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Die Tote am Watt (Mamma Carlotta 1)Die Tote am Watt (Mamma Carlotta 1)

Die Tote am Watt (Mamma Carlotta 1) Die Tote am Watt (Mamma Carlotta 1) - eBook-Ausgabe

Gisa Pauly
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Ein Sylt-Krimi

— Lustiger Nordsee-Krimi
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Die Tote am Watt (Mamma Carlotta 1) — Inhalt

Eine italienische Mamma auf Sylt

Erster Auftritt für Mamma Carlotta: Nordsee, Mord und italienisches Temperament  
Seit über 15 Jahren ermittelt Mamma Carlotta auf der Nordseeinsel Sylt. „Die Tote am Watt“ ist ihr erster Fall und legte den Grundstein für die erfolgreichen Krimis voller Humor. 

Im Grunde ist jeder Kriminalfall gleich: Es gibt einen Mord, es gibt einen Kommissar, es gibt eine Ermittlung und hoffentlich eine Auflösung. Doch wenn Mamma Carlotta ins Spiel kommt, wird dieses Rezept kräftig durcheinandergewirbelt.  

Als auf der Insel Sylt eine vermögende Witwe getötet wird, glaubt Hauptkommissar Erik Wolf an eine schnelle Lösung. Seine italienische Schwiegermutter Mamma Carlotta sieht jedoch sofort, dass es so einfach nicht ist, und nimmt die Ermittlungen selbst in die Hand.    

Seit „Die Tote am Watt“, dem ersten Band der Bestseller-Krimireihe von Gisa Pauly, hat sich Mamma Carlotta unter Fans der augenzwinkernden Mörderjagd zu einer heiß geliebten Protagonistin gemausert. Schon in ihrem ersten Fall geht es drunter und drüber, temperamentvoller italienischer Charme trifft auf norddeutsche Gelassenheit, vorlaute Intuition auf regelkonforme Beamte.  

„Die italienische Miss Marple von Sylt.“ – Brigitte  

Der andauernde Erfolg der Cosy Crimes mit Mamma Carlotta beruht nicht zuletzt auf der charmanten und liebevollen Art, mit der Autorin Gisa Pauly ihrer Hauptfigur immer wieder neue Facetten entlockt. Mamma Carlotta ist eine Schwiegermutter aus dem Bilderbuch – und dennoch ganz anders.  

Reihenweise Lesefutter aus den Bestsellerlisten  

Spannung und jede Menge Witz garantiert: Entdecken Sie nach dem Auftakt „Die Tote am Watt“ auch alle anderen Mamma-Carlotta-Bücher der Krimireihe und kehren Sie immer wieder nach Sylt zurück. Es lohnt sich.  

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 01.05.2007
368 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-24768-9
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 20.08.2012
368 Seiten
EAN 978-3-492-96079-3
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Leseprobe zu „Die Tote am Watt (Mamma Carlotta 1)“

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Für Carlotta Capella führte nur ein Weg nach Rom. Den Berg hinab und dann lange geradeaus.
Als die ersten Verkehrsschilder zur A1 wiesen, fragte sie ihren Sohn zum ersten Mal, ob sie auch wirklich pünktlich am Flughafen ankommen würden. Guido versicherte es ein ums andere Mal, aber seiner Mutter entging nicht, dass auch er immer unruhiger wurde und das Lenkrad immer fester umklammerte.
Als sie bei Orvieto auf die Autobahn fuhren, begann Mamma Carlotta, ihr Blümchenkleid glatt zu streichen, das sie sich extra für diese Reise genäht hatte, und als der [...]

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Für Carlotta Capella führte nur ein Weg nach Rom. Den Berg hinab und dann lange geradeaus.
Als die ersten Verkehrsschilder zur A1 wiesen, fragte sie ihren Sohn zum ersten Mal, ob sie auch wirklich pünktlich am Flughafen ankommen würden. Guido versicherte es ein ums andere Mal, aber seiner Mutter entging nicht, dass auch er immer unruhiger wurde und das Lenkrad immer fester umklammerte.
Als sie bei Orvieto auf die Autobahn fuhren, begann Mamma Carlotta, ihr Blümchenkleid glatt zu streichen, das sie sich extra für diese Reise genäht hatte, und als der Verkehr vor Rom immer dichter wurde, zupfte sie an ihrer neuen Lockenfrisur herum, bis die ganze Pracht, an der ihre Schwiegertochter stundenlang gearbeitet hatte, zum Teufel war. Als der Petersdom in Sicht kam, bereute sie, dass sie den Rosenkranz in den Koffer und nicht in ihre Handtasche gesteckt hatte.
Sie griff nach Guidos Hand, der sie nur ungern vom Lenkrad löste, ließ sie aber schnell wieder los, als sie sah, dass die Augen ihres Ältesten sich mit Tränen füllten.
„Erik hat mich eingeladen“, rechtfertigte sie sich ein weiteres Mal. „Und ich muss doch einmal an Lucias Grab beten.“
Guido nickte und wechselte auf die rechte Spur, wo gerade ein schnittiger Alfa Romeo seinen klapprigen Liefer-
wagen überholen wollte. Das gefährliche Bremsmanöver, die quietschenden Reifen und das schrille Hupen bekam Guido nicht mit, der mit den Tränen zu kämpfen hatte.
„Lucia ist nach Deutschland gegangen, um zu sterben“, brachte er schließlich hervor.
Seine Mutter machte ihn darauf aufmerksam, dass seine Schwester nicht explizit zu diesem Zweck nach Deutschland gezogen war, sondern dass nur bedauerlicherweise ihr Leben dort geendet hatte. Und sie versuchte, Guido davon zu überzeugen, dass nicht jede Reise nach Deutschland notgedrungen mit dem Tod enden müsse.
„Ob Papa das gewollt hätte?“, fragte Guido.
Mamma Carlotta wusste, was er meinte. Nein, Dino wäre sicherlich nicht damit einverstanden gewesen, dass seine Frau allein nach Deutschland reiste. Aber Dino Capella war tot, und seine Witwe hatte kurz darauf beschlossen, dass nun die Zeit gekommen sei, eigene Entscheidungen zu treffen.
Carlotta Capella hatte mit sechzehn geheiratet, sieben Kinder bekommen und mit der Pflege ihres schwerkranken Mannes begonnen, noch ehe das jüngste Kind aus den Windeln heraus war. Sie hatte alles getan, was von ihr erwartet wurde. Tag für Tag und bald auch Nacht für Nacht hatte sie an Dinos Bett gesessen, hatte darauf verzichten müssen, Lucia in ihrer neuen Heimat zu besuchen, und war sogar, als ihre Tochter beerdigt wurde, an der Seite ihres Mannes geblieben, weil Dino keinen einzigen Tag ohne sie auskam.
Sie hatte sich in tiefschwarze Kleidung gehüllt, als er starb, und ihr Bestes getan, die Erleichterung über das Ende der ehelichen Pflichten nicht über die angemessene Trauer siegen zu lassen. Aber dann hatte sie sich ganz langsam wieder an das Glück gewöhnt. An das Glück, eine Nacht durchschlafen zu können, ohne von einem stöhnenden Kranken geweckt zu werden, an das Glück, mit ihren Enkeln zu spielen, ohne von einem stöhnenden Mann ins Haus zurückgeholt zu werden, und der Sonne beim Untergehen zuzusehen, ohne die Angst, zu lange auf das Stöhnen gewartet zu haben.
Mamma Carlotta griff nach ihrer Handtasche und kontrollierte zum hundertsten Mal, ob sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Den Lippenstift, den sie sich kurz vor ihrer Abreise gekauft hatte, steckte sie schnell wieder weg. Guido würde nicht verstehen, dass seine Mamma jedes Mal einen Moment des Glücks genoss, wenn sie ihn auftrug, Ober- und Unterlippe gegeneinanderrieb und lange, sehr lange, das erstaunliche Ergebnis im Spiegel betrachtete. Ob es im Flughafen einen Spiegel geben würde?
Als Mamma Carlotta die Abflughalle betrat, dachte sie nicht mehr an den ersten Lippenstift ihres Lebens. Lucia hatte ihr oft vom römischen Flughafen erzählt, aber so groß, so hell, so imposant hatte sie ihn sich nicht vorgestellt.
Ihr Gesicht war bleich, aber ihr Mund lächelte tapfer, als sie sich von ihrem Ältesten verabschieden musste, um sich von den Wartehallen verschlingen zu lassen. Sie warf keinen Blick zurück, um Guidos Tränen nicht sehen zu müssen, sondern folgte mit festen Schritten den Reisenden, die den Eindruck erweckten, sich auszukennen. Manchmal warf Mamma Carlotta einen Blick in eine der unzähligen Glasscheiben, an denen sie vorbeiging. War sie das wirklich? Diese dralle Person, die sich so flink bewegte wie ein junges Mädchen? Deren Augen blitzten, als hätte sie Spaß an diesem Abenteuer?
Auf wundersame Weise kam Mamma Carlotta genau in dem Warteraum an, den die reizende Bodenstewardess ihr genannt hatte. Plötzlich war sie wieder voller Zuversicht, dass sie ins richtige Flugzeug steigen und tatsächlich in Hamburg ankommen würde. Sie fand sogar ohne langes Suchen ihren Sitzplatz. Als die Stewardess ihr erklärte, wie die Sicherheitsgurte anzulegen waren, hielt sie es ohne Weiteres für möglich, auch auf dem Rückflug das richtige Flugzeug zu erwischen und wieder in Rom anzukommen, statt in Peking oder in Timbuktu. Nun mussten nur noch Erik und die Kinder pünktlich in Hamburg am Flugplatz erscheinen, um sie abzuholen …
„Müssen Sie auch nach Sylt?“, fragte sie ihren Sitznachbarn erst auf Italienisch, dann auf Deutsch. Zu ihrer Freude stellte sich schnell heraus, dass sie sich in ihrer Muttersprache unterhalten konnte.
Der römische Geschäftsreisende bedauerte. „Ich habe in Hamburg zu tun.“ Dann erkundigte er sich mitfühlend, ob etwa niemand in Hamburg bereitstehen würde, um sie abzuholen.
Mamma Carlotta beeilte sich zu versichern, dass ihr Schwiegersohn und die beiden Enkelkinder schon darauf brannten, sie in die Arme zu schließen. „Aber man kann
ja nie wissen. Sie könnten einen Autounfall haben …“ Prompt fiel ihr Lucia ein, die ihr Leben auf einer deutschen Landstraße gelassen hatte. „Eine unübersichtliche Kurve“, seufzte sie und suchte nach ihren Taschentüchern. „Sie war sofort tot. Madonna! Aber wenigstens hat sie nicht leiden müssen, la mia piccola.“
Der Sitznachbar legte seine Zeitung zur Seite und fragte nach den Einzelheiten. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte, wusste er bereits von Mamma Carlottas Kummer über Lucias Entschluss, mit einem deutschen Touristen in den Norden zu ziehen. Außerdem hatte er Einzelheiten der Hochzeit, der Besuche der Enkelkinder in Umbrien und viel über den Beruf des Schwiegersohns erfahren. „Un Commissario!“
Gerade wollte sie schildern, wie wenig ihr die deutsche Polizeiuniform gefiel und um wie viel schnittiger sie italienische Polizisten in ihren dunkelblauen Uniformen fand, da leitete der Pilot die Startphase ein. Erschrocken drückte sich Mamma Carlotta in den Sitz und entschloss sich zu einem leisen „Gebenedeit seist du, Maria“, das sie abrupt beendete, als sie sich traute, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. „Madonna! Wir sind über den Wolken!“
Dann knüpfte sie an das Gespräch an. Dem Sitznachbar blieb nichts anderes übrig, als die Zeitung erneut zur Seite zu legen und sich Mamma Carlottas Lebensgeschichte anzuhören. Keine der sieben Geburten blieb unerwähnt, und Dinos Krankheit konnte Mamma Carlotta sogar mit medizinischen Fachausdrücken schmücken. Zwischendurch lobte sie das Essen, das die Stewardessen servierten, und konnte sich nicht genug darüber wundern, wie die ganze Kocherei in einem fliegenden Flugzeug zu bewerkstelligen war. Dann fuhr sie fort, einen Überblick über die Familie Capella zu geben. Als sie bei den Lebensläufen ihrer Schwiegertöchter angekommen war und sich gerade anschicken wollte, die schwere Erkrankung der ältesten Tante von Guidos Frau zu schildern, setzte das Flugzeug zum Landeanflug auf Hamburg an. „Wir sind schon da?“
Der Sitznachbar, der jede Gegenwehr längst aufgegeben hatte, bot Mamma Carlotta an, den Platz zu tauschen, damit sie am Fenster sitzen und sich Hamburg von oben ansehen konnte.
„Sprechen Sie überhaupt deutsch?“, fragte er besorgt.
„Ma sì!“ Mamma Carlotta machte Anstalten, die gesamte Unterhaltung, die sie bisher auf Italienisch geführt hatten, in Deutsch zu wiederholen. Aber zum Glück wurde sie durch die Aussicht auf den Hamburger Hafen davon abgehalten.
Den römischen Geschäftsreisenden streifte die Ahnung, dass diese italienische Mamma aus Umbrien eine erfolgreiche Frau geworden wäre, wenn das Schicksal sie an einen anderen Platz gestellt hätte. Dabei wusste er nicht einmal, dass Carlotta Capella niemals Unterricht erhalten, sondern die deutsche Sprache neben dem Bett ihres schwer kranken Mannes erlernt hatte. Dort hatte sich Lucia zu ihr gesetzt, wenn sie zu Besuch in Umbrien war, und ihrer Mutter Deutschunterricht erteilt, damit sie ihre Enkel verstehen konnte. Dort hatte auch die Nachbarin mit ihr deutsch gesprochen, eine junge Frau, die als Touristin von Berlin nach Umbrien gekommen war, sich dort verliebt und einen italienischen Weinbauern geheiratet hatte. Sie war glücklich, wenn sie Deutsch reden konnte, und Mamma Carlotta war glücklich, wenn sie Deutsch lernen durfte. Je weiter sie mit ihren Fähigkeiten fortschritt, umso häufiger kam die Nachbarin zu Besuch, um mit Mamma Carlotta in ihrer Muttersprache zu plaudern.
Dann war Carolin herangewachsen, die schon früh beschloss, Lehrerin zu werden, und ihre Großmutter als erste Schülerin entdeckte. Während der Ferien paukte sie unermüdlich Vokabeln mit der Nonna, fragte sie ab, ließ sie kleine Tests schreiben, versorgte sie mit Büchern und vergewisserte sich zu Beginn der nächsten Ferien, dass die Nonna alle Aufgaben, die man ihr zurückgelassen hatte, sorgfältig gelöst hatte. Und Mamma Carlotta hatte ihre Sprachkenntnisse vertieft, indem sie während der vielen eintönigen Stunden am Bett ihres Mannes mit dem geöffneten Fenster, den Blumentöpfen davor und den vorüberziehenden Wolken deutsch geredet hatte. Auf diese Weise hatte sie es zu erstaunlicher sprachlicher Gewandtheit gebracht.
Mamma Carlotta sah so aus, als suchte sie nach einem Griff, um das Flugzeugfenster zu öffnen. Ihre Begeisterung über alles, was sie von oben erspähen konnte, war nun so groß, dass sie sämtliche Passagiere und Flugbegleiter an ihrer Freude teilhaben ließ. Auch die, die der Landebahn nicht gern entgegensahen, wurden über jede Phase der Annäherung informiert.
„Madonna! Wir werden mitten im Hafenbecken landen! Oder auf einem der Hochhäuser? Per l’amor di Dio, mitten im Wald! No, no … auf dem Flugplatz! Ich sehe ihn!
Da! Da ist er! Tatsächlich, dieser Pilot ist genial! Er lan-
det genau … veramente genau auf dieser langen, langen Straße.“
Mamma Carlottas Begeisterung bekam allerdings einen gewaltigen Schock, als ihr beim Verlassen des Flugzeugs der kalte Wind ins Gesicht blies. „Madonna! Und ich dachte, der Winter wäre vorbei!“

Erik Wolf fuhr nicht gern nach Hamburg. Wie allen Inselbewohnern waren ihm Grenzen vertrauter als anderen Menschen. Und Sylt war ihm derart vertraut, dass alles andere ihm fremd war. Erst recht eine große Stadt wie Hamburg. Und Erik Wolf liebte das Vertraute zu sehr, um sich woanders wohlzufühlen als auf Sylt.
Er war ein kantiger Mann, groß, mit breiten Schultern. Alles an ihm war breit, der Körper, der Kopf, die Stirn, der Mund. Sein Schnauzer betonte das Breite noch, ebenso wie die Breitcordhosen, die er mit Vorliebe trug. Seine Frau hatte ihn sogar den Mann mit dem breiten Herzen genannt. Und obwohl es ihm nicht gefiel, hatte er gelächelt, wenn sie ihn so nannte. Aber da er wusste, dass sie nie einen anderen Mann wollte als den mit dem breiten Herzen, hatte es ihm schließlich auch gefallen.
Vom Rücksitz drang das Pochen der Musik aus Felix’ Kopfhörer. Manchmal stimmte der Rhythmus mit dem des Scheibenwischers überein, dann erschienen Erik die Geräusche erträglicher. Er liebte nun einmal die Stille, das leise Atmen des Windes bei Flaute und auch sein heftiges Schnaufen. Sogar ein Sturm war für ihn Teil dieser Stille, die das Leben auf einer Insel von dem auf dem Festland unterschied.
„Ich bin jetzt schon froh, wenn wir wieder zu Hause sind“, sagte er.
Die sechzehnjährige Carolin, die schweigend neben ihm hockte, lächelte zustimmend. Carolin war genau wie ihr Vater. Sie dachte wie er, empfand wie er, war genauso schweigsam wie er.
Ihr blasses Gesicht war ihrer Mutter stets ein Anlass zur Sorge gewesen. Fast jeden Morgen hatte sie die Wangen ihrer Tochter gerieben, damit sie sich endlich rosig färbten. Zum Glück hatte Carolin auf den Beistand ihres Vaters bauen können, als es kurz nach ihrem zwölften Geburtstag darum ging, dort mit ein wenig Rouge nachzuhelfen, wo die Natur versagt hatte. Und mit einer Dauerwelle dort, wo sich absolut kein Löckchen kringeln wollte. Ungezählte Male an jedem Tag hatte Lucia ihrer Tochter die Haare aus dem Gummiband gezupft, das sie im Nacken zusammenhielt, und genauso oft hatte Carolin sie wieder zusammengerafft und geduldig alles verweigert, was aus ihr eine verlockende Ragazza machen sollte.
Erik wusste, dass Carolin ihre Mutter nicht nur geliebt, sondern auch gefürchtet hatte. Schon als kleines Mädchen hatte sie sich versteckt, wenn das Temperament wieder einmal mit Lucia durchging, und war erst wieder hervorgekommen, wenn ihre Mutter nicht mehr tobte, schrie
und ihre Muttersprache benutzte wie ein Maschinen-
gewehr.
Felix dagegen, der das Ebenbild seiner Mutter war, konnte die Stille nicht ertragen. Notfalls erschlug er sie mit seiner lauten Hiphop-Musik, die selbst seine Mutter nervös gemacht hatte, oder er füllte das Schweigen, das sich um seinen Vater und seine Schwester ausbreitete, mit seiner Stimme. Felix war es gewöhnt, in schweigende Gesichter zu reden, in erstaunte Augen, verständnislose Blicke und heimliches Seufzen.
„Bleibt die Nonna bis zu den Sommerferien?“, erkundigte er sich.
Carolin hob die Schultern, und Erik seufzte, als wollte er es nicht hoffen.
„Dann fahre ich mit ihr zusammen zurück“, verkündete Felix und zupfte an seinen schwarzen Locken, die von seinem Käppi auf die Stirn gedrückt wurden. Felix verzichtete selten auf seine Kopfbedeckung. Lucia hatte ihm das Käppi manchmal nach dem Einschlafen abgenommen. Nur dann hatte er es nicht gleich wieder auf den Kopf zurückgeschoben, so wie vor, während und nach den Mahlzeiten. Erik hatte lange fasziniert zugesehen und die Hartnäckigkeit seiner Frau bewundert. Lucia nahm Felix das Käppi ab, er setzte es wieder auf. Nach einigen Wochen hatte er gewonnen.
„Willst du auch die Ferien in Italien verbringen?“, fragte er seine Schwester.
Als Carolin den Kopf schüttelte, lachte er triumphierend. „Ach nee, in Umbrien sind dir ja alle zu laut, ich vergaß. Und du … du warst dem Nonno sogar dann noch zu leise, als er keinen Lärm mehr vertragen konnte.“
Der vierzehnjährige Felix rutschte auf dem Rücksitz hin und her und freute sich auf seine Nonna mit dem ganzen Körper, der ganzen Seele und allen Gefühlen, die aus ihm herausdrängten.
„Da, der Flughafen!“, schrie er und kümmerte sich nicht darum, dass Carolin zusammenzuckte und Erik vor Schreck das Steuer verriss.
Als im selben Augenblick auch noch Eriks Handy ging, war die Sicherheit des dunkelblauen Ford Escort in akuter Gefahr. Aufgeregt fingerte Erik über die Tastatur seines Handys, bis er den grünen Knopf gefunden hatte.
Die Stimme seines Assistenten erklang über die Freisprecheinrichtung: „Moin, moin. Müssen Sie denn ausgerechnet heute nach Hamburg fahren?“
„Sie wissen doch, Sören, meine Schwiegermutter …“
„Ja, ja, aber wir brauchen Sie hier.“
„Was ist denn passiert?“
„Eine Leiche. In Kampen.“ Sören Kretschmer war auf Sylt geboren worden und genauso wortkarg wie sein Chef.
„Ermordet?“, fragte Erik.
„Sieht so aus. Anscheinend erdrosselt.“
Erik warf einen Blick zu Carolin, die erschrocken den Kopf einzog, während Felix seinen MP3-Player in die Ecke warf. „Geil! Endlich passiert mal was auf Sylt! Wer hat das getan?“
„Wann können Sie zurück sein?“, wollte Sören wissen.
Erik Wolf warf einen Blick auf die Uhr. „Schwer zu sagen, Sören. Wenn der Flieger pünktlich ist, landet er in einer Viertelstunde. Aber er kann ja auch Verspätung haben. Und dann noch das Warten auf die Koffer, anschließend die Rückfahrt … Nein, es ist wohl am besten, Sie fahren ohne mich zum Tatort. Ich kann meine Schwiegermutter ja auch nicht gleich allein lassen, wenn wir wieder in Wenningstedt angekommen sind.“
„Das werden Sie wohl müssen.“

Gisa Pauly

Über Gisa Pauly

Biografie

Gisa Pauly hängte nach zwanzig Jahren den Lehrerberuf an den Nagel und veröffentlichte 1994 das Buch „Mir langt’s – eine Lehrerin steigt aus“. Seitdem lebt sie als freie Schriftstellerin, Journalistin und Drehbuchautorin in Münster, ihre Ferien verbringt sie am liebsten auf Sylt oder in Italien....

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