Die Töchter des Münterhauses Die Töchter des Münterhauses - eBook-Ausgabe
Roman
— Saga um ein Familiengeheimnis und ein Stück ZeitgeschichteDie Töchter des Münterhauses — Inhalt
Von Müttern und Töchtern: drei Frauengenerationen rund um das Münterhaus in Murnau. Eine bewegende Geschichte für Fans von Lilly Bernstein und Regine Kölpin
„Ich habe alle Briefe gelesen, ich konnte kaum glauben, von welcher Seite ich Oma Mali plötzlich kennenlernte. Obwohl ich achtzehn Jahre mit ihr gelebt habe!“
Während der Renovierung des Häuschens ihrer Urgroßmutter Mali entdeckt die junge Nike Geheimnisse in ihrer Familiengeschichte, die ihr bisher verschwiegen wurden. Mali lebte als alleinerziehende Mutter mit ihrer Tochter über fünfzig Jahre im Haus der berühmten Malerin Gabriele Münter in Murnau, die ihren Leben eine vollkommen neue Richtung gab. Als Nike fasziniert nachforscht, entdeckt sie in Malis Notizen einen Hinweis auf ein Versteck wertvoller Gemälde des Blauen Reiter. Doch dadurch ergeben sich nicht nur viele Fragen, ihre Nachforschungen scheinen auch jemandem nicht zu gefallen. Einschließlich ihrer Freundin Hettie werden plötzlich alle in Nikes Umfeld verdächtig ...
Leseprobe zu „Die Töchter des Münterhauses“
Teil 1
1
Juli 1938
„Frau Ella, ich wollt mich von Ihnen verabschieden.“ Amalia stand in der Türöffnung des Wohnraums, fertig gekleidet zum Ausgehen. Über dem knöchellangen schwarzen Trachtenrock, der zu ihrem Sonntagsstaat gehörte, trug sie eine dunkelgrüne Lodenjacke, bis zum obersten Knopf geschlossen. Nur der weiße Kragen der Bluse blitzte über der Paspelkante des Stehkragens hervor. Über ihrem strengen Haarknoten im Genick saß ihr Werdenfelser Nadelfilzhut, ganz schlicht mit einer dunkelgrünen Kordel verziert. Sie richtete ihren Blick nach unten auf [...]
Teil 1
1
Juli 1938
„Frau Ella, ich wollt mich von Ihnen verabschieden.“ Amalia stand in der Türöffnung des Wohnraums, fertig gekleidet zum Ausgehen. Über dem knöchellangen schwarzen Trachtenrock, der zu ihrem Sonntagsstaat gehörte, trug sie eine dunkelgrüne Lodenjacke, bis zum obersten Knopf geschlossen. Nur der weiße Kragen der Bluse blitzte über der Paspelkante des Stehkragens hervor. Über ihrem strengen Haarknoten im Genick saß ihr Werdenfelser Nadelfilzhut, ganz schlicht mit einer dunkelgrünen Kordel verziert. Sie richtete ihren Blick nach unten auf ihre bauchige, stramm gefüllte Bügeltasche aus grobem Leinen.
Sie fühlte ihren Herzschlag bis zum Hals, das Klopfen stieg immer höher in Richtung ihrer Ohren.
Gabriele Münter hielt inne, gerade hatte sie den Pinsel in ein leuchtendes Blau auf ihrer Farbpalette getaucht. „Besuchst du deine Verwandten im Nachbarort? Habe ich das etwa überhört, als du es mir angekündigt hast? Oder ist’s was Unvorhergesehenes, musst du wieder mal zu Hause aushelfen? Sind deine Mutter oder deine Schwägerin krank geworden?“ Gabriele drehte den Kopf in Amalias Richtung, denn die Staffelei mit der aufgezogenen Leinwand stand schräg zur Tür.
„Nein, Frau Ella … ich … ich gehe.“ Sie seufzte tief. „Ich muss weg. Für länger.“ Amalia hielt ihren Kopf gesenkt, sodass Gabriele nur den oberen Hutrand über ihrem Kopf sehen konnte.
Wie in Zeitlupe legte Gabriele ihre Palette und den Pinsel auf einem mit allen Farbtönen beklecksten Tischchen ab, erhob sich von ihrem Hocker, strich mit ihren Händen über ihren bunt gesprenkelten Malkittel und ging langsam auf Amalia zu. „Ama, wie meinst du das? ›Für länger‹?“
Amalia hob langsam den Kopf, der ihr zu zerspringen drohte, und gerade als ihre Augen mit denen Gabrieles auf gleicher Höhe waren, sackte sie ohnmächtig in sich zusammen. Gabriele streckte ihre Arme aus, um sie aufzufangen, aber sie war zu langsam. Amalias Kopf schlug auf dem Boden auf.
„Johannes, schnell, kommen Sie“, rief sie laut in Richtung der offenen Tür, in der Hoffnung, dass es Johannes Eichner im oberen Stockwerk hören würde. Sie ließ sich neben der leblos wirkenden Amalia nieder, hob deren Kopf behutsam an und bettete ihn in ihren Schoß. „Johannes, Ama ist ohnmächtig geworden, kommen Sie, ich brauche Ihre Hilfe.“ Sie beugte sich über den reglosen Körper und klopfte der Frau sachte auf die Wangen. „Ama, komm zurück, ich brauch dich doch, meine Liebe.“
Endlich stand Johannes Eichner, wie immer in Anzughose, Einstecktuch und Hausjacke korrekt gekleidet, in der Tür. Er erfasste die Situation mit einem Blick und schlug die Hände zusammen. „Na, so ein Unglück, liebe Gabriele. Ich hole ein feuchtes Handtuch, vielleicht hilft das.“ Er machte zwei Schritte auf Gabriele zu, blieb aber dann abrupt stehen, als wäre er abgebremst worden.
„Im Schränkchen über dem Ausguss ist Riechsalz, und bringen Sie auch ein Glas Wasser mit.“
Während Gabriele versuchte, sich im Sitzen am Türstock anzulehnen, hörte sie Johannes in der Küche herumkramen; es klapperte und klirrte, dabei redete er vor sich hin. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam er zurück, zum Glück mit dem Fläschchen und einem Handtuch.
„Der beißende Geruch wird selbst Tote erwecken.“ Gabriele zog die Nase kraus, während sie die Flasche dicht vor Amas Nase hielt. Johannes stand daneben, legte die Hände vor dem Bauch aneinander, sein Blick wanderte zwischen Gabriele und Amalia hin und her. Er wirkte, als wäre ihm die am Boden liegende Hausangestellte persönlich unangenehm.
„Falten Sie das Handtuch, und legen Sie es ihr auf die Stirn. Danach nehmen Sie die monströse Reisetasche weg und holen die Decke und ein Kissen vom Diwan.“ Gabriele erteilte klare Anweisungen, sonst würde Johannes noch länger unschlüssig herumstehen.
Erleichtert, ihr zur Hand gehen zu können, reichte er Gabriele das Kissen, die es zwischen ihren Schoß und Amalias Kopf schob, und breitete die Decke über Amalias Körper aus.
In diesem Moment kam Amalia wieder zu sich, sie bewegte die Arme und hob den Kopf. Als sie erkannte, dass sie am Boden auf dem Schoß ihrer Arbeitgeberin lag, versuchte sie, sich sofort aufzurichten. Die ungewohnte Nähe ihrer verehrten Gabriele war ihr zwar nicht zuwider, aber es gehörte sich einfach nicht.
Doch Gabriele hielt sie zurück. „Sachte, sachte, jetzt bleib schön liegen und atme tief durch. Langsam ein und aus. Johannes, geben Sie mir das Glas Wasser, das wird helfen.“
Er beugte sich steif zu ihr hinunter und reichte ihr das Glas. „Kann ich noch etwas tun?“
„Ich glaube, jetzt komme ich gut zurecht. Ich bleibe hier bei Ama, bis sie selbst wieder in der Lage ist, sich zu erheben. Vielen Dank, mein Lieber“, entließ sie ihn aus der für ihn misslichen Situation.
„Ich lasse die Türen offen. Wenn Sie etwas benötigen, dann rufen Sie. Ich bin jederzeit bereit, Ihnen helfend unter die Arme zu greifen.“ Johannes wirkte erleichtert, dass die beiden Frauen nun ohne ihn zurechtkommen würden.
„Entschuldigen S’ bitte, Frau Ella, das hatte ich nicht kommen sehen, aber genau das wollte ich vermeiden.“
„Ich glaube, du musst mir jetzt einiges erklären. Bitte schön, sag mir doch, was passiert ist. Hast du eine Krankheit, oder ist deiner Familie ein Unglück widerfahren …?“
„Weder das eine noch das andere. Ich …“ Ama suchte nach Worten. „Ach, wenn ich es doch ungeschehen machen könnte, ich habe schon alles Mögliche versucht, aber … Ich weiß einfach nicht, wie es weitergehen soll.“ Amalia brach in Tränen aus und ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken, dabei versuchte sie, sich von Gabriele wegzudrehen.
„Schsch, beruhige dich. Und dann erzählst du mir, was dich so sehr belastet, dass du wie ein leerer Ballon zusammenfällst.“ Gabriele strich ihr wie eine Mutter ihrem Kind über den Kopf und die Wangen.
Diese liebevolle Berührung tat Amalia gut, aber es durfte nicht sein, ihre Lage war ihr mehr als peinlich. „Ich wollt unter allen Umständen vermeiden, dass Sie mich mit Schimpf und Schande aus dem Haus jagen, ich will Sie doch nicht dem Gerede der Nachbarn aussetzen, das haben Sie nicht verdient. Ich muss weg, so schwer mir das fällt.“
Die Worte brachen wie ein lang aufgestauter Wasserfall aus Amalia heraus, Gabriele verstand allerdings noch weniger als vorher. Ihr Gesichtsausdruck wirkte wie ein Fragezeichen. „Ama, du sprichst in Rätseln. Sag’s mir doch freiheraus, was die Ursache für deinen Schwächeanfall ist. Ich kann mir mit größter Fantasie keinen Grund vorstellen, weswegen ich dich aus dem Hause verbannen sollte.“
„Frau Ella, ich bin guter Hoffnung. Dabei kann von Hoffnung nicht die Rede sein und von gut schon gar nicht.“ Tränen quollen aus Amas Augen, der Fleck auf dem Kissen wurde immer größer.
Gabriele riss überrascht die Augen auf. „Jetzt bin ich sprachlos, in der Tat, das muss ich ehrlich zugeben. Lass mir eine Weile Zeit, deine Nachricht mit allen Folgen zu verstehen und mir auszumalen.“ Gabriele schloss die Augen, strich Amalia aber weiter über die Wangen.
Amalia kannte diese Reaktion, wenn Gabriele nachdachte. Es würde dauern, bis sie alle Für und Wider der Nachricht gedanklich erörtert und alle Folgen und Konsequenzen für jeden der Beteiligten durchgespielt hatte.
Ama, wie sie von Gabriele genannt wurde, seitdem sie als dreizehnjähriges Mädchen ins Münterhaus gekommen war, um die Haushälterin zu unterstützen, ließ sich erneut laut seufzend tiefer auf das Kissen sinken. Sie wusste, jetzt musste sie abwarten. Gabriele würde sich nicht drängen oder gar in irgendeiner Form beeinflussen oder unterbrechen lassen. Und schon wieder türmten sich Amalias Ängste über ihre Zukunft gedanklich zu Bergen, die höher waren als die Gipfel des Werdenfelser Landes rund um Murnau. Wie konnte das ihr, in ihrem hohen Alter von einundvierzig Jahren, passieren? Wie sollte sie sich um ein Kind kümmern, da sie doch für ihren Lebensunterhalt arbeiten musste. Dem Münterhaus und seinen beiden Bewohnern den Rücken zu kehren, käme ihr nie in den Sinn. Gabriele Münter und Johannes Eichner waren ihr mehr als ihre eigene Familie ans Herz gewachsen – sie waren ihre Familie.
Deswegen hatte sie den Plan gefasst, bis zur Geburt des Kindes in Garmisch unterzukommen, denn sie wollte die Herrschaften nicht durch ihre Schwangerschaft kompromittieren und dem Gerede der Leute aussetzen. Ihr Entschluss hatte nach langem Überlegen festgestanden: Das Beste für alle wäre es, das Kind nach der Entbindung in ein Heim zu geben. Danach könnte sie wieder ihren Aufgaben im Hause Münter nachkommen. Es würde ihr zwar das Herz brechen, Alexejs Kind wegzugeben, aber das war in ihren Augen die einzig praktikable Lösung.
Was hatte sie nicht alles versucht, um die Schwangerschaft abzubrechen. Tees, Kräutermixturen, die ihr tagelang Schmerzen und heftige Krämpfe verursacht hatten, heiße Bäder, lange, äußerst anstrengende Wanderungen, aber nichts hatte geholfen. Das Kind war anhänglich, es ließ sich nicht vertreiben, als wollte es um jeden Preis leben. Und einer Engelmacherin konnte sie sich nicht anvertrauen, davor hatte sie zu viel Angst.
Ihr über alles geliebter Alexej würde vermutlich nie davon erfahren, seit seiner Flucht vor den Nazis hatte sie nichts mehr von ihm gehört. Keiner durfte wissen, dass er der Vater ihres ungeborenen Kindes war. Als entarteter Künstler, der noch dazu bei jeder Gelegenheit gegen die Politik Hitlers aufgerufen hatte, würde er womöglich auch sie in Schwierigkeiten bringen. Sie sehnte sich nach ihm wie noch nie zuvor nach einem Menschen. Er hatte ihr die Liebe gezeigt, das erste und wohl auch das letzte Mal in ihrem Leben. Die Zärtlichkeiten, seine Anbetung, noch nie hatte sie etwas Derartiges erfahren. Er hatte sie verzaubert mit seinem wunderbaren russisch angehauchten Akzent, er hatte sie umgarnt und beschenkt, und wenn es auch nur ein Blümchen war, das er in ihrem eigenen Garten gepflückt, ihr aber mit einer Nonchalance überreicht hatte, als wäre es das größte Kleinod überhaupt. Jede alltägliche Situation wurde durch ihn zu etwas Einmaligem, nie Dagewesenem. Mit ihm wurde der Aufstieg zu ihrem geliebten Herzogstand, den Amalia unzählige Male unternommen hatte und von dem sie jeden Stein und jede Wurzel kannte, zu einem Erlebnis, das ihr die Augen für ganz andere Blickwinkel öffnete.
„Ändere deinen Standpunkt, dann schaut die Welt immer wieder anders aus“, war sein Lebensmotto. Nicht nur wegen seines künstlerischen Könnens war er ein beachteter und bekannter Künstler, er drückte seine Sichtweise in seiner Malerei aus und öffnete damit dem Betrachter die Augen, um ihn zu etwas Neuem hinzulotsen.
Er hatte ihr ein Gemälde geschenkt, den Gipfel des Herzogstands, und sie hütete es wie einen Schatz. Es drückte ihr Glück und ihre Sorglosigkeit, die sie gemeinsam dort oben empfunden hatten, in einer Weise aus, die sie noch nicht einmal in Worte fassen konnte.
Als sie ihre Schwangerschaft festgestellt hatte, hatte sie inständig gehofft, einen Weg zu finden, um sein Kind bekommen und erleben zu dürfen. Wenn es nur annähernd seine lebensfrohe Art, seine Einfühlsamkeit und seine künstlerische Begabung hätte, würde er in diesem Kind weiterleben. Aber sie verbat es sich, es durfte nicht sein, sie musste ihre Arbeitsstelle behalten, gerade in dieser bedrohlichen und politisch unsteten Zeit. Ein schreiender Säugling wäre eine unzumutbare Belastung für Frau Ella, aber ganz besonders für Herrn Eichner. Und sie wollte auch keine Schande über das Münterhaus bringen, jetzt, wo sich die Leute endlich nicht mehr die Mäuler über die unverheiratete Gabriele Münter zerrissen, denn früher war die Villa als Russen- und von ganz bösen Zungen als Lotterhaus bezeichnet worden. Wenn sie als Haushälterin mit einem unehelichen Kind daherkäme, würden sich die Wogen der Entrüstung wieder erheben, ähnlich wie ein Sturm die Wellen des Walchensees aufpeitschen konnte.
Ihre eigene Familie würde sie vor die Tür setzen, aber das kümmerte sie nicht. Seitdem sie die Anstellung im Münterhaus hatte, war der Kontakt zu ihren drei Schwestern und zwei Brüdern immer geringer geworden, ihnen fehlten die Gemeinsamkeiten, die eine Familie ausmachte. Die Eltern waren froh gewesen, als sie vor achtundzwanzig Jahren, als Amalia bei Gabriele zu arbeiten begann, ein Maul weniger stopfen mussten. Trotzdem bekam sie bei ihren Besuchen und Arbeitseinsätzen auf dem elterlichen Hof immer wieder den Vorwurf zu hören, dass sie nun Besseres gewöhnt sei, sozusagen eine „feine Dame“, sicher zu gut für die harte Arbeit auf dem Bauernhof zu Hause. Als sie vor sechs Jahren von ihrer Patentante Amalia, die selbst kinderlos war, ein kleines Häuschen und ein paar Felder ganz in der Nähe des Münterhauses geerbt hatte, hatten zwei ihrer Schwestern wütend über diese Ungerechtigkeit den Kontakt mit ihr vollständig abgebrochen. Die dritte Schwester hoffte, da Amalia unverheiratet war, das Häuschen dereinst von ihr zu erben, obwohl sie älter war als sie. Nur mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Benedikt pflegte sie eine herzliche und vertraute Beziehung. An ihr als Mensch, als Tochter, Schwester oder Schwägerin hatte außer ihm keiner in der Familie echtes Interesse. Lediglich bei Geburten oder Krankheiten war sie gut genug, als Arbeitskraft im Haushalt der Geschwister oder Eltern einzuspringen. Gabriele hatte dafür immer Verständnis, und selbst darüber lästerten die Familienmitglieder.
„… geboren?“
Amalia war so in Gedanken versunken, dass nur das letzte Wort von Gabrieles Frage in ihrem Bewusstsein ankam.
„Was meinen Sie, Frau Ella? Ich war so weit weg grad.“
Gabriele wiederholte die Frage und schaute Ama dabei tief in die Augen.
„Wenn ich mich nicht verrechnet habe, dann müsste es im Oktober so weit sein.“ Amalia versuchte, sich aufzurichten.
„Komm, wir machen es uns am Tisch bequem und reden. Später holen wir den Eichner dazu, dem fällt sicher auch was Gescheites ein.“
Gabriele half Amalia auf, was ihr sichtlich unangenehm war, denn bisher musste ihr keiner helfen, egal in welcher Situation. Während sie in die Höhe kam und gewohnheitsmäßig mit den Händen über die Jacke und den Rock strich, damit kein Stäubchen oder Fältchen darauf zu sehen waren, wurde sie von Gabriele taxiert.
„Es ist kaum was zu bemerken. Selbst wer dich kennt, käme nicht auf den Gedanken, dass du in anderen Umständen bist.“
„Vor allem denkt bei meinem Alter keiner an ein Kind“, konstatierte Amalia nüchtern, „wenn überhaupt, dann an zu üppiges Essen.“
„Was in diesen mageren Zeiten kaum möglich ist. Aber lassen wir es, uns den Kopf über die Gedanken anderer zu zerbrechen.“
„Ich kann nicht zu meinen Eltern gehen, denn die schmeißen mich hochkant raus, wenn sie etwas davon erfahren. Ich mag’s mir gar nicht vorstellen …“
„Meine liebe Ama, du bleibst hier bis zur Niederkunft, das Kindlein wird hier im Haus geboren und hier bei uns und in deinem kleinen Häuschen aufwachsen.“ Gabriele hatte ihre Entscheidung getroffen und äußerte sie, als duldete sie keinen Einwand.
Amalia kannte diesen Ton, selbst in Diskussionen mit Herrn Eichner hatte dieser keine Chance, wenn Gabriele ihr Kinn hochreckte, den Mund spitzte und in kurzen und klaren Worten das Ergebnis ihrer vorausgegangenen Gedankenexkursion mitteilte.
„Hierbleiben, mit dem Kind?“ Amalia konnte es kaum glauben, es käme der Erfüllung ihres Traums gleich, Alexejs Kind aufwachsen zu sehen. Aber die Probleme, die damit auf alle im Haus zukommen würden …
„Ich bin überzeugt, dass das die einzig richtige Entscheidung ist.“
„Ich werde natürlich so lange wie möglich arbeiten. Aber ich höre jetzt schon den Spott und die Häme der Dorfbewohner … Und ob das dem Herrn Eichner recht ist, bezweifle ich. Vor allem, wenn das Kind schreit und ihn bei der Arbeit stört.“
„Ein junges Leben tut dem lieben Eichner ganz gut, ein bisschen Lebhaftigkeit kann er schon vertragen. Natürlich muss er sich dazu äußern, schließlich ist es sein Haus. Aber je mehr wir für alles gerüstet sind, umso eher lässt er sich überzeugen. Du behältst wie bisher dein Zimmer unter dem Dach, und wir richten eine Ecke für den Säugling ein, viel braucht so ein kleines Menschlein ja nicht. Tagsüber stellen wir eine Wiege oder ein Wägelchen in die Wohnstube neben meine Staffelei. So können wir alle unserer Arbeit nachgehen, und wenn das Würmchen Hunger hat, bist du immer in der Nähe.“
„Das klingt alles so einfach.“ Amalia schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Das ist einfach, und deswegen wird es klappen.“ Für Gabriele war alles geregelt, sie hatte keinerlei Bedenken. „Jetzt rufe ich den Eichner hinunter, dann kann er sich dazu äußern.“
Amalia wunderte sich, dass Gabriele keinen Gedanken daran verschwendete, dass Herr Eichner dagegen sein könnte. Schließlich gehörte das Haus seit dem Umbau ihm, er hatte es Gabriele abgekauft. Es würde sie nicht wundern, wenn er ihr kündigen würde. Aber so klein und zierlich Gabriele war, so fest und unbeugsam war ihr Wille.
Und so kam es dann auch, Johannes Eichner wurde über die Schwangerschaft und die Entscheidung Gabrieles in Kenntnis gesetzt, während sein ruhiger Blick zwischen Gabriele und Amalia hin- und herwanderte. Ab und zu strich er sich über seinen Schnauzbart, dann legte er die Unterarme und Hände flach auf den Tisch, als könnte er sich dabei besser konzentrieren.
„So kommt dieses Haus doch noch zu einem Kindlein, was immer mein größter Wunsch war. Dass es jetzt und unter diesen Umständen passiert, ist eine Überraschung, aber es ist, wie es ist. Ein Kind bedeutet Leben und Zukunft. Sehen Sie das nicht auch so, mein lieber Eichner?“ Gabrieles letzter Satz blieb eine Zeit lang im Raum hängen. Sie legte ihre Hände über seine und schaute ihn an. Einige Minuten war es still, nur eine Biene stieß immer wieder mit immer lauterem Summen gegen die Fensterscheibe, von draußen drang gedämpftes Klappern von Pferdehufen herein, begleitet vom kreischenden Quietschen eines Fuhrwerks und den grantig klingenden Zurufen des Lenkers.
In der Hitze des Hochsommers klang alles lauter und schriller als sonst, oder kam das Amalia nur wegen ihrer Anspannung so vor? Sie glaubte schon, Herr Eichner würde gar nicht mehr antworten, bis er sich schließlich leise räusperte, während er seine Hände unter Gabrieles herauszog. Er legte sie wie zum Gebet vor seinem Brustkorb zusammen.
„Ich denke, das ist für alle die beste Lösung. Ich war zwar nicht in den Entscheidungsprozess eingebunden, aber den Gedanken, die diesem zugrunde liegen, schließe ich mich an. Natürlich nur, wenn das für Amalia die richtige Lösung ist, schließlich könnte sie sich auch zum Vater des Kindes begeben.“ Er richtete einen fragenden Blick in Amalias Richtung, ohne ihr direkt in die Augen zu schauen.
„Das … das geht nicht. Es ist …“, stammelte Amalia herum.
„Ich kann mir schon denken, wer es ist. Aber auf ihn können wir leider nicht bauen, denn er ist auf der Flucht. Meine einzige Hoffnung ist, dass er heil in Amerika ankommt oder vielleicht sogar schon dort angekommen ist.“
Gabriele war es von Anfang an klar gewesen, dass nur ihr bester Freund Alexej von Jawlensky als Amalias Liebhaber infrage käme. Sie hatte sein ständiges Werben um Amalia in den vergangenen Jahren schmunzelnd und gleichermaßen erstaunt zur Kenntnis genommen, hatte es aber als reines Geplänkel abgetan. Dass Ama seinem Liebeswerben erlegen war, war ihr vollends entgangen. Aber natürlich: Ama war diskret, es bedeutete eine Verletzung ihres Standes als Angestellte. Es war tragisch, dass Alexej nicht nur wegen seiner Flucht abwesend war, denn er war verheiratet und hatte einen vierzehnjährigen Sohn. Aber sie wusste aus eigener Erfahrung, dass nicht das kleinste Argument der Liebeswerbung eines Russen standhalten konnte.
2
August 1938
Vom Flur aus schaute Amalia in die Wohnstube und hielt inne. Sollte sie Frau Ella stören? Sie saß regungslos und vollkommen in Gedanken versunken mit dem Pinsel in der Hand vor ihrer Staffelei. Als würde auf der weißen Leinwand vor ihr ein Film laufen, der nur für sie sichtbar war.
Plötzlich zuckte sie zusammen. „Komm nur rein, liebe Ama, du störst mich nicht“, sagte sie und wandte sich in Richtung der offenen Tür. „Setz dich doch zu mir, ich sinniere gerade über die alten Zeiten hier in der Kottmüllerallee. Es war so eine heitere Zeit mit Kandinsky und unseren unzähligen Künstlerfreunden, ich weiß nicht, ob du dich noch daran erinnern kannst. Du warst fast noch ein Kind, als dich deine Mutter hierher zum Arbeiten brachte.“ Sie strich die Farbe ihres Pinsels ab und wandte sich Amalia zu.
„Frau Ella, das war die aufregendste Zeit in meinem Leben. Alles war neu für mich, Frauen, die malten, Gedichte schreibende und deklamierende Männer, andere tanzten und sangen – eine vollkommen andere Welt, als ich sie kannte.“
„Ich habe nie darüber gesprochen, aber mein größter Wunsch war damals ein Kind von Kandinsky, lieber noch eine ganze Kinderschar, denn wir wollten beide eine Familie gründen. Als ich ihn als junge, behütete und unberührte Frau in seiner Malklasse kennenlernte, faszinierten mich sein Können und seine fachliche Kompetenz. Er erstaunte mich, da er im Gegensatz zu vielen anderen keinerlei Vorurteile gegen mich als Frau und Künstlerin hegte; immer wieder hob er meinen Malstil als eigenständig und eigenwillig expressiv vor den anderen hervor. Er befeuerte mich und meinen Stil, ich arbeitete mit größter Leidenschaft und verfeinerte mein Können immer mehr. Ich wollte mich voll und ganz der Kunst verschreiben, und ohne es selbst zu wissen, habe ich ihm meine Seele geschenkt und ohne Einschränkung alles, was ich geben konnte, in die Waagschale gelegt.“ Gabriele schob ihre Hände auf dem Tisch hin und her, als würde sie dort die Erinnerungen ausbreiten.
Während sich Amalia auf den angebotenen Platz setzte, erzählte Gabriele weiter von ihrem damaligen Leben.
Da sie als Frau keinen Zugang zur Akademie hatte, belegte sie Malkurse bei verschiedenen Künstlern. Im Anschluss an einen Aktzeichenkurs bei Kandinsky in München setzte sie ihre Studien mit einem Freiluftmalkurs bei ihm in Kochel am See fort, und dort lud er sie zu einer Fahrradtour ins Murnauer Moos ein. Es war ihr allererstes Rendezvous, sie war aufgeregt wie nie zuvor. Während eines Picknicks gestand er ihr seine Liebe und forderte sie auf, mit ihm zu reisen, um der Welt ihrer beider Malerei zu präsentieren. Sie wies ihn immer wieder ab, denn obwohl ihre Eltern schon früh verstorben waren, hatte sie eine streng katholisch geprägte Erziehung durch ihre ältere Schwester erfahren. Sie hatte ein klares Bild vor Augen, zuerst müsste er um sie werben, anschließend bei ihrem Bruder um ihre Hand anhalten, und erst dann würde sie ihn heiraten und sich ihm hingeben.
Aber schon nach kurzer Zeit konnte sie ihm nicht mehr widerstehen, im Gegenteil, sie war ihm regelrecht hörig. Kandinsky und sie selbst glaubten, sie hätten ihr Verhältnis bestens verheimlicht, jedoch wusste ihr Umfeld sehr schnell Bescheid. Als ihre Schwester sie auf ihr liederliches Verhältnis ansprach, fiel Gabriele aus allen Wolken und versicherte ihr, sie werde in Kürze heiraten, es sei nur noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen.
„Kannst du dir vorstellen, welches böse Erwachen ich erlebte, wie groß mein Schockzustand war, als plötzlich die Russin Anna Tschimiakin in München auftauchte und in Kandinskys Wohnung einzog – als seine Ehefrau?“ Gabrieles Stimme erhob sich, und sie fasste sich an den Hals, um tief Luft zu holen. Nach wenigen Sekunden erzählte sie weiter. Sie wollte damals sofort den Kontakt zu ihm abbrechen, aber er überzeugte sie davon, dass seine Ehe mit seiner Cousine nur auf dem Papier bestehe und er sie jederzeit auflösen könne, sie werde keinerlei Anspruch an ihn stellen. Er werde die Scheidung bei nächster Gelegenheit bei einem Aufenthalt in Russland durchführen.
Damit ließ sie sich wieder und wieder hinhalten, sie war ihm schlichtweg verfallen.
Um seiner Frau in München aus dem Weg zu gehen, reisten sie gemeinsam durch die Schweiz, die Niederlande, durch Tunesien und Italien und hielten sich anschließend mehrere Jahre in Paris auf, wo sich Gabriele den Holz- und Linolschnitt und die Pinselmalerei aneignete. Sie sog alles auf, was sich ihr an künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten bot, und verfeinerte dabei immer mehr ihren eigenen Malstil.
Als sie 1908 gemeinsam nach München zurückkehrten, zog es beide wieder nach Murnau. Gabriele liebte das besondere Licht des Murnauer Mooses und die Weite des Werdenfelser Landes mit dem Alpenpanorama; allein die Bezeichnung „das blaue Land“ faszinierte sie. Sie übernachteten häufig mit ihren Künstlerfreunden Franz und Maria Marc, Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky in Murnau im Gasthof Griesbräu. Kandinsky weckte bei Gabriele die Idee, ein Haus in Murnau zu kaufen, um dort eine Anlaufstelle für ihre Künstlerfreunde zu gründen, er schilderte ihr diese „Künstlerkolonie“ in allen Farben. Wie es der Zufall wollte, wurde ihr eine neu erbaute Villa in der Kottmüllerallee vom ortsansässigen Baumeister Steidler angeboten.
Sie verliebte sich auf Anhieb in das schlichte Haus am Hang und entschied sich spontan zum Kauf; das beträchtliche Erbe ihrer früh verstorbenen Eltern machte es ihr möglich. Sie glaubte und hoffte, dass ein gemeinsames Zuhause endlich zur Heirat führen würde, obwohl Kandinsky seine Ehe immer noch nicht gelöst hatte.
Ihr unmoralisches Verhältnis wurde ihr immer mehr von ihrer Familie und sogar von einigen ihrer Malerfreunde vorgeworfen. Erstaunlicherweise bedrängte keiner Kandinsky, der Bigamie betrieb, sondern sie, die frei und heiratswillig war. Sie litt darunter und bat ihn immer wieder, alles Nötige für die Scheidung in die Wege zu leiten. Aber trotz seiner Beteuerung seiner großen Liebe zu ihr fand er immer wieder Ausreden. Vor allem meinte er, dass er für die Abwicklung der Scheidung keine Zeit habe. Alles war wichtiger, er gründete den Neuen Münchner Kunstverein und etablierte wenige Jahre später die Künstlergruppe Der blaue Reiter. Gabriele unterstützte ihn dabei bis an den Rand der Erschöpfung, sogar ihre eigene Malerei vernachlässigte sie.
Im Stillen hegte sie die Hoffnung, schwanger zu werden, dann würde sich alles zwangsläufig von selbst ergeben. Bei diesem Gedanken flammte aber auch sofort die Angst vor den Folgen einer Schwangerschaft auf. Kandinsky war unberechenbar, womöglich würde er sie auf der Stelle verlassen. Er wurde immer herrischer und selbstherrlicher, sein Ansehen in Künstlerkreisen wuchs immens. Sie selbst wurde dagegen bestenfalls als seine Muse betrachtet und, was noch verletzender war: gerade von ihren guten Freunden als seine Handlangerin.
„Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, flohen wir gemeinsam in die Schweiz, denn als Russe war Kandinsky nun Persona non grata.“
Amalia nickte. Sie konnte sich noch gut an diese Zeit erinnern, schließlich hatte sie jeden Tag, den sie seit Gabrieles Abreise wieder bei ihren Eltern auf dem Hof verbringen musste, gehofft, dass ihre Dienstherrin zurückkommen würde. Sie liebte Gabriele, ihre Frau Ella, denn diese hatte ihr Selbstvertrauen geweckt, und Amalia hatte im Münterhaus eine Lebensart erlebt, die sie zu Hause nie kennengelernt hatte. Die Briefe, die ihr Gabriele schrieb, hütete sie wie einen Schatz und las sie wieder und wieder, um die Reisen und Geschehnisse mitzuverfolgen.
Kandinsky unterschrieb Gabriele eine Vollmacht, die es ihr möglich machte, seine Wohnung in München aufzulösen, denn auch seine Frau musste Deutschland verlassen. Anschließend ging er zurück nach Russland. Wochenlang schrieb Gabriele ihm täglich Briefe, seine Korrespondenz dagegen wurde immer zurückhaltender. Manchmal beschimpfte er sie, sie sei ihm eine Last, sie solle ihn einfach freigeben. Dann wieder beschwor er ihre Liebe und versprach Gabriele die Heirat, um ihre gesellschaftliche Stellung, die sie beklagte, wiederherzustellen, aber es wurde nichts daraus.
Gabriele reiste in dieser Zeit nach Stockholm und erfuhr allseits große Wertschätzung der dort lebenden Künstler. Allmählich erlangte sie ihr Selbstbewusstsein zurück, und sie begann wieder mit dem Malen. Gerade zur rechten Zeit, denn als durch den Krieg und die falsche Anlagestrategie ihres Bruders ihr ehemals großes Vermögen erheblich schrumpfte, konnte sie sich mit dem Verkauf ihrer Arbeiten ihren Lebensunterhalt finanzieren. Sie nahm Aufträge für Porträts an, verkaufte ihre Radierungen und Zeichnungen. Als sie 1920 nach München zurückkehrte, war sie als Avantgardistin international sehr geschätzt, im eigenen Land hatte sie dagegen kaum einen Namen.
Drei Jahre vorher hatte Kandinsky den Kontakt vollständig abgebrochen. Die Trennung hatte ihr die Kraft ihres künstlerischen Schaffens geraubt, nur der Zuspruch der Skandinavier half ihr über ihre Tiefpunkte hinweg. Sie hoffte immer noch auf seine Rückkehr, sie beschwor in Briefen ihre Liebe, aber er schwieg. Als sie 1918 zufällig erfuhr, dass Kandinsky frisch verheiratet mit einer Russin war, einen einjährigen Sohn hatte und als Lehrer im Bauhaus in Weimar unterrichtete, platzte ihr Lebenstraum einer großen Familie endgültig.
Sie bündelte ihre riesige Enttäuschung, gepaart mit Wut über sich selbst, und kämpfte nun wieder für sich allein. Als Ersatz für sein Eheversprechen forderte sie seine Werke, die er in München und Murnau zurückgelassen hatte. Sie kämpfte mehrere Jahre dafür und musste von seinem Anwalt übelste Vorwürfe und frauenfeindliche Anschuldigungen ertragen.
Nach einer nicht enden wollenden Zeit und unzähligen Briefen war sie sechs Jahre später am Ziel angekommen: Er hatte ihr die Rechte an den Gemälden übertragen, nur einige wenige aus der Münchner Wohnung hatte sie an ihn zurückgeschickt.
„Vielleicht verstehst du jetzt, Amalia, dass ich damals nicht mehr in Murnau und München leben konnte, erinnerte mich doch alles an meine enttäuschte Liebe, den schmerzlichen Verlust und Kandinsky. Schweren Herzens habe ich damals das Münterhaus geschlossen und dich beauftragt, dich in meiner Abwesenheit um Haus und Garten zu kümmern, es als Ferienunterkunft zu vermieten, sooft es möglich wäre. Du erinnerst dich doch?“
Amalia nickte. Sie hatte sich um alles gesorgt und in Briefen an Gabriele über die leider seltenen Sommergäste als Mieter und die daraus resultierenden kümmerlichen Einnahmen berichtet. Sie arbeitete in dieser Zeit in verschiedenen Gasthäusern in Murnau als Zimmermädchen, Köchin und Bedienung, denn schon damals florierte der Fremdenverkehr in der wunderschönen Umgebung. Weil sie zuverlässig und schnell war und einen souveränen Umgang mit den Gästen an den Tag legte, war sie überall geschätzt und hatte trotz Gabrieles Abwesenheit ein gutes Auskommen.
Nie würde sie die riesige und tief empfundene Freude vergessen, als Gabriele Anfang der Dreißigerjahre mit Johannes Eichner nach Murnau zurückgekehrt war.
Gabriele sah zufrieden aus. „Ich bin so glücklich, dass jetzt ein kleines Kindchen in unser Leben treten wird! Es ist wie die Erfüllung eines lang gehegten Traumes. Was macht das schon, wenn es nicht mein eigenes ist? Wir sind eine Familie, es wird unser aller Kind werden, du wirst sehen, meine liebe Ama, auch Eichner wird sich an der Erziehung des kleinen Wesens beteiligen.“ Sie strahlte, als wäre sie selbst schwanger.
Hinter seiner beherrschten und distanzierten Fassade war Eichner der liebenswerteste und zuverlässigste Mann, den Gabriele jemals kennengelernt hatte, das konnte Amalia immer wieder erleben. Über die Beziehung und die Art ihres Verhältnisses sprachen ihre Arbeitgeber nicht vor anderen, aber die tiefe und innige Übereinstimmung, die so in sich gefestigt war, dass sie auch heftigste Streitgespräche und Meinungsverschiedenheiten vertrug, erfuhr Amalia täglich. Gabriele gab ihr zu verstehen, dass Johannes durchaus wusste, warum sie das Baby hier haben wollte. Mit einundsechzig Jahren sah sie die große Chance, ihrem Leben noch mal eine Wendung zu geben. Gerade jetzt, wo sich die politische Situation täglich zuspitzte – in eine Richtung, die nichts Gutes verhieß.
Ein Kind wäre ihr größtes Glück, sie würde ihm alles geben, was sie bekommen hatte und was sie gern an eigene Kinder weitergegeben hätte. Und sie verfügte über ein Übermaß an Liebe. Das war in ihren Augen das Wichtigste, alles andere würde sich ergeben.
Und wieder ein Buch von Frau Grund-Thorpe das mich tief berührt und gefesselt hat. Spannend, emotional, und mit einem überraschendem und aber auch schönen Ende. Einfach fantastisch!
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