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Die Tochter meines Vaters

Die Tochter meines Vaters

Mareike Krügel
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Roman

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Die Tochter meines Vaters — Inhalt

Schon als Kind weiß Felizia Lauritzen, dass sie eines Tages das Bestattungsunternehmen ihrer Eltern übernehmen soll. Diskretion, Würde und Zurückhaltung sind die Grundsätze des Betriebs – und des elterlichen Regimes. Wer hätte gedacht, dass sie als erwachsene Frau ihren Lebensunterhalt mit dem Legen von Tarotkarten verdient und eigentlich ein ganz anderes Ziel verfolgt: Die Eroberung eines Mannes, der aussieht wie Cary Grant? – Humorvoll, hintersinnig und berührend: „Die Tochter meines Vaters“ ist sensible Familiengeschichte und Entwicklungsroman zugleich.

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 03.04.2018
320 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31252-3
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Leseprobe zu „Die Tochter meines Vaters“

F. Lauritzen Bestattungen hatte auf dem Schild gestanden, das im Fenster des Beratungszimmers hing. Ein kleines, schwarzweißes Schild mit einer klaren Schrift. Mein Vater hatte es selbst entworfen. Meine Mutter fand es zu klein und hätte gern noch ein schwarzes Kreuz oder etwas Ähnliches zur Verzierung gehabt, aber mein Vater wollte es so diskret wie möglich. Wenn man die Straße zum Strand nahm, die am Ortskern von Kleinulsby vorbeiführte, ungefähr auf der Höhe des Neubaugebiets, lag das Haus mit dem Schild im Fenster auf der rechten Seite. Wenn jemand [...]

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F. Lauritzen Bestattungen hatte auf dem Schild gestanden, das im Fenster des Beratungszimmers hing. Ein kleines, schwarzweißes Schild mit einer klaren Schrift. Mein Vater hatte es selbst entworfen. Meine Mutter fand es zu klein und hätte gern noch ein schwarzes Kreuz oder etwas Ähnliches zur Verzierung gehabt, aber mein Vater wollte es so diskret wie möglich. Wenn man die Straße zum Strand nahm, die am Ortskern von Kleinulsby vorbeiführte, ungefähr auf der Höhe des Neubaugebiets, lag das Haus mit dem Schild im Fenster auf der rechten Seite. Wenn jemand das Beratungszimmer von der Straße aus betrat, leuchtete in unserem Wohnzimmer ein Lämpchen. Dann rückte mein Vater seinen Krawattenknoten zurecht und ging, um den Kunden zu empfangen. Meine Mutter hätte lieber eine hübsche Türglocke gehabt; die Meldelampe im Wohnzimmer störte sie, weil sie nur aus einer Glühbirne bestand, auf eine Art Ständer geschraubt, mitten auf der Anrichte, und weil das Kabel unter der Decke verlief, wo mein Vater es mit Klebeband befestigt hatte. Aber mein Vater bevorzugte es, wie ein Geist aus dem Nichts aufzutauchen, allwissend und diskret. Wir hatten nicht viele Kunden. Die alten Leute in Kleinulsby gingen zu den Bestattern in Eckernförde oder Kappeln, weil sie niemandem trauten, der erst so kurze Zeit im Ort wohnte wie wir, und aus dem Neubaugebiet starben nicht so viele. Da wohnten junge Familien in Häusern, die sie sich aus einem Katalog ausgesucht hatten, mit Gärten davor, in denen noch nichts wuchs außer ein paar kleinen Papiertütchen auf Holzstöckchen. Die Todesfälle im Neubaugebiet waren besonders traurig, und wir übernahmen sie mit besonders viel Sorgfalt. Mein Vater spekulierte auf Stammkundschaft. Er machte sich nichts daraus, daß das Geschäft nicht gut lief, weil er wußte, daß er den Boden bereitete für die kommende Generation. Also für mich. Wenn ich ungefähr dreißig war, würden die Leute aus dem Neubaugebiet anfangen, eines natürlichen Todes zu sterben, einer nach dem anderen, und dann würden sie alle zu F. Lauritzen Bestattungen kommen, weil sie meinem Vater vertraut hatten und nun mir. Das war das Prinzip eines Familienunternehmens, und mein Vater hatte eines gegründet. Deshalb heiße ich Felizia. So brauchte ich später nicht einmal das F in „F. Lauritzen“ zu ändern. Meine Mutter, die gern im voraus an alles dachte und einen feinen Sinn für Ästhetik hatte, fing im sechsten Monat an, Namen zu sammeln und eine Liste zu erstellen, die sie nachts unter ihr Kopfkissen schob. Friedrich, Fridolin, Frieder, Fileas, Ferdinand, Florian, Frederic stand auf der Liste. Als ich geboren wurde und ein Mädchen war, wußte sie keinen Namen mit F für mich. „Sag schnell was, dann kann ich gleich zum Standesamt und es anmelden“, sagte mein Vater. „Felizia“, sagte meine Mutter. Als mein Vater weg war, fielen ihr auf einmal viel schönere Namen mit F ein (Floriane, Franziska), aber es war zu spät. Und es war auch egal, solange mein Name nur F. Lauritzen war. Meine Mutter gab die Hoffnung nicht auf und behielt die Liste unter ihrem Kopfkissen, aber nach mir kam keiner mehr.   Mein Vater war ein kleiner Mann mit sehnigen Händen und ledriger Haut. Er trug stets einen dunklen Anzug. Gerade in den ersten Jahren bemühte er sich, in seiner freien Zeit (und davon hatte er mehr, als ihm lieb war) recht oft unter Menschen zu kommen, damit sie sich an ihn gewöhnten. Wann immer es ihm angemessen erschien, nahm er mich mit, während meine Mutter zu Hause die Stellung hielt, und wir verbrachten viel Zeit damit, uns bei Veranstaltungen und Vereinsfesten herumzutreiben, bei der Knochenbruchgilde und der Eckernförder Beliebung und natürlich bei den Gemeindefesten und den regelmäßigen Feiern und Veranstaltungen der Kirche. Ich stand dann dicht neben ihm und lernte. Mein Vater unterhielt sich bei diesen Gelegenheiten selten, es sei denn, jemand sprach ihn an. Er war ausgesprochen höflich. Er brachte mir bei, daß es die wichtigste Disziplin eines Bestatters war, immer da zu sein, wenn man gebraucht wurde, sich aber nie in den Vordergrund zu spielen. Der bloße Anblick eines ­Totengräbers konnte eine ganze Festgesellschaft zum Schweigen bringen, andererseits konnte in extremen und schwierigen Situationen seine Anwesenheit augen­blicklich Trost spenden. Mein Vater glaubte außerdem an die Wirkung der Werbung auf das Unterbewußtsein. „Wenn einer von diesen Leuten hier einen Todesfall in der Familie hat, dann schlägt er das Telefonbuch auf, um ein Bestattungsunternehmen zu suchen und mit der Angelegenheit zu beauftragen“, sagte er zu mir. „Und er wird uns anrufen. Weißt du auch, warum? Wir sind in seinem Unterbewußtsein. Wenn er sich einen Bestatter vorstellt, dann erscheint unser Bild vor seinem inneren Auge. So funktioniert Werbung, und deshalb stehen wir jetzt einfach hier herum und sind unauffällig sichtbar. Hast du das verstanden, Felix?“ Ich nickte.   ***   An einem der letzten sonnigen Herbsttage dieses Jahres saß ich aus Gründen, die mir selbst nicht ganz einleuchteten, in der Krone eines Baumes und schaute durch mein Opernglas. Die Astgabel, in der ich saß, ächzte unter meinem Gewicht. Sie war an Kinder gewöhnt, nicht an groß­gewachsene Frauen um die dreißig. Der Baum – eine Linde – stand in einem Hinterhof in der Holtenauer Straße in Kiel, und wenn ich durch das Opernglas guck­te, sah ich verschwommene grüne und gelbe Flecken, das waren die Blätter, und irgendwo dazwischen die Fenster der Wohnungen und, wenn der Winkel stimmte, durch die Fenster in die Räume, die dahinter lagen. Auf einem Balkon im vierten Stock stand ein graues Fahrrad, und auf diesen Balkon konzentrierte ich mich. Ich konzentrierte mich lange. Das Fahrrad war sauber und kaum verrostet, der Besitzer mußte es vier Stockwerke hochgetragen haben, weil er dem Fahrradkeller nicht traute. Das Glas der Balkontür reflektierte das späte Sonnenlicht und verhinderte, daß ich in das Innere der Wohnung sehen konnte. Solange ich schaute, gab es keine Bewegung, keine Veränderung, nur die verschwommenen Flecken wiegten sich sanft vor der Linse; ich starrte angestrengt, weil ich wie jeder normale Mensch wußte, daß es auf die Details ankam und auch der komplizierteste Mordfall sich lösen ließ, wenn man nur genau genug hinsah, aber es blieb dabei: ein kahler Balkon mit einem grauen Fahrrad. Meine Hand fing an zu zittern und das Bild zu verwackeln. Ich mußte das Opernglas absetzen und ließ für einen Moment den Ast los, an dem ich mich festhielt, um mir mit der freien Hand die Augen zu reiben, als plötzlich eine Stimme von irgendwo weit unter mir rief: „Was machen Sie da?“ Ich fiel beinahe herunter vor Schreck. In Windeseile stopfte ich das Opernglas in meinen Hosenbund, kletterte von der Linde, befand mich für einen kurzen Moment Aug in Auge mit einem hutzeligen ­alten Mann mit Schubkarre, der den Bösen Blick zu ­haben schien, und machte mich, so schnell ich konnte, aus dem Staub.       Als ich zurückkam in die Yorckstraße, warteten Randi und Kohlmorgen auf mich. Randi saß vor meiner Wohnungstür auf der Treppe und schaute mir mit gespielter Langeweile entgegen. Als sie sah, daß ich eine Hose und ein Männerhemd trug, hob sie die Augenbrauen. „Kohlmorgen ist drinnen“, sagte sie. „Danke für die Vorwarnung“, sagte ich und setzte mich neben sie. Sie hatte ihre Haare in zwei Gummis gezwängt und sah aus wie ein kleiner Teufel, weil ihr Haar nicht lang genug war, um richtige Zöpfe zu ergeben. Sie trug ein bauchfreies Oberteil trotz der spürbaren herbstlichen Kühle, und man konnte allzu deutlich das Nicht­vorhandensein einer entsprechenden Oberweite erkennen. „Hast du mir Zigaretten gekauft?“ fragte sie. „Rauchen ist schlecht für die Gesundheit, man kriegt Lungenkrebs und Raucherbeine und stirbt, weil man keine Luft mehr bekommt. Also hör auf mit dem Scheiß“, sagte ich und friemelte die Zigaretten aus meiner Hemdtasche. Randi riß mir die Packung aus der Hand, öffnete sie und steckte sich eine an, schneller, als ich ihr mit den Augen folgen konnte. Sie nahm einen tiefen Lungenzug und lehnte ihren Oberkörper zurück. Ich sah sie an. „Fang jetzt nicht damit an. Erzähl mir lieber, wieso du eine Hose anhast“, sagte sie. „Ich mußte auf einen Baum klettern“, antwortete ich. Ich suchte in der zweiten Hemdtasche nach den Mandeln, die ich mir als Proviant für meine Expedition eingesteckt hatte, fand sie und stopfte mir ein paar in den Mund. Randi richtete sich mit einem Ruck auf und stieß mir ihren Ellbogen in die Seite. „Hey“, sagte sie. „Kannst du mir beim nächsten Mal vielleicht was zu trinken besorgen?“ Wieder sah ich sie an. „Was denn?“ fragte sie. „Du bist dreizehn“, sagte ich, lehnte mich nun meinerseits zurück und ließ mir eine Handvoll Mandeln in den Mund fallen. Wir schwiegen eine ganze Weile, und erst als Randi sich die zweite Zigarette ansteckte, merkte ich, daß sie mir eine Reaktion schuldig geblieben war, und begriff, daß ich sie beleidigt hatte, als ich sie auf ihr Alter hinwies. Ich beugte mich vor, legte ihr den Arm um die Schultern und sagte: „Ich verrate dir, was ich auf dem Baum gemacht habe, und du versprichst mir, nicht so viel zu trinken.“ Ihre Mundwinkel waren leicht herabgezogen, auf der Stirn zeigte sich eine kleine senkrechte Falte, ich konnte Randi dabei zusehen, wie Stolz und Neugierde miteinander kämpften, bis die Neugierde langsam einen Sieg errang. „Das brauche ich dir gar nicht zu versprechen“, sagte sie. „Du bringst mir ja sowieso nichts zu trinken mit.“ „Also gut“, sagte ich, nahm ihr die Zigarette aus dem Mund und drückte sie unter meiner rechten Schuhsohle aus. „Ich habe ihn gefunden.“ Randi verstand mich sofort. „Im Ernst? Cary Grant?“ Sie zündete sich eine neue Zigarette an. Cary Grant war vor vielen Jahren verstorben, und vorher hatte er in Hollywood gelebt, was aus meiner Sicht ein unglücklicher Umstand war, da ich mir von einer Begegnung mit ihm einiges versprochen hätte. Aber ich hatte ein Foto gesehen, auf dem das Gesicht eines Mannes gewesen war, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Cary Grant hatte. Oder wenigstens eine Ahnung, ein Hauch von ihm war in seinem Gesicht, ­irgend etwas um den Mund herum und in den Augen, vielleicht. Das Foto gehörte einer Kundin, die ein paar Tage zuvor bei mir gewesen war. Eine komische, verklemmte Frau, die sich an mich wandte, weil ihr der Mann abhanden gekommen war, ebenjener auf dem Foto. Ich legte ihr eine Kelch-Königin und eine Auferstehung, eine Schwert-Königin und eine Kelch-Sieben, woraufhin die Kundin sich in ihrem Verdacht bestätigt sah, daß „eine Andere Frau“ hinter der ganzen Sache steckte, noch bevor ich etwas dazu sagen konnte. Manchmal tat meine Arbeit sich ganz von selbst, ich brauchte nur dazu zu nicken. Leider fühlte sich die Kundin von mir so verstanden, daß sie mir gleich die ganze Geschichte ihrer Ehe erzählte und alles mit einem Handtaschenfach voller Fotos belegte. „Und jetzt willst du ihn der Anderen Frau wieder ausspannen?“ fragte Randi. „Ich will ihn mir nur mal ansehen, mehr nicht“, sagte ich. „Felix“, sagte Randi streng, „das ist deine Chance jetzt, begreifst du das nicht? Du suchst seit Jahren nach Cary Grant, dann findest du ihn, und alles, was du willst, ist, ihn dir mal ansehen?“ „So“, sagte ich, „nun geh mal besser wieder rein. Du holst dir noch den Tod hier auf den kalten Stufen.“ „Oder wenigstens eine anständige Blasenreizung.“ „Keine Witze über Krankheiten“, sagte ich. Sie grinste unverschämt und stand auf. Bevor sie hinter ihrer Wohnungstür verschwand, drehte sie sich noch einmal um und sagte laut: „Nierenbeckenentzündung.“ Ich rappelte mich schnell hoch. Dann streckte ich mich ein bißchen, zog meine Kleidung zurecht, atmete durch und bereitete mich darauf vor, meine eigene Wohnung zu betreten und Kohlmorgen zu begegnen.   ***   Mag sein, daß ich das war, was man ein überbehütetes Kind nennt. Natürlich gab es andere Kinder in Klein­ulsby, mehr als genug sogar, aber ich hatte wenig Interesse an ihnen. Ich brauchte sie nicht. Bei uns im Haus gab es immer etwas zu tun, immer war jemand da, und meine Eltern freute es, wenn ich ihnen bei der Arbeit zusah. Um mitzuhelfen, war ich noch zu klein, und um zu begreifen, worum es in den Telefonaten ging, die meine Eltern ständig führten, auch. Ich hatte keine ­Ahnung von Friedhofsverordnungen, Dokumentenbeschaffung, Anträgen auf Witwenrente oder dem Layout von Todesanzeigen. Aber ich war zufrieden, ihnen bei diesen Erledigungen zuzuhören, meinen Vater auf seinen Werbefeldzügen zu begleiten und zu sehen, wie glücklich meine Anwesenheit sie machte. Wenn sie einen Verstorbenen abholten, mußte ich zur Nachbarin gehen und dort eine Weile auf sie warten. Mein Vater konnte die meisten Verstorbenen nicht alleine tragen, deshalb mußte meine Mutter mitfahren. Manchmal waren sie fürchterlich gehetzt, wenn sie wiederkamen, mein Vater setzte meine Mutter mit dem Auto ab und fuhr weiter, zu einem Trauergespräch oder einem unvorhergesehenen anderen Termin. Meine Mutter jammerte dann, zwei Personen seien einfach zuwenig, um ein solches Unternehmen anständig zu führen, wer wisse denn schon, wie oft die Meldelampe geleuchtet habe, während sie weg waren, wie oft das Telefon geklingelt habe. Meistens aber gab es bei uns zu Hause viel zu viel freie Zeit. Sie hatten nicht vor, mir so früh schon eigene Pflichten zu übertragen. Aber ich wollte mithelfen. Wenn ich schon nicht telefonieren konnte oder Anträge ausfüllen, so wollte ich wenigstens Aktenordner tragen, das Schild im Fenster polieren und meinem Vater den Tee bringen, wenn er am Schreibtisch saß. Ein erstes sinnvolles Betätigungsfeld fand mein Eifer, wenn es um den Blumenschmuck ging. Nie wieder konnte ich mich so für Blumen begeistern wie in dieser Zeit, als ich noch nicht zur Schule ging und für keine andere Aufgabe im Unternehmen wirklich geeignet war. Meine Mutter bedauerte das noch Jahre später zutiefst. „Früher hast du mir so gerne beim Dekorieren geholfen. Weißt du das denn nicht mehr?“ sagte sie manchmal. Ich tat dann so, als könne ich mich nicht erinnern. Der Blumenschmuck fiel in ihren Zuständigkeitsbereich, sie war froh, wenn sie mit den Verstorbenen selbst möglichst wenig zu tun hatte. Sie war auf ihre Art genauso gründlich wie mein Vater und legte großen Wert darauf, die Arbeit des Floristen stets persönlich zu überprüfen. Ich durfte mit ihr kommen, wenn sie kurz vor Beginn des Trauergottesdienstes noch einmal in die Kirche ging, um die Kränze und Gestecke auf und um den Sarg herum zurechtzurücken, an irgendwelchen Blüten zu zupfen, empört „Das gibt’s doch gar nicht“ zu murmeln und am Ende ein paar Schritte zurückzutreten und kritisch den Kopf schief zu legen. Ich half ihr, die verwelkten, abgefallenen Blätter und Blüten aufzusammeln, zog die Schleifen glatt, damit man die Aufschriften lesen konnte, brachte ihr die Kamera, mit der sie schließlich noch ein Foto machte, entweder als Beleg für den Floristen, damit sie ihm seine Unzulänglichkeiten daran nachweisen konnte, oder weil die Dekoration besonders gelungen war und Einzug halten durfte in das Album für die Kunden. Sie fand mich ausgesprochen begabt im Bereich Floristik/dekorativer Trauerschmuck. Sie behauptete, ich hätte ein angeborenes gutes Auge für das korrekte und phantasievolle Schmücken des Sarges (und das hätte ich ja nun ganz bestimmt nicht von meinem Vater geerbt). Ich war sehr gern mit meinen Eltern zusammen.   Ich kam in die erste Klasse der Grundschule von Klein­ulsby, als ich gerade sechs geworden war. Meine Mutter hatte schon vorher versucht, mich in den Kindergarten zu stecken, aber ich muß einen so verstörten Eindruck gemacht haben, als ich nach dem ersten Tag wiederkam, daß sie mich lieber noch ein bißchen zu Hause behielt. „Sieh zu, daß du Kontakte knüpfst“, riet mir mein Vater am ersten Schultag. „Es ist wichtig, daß du die Menschen kennenlernst. Ein großer Teil unserer Arbeit besteht darin, mit Menschen zu reden, und es ist gut, wenn du mit ihnen aufwächst und dich zwischen ihnen bewegst. Also geh in die Schule und such dir Freunde.“ Ich war ein wenig verzagt angesichts der vielen Kinder, aber ich war wild entschlossen, meine Sache gut zu machen. Ich verhielt mich genau so, wie mein Vater es mir beigebracht hatte: unauffällig, diskret, höflich, schweigsam. Ich wurde neben einen sommersprossigen Jungen gesetzt, der Gunnar hieß und einen Dreckrand am Hals hatte. In der ersten Stunde bekamen wir jeder ein Blatt Papier von der Lehrerin und den Auftrag, ein Selbstporträt zu malen. Also legte ich das Blatt vor mich hin und den Kugelschreiber, den mein Vater mir zur Einschulung geschenkt hatte, auf dem F. Lauritzen Bestattungen eingraviert war, schloß die Augen, um mich ganz auf mich selbst zu konzentrieren und auf mein eigenes Gesicht zu besinnen. Als ich die Augen wieder öffnete, hatte Gunnar meinen Kugelschreiber geklaut und malte damit auf der Tischplatte. Ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die Lehrerin ging durch die Reihen und beachtete uns nicht, und unter gar keinen Umständen wollte ich laut nach ihr rufen. „Gib mir den Stift zurück“, flüsterte ich. Aber Gunnar schien mich gar nicht zu hören. Er war völlig vertieft in seine unsinnige Beschäftigung. „Gib her!“ zischte ich und versuchte, ihm den Kugelschreiber zu entreißen, den er merkwürdigerweise in der linken Hand hielt, aber Gunnar wich geschickt aus, ohne mit dem Malen aufzuhören. Er malte Linien und Gekrakel, er versaute den ganzen Tisch, und noch immer sah die Lehrerin in eine andere Richtung. Ich beugte mich zu ihm hinüber, so daß mein Gesicht sehr nahe an seinem Oberarm war, und dann, ganz plötzlich, biß ich hinein. Ich preßte die Kiefer so fest zusammen, wie ich konnte, und ließ nicht locker, bis ich hörte, wie der Kugelschreiber auf den Tisch fiel. Als ich Gunnar freiließ, sah er mich stumm an und legte eine Hand auf die Stelle, wo ich ihn gebissen hatte. Ich nahm meinen Kugelschreiber und begann zu zeichnen. Gunnar saß einfach da und tat gar nichts. Ich zeichnete meine Augen, meine Nase, meinen Haaransatz, erst da begriff ich, daß er keinen Stift hatte. Ich suchte in meiner Federtasche und schob ihm wortlos einen grünen Filzstift zu. Wir zeichneten eine ganze Weile, dann warf ich einen Blick auf sein Blatt. Gunnar malte ein Schiff. Da verlor ich ein bißchen die Geduld. „Gib mir das, bitte“, flüsterte ich und griff nach seinem Bild. Ich drehte das Blatt um und begann auf der Rückseite, ihn zu zeichnen. Ich schaute ihn mir genau an, dann malte ich ihm eine Nase, die dreieckig war und in deren Nasenlöcher man geradeaus hineinschauen konnte wie bei einem Schwein. Als ich anfing, die Sommersprossen zu malen, begriff er endlich, daß er es war, den ich da porträtierte, und er griff sich seinerseits mein Blatt, drehte es um und begann, mich zu zeichnen. „Sehr schön, alle beide“, sagte die Lehrerin, als sie im Vorbeigehen unsere Bilder mit einem flüchtigen Blick streifte. Am Ende der Stunde wurden alle Bilder im Klassenraum aufgehängt, fünfzehn mehr oder weniger gut getroffene Porträts. Und als der erste Schultag zu Ende war, war Gunnar mir treu ergeben und bis in den Tod verpflichtet, weil ich ihn davor bewahrt hatte, als einziger ein Schiff zu malen.

Mareike Krügel

Über Mareike Krügel

Biografie

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem...

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