in sichtbarer Gestalt anwesend zu sein, hat sie kein Feuer mehr gemacht, weil es ihr nicht richtig erschien. Feuer zu machen ist ein Akt der Erneuerung, des Neubeginns, und sie will nicht beginnen, sie will weitermachen. Nein: sie will zurück.

Da liegt noch ein Stapel Brennholz und etwas Anzündholz; ein paar halb verbrannte Scheite vom letzten gemeinsamen Feuer sind im Kamin. Ewan lag auf dem Sofa, ein Glas von diesem ekelhaften Nährstoffgetränk mit Schokogeschmack; er hatte eine Glatze, wegen der Chemo und der Bestrahlung. Sie steckte ihn in die karierte Decke und setzte sich neben ihn und hielt seine Hand, und die Tränen liefen ihr stumm übers Gesicht, und sie wandte den Kopf ab. Ihr Kummer musste nicht auch ihm noch Kummer bereiten.

„Schön“, sagte er mühsam. Das Reden fiel ihm schwer: seine Stimme war unglaublich dünn, genau wie der Rest seines Körpers. Aber das war nicht die Stimme, die er jetzt hat. Die Stimme, die er jetzt hat, ist wieder normal: Es ist seine Stimme wie vor zwanzig Jahren, tief und volltönend, vor allem wenn er lacht.

Sie zieht sich Mantel und Stiefel an, findet ihre Handschuhe und eine ihrer Wollmützen. Ach ja, und Geld wird sie brauchen. Hausschlüssel: Es wäre doch blöd, sich auszusperren und vor der eigenen Haustür zu einem Eisklumpen zu erstarren. Als sie mit dem Wägelchen an der Haustür ist, sagt Ewan zu ihr: „Nimm die Taschenlampe mit“, also stapft sie in ihren Stiefeln nach oben ins Schlafzimmer. Die Taschenlampe liegt auf dem Nachttisch auf seiner Seite des Bettes; sie lässt sie in ihre Handtasche fallen. Ewan ist so gut in diesen Dingen. Sie selbst hätte nie an eine Taschenlampe gedacht.

Die Stufen vorm Haus sind jetzt schon komplett vereist. Sie bestreut sie mit der Asche, stopft den Beutel zurück in ihre Tasche und arbeitet sich im Krebsgang Stufe um Stufe hinunter, wobei sie sich mit einer Hand am Geländer festhält und mit der anderen Hand das Wägelchen hinter sich herzieht, holperdiholperdiholper. Als sie den Gehweg erreicht hat, klappt sie ihren Regenschirm auf, aber das wird nicht funktionieren – beides auf einmal kriegt sie nicht hin –, also klappt sie ihn wieder zu. Sie wird ihn als Gehstock benutzen. Zentimeterweise rückt sie hinaus auf die Straße – sie ist weniger vereist als der Gehweg – und stakst los, indem sie sich mithilfe des Regenschirms ausbalanciert. Autos sind keine unterwegs, also kann sie zumindest nicht überfahren werden.

Dort, wo die Straße besonders glatt ist, streut sie noch mehr Asche und hinterlässt eine schwache schwarze Spur. Schlimmstenfalls wird sie ihr vielleicht nach Hause folgen können. Genau so etwas könnte auch in Alphinland passieren – eine schwarze Aschespur, geheimnisvoll, betörend, ähnlich wie leuchtende weiße Steine in einem Wald, oder Brotkrümel –, nur dass es mit dieser Asche noch etwas Besonderes auf sich hätte. Man müsste etwas über sie wissen, einen Vers oder Satz kennen, den man aussprechen müsste, um ihre zweifellos finstere Macht zu bannen. Aber nichts mit Staub zu Staub; nichts, was mit Sterbesakramenten zu tun hätte. Eher eine Art Runenzauber.

„Asche, Masche, Flasche, wasche“, sagt sie laut vor sich hin, während sie sich ihren Weg über das Eis bahnt. Es gibt einiges, was sich auf Asche reimt. Sie wird die Asche in den Erzählstrang einflechten müssen oder in einen der anderen Erzählstränge: in dieser Hinsicht bietet Alphinland viele Möglichkeiten. Milzreth Inflagranti, der gemeine und hinterhältige Tyrann, wäre der plausibelste Grund für diese faszinierende Asche. Mit bewusstseinsverändernden Visionen führt er Reisende hinters Licht, er lockt sie vom Weg ab und sperrt sie in Eisenkäfige oder bindet sie mit goldenen Ketten an Mauern fest, und dann quält er sie, indem er haarige Kleinkobolde und Cyanognome und Feuerferkel und was nicht alles zu Hilfe ruft. Er sieht gern dabei zu, wie ihre Kleidung – die seidenen Gewänder, die gestickten Westen, die pelzbesetzten Umhänge, die glänzenden Schleier – in Fetzen geht, während sie flehen und sich auf dekorative Weise winden. An alledem kann sie noch herumfeilen, wenn sie wieder zu Hause ist.

Milzreth hat das Gesicht ihres ehemaligen Chefs, aus der Zeit, als sie mal als Kellnerin arbeitete. Er war ein Grapscher. Sie fragt sich, ob er die Buchreihe jemals gelesen hat.

Jetzt hat sie die erste Querstraße erreicht. Dieser Ausflug war vielleicht doch keine gute Idee: ihr Gesicht ist klatschnass, sie hat eiskalte Hände und ein Rinnsal Schmelzwasser läuft ihr den Rücken hinunter. Aber jetzt ist sie schon unterwegs, jetzt muss sie die Sache durchziehen. Sie atmet die kalte Luft ein; kleine Eiskügelchen peitschen ihr ins Gesicht. Der Wind frischt auf, genau wie’s im Fernsehen angesagt worden war. Dennoch hat es etwas Belebendes, hier draußen im Sturm zu sein, etwas Anregendes: Es fegt die Spinnweben weg, es zwingt einen zum Durchatmen.

Der Eckladen ist rund um die Uhr geöffnet, was sie und Ewan immer zu schätzen gewusst haben, seit sie vor zwanzig Jahren in dieses Viertel gezogen sind. Die Säcke mit dem Streugut, die sonst immer draußen vor dem Laden liegen, fehlen jedoch. Sie betritt den Laden und zieht ihr zweirädriges Einkaufswägelchen hinter sich her.

„Gibt es noch Salz?“, fragt sie die Frau hinter der Theke. Die Frau ist neu. Constance hat sie noch nie gesehen; der Durchlauf hier ist groß. Ewan sagte immer, in dem Laden werde bestimmt Geld gewaschen, da er sich bei der geringen Kundschaft und dem Zustand der Salatköpfe unmöglich lohnen könne.

„Leider nein, meine Liebe“, sagt die Frau. „Die Leute haben alles auf einen Schlag weggekauft. Um gewappnet zu sein, denke ich.“ Sie will damit andeuten, dass Constance versäumt hat, sich zu wappnen, was ja auch stimmt. Es ist ein lebenslanges Versäumnis: Sie hat sich noch nie gegen etwas gewappnet. Aber wie soll man denn noch staunen, wenn man gegen alles gewappnet ist? Gegen den Sonnenuntergang. Den Mondaufgang. Den Eissturm. Was wäre das für eine unspannende Existenz.

„Oh“, sagt Constance. „Kein Salz. Da hab ich wohl Pech gehabt.“

„Sie sollten bei diesem Wetter nicht draußen herumlaufen, meine Liebe“, sagt die Frau. „Viel zu gefährlich!“ Obwohl sie rotgefärbte Haare und einen trendy ausrasierten Nacken hat, ist sie bestimmt zehn Jahre jünger als Constance und um einiges dicker. Zumindest schnaufe ich nicht, denkt Constance. Dennoch findet sie es schön, meine Liebe genannt zu werden. So wurde sie genannt, als sie deutlich jünger war, und dann lange Zeit nicht mehr. Jetzt ist es eine Anrede, die sie wieder ziemlich häufig zu hören bekommt.

„Das geht schon“, sagt sie. „Ich wohne nur ein paar Straßen weiter.“

„Ein paar Straßen ist ziemlich weit bei so einem Wetter“, sagt die Frau, die trotz ihres Alters ein Tattoo hat, von dem ein kleines Stück aus ihrem Kragen guckt. Es sieht aus wie ein Drache oder etwas in der Art. Stacheln, Hörner, Glubschaugen. „Sie könnten sich den Arsch abfrieren.“

Constance stimmt ihr zu und fragt, ob sie ihr Wägelchen und ihren Schirm hinter der Ladentheke parken dürfe. Dann schiebt sie einen Einkaufswagen durch die Gänge. Es sind keine anderen Kunden im Laden, nur in einem Gang trifft sie einen schmächtigen jungen Mann an, der Tomatensaftdosen in ein Regal stellt. Aus der Glasvitrine nimmt sie sich eines der Brathähnchen, die sich tagein, tagaus auf Spießen drehen wie in einer Vision der Hölle, und dazu eine Packung Tiefkühlerbsen.

„Katzenstreu“, sagt Ewans Stimme. Kommentiert er ihren Einkauf? Diese Hähnchen waren ihm nicht recht – bestimmt voll mit Chemikalien –, auch wenn er es anstandslos aß, wenn sie mal eins mitbrachte, damals, als er noch im Essmodus war.

„Was meinst du damit?“, sagt sie. „Wir haben doch gar keine Katze mehr.“ Sie hat festgestellt, dass sie laut mit Ewan reden muss, denn Gedankenlesen kann er wohl nicht. Wobei es manchmal doch geht. Seine Kräfte sind nicht immer gleich stark.

Ewan geht nicht darauf ein – immerzu neckt er sie, oft zwingt er sie dazu, selbst auf die Antworten zu kommen –, und dann fällt bei ihr der Groschen: Die Katzenstreu ist für die Stufen vorm Haus, statt Salz. Es wird damit nicht ganz so gut funktionieren, es wird nichts zum Schmelzen bringen, aber immerhin für ein wenig Haftung sorgen. Sie hievt einen Sack davon in den Wagen und nimmt noch zwei Kerzen und eine Packung Streichhölzer. So. Jetzt ist sie gewappnet.

Zurück an der Theke tauscht sie ein paar Nettigkeiten mit der Frau über die hervorragende Qualität des Hühnchens aus – auch die Frau mag diese Hühnchen, denn wozu soll man sich die Mühe machen und kochen, wenn man allein ist, ja selbst zu zweit –, und sie verstaut ihre Einkäufe in ihrem Wägelchen, wobei sie der Versuchung widersteht, nach dem Drachentattoo zu fragen. Das Thema könnte schnell ausarten, wie sie aus Erfahrung weiß. In Alphinland gibt es Drachen, und zahlreiche Fans mit vielen tollen Ideen, die sie unbedingt mit Constance teilen wollen. Wie sie die Drachen hätte anders darstellen sollen. Wie sie selbst die Drachen darstellen würden. Unterarten von Drachen. Fehler, die ihr unterlaufen seien bezüglich Pflege und Fütterung und so weiter. Verblüffend, wie sich Leute so aufregen können über etwas, was gar nicht existiert.

Hat die Frau ihr Gespräch mit Ewan mitbekommen? Wahrscheinlich ja, und wahrscheinlich hat sie sich nicht daran gestört. Jeder Laden, der rund um die Uhr geöffnet hat, muss reichlich Kunden haben, die sich mit imaginären Gefährten unterhalten. In Alphinland würde ein solches Benehmen allerdings anders gedeutet werden: Einige der Bewohner haben übersinnliche Vertraute.

„Wo genau wohnen Sie denn, meine Liebe?“, ruft die Frau ihr nach, als Constance schon halb aus der Tür ist. „Ich könnte einem Freund ne SMS schreiben, der könnte Sie nach Hause bringen.“ Was für ein Freund? Vielleicht ist sie mit einem Biker zusammen, denkt Constance. Vielleicht ist sie jünger, als Constance gedacht hat, vielleicht sieht sie einfach nur verlebt aus.

Constance tut, als hätte sie nichts gehört. Es könnte eine Falle sein, und im nächsten Moment stünde ein Gangster vor ihrer Tür, um das Haus auszurauben, Klebeband griffbereit in der Tasche. Sie behaupten, sie hätten eine Autopanne und ob sie mal kurz telefonieren dürften, und weil man so ein verdammt herzensguter Mensch ist, lässt man sie rein, und kaum sieht man sich um, haben sie einen schon mit Klebeband ans Treppengeländer gefesselt und schieben einem Stecknadeln unter die Fingernägel, damit man seine Passwörter ausspuckt. Was das anbelangt, ist Constance gut informiert: Sie guckt schließlich nicht umsonst Fernsehen.

Die Aschespur nützt jetzt überhaupt nichts mehr – sie ist vereist, sie ist nicht mehr zu sehen –, und der Wind ist stärker geworden. Soll sie die Katzenstreu hier und jetzt öffnen? Nein, dazu bräuchte sie ein Messer oder eine Schere; obwohl diese Säcke ja meist eine Schnur zum Aufreißen haben. Sie leuchtet mit der Taschenlampe ins Wägelchen hinein, doch die Batterie scheint sehr schwach, das Licht ist zu trübe, um etwas zu erkennen. Sie könnte bis aufs Mark erfrieren, während sie sich mit so einem Sack abmüht; sie sollte sich besser sputen. Wobei sputen wohl kaum der richtige Ausdruck ist.

Die Eisschicht wirkt inzwischen doppelt so dick wie vorhin. Die Büsche auf dem Rasen vorm Haus sehen aus wie Springbrunnen, ihr leuchtendes Blattwerk stürzt anmutig zu Boden. Hier und da blockiert ein abgebrochener Ast einen Teil der Straße. Als sie ihr Haus erreicht, lässt Constance das Wägelchen draußen auf dem Pfad stehen und zieht sich am Geländer die rutschigen Stufen hoch. Glücklicherweise brennt das Verandalicht, obwohl sie sich nicht erinnern kann, es angeschaltet zu haben. Umständlich hantiert sie mit dem Schlüssel, öffnet die Tür und stiefelt in die Küche, wobei sie überall Pfützen hinterlässt. Dann geht sie mit der Küchenschere in der Hand denselben Weg zurück, steigt die Stufen hinunter zu ihrem roten Wägelchen, schneidet den Sack Katzenstreu auf und streut großzügig.

So. Wägelchen die Stufen hoch, holperdiholperdiholper, und rein ins Haus. Tür abschließen. Klatschnassen Mantel ausziehen, klatschnasse Mütze und Handschuhe auf die Heizung legen, Stiefel im Flur parken. „Melde Vollzug“, sagt sie, falls Ewan zuhört. Sie will ihn wissen lassen, dass sie wohlbehalten zurück ist; er könnte sich sonst Sorgen machen. Sie haben sich immer kleine Zettelchen dagelassen oder Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, bevor die vielen digitalen Gerätschaften Einzug hielten. In ihren extremeren und einsameren Momenten hat sie sich überlegt, Nachrichten beim Telefonanbieter zu hinterlassen. Vielleicht könnte er sie mittels elektrischer Teilchen oder Magnetfelder abhören oder was immer er da benutzt, um seine Stimme durch die Frequenzen zu schießen.

Aber jetzt ist kein einsamer Moment. Es ist einer der besseren Momente: Sie ist zufrieden mit sich, weil sie den Salzauftrag ausgeführt hat. Außerdem hat sie Hunger. So viel Hunger hat sie noch nie gehabt, seit Ewan nicht mehr bei den Mahlzeiten anwesend ist: allein zu essen war viel zu demoralisierend. Jetzt aber reißt sie mit den Fingern das Hähnchenfleisch ab und schlingt die Stücke in sich hinein. So machen es die Leute in Alphinland, wenn sie gerettet wurden – aus Kerkern, Mooren und Eisenkäfigen, aus treibenden Schiffen: Sie essen mit den Händen. Nur die allerhöchsten Schichten haben das, was man Besteck nennen würde, wobei fast jeder ein Messer hat, bis auf die sprechenden Tiere. Sie leckt sich die Finger ab und wischt sie sich am Geschirrtuch sauber. Eigentlich müsste noch Küchenrolle da sein, aber sie findet sie nicht.

Da ist noch ein bisschen Milch, sie trinkt große Schlucke direkt aus dem Karton, fast ohne sich zu bekleckern. Später wird sie sich noch ein heißes Getränk machen. Sie hat es eilig, nach Alphinland zurückzukehren, wegen der Aschespur. Sie will sie entziffern, sie aufräufeln, sie will ihr folgen. Sie will sehen, wohin sie führt.

Alphinland lebt zurzeit in ihrem Computer. Viele Jahre lang entfaltete sich die Geschichte auf dem Dachboden, den sie zu einer Art Arbeitsplatz umfunktionierte, als Alphinland genug Geld für die Renovierung abwarf. Aber selbst mit den neuen Dielen und dem Fensterdurchbruch und der Klimaanlage und dem Deckenventilator war der Dachboden eng und stickig, wie es die obersten Geschosse dieser viktorianischen Häuser eben sind. Daher war Alphinland irgendwann – als die Jungs auf der Highschool waren – an den Küchentisch gewandert, wo es sich einige Jahre aus einer elektrischen Schreibmaschine entfaltete – einst als innovativer Höhepunkt gefeiert, inzwischen obsolet. Der Computer war der nächste Aufenthaltsort und auch nicht ohne Gefahren – auf äußerst ärgerliche Weise konnten Dinge daraus verschwinden –, aber mit der Zeit wurden die Computer besser, und an ihren hat sie sich mittlerweile gewöhnt. Sie ist damit in Ewans Arbeitszimmer gezogen, seit er nicht mehr in sichtbarer Gestalt anwesend ist.

Sie sagt nicht „nach seinem Tod“, nicht mal zu sich selbst. Sie nimmt das böse Wort mit T überhaupt nicht in den Mund. Er könnte es hören und gekränkt oder beleidigt sein oder vielleicht verwirrt oder gar wütend. Es gehört zu ihren eher unausgesprochenen Überzeugungen, dass Ewan von seinem Tod eigentlich gar nichts weiß.

Sie setzt sich an Ewans Schreibtisch, sie hat Ewans dicken schwarzen Morgenmantel an. Dicke schwarze Morgenmäntel waren mal sehr in Mode, wann nochmal? In den Neunzigern? Sie hatte ihm diesen Morgenmantel selbst gekauft, als Weihnachtsgeschenk. Ewan wehrte sich immer gegen ihre Versuche, ihn modisch auf den neuesten Stand zu bringen; nicht dass ihre Versuche weitergeführt hätten als zu diesem Morgenmantel; sie hatte irgendwann das Interesse daran verloren, wie andere ihn wahrnahmen.

Sie trägt seinen Morgenmantel nicht der Wärme wegen, sondern weil er bequem ist: Er gibt ihr das Gefühl, dass Ewan noch körperlich anwesend sein könnte, hier im Haus, gleich nebenan. Seit er gestorben ist, hat sie den Mantel nicht gewaschen; sie will nicht, dass er nach Waschmittel riecht, sondern nach Ewan.

Ach, Ewan, denkt sie. Wir hatten so schöne Zeiten! Jetzt ist alles dahin. Warum so schnell? Sie trocknet sich die Tränen an einem der flauschigen schwarzen Ärmel.

„Reiß dich zusammen“, sagt Ewan. Er sieht es nicht gern, wenn sie weinerlich ist.

„Na gut“, sagt sie. Sie strafft den Rücken, rückt sich das Kissen auf Ewans ergonomischem Schreibtischstuhl zurecht, fährt den Computer hoch. Der Bildschirmschoner geht an: Es ist ein Tor, von Ewan für sie entworfen. Er war Architekt, bevor er eine sichere Dozentenstelle annahm, wobei das, was er an der Uni lehrte, nicht „Architektur“ hieß, sondern „Theorie der Raumkonstruktion“ und „Landschaftskreationen“ und „Der geschlossene Körper“. Er war aber immer noch ein hervorragender Zeichner und hatte ein Ventil dafür gefunden, indem er lustige Bilder für die Kinder und dann für die Enkelkinder malte. Er hatte ihr den Bildschirmschoner geschenkt, um ihr zu zeigen, dass er ihre Sache da – diese Sache, die ihm ehrlich gesagt ein bisschen peinlich war vor den eher abstrakt denkenden intellektuellen Kreisen, in denen er verkehrte –, um ihr zu zeigen, dass er ihre Sache ernst nahm. Oder dass er sie ernst nahm – beides hatte sie von Zeit zu Zeit aus gutem Grund bezweifelt. Auch, um ihr zu zeigen, dass er ihr verziehen hatte wegen Alphinland, weswegen sie ihn immer vernachlässigt hatte. Er hatte ihr verziehen, dass sie manchmal einfach durch ihn hindurchsah.

Sie selbst hat den Eindruck, dass der Bildschirmschoner ein Geschenk aus Reue war, um etwas wiedergutzumachen, das er nicht zugeben wollte. Die Zeit der emotionalen Abwesenheit, die Zeit, als Ewan – wenn nicht körperlich, so doch gefühlsmäßig – anderweitig beschäftigt war, anscheinend mit einer anderen Frau. Einem anderen Gesicht, einem anderen Körper, einem anderen Geruch. Einer Garderobe, die nicht ihre war, mit fremden Gürteln und Knöpfen und Reißverschlüssen. Wer war diese Frau? Sie hatte einen Verdacht, der sich aber als falsch herausstellte. Diese schattenhafte Existenz lachte sie aus der schlaflosen Dunkelheit um drei Uhr morgens leise aus und glitt davon. Sie ließ sich nicht festmachen.

Während dieser ganzen Zeit hatte sie sich wie ein störender Holzklotz gefühlt. Sie hatte sich langweilig gefühlt und nur halb am Leben. Sie hatte sich taub gefühlt.

Sie hatte ihn wegen des Intermezzos nie bedrängt, hatte ihn nie konfrontiert. Das Thema war genau wie das Wort mit T: Es war immer da, es schwebte drohend über ihnen wie ein Luftschiff mit Werbeschriftzug, doch darüber zu reden hätte den Bann gebrochen. Es wäre endgültig gewesen. Ewan, hast du eine andere? Reiß dich zusammen. Wo ist dein gesunder Menschenverstand? Warum sollte ich sowas tun? Er hätte ihr eine Abfuhr erteilt, er hätte die Frage nicht ernst genommen.

Constance fielen jede Menge Gründe ein, warum er sowas tun sollte. Aber sie lächelte und umarmte ihn und fragte, was er zum Abendessen wolle, und hielt den Mund.

Das Tor ihres Bildschirmschoners ist aus Stein und hat die Form eines römischen Rundbogens. Es liegt inmitten einer langen hohen Mauer mit mehreren Türmchen, auf denen rote Wimpel wehen. Es gibt eine schwere Gittertür, die offen steht. Dahinter erstreckt sich eine sonnige Landschaft mit weiteren Türmchen in die Ferne.

Ewan hatte sich richtig Mühe gegeben mit dieser Darstellung. Er schraffierte, er aquarellierte; er fügte sogar ein paar grasende Pferde auf einer entlegenen Wiese hinzu, wobei er von Drachen tunlichst die Finger ließ. Das Bild ist sehr hübsch, es erinnert an William Morris oder vielleicht eher Edward Burne-Jones, aber er hat das Thema verfehlt. Das Tor und die Mauer sind zu sauber, zu neu, zu gepflegt. Alphinland hat zwar seine Luxusecken, seine Seidenkleider und Taftgewänder, seine Stickereien, seine üppigen Wandleuchter, aber es ist größtenteils uralt und schäbig und ziemlich heruntergekommen. Außerdem wird es oft verwüstet, daher die vielen Ruinen.

Über dem Tor steht in pseudogotischer, präraphaelitischer Schrift in den Stein gemeißelt: ALPHINLAND.

Margaret Atwood

Über Margaret Atwood

Biografie

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Ihr „Report der Magd“ wurde für inzwischen mehrere Generationen zum Kultbuch. Zudem stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und...

Pressestimmen
Münchner Feuilleton

„Im Kurzformat komprimiert sie, was man schon auf der Langstrecke liebte: eine lakonische, merkwürdig schwebende Sprache, dramaturgische Ideen, die den Leser in Irrgärten und bizarre Landschaften menschlicher Beziehungen (ver-)führen, und Humor, der an Boshaftigkeit kaum zu übertreffen ist.“

Badische Zeitung

„Sie streut ihre Worte wie Reißnägel, und ihr Schabernack hat Sinn und Zweck.“

Emotion

„Es sind Geschichten voller boshafter Heiterkeit, die Licht auf dunkle Triebe werfen. Ein großer Spaß!“

Mannheimer Morgen

„Glänzende, vor Esprit nur so sprühende Prosa mit Tiefgang.“

Frankfurter Rundschau

„Rache wird gern kalt genossen in Margaret Atwoods fantastisch bösen, herrlich hinterlistigen Geschichten.“

Nürnberger Zeitung

„Männer und Frauen, Liebe und Tod: Margaret Atwood brilliert mit ihrem Erzählungsband ›Die steinerne Matratze‹. (…) Atwood hat eine stilistische Meisterschaft erreicht, deren gnadenlose Ironie und süffisant ausgestellte Sinnlichkeit immer wieder an den unvergessenen John Updike erinnern.“

WDR 5

„Zwischen Mord und Fantasy: Die durchweg bejahrten Heldinnen in ›Die steinerne Matratze‹, Margaret Atwoods neuem Band mit Erzählungen, sind zäher, kampfbereiter und poetischer als ihre - jüngere - Umwelt sich träumen lässt.“

Deutschlandradio Kultur

„Mit Humor und voller Sarkasmus: Margaret Atwoods Erzählstil hat sogar das Adjektiv ›atwoodian‹ hervorgebracht. In ihrem Erzählband ›Die steinerne Matratze‹ beschreibt die kanadische Schriftstellerin schonungslos das Altwerden und Altsein – und den Verrat in der Liebe. (…) Atwoods Geschichten sind weit entfernt von den schönfärberischen Erfolgskomödien, in denen traumhaft fitte Hundertjährige aus Fenstern steigen, um hanebüchene Abenteuer zu bestehen. Ihre Erzählungen zeigen das Alter als das, was es ist. Aber auch als einen Zustand der komischen Anarchie, in dem es nichts mehr zu verlieren gibt.“

SPIEGEL Online

„Mit ihrem neuen Kurzgeschichtenband schreibt Margaret Atwood brillant gegen das Klischee der sanften Seniorin an. (…) Die wahrhaft schönsten Momente ihrer Erzählungen sind jene Stellen, in denen etwas völlig Beiläufiges die Geschichte noch einmal ganz neu aufreißt.“

Die Welt

„Mit ihrem Erzählband über die Macht des Erzählens hat Margaret Atwood uns einen Überlebensratgeber für die unheimlichen Wälder des Unbewussten an die Hand gegeben. Und zugleich eine eigenwillige Notfallration: für den ewigen und ewig menschlichen Hunger nach guten Geschichten.“

Freundin

„Virtuose Erzählungen. Die kanadische Königin der Literatur hat wieder zugeschlagen.“

NZZ (CH)

„Margaret Atwood rechnet in ihrem achten Lebensjahrzehnt nicht nur mit dem Sexismus ab, sondern mit dem Sexus überhaupt. Da mag so mancher eine literarisch sonst unterbelichtete Lebenswelt wiedererkennen: Jenseits der Klischees von Altersweisheit und Abklärung herrscht die trockene Fatalität versiegender Kräfte und unaufhaltsamer Gebrechen.“

NZZ am Sonntag (CH)

„Neun schonungslose neue Geschichten.“

St. Galler Tagblatt (CH)

„Margret Atwoods neuer Erzählband ›Die steinerne Matratze‹ ist glänzende Prosa mit Tiefgang.“

FAZ

„Dieser Band ist insgesamt doch sehr erfreulich.“

Der Standard (A)

„Die satanischen Freuden des Alterns inszeniert die Kanadierin Margret Atwood perfekt.“

BÜCHER Magazin

„Grandios (…) Literatur wie diese Erzählungen inspiriert Empathie, schärft das Denken, unterhält prächtig.“

Süddeutsche Zeitung

„Atwood lässt ihre Leser in den Abgrund der eigenen Zukunft schauen, aber ohne sie dort im Stich zu lassen. Denn wie immer bei Atwood liegen Horror und Humor nahe beieinander.“

Badisches Tagblatt

„Glänzende, von Esprit nur so sprühende Prosa mit Tiefgang.“

Brigitte Wir

„Wenn es diesen Herbst ein Buch gibt, bei dem man sich in einzelne Sätze, Dialoge, ach was, ganze Absätze verliebt, dann ist es garantiert dieses.“

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