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Die verdammte Generation

Christian Hardinghaus
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Gespräche mit den letzten Soldaten des Zweiten Weltkriegs

Taschenbuch (12,00 €)
€ 12,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 29.08.2024 Bald verfügbar Das Buch kann 30 Tage vor dem Erscheinungstermin vorbestellt werden. Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
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Die verdammte Generation — Inhalt

13 Zeitzeugen-Gespräche mit Wehrmachtssoldaten

Während Holocaust und Judenverfolgung seit Jahrzehnten ihren berechtigten Platz in der Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs einnehmen, wurde das Erleben der deutschen Soldaten wenig beleuchtet. Ein Versäumnis, das Ende der 1960er-Jahre seinen Anfang nahm, als rebellische Studenten damit begannen, ihre Elterngeneration pauschal als Nazis zu verdammen. 

Alle bisherigen Versuche einer differenzierten Betrachtung des dunkelsten Kapitels der deutschen Geschichte scheiterten. Die Legende einer sauberen Wehrmacht ist zur Legende einer verbrecherischen Wehrmacht geworden. Historische Erkenntnisse zeigen jedoch, dass nur ein geringer Teil der Wehrmachtssoldaten an Kriegsverbrechen und dem Holocaust beteiligt war. Wenn es gelingt, dies anzuerkennen, kann der Blick auf die Soldaten der Wehrmacht erweitert und damit ein besseres gesellschaftliches Verständnis im Sinne einer ganzheitlichen Erinnerungskultur gewonnen werden. 

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erscheint am 29.08.2024
336 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-32083-2
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Leseprobe zu „Die verdammte Generation“

Vorwort

Als Historiker habe ich eine Menge Bücher über den Zweiten Weltkrieg gelesen, Filme gesehen, Archive besucht, zeitgenössische Fotos und Feldpost studiert. Nichts aber hat mich so nah an die Realität des Krieges herangebracht wie die intensiven Gespräche, die ich mit verschiedenen Zeitzeugen führen durfte. Auch für mich persönlich konnte ich neue Erkenntnisse gewinnen und einiges lernen von den und über die Menschen, die den schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte hautnah miterlebten. Für dieses Buch habe ich 13 Kriegsgeschichten aus meinem [...]

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Vorwort

Als Historiker habe ich eine Menge Bücher über den Zweiten Weltkrieg gelesen, Filme gesehen, Archive besucht, zeitgenössische Fotos und Feldpost studiert. Nichts aber hat mich so nah an die Realität des Krieges herangebracht wie die intensiven Gespräche, die ich mit verschiedenen Zeitzeugen führen durfte. Auch für mich persönlich konnte ich neue Erkenntnisse gewinnen und einiges lernen von den und über die Menschen, die den schlimmsten Krieg der Menschheitsgeschichte hautnah miterlebten. Für dieses Buch habe ich 13 Kriegsgeschichten aus meinem Zeitzeugenarchiv ausgesucht, die mir ehemalige Soldaten der Wehrmacht in den letzten vier Jahren anvertraut haben. Mit einigen Männern verbrachte ich viele Stunden, mit anderen mehrere Tage, sodass insgesamt über 60 Stunden Audiomaterial für die Auswertung zusammenkamen. Alle hier porträtierten Männer waren zum Zeitpunkt der Interviews zwischen 88 und 100 Jahre alt und hatten aktiv als Soldat im Zweiten Weltkrieg gekämpft. Einige haben mit Familie und Freunden über ihre Erfahrungen gesprochen, andere mit niemandem. Ein paar haben versucht, ihre Erinnerungen an die schlimmen Erlebnisse in Form von 
Tagebüchern aufzuschreiben; andere haben, solange es ging, alles verdrängt. Nicht immer war es einfach, das Vertrauen der Männer zu gewinnen, doch dies war Voraussetzung, um die Gespräche führen zu können. Meine Gesprächspartner haben mir, nachdem ihnen klar war, dass sie nicht befürchten müssen, vorgeführt oder verurteilt zu werden, ehrlich und detailliert Auskunft zu allen meinen Fragen gegeben. Mein Ziel für dieses Buch ist, ein möglichst realistisches und authentisches Bild des Kriegserlebens 
eines durchschnittlichen Wehrmachtssoldaten zu beschreiben. Außerdem war es mir wichtig, Soldaten möglichst vieler unterschiedlicher Waffengattungen und vor allem verschiedener Einsatzorte befragen zu können. Die Zeit eilte voran, es war sozusagen die letzte Chance für mich, diesen besonderen Menschen zuzuhören, aber auch für sie, ihre Geschichten in einem Buch für die Nachwelt zu erhalten. Wie drängend das Vorhaben war, zeigt sich darin, dass von meinem ersten Interview bis zur Fertigstellung dieses Buches, also in einer Zeit von etwas über vier Jahren, sechs der 13 interviewten Zeitzeugen verstarben. Nach jedem Abschied ahnten beide Seiten, dass es kein persönliches Wiedersehen geben würde. Ich habe deutlich gemerkt, wie wichtig es allen war, von ihren Erfahrungen aus dem Krieg zu erzählen. Sie gehören einer verdammten Generation an: verdammt zum Kämpfen, verdammt zum Schweigen, später dafür verdammt, am Krieg teilgenommen zu haben. 
Ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, berichteten mir diese Männer schonungslos vom Kämpfen, Töten und Sterben und hinterfragten dabei ihre Rolle immer wieder selbst. Sie reflektierten ihre Kindheit vor dem Krieg, schilderten ihre ersten Erfahrungen mit dem NS-Regime als Hitlerjungen oder Flakhelfer, gaben an, was sie von Judenverfolgung, Holocaust oder Kriegsverbrechen mitbekommen hatten, beschrieben ihren Alltag in Kriegsgefangenschaft und blickten auf ihr Leben nach dem Krieg zurück. Nahezu alle Interviewten sagten mir, dass sie sich in den Darstellungen des Zweiten Weltkrieges, wie sie in Schule und Medien präsentiert wurden, nicht wiedergefunden haben. Oft hatten sie das Gefühl, dass jüngere Generationen nicht zu unterscheiden wussten zwischen einem Nazi und einem unbelasteten Soldaten der Wehrmacht. Sie monierten ebenso, dass viele Aspekte des Krieges in unserer Erinnerungskultur keinen Platz gefunden haben; das betrifft den Kriegsalltag deutscher Soldaten ebenso wie die Thematisierung von Verbrechen gegen deutsche Zivilisten und Soldaten, die sie miterleben mussten. Die Zeitzeugen berichten von ihren nicht aufgearbeiteten Kriegstraumata, die sie ihr ganzes Leben verfolgt und beeinflusst haben, geben Auskunft darüber, warum sie lange Zeit nicht sprechen konnten, und mahnen uns und die kommenden Generationen, verantwortungsvoll mit der Geschichte umzugehen, damit ähnliches Grauen nicht noch einmal über Europa hereinbricht. 


Zwischen Hysterie und Historie – Annäherung an die Verdammte Generation

Wir leben heute in einem Deutschland, das zum Glück nicht mehr von Krieg, dafür aber von Hysterie bedroht ist. Die zunehmende Unfähigkeit, zu differenzieren, und das scheinbare Nicht-ertragen-Können anderer Meinungen treiben einen Keil durch die Gesellschaft, aus der sich zumindest ein heftiger Meinungskrieg entwickelt hat. Debatten in Medien oder Politik werden kaum mehr sachlich geführt, Meinungen von Minderheiten – oder immer häufiger auch die von Mehrheiten – werden unterdrückt anstatt ausdiskutiert.
Obwohl wir über das Internet Zugriff auf quasi das gesamte Wissen der Menschheit haben, also in diesem Bereich privilegiert sind wie keine Gesellschaft zuvor, scheint es erhebliche Probleme mit dem zu geben, was wir als Wahrheit anerkennen wollen. Selbst gegen knallharte Fakten werden Menschen in diesem Land resistent, wenn sie nicht der eigenen Meinung entsprechen, aus der ein Lebensbild geformt werden soll. Soziale Medien dienen nicht mehr dem Gedanken- und Meinungsaustausch, sondern sind in erster Linie dafür da, die Richtigkeit eigener Ansichten zu bestätigen und zu stärken. Wir können uns der Flut von Informationen und Nachrichten, die täglich über Dutzende Kanäle auf uns einprasseln, nicht mehr erwehren, geschweige denn sie ausreichend beurteilen und ordnen; deshalb werden wir gezwungen, uns vor- schnelle Urteile – mit anderen Worten Vorurteile – zu bilden. Wo Werte beispielsweise durch fehlendes Nationalgefühl, durch das Zerbrechen von Familien, durch das Schwinden des Einflusses der christlichen Religion, durch mangelnde Bildung wegfallen, sucht sich der Mensch Identifikation über alternative, meist vereinfachte Weltanschauungen. Das Bedürfnis, sich mit etwas zu identifizieren, wird paradoxerweise umso größer, je mehr sich alles zerstreut. Und je mehr Angebote zur Orientierung vorhanden sind, umso desorientierter wird die Gesellschaft und umso stärker wird das Bedürfnis des Einzelnen, sich in generellen Fragen von den anderen abzugrenzen und zu unterscheiden. So bleiben letztendlich zwei Prinzipgruppen übrig, die sich gegenseitig als Gut und Böse beschreiben und generell auf keinen Konsens mehr kommen können. Wer der anderen Seite angehört, der ist je nach Lesart verblendet, manipuliert, noch nicht aufgewacht. Halt und Anerkennung bietet die Eigengruppe sozialpsychologisch gesehen allerdings nur, wenn sie ein gemeinsames Feindbild hat. Die sogenannte Ingroup braucht eine Outgroup, die sie abwerten kann, um sich selbst als wahrhaftig zu begreifen und überlegen fühlen zu können. Da die Politik darin versagt, beide Seiten zusammenzuhalten, weil sich die Politiker längst selbst Eigen- und Fremdgruppen zugeordnet haben und daher ebenfalls keine Kompromisse mehr finden können, steigern sich die Argumente auf beiden Seiten immer weiter ins Radikale, Renitente und Unumkehrbare. 
Für den Historiker kaum zu ertragen ist es, wenn Menschen mit anderer Meinung, die nicht den Vorstellungen oder der Moral unserer Zeit entspricht, abgewertet werden, indem man sie als Nazi bezeichnet und beschimpft. Ist es möglich, dass unsere Bildungspolitik derart versagt haben kann? Oder warum sonst lässt es die Gesellschaft zu, dass solche Menschen mit den größten Verbrechern gleichgesetzt werden, die jemals in Deutschland regiert haben?
Im Zentrum aller wichtigen Debatten, wie beispielsweise zur Migrations-, EU- oder Klimapolitik, steht die Frage nach unseren Werten und unserem Wesen. Wer sind wir Deutschen? Wer waren wir? Wie wollen wir sein? Die Identität eines Volkes wird maßgeblich durch seine historische Vergangenheit geprägt. Und die alles umspannende Pauschalisierung bzw. Popularisierung, der wir aktuell ausgesetzt werden, ist nichts anders als die Folge eines ausgewiesenen innerdeutschen Identitätsproblems. Das ist zwar im Grunde so alt wie Deutschland selbst, und nie konnte hier ein wirklicher Konsens gefunden werden, doch mit Sicherheit stellt die Zeit des Dritten Reiches für uns heute Lebenden den größten, nicht aufgearbeiteten Komplex und gleichzeitig die wichtigste Spaltursache dar. Diese dunkelste Epoche unserer Geschichte ist nach 75 Jahren längst nicht hinreichend verarbeitet, andernfalls würde nicht die Jagd nach vermeintlichen Nazis und Faschisten heute vehementer angetrieben werden als je zuvor. Wir scheinen eben doch nicht ganz verstanden zu haben, wer oder was die Nazis waren und was sie getan haben. 
Aber haben denn die aktuelle gesellschaftliche Spaltung und die zunehmende Uneinigkeit der Deutschen wirklich noch etwas mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun?
Ganz gewiss! Wir müssen deswegen anfangen, unsere Geschichte multiperspektivisch aufzuarbeiten; wir dürfen Themen aus dieser Zeit nicht ausklammern oder aus Angst nicht ansprechen. Und vor allem sollten wir, wenn wir selbst anders leben wollen, nicht unsere Vorfahren in Schubladen sortieren. Zu häufig liest man in höhnischen Kommentaren unter journalistischen Artikeln, die beispielsweise an den Holocaust erinnern: „Alle haben es gewusst!“, „Alle haben mitgemacht!“, „Alle haben Schuld!“.
Das ist nicht nur historisch völlig inkorrekt, sondern ignorant gegenüber unseren Vorfahren und arrogant bezogen auf unser eigenes Dasein. Diese leicht dahingesagten Phrasen vermitteln Unwissenheit und Überheblichkeit gleichermaßen und zeigen, dass das System Nationalsozialismus nicht begriffen wurde. Das ist gefährlich. Wenn man nämlich alle Menschen zwischen 1933 und 1945 als Nazis bezeichnet, sei es aus Boshaftigkeit, Ideologie oder Unwissenheit, so werden auf der einen Seite die Verbrechen der Nazis verharmlost, auf der anderen Seite völlig unbelastete Menschen mit Schuld überhäuft, die sie nicht auf sich geladen haben. Es kann und darf nicht sein, dass heute jeder, der sich nicht offensichtlich im Widerstand organisiert hat, in den Verdacht gerät, Täter gewesen zu sein, und dass er schuldig gesprochen wird für etwas, das er weder zu verantworten hatte noch hätte verhindern können. Dasselbe Prinzip gilt für den ähnlich populistischen Ausruf „Alle Soldaten sind Mörder!“. Diese Plattitüde zeigt auf, dass auch das Wesen des Krieges nicht verstanden wurde – und das in einem Land, in dem eben noch gar nicht lange her der schlimmste Krieg der Menschheitsgeschichte tobte. Doch sind wir überhaupt unterrichtet worden über das, was Krieg in seinem Wesen ausmacht, wie er sich für die verschiedenen Beteiligten aller Seiten anfühlt, was Kriegsalltag bedeutet? Oder haben uns Schule und Medien lediglich einige wenige Ausschnitte gezeigt, aus denen wir ein Gesamturteil ableiten, wo es keines geben kann und darf, wir uns aber nicht trauen, anderes zu akzeptieren?
Nach den Nürnberger Prozessen, die zwischen dem 20. November 1945 und dem 14. April 1949 gegen Kriegsverbrecher und Kriegsverantwortliche geführt wurden, herrschte unter den alliierten Anklägern schnell Einigkeit darüber, dass die deutsche Zivilgesellschaft nicht schuldig sein konnte an den Schandtaten der Nazis. In ihren Urteilen und Schlussplädoyers machten die Richter dies mehr als deutlich und übertrugen ihre Feststellungen auch auf die Soldaten der Wehrmacht. Es herrschte ein Einvernehmen darüber, dass die unter dem Einsatzkommando des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) stehenden Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei (SIPO) und des Sicherheitsdienstes (SD) mit der Planung und Durchführung des Holocausts beauftragt worden waren. Das führte dazu, dass die alliierten Rechtsprechenden zwar die NSDAP und die SS als verbrecherische Organisationen einstuften, nicht aber die Wehrmacht und auch nicht ihr Oberkommando (OKW). Heute wissen wir freilich, dass die Wehrmacht als Institution und Werkzeug der Nationalsozialisten Bestandteil eines schrecklichen Vernichtungskrieges geworden ist.  Soldaten der Wehrmacht waren an Verbrechen und vereinzelt auch am Holocaust beteiligt. Diese machten aber – und die moderne Geschichtswissenschaft hegt hier keinen Zweifel – in der Gesamtbetrachtung einen geringen Anteil aus. Bis Ende der 1960er-Jahre wusste auch die deutsche Nachkriegsgesellschaft zwischen Zivilisten, Soldaten und Funktionären der NSDAP zu unterscheiden. Dann jedoch begannen die Kinder der letzten aktiv am Krieg beteiligten Generation damit, ihre Eltern für die bloße Teilnahme am Krieg als Täter und Mitwisser zu verurteilen. Eine Stigmatisierung, von der sich diese bis zum Ende ihres Lebens nicht erholen konnten und die ihnen auch danach immer noch anlastet. Die sogenannte 68er-Bewegung war notwendig, ihr Anspruch nach gründlicher Aufarbeitung von Nazi-Verbrechen richtig und wichtig, ihr Streben nach Frieden verständlich. Doch haben sie es sich in Deutschland in einigen Punkten zu leicht gemacht. Die pauschale Verurteilung all ihrer Väter, die am Krieg teilgenommen haben, als Nazis erfüllte auch den Wunsch dieser Generation, sich einerseits selbst von Schuld freisprechen zu können und sich andererseits nicht weiter mit der Vergangenheit ihrer Eltern auseinandersetzen zu müssen. Indem sich die Alt-68er gegenseitig versicherten, alle Väter und Mütter seien Nazis gewesen, konnte sich keiner schuldiger fühlen als der andere. Sie waren typische Rebellen, nahmen sich raus aus einer Debatte, ohne sie zu Ende zu denken, feierten sich selbst und die neue Freiheit lieber allein und dachten, die eigenen Kinder würden ihr Weltbild wohl schon irgendwie übernehmen.
Wer Ende der 1960er-Jahre die Vergangenheit differenziert betrachten wollte, galt als nicht gewillt, der neuen Friedensbewegung anzugehören, und wurde ausgeschlossen. Das galt ebenso für Historiker und Autoren, denn schon vor 50 Jahren liefen sie Gefahr, in die rechte Ecke gestellt zu werden, wenn sie die falschen Fragen über den Zweiten Weltkrieg stellten. Und damit sind nicht jene Geschichtsrevisionisten oder Holocaustleugner gemeint, die mit ihren Thesen nur noch im Ausland publizieren konnten. Gemeint sind genau alle anderen. 
Trotz der jahrzehntelangen intensiven gesellschaftlichen, medialen und pädagogischen Versuche, die Verbrechen der Nationalsozialisten zu bewältigen, haben wir wohl nicht genug darüber gelernt – oder es wieder vergessen. Wir pauschalisieren und setzen Menschen, die das Pech hatten, in der Zeit des Dritten Reiches gelebt zu haben, sowie Soldaten, die keine andere Wahl hatten, als am Krieg teilzunehmen, mit Nationalsozialisten gleich. Wir können und müssen das korrigieren. Die Geschichtswissenschaft stellt Wissen zur Verfügung, das anderen erlaubt, eigene Werturteile und Sachurteile aus der Vergangenheit zu ziehen, mit diesen Erkenntnissen die Gegenwart zu analysieren, auf den Prüfstand zu stellen und darüber hinaus Prognosen für die Zukunft zu treffen. 
Das Problem ist aber komplexer: Die Verbrechen des Holocausts überwiegen so deutlich, dass es bis heute nur wenige deutsche Historiker wagten, sich mit der Alltagsgeschichte deutscher Soldaten auseinanderzusetzen. Auschwitz und andere Lager des industriellen Massenmordes wurden zur Messlatte für alles Schlimme und Schreckliche, sodass es scheint, für andere Katastrophen dieser Zeit dürfe es keinen Platz geben. Im Ergebnis pflegen wir heute eine funktionierende, richtige und immer wichtige Erinnerungskultur, was die Opfer des Holocausts und die Judenverfolgung, die in der Shoah mündete, betrifft. Diese Verbrechen bilden den Kern auch unserer gesamtgeschichtlichen Erinnerungskultur, aber dies kann bei aller Warnung und Mahnung nicht genug sein. Die Folgen bemerken wir heute. Die Nationalsozialisten haben abscheuliche Gräuel begangen, die weitestgehend erforscht sind. Unsere Aufgabe und Pflicht ist die Erinnerung daran. Das wird auf ewig so bleiben. Doch das reicht nicht, dadurch wachsen wir nicht mehr und nicht wieder oder überhaupt einmal zusammen. Unsere Erinnerungskultur soll auch identitätsstiftend sein. Wir müssen in gemeinsamer Verantwortung gedenken und nicht Schuld abtragen. Das ist auch längst keine Forderung mehr, die unsere ehemaligen Kriegsgegner an uns stellen. Auch nicht die Opfer des Holocausts. Den Juden ist daran gelegen, dass wir mit uns selbst klarkommen und uns nicht über die Verbrechen definieren, die von diesem Land ausgingen, aber nicht von den Heutigen an ihnen verübt worden sind. Das hilft Juden nämlich nicht, und der größte Beweis dafür zeigt sich darin, dass der Antisemitismus im heutigen Deutschland nicht schwindet, sondern stetig steigt und bereits so bedrohliche Formen annimmt, dass zahlreiche Juden auswandern oder zumindest mit dem Gedanken spielen. Sie erleben vornehmlich nicht den Antisemitismus der NS-Zeit, sondern neue Formen, und zwar von Rechtsradikalen, von Linksradikalen und von radikalisierten Muslimen, die aus Ländern zu uns kommen, in denen Antisemitismus legitim ist.
Ist die deutsche Gesellschaft gespalten und mit sich selbst nicht im Reinen, dann leiden Juden darunter: diejenigen, die hier nach dem Krieg wieder ein Zuhause gefunden haben, diejenigen, die in Israel einen eigenen Staat schützen, sowie natürlich das jüdische Volk weltweit.
Wir müssen endlich offen darüber diskutieren, in wieweit es sinnvoll ist, Schuld- und Schamgefühle, die wir heute auf unsere Vergangenheit beziehen, besser ertragen zu können, wenn wir eine ganze Generation als Nazis abstempeln, unsere eigenen Opfer aber nicht in Schutz nehmen, unsere Widerständler nicht ehren, den eigenen gefallenen Soldaten nicht gedenken. Dennoch darf die Vergangenheitsdiskussion über die Zeit des Dritten Reiches natürlich nie ohne die Thematisierung des Holocausts auskommen, und das braucht sie auch nicht, sie tut es in jedem Falle und muss das sogar. Nur im Kontext kann dieses Menschheitsverbrechen begriffen und in eine multiperspektivische und differenzierte Debatte eingewoben werden. Dazu gehört es, ertragen zu können, dass es schwere Misshandlungen, Folter und Verbrechen auch gegen deutsche Zivilisten und Soldaten gegeben hat. Sowohl Historiker, Politiker, Medien als letztendlich auch die Zeitzeugen selbst haben diese Erzählungen weitestgehend vermieden, aus Angst, deren Thematisierung könne die schwerer wiegenden Gräuel der Nazis verharmlosen. Das führt nicht nur zu den Lücken in unserer Vergangenheitsbewältigung mit allen Folgen für die Gegenwart, es ist auch aus anderer Hinsicht brandgefährlich. Denn das Ausklammern historischer Tatsachen, insbesondere des Leides der deutschen Bevölkerung in dieser Zeit, lädt jene Radikale ein, die wir am wenigsten ertragen sollten und dürfen: echte Neonazis und Faschisten. Diese können und wollen den Umstand nutzen, dass die Mehrheitsgesellschaft die eigene Geschichte in spezifischen Teilaspekten verschleiert. Sie haben leichtes Spiel damit. Und so greifen hier vor allem Propagandisten der rechtsextremistischen Seite jene Themen auf, die ungehört geblieben sind, die in der Schule keine Beachtung finden und über die es kaum eine vernünftige Dokumentation gibt. Verbrechen an Deutschen im Zweiten Weltkrieg aber lassen sich im Zeitalter unbegrenzter Information nicht oder nicht mehr verschweigen. Die Gefahr besteht konkret darin, dass eben jene Propagandisten Zulauf bekommen, weil sie uns in teilweise gut recherchierten Büchern und spannenden Dokumentationen Dinge erzählen, die nachweislich geschehen, aber nie oder nur selten besprochen worden sind. Sie können also behaupten: „Seht her, das wird euch von unserer Regierung und unserer Presse verschwiegen!“ 
Das wiederum kann dazu führen, dass man Schulen und Medien auch die andere Seite, das heißt unsere gepflegte Erinnerungskultur, nicht mehr abnimmt – Verfolgung von Juden, Sinti, Roma und anderen Minderheiten, Holocaust, Hauptkriegsschuld. Ein nicht geringer Teil unserer Gesellschaft – das zeigen Umfragen und Stimmungsbilder – fühlt sich bereits genervt und wendet sich zunehmend vom gemeinsamen Gedenken an den Genozid ab. Geschichtsfälscher brauchen dann nichts weiter zu tun, als das Ganze umzudrehen und diese lange behandelten und bekannten Themen ihrerseits auszuklammern, indem sie nur noch von der anderen Seite erzählen. Der Gefahr wirken wir nur entgegen, wenn wir als Gesellschaft alle Themen des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkrieges besetzen und verschiedene Perspektiven und Meinungen, die es dazu gibt, nicht verdrängen. Wenn wir erst einmal so weit sind, der vorhandenen Geschichtsschreibung generell nicht mehr zu glauben – die Geschichtswissenschaft ist längst nicht die einzige Wissenschaft, die von dieser Art Skepsis befallen ist –, dann riskieren wir, dass Extremisten aller politischen Richtungen Zulauf bekommen. 
Im Sinne der wissenschaftlichen Methode Oral History oblag mir als Historiker die verantwortungsvolle Aufgabe, die Erinnerungen meiner Interviewpartner nicht nur zu erfragen, sondern das Aufgenommene ebenso sorgfältig zu prüfen. Von Anfang an war klar, dass ich die individuellen Erlebnisse der Protagonisten dieses Buches nur darstellen kann, wenn sie im historischen Kontext kontrolliert und eingeordnet sowie einer genauen wissenschaftlichen Analyse unterzogen werden. Mir war es wichtig, dass ich von möglichst vielen verschiedenen Erlebnissen erzählen kann, die sich an unterschiedlichen Schauplätzen und zu unterschiedlichen Zeiten abgespielt haben. Daher enthält dieses Buch ein breites Spektrum an Berichten zwischen Kriegsbeginn und Kriegsende. Die einzelnen Episoden porträtieren die Zeitzeugen während ihrer gesamten Kriegszeit, bilden aber entsprechende Schwerpunkte. Die Episoden können losgelöst voneinander gelesen werden. Ich habe dennoch eine gewisse Chronologie bewahrt, über die man anschaulich das Fortschreiten des Krieges verfolgen kann. So beginnen die ältesten Protagonisten zu erzählen, da sie den Anfang des Krieges bereits als erwachsene Soldaten erlebten. Die Angaben der Zeitzeugen über die Zugehörigkeit zu bestimmten militärischen Einheiten oder erinnerte Einsatzorte konnte ich mithilfe erhaltener Dokumente aus verschiedenen Archiven verifizieren und entstandene Erinnerungslücken gegebenenfalls schließen. Die meisten Zeitzeugen besaßen noch Originale bzw. Kopien ihrer Wehrpässe, Soldbücher oder Entlassungspapiere aus der Gefangenschaft sowie Fotos aus ihrer Dienstzeit. Hilfe erhielt ich auch durch Angehörige. Für die Übertragung der Interviews in die Schriftform habe ich darauf geachtet, möglichst viel von der Authentizität der gesprochenen Sprache zu bewahren. Aus Gründen besserer Lesbarkeit habe ich an einigen Stellen das Tempus vom erzählten Perfekt ins Präteritum übertragen sowie natürlich Dialekte und Wortfindungsstörungen in den Erzählungen ausgelassen oder Halbsätze logisch geschlossen. Ergänzt werden die Geschichten durch Sachtexte, die den historischen Umstand erläutern, über den der jeweilige Protagonist gerade berichtet. Militärische Abkürzungen oder Fachbegriffe werden in Klammern erklärt. Das vorliegende Buch ist im wahrsten Sinne des Wortes individuell erlebte Geschichte aus erster Hand, liefert aber gleichermaßen historisches Hintergrundwissen zu den wichtigen Ereignissen des Zweiten Weltkrieges und kann durch seinen Aufbau und das nachstehende Register auch als Nachschlagewerk dienen. Als Besonderheit wird dabei der Krieg aus deutscher Perspektive erzählt.
In dieser Zeitzeugensammlung kommen keine Kriegsverbrecher zu Wort. Hier sprechen unbelastete Soldaten der Wehrmacht, die aber durchaus Zeugen von Verbrechen geworden sind. Die meisten von ihnen haben nie den Rang eines Offiziers erreicht, sind Schütze, Gefreiter oder Unteroffizier geblieben. Daneben berichten aber auch zwei Oberleutnante von ihren Erfahrungen in der Verantwortung für andere Soldaten. Bevor ich die Zeitzeugen erzählen lasse, möchte ich – damit die Leser den Kriegsgeschichten möglichst vorurteilsfrei folgen können – zunächst die Wehrmacht im Hinblick auf ihre Beteiligung an Kriegsverbrechen und am Holocaust unter Einbezug aktueller Forschungsergebnisse analysieren und darstellen. Ebenso soll aufgezeigt werden, wie sich die Bewertung der Wehrmacht im Laufe der Zeit mehrmals verändert und gewandelt hat.

Christian Hardinghaus

Über Christian Hardinghaus

Biografie

Dr. phil. Christian Hardinghaus, geb. 1978 in Osnabrück, promovierte nach seinem Magisterstudium der Geschichte, Literatur- und Medienwissenschaft (Film und TV) an der Universität Osnabrück im Bereich Propaganda- und Antisemitismusforschung und schloss danach ein Studium des gymnasialen Lehramtes...

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