Die verschwundenen Töchter (Fenland Police 2) - eBook-Ausgabe
Jackman und Evans ermitteln
Die verschwundenen Töchter (Fenland Police 2) — Inhalt
Das Moor frisst seine Kinder
Tief in den schlammigen Feldern der Lincolnshire Fens wird eine orientierungslose Jugendliche aufgegriffen. Sie sucht ihre Freundin Emily. Doch niemand hat je von dieser Emily gehört, niemand vermisst sie. Nicht weit entfernt wurde stattdessen die Leiche einer weiteren jungen Frau angespült. Die Fälle ereignen sich auf demselben Stück Land, wo bereits viele Jahre zuvor ein kleines Mädchen spurlos verschwand. Rowan Jackman, Marie Evans und ihr Team stehen unter enormem Druck, die Schuldigen hinter diesen schockierenden Verbrechen zu überführen, bevor das Moor noch mehr seiner Kinder frisst.
Der zweite Band einer starken neuen Crime-Reihe aus England rund um ein außergewöhnliches Ermittler-Team.
Joy Ellis kam über ihre Arbeit als Buchhändlerin zum Schreiben. Bei den Ermittlungsdetails ihrer Fälle verlässt sie sich auf ihre Partnerin, eine pensionierte Polizeibeamtin. Sie lebt in den Lincolnshire Fens, wo auch ihre Kriminalromane spielen.
Leseprobe zu „Die verschwundenen Töchter (Fenland Police 2)“
Fast hätte ich aufgegeben.
Deshalb danke ich dir, Jasper,
dass du an mich geglaubt und
mir die Möglichkeit gegeben hast,
das zu tun, was ich liebe.
Und danke, Anne.
Durch deine Fähigkeit,
selbst das dichteste Unkraut zu entfernen,
ist aus einem überwucherten Blumenbeet
ein wunderschönes Buch geworden!
Kapitel 1
Jackman lag einen Augenblick lang regungslos da, bevor er die Augen aufschlug und nach dem Handy auf dem Nachttisch griff. „Rowan Jackman.“
»Hier spricht Sergeant Danny Page, Inspector. Tut mir leid, dass ich so früh störe, aber am Strand von [...]
Fast hätte ich aufgegeben.
Deshalb danke ich dir, Jasper,
dass du an mich geglaubt und
mir die Möglichkeit gegeben hast,
das zu tun, was ich liebe.
Und danke, Anne.
Durch deine Fähigkeit,
selbst das dichteste Unkraut zu entfernen,
ist aus einem überwucherten Blumenbeet
ein wunderschönes Buch geworden!
Kapitel 1
Jackman lag einen Augenblick lang regungslos da, bevor er die Augen aufschlug und nach dem Handy auf dem Nachttisch griff. „Rowan Jackman.“
„Hier spricht Sergeant Danny Page, Inspector. Tut mir leid, dass ich so früh störe, aber am Strand von Dawnsmere wurde eine Leiche gefunden.“
Jackman biss die Zähne aufeinander. Er ermittelte zurzeit im Fall eines verschwundenen Teenagers. „Eine Leiche, Sergeant?“
„Ja, Sir, und leider ist es eine junge Frau. Mehr wissen wir noch nicht. Ich habe zwei Streifenwagen in der Nähe, aber ich dachte, Sie wollen es sich bestimmt persönlich ansehen.“
Jackman war bereits aus dem Bett gesprungen. „Ich bin schon unterwegs. Würden Sie bitte Sergeant Evans verständigen und sie bitten, direkt zum Fundort zu kommen? Und am besten geben Sie auch gleich dem Gerichtsmediziner und der Spurensicherung Bescheid.“
„Wird erledigt, Sir.“
Die Dusche musste warten. Jackman riss den Kleiderschrank auf und schnappte sich eine Hose, ein warmes Hemd, einen dicken Pullover und ein Paar Wandersocken. An der Küste war es um diese Jahreszeit bitterkalt, vor allem jetzt, kurz vor Tagesanbruch. Er zog sich eilig an und lief die Holztreppe hinunter in die Diele. Er holte seine Wanderstiefel aus dem Regal neben der Tür, überprüfte, ob er Dienstausweis und Geldbörse dabeihatte, nahm seine alte Wachsjacke vom Haken und schlüpfte hinein.
Zuletzt versperrte er die Eingangstür der zu einem Wohnhaus umgebauten Mühle und lief über die Auffahrt zu seinem Auto, das unter der Gartenlaube parkte. Er benutzte die Garage nur selten, denn er wollte keine Zeit verlieren, falls er einmal schnell losmusste. Wie jetzt zum Beispiel.
Die Dämmerung tauchte den Strand in ein verwaschenes, trostloses Licht, doch das eisige Grau passte ohnehin sehr viel besser zur Situation als ein spektakulärer Sonnenaufgang. Jackman sah sich um und versuchte, sich einen Moment lang nicht auf das zu konzentrieren, weswegen er hergekommen war.
Es war ziemlich übertrieben, Dawnsmere als Strand zu bezeichnen. Es war vielmehr ein öder, schmaler Sandstreifen zwischen dem wilden Marschland und dem kalten, wenig verlockenden Gewässer im Mündungsbecken dreier Flüsse, das im Allgemeinen The Wash genannt wurde.
Trotzdem war dieser Ort von einsamer, karger Schönheit. Jackman schätzte an diesen langen Küstenabschnitten in den Fens vor allem, dass jeglicher Hinweis auf eine menschliche Besiedlung fehlte. Es gab keine bunten Strandhütten, Sonnenliegen, Cafés oder sonstigen Unterhaltungsmöglichkeiten. Bloß die karge Landschaft und das Meer.
Auch jetzt wirkte der Strand beinahe urzeitlich – wenn man die Anwesenheit der Polizei und den traurigen Grund ignorierte, warum sie alle hier waren. Jackman riss sich zusammen und befahl seinem inneren Philosophen, den erfahrenen Polizisten das Kommando übernehmen zu lassen.
Das tote Mädchen lag auf der Seite, und sein aufgedunsenes Gesicht war zur Hälfte in den feuchten, schlammigen Sand gepresst. Ihre Kleider hingen wie Fetzen an ihr, und ihre Füße waren nackt. Jackman betrachtete die schlanken Knöchel und die Kratzer und Schnitte in der bleichen Haut. Er ging näher heran und runzelte die Stirn. Da waren auch jede Menge Blutergüsse.
Trotzdem wollte er keine voreiligen Schlüsse ziehen. Er ging immer gleich von einem Gewaltverbrechen aus, aber auch das Meer konnte einem Menschen erhebliche Verletzungen zufügen, wenn er von den Wellen gegen Steine und Felsen geschleudert wurde. Jackman griff in seine Jackentasche und holte ein Foto heraus. Es zeigte ein schlankes junges Mädchen mit schulterlangen, hellbraunen Haaren. Sie hatte fröhliche grüne Augen, eine schmale, zierliche Nase und ein breites Grinsen. Er betrachtete das leblose Gewirr aus Haaren und Stofffetzen und das unnatürlich weiße Fleisch und schüttelte den Kopf.
Vielleicht war das hier tatsächlich Shauna Kelly, aber es war schon mehr als ein Schnappschuss aus glücklicheren Tagen notwendig, um sie zu identifizieren. Er seufzte schwer. Das vermisste Mädchen hatte keine Tattoos, Narben oder anderen besonderen Merkmale, weshalb sie auf die zahnärztlichen Befunde zurückgreifen mussten. Es sei denn, die verzweifelten Eltern bestanden darauf, die Leiche zu sehen – wobei Jackman alles Menschenmögliche tun würde, um das zu verhindern.
Er versuchte, eine Verbindung zwischen dem toten und dem lebendigen, lächelnden Mädchen auf dem Foto herzustellen, aber abgesehen von der Haarlänge fiel ihm nichts auf.
„Was für eine Verschwendung. Das arme Ding.“ Ein uniformierter Officer stand einige Schritte entfernt und scharrte unablässig mit der Stiefelspitze im Sand.
Jackman kannte ihn als Komiker, der im Aufenthaltsraum der Dienststelle immer einen Scherz auf Lager hatte und alle zum Lachen brachte.
Der Beamte sah Jackman an und senkte den Blick. „Tut mir leid, Sir. Ich habe auch drei Töchter.“
Jackman lächelte verständnisvoll und griff zu einem erprobten Trick, um den Kollegen abzulenken. „Tun Sie mir doch einen Gefallen, Constable, und sehen Sie nach, ob DS Evans schon da ist.“
Der Mann nickte, straffte die Schultern und verließ eilig den Fundort.
Jackman blieb allein mit dem toten Mädchen zurück und fragte sich zum wiederholten Mal, wie ein Mensch mit dem Anblick so vieler Leichen klarkommen konnte. Tote Erwachsene waren schon schlimm genug, Babys waren kaum zu ertragen, und Kinder brachen ihm jedes Mal das Herz. Aber Teenager waren noch einmal etwas anderes.
Da war dieses schreckliche Gefühl des Verlustes, wenn Jugendliche starben. Sie hatten es fast geschafft. Sie waren beinahe das geworden, was ihnen zugedacht gewesen war. Doch ihr gesamtes Potenzial war mit einem Mal verschwunden, die unentdeckten Talente innerhalb eines Wimpernschlages ausgelöscht, sämtliche Träume ausgeträumt.
Eine sanfte Brise wehte vom Meer herein, und die Oberfläche der seichten Pfütze, in der das Mädchen lag, kräuselte sich. Ihre durchtränkten Kleider bewegten sich kaum merklich, und einen Augenblick schien sie beinahe lebendig.
Jackman erschauderte, doch im nächsten Augenblick hallten Stimmen über den schmalen, von Dünen gesäumten Strand und rissen ihn aus seinen düsteren Gedanken.
DS Marie Evans und der Gerichtsmediziner eilten auf ihn zu. Jackman war froh, dass Professor Rory Wilkinson persönlich gekommen war und keine Vertretung geschickt hatte. Wilkinson war zwar ziemlich eigenwillig, aber sehr viel angenehmer als sein Vorgänger. Jackman hatte nur ungern mit Arthur Jacobs zusammengearbeitet. Er wusste zwar, dass der Pathologe kompetent und überaus intelligent war, aber er war auch kalt und unnahbar, und der Kontakt mit ihm war mehr als mühsam gewesen.
Rory Wilkinson war das genaue Gegenteil, und nachdem Jackman erst einmal den Mann hinter dem überkandidelten Auftreten kennengelernt hatte, war ihm klar geworden, dass er für Saltern-le-Fen ein großer Gewinn war.
Und heute war wohl ohnehin niemand zu Scherzen aufgelegt.
Marie kam einige Schritte vor dem Mediziner bei Jackman an. Sie war sicher genauso übereilt von zu Hause aufgebrochen wie er, aber dank ihrer Motorradkluft war davon nichts zu sehen. Außerdem wirkte sie hellwach – was vermutlich der rasanten Fahrt auf ihrer Suzuki V-Strom 650 cc durch die frühmorgendliche Kälte zu verdanken war.
„Ist sie es?“, fragte sie leise.
Jackman zuckte mit den Schultern. „Machen Sie sich lieber selbst ein Bild. Ich bin mir nicht sicher.“ Er nickte Wilkinson zur Begrüßung zu und sagte: „Schön, dass Sie es persönlich geschafft haben, Rory. Wie es aussieht, brauche ich sowohl Ihr Fachwissen als auch Ihre Hilfe.“
„Aber das brauchen Sie doch immer, Inspector. Und auch wenn Sie sich freuen, dass ich mir hier um fünf Uhr morgens an einem Nordseestrand den Hintern abfriere, sehe ich das ein wenig anders. Mein kuscheliges, warmes Bett ruft verzweifelt nach mir.“
Rory trat auf das tote Mädchen zu und wurde schlagartig ernst. „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass sie etwas mit einer Kollegin zu tun haben könnte?“
Jackman entging nicht, dass seine Stimme nun sehr viel weicher klang. „Möglich. Wir sind seit drei Tagen auf der Suche nach einer jungen Ausreißerin. Shauna Kelly, vierzehn. Sie ist die Tochter von Liz Kelly, die als Zivilistin in der Einsatzleitstelle arbeitet.“
„Das Alter passt vermutlich“, murmelte der Pathologe, kniete nieder und untersuchte vorsichtig seinen neuesten Fall. „Aber wir müssen sie in die Gerichtsmedizin bringen, bevor ich Ihnen mehr sagen kann.“ Er erhob sich und schob seine Drahtgestellbrille nach oben.
„Ich muss Sie leider warnen, dass solche Fälle immer schwierig sind. Manchmal lässt sich nicht einmal mehr die Todesursache feststellen. Vielleicht finde ich Hinweise in der Lunge oder den Nasen- und Stirnhöhlen, aber die besten Chancen haben wir vermutlich mit einer umfangreichen toxikologischen Untersuchung. Sie dürfen mich also nicht hetzen, verstanden? Ich verspreche, mein Bestes zu geben, und mir ist klar, dass dieser Fall oberste Priorität hat.“ Er winkte einen Mitarbeiter der Spurensicherung zu sich, der zaghaft ein wenig abseits wartete.
„Also, mein Freund, zeigen Sie, was Sie können! Ich will Fotos und eine überaus vorsichtige Erstuntersuchung.“ Er wandte sich noch einmal an Jackman. „Wir bringen sie sobald wie möglich von hier fort. Das ist in dieser Situation das Beste, was wir tun können. Ich sage es nur ungern, aber im Moment weiß ich nicht mehr als Sie. Das arme Mädchen ist tot, und das nicht erst ein paar Stunden. Sie lag schon eine ganze Weile im Wasser.“ Er sog pfeifend die Luft ein und fixierte Jackman. „Es tut mir leid, aber damit ist der Ball wieder bei Ihnen, DI Jackman. Sie müssen die Umstände klären, die zu ihrem Tod geführt haben, und diese dann mit meinen Ergebnissen abgleichen.“
„Aber zuerst muss ich wissen, wer sie ist“, erwiderte Jackman finster.
„Na ja, da gibt es zwei ganz einfache Möglichkeiten: Entweder holen Sie Shauna Kellys Angehörige herein, um sie zu identifizieren, oder Sie warten auf die zahnärztlichen Befunde.“ Er lächelte traurig. „Und ich bin mir ziemlich sicher, für welche der beiden Varianten Sie sich entscheiden werden.“ Er nahm seine Tasche. „Ich mache mich erst mal auf den Weg, denn ich habe nicht das Bedürfnis, dem zweifellos herrlichen Engelschor zu lauschen, wenn hier gleich die Sonne aufgeht. Da fahre ich lieber zurück und bereite alles für das arme Mädchen vor.“
Jackman und Marie sahen ihm nach, wie er über den Strand stapfte.
„Er ist ziemlich gewöhnungsbedürftig“, meinte Marie grinsend.
„Also, ich habe mich schon an ihn gewöhnt. Und er ist gut – im Grunde sogar der Beste, den wir je hatten.“
„Ja, finde ich auch.“
Sie gingen ein Stück den Strand entlang, wo sie abseits der Blaulichter und der anderen Beamten in Ruhe reden konnten. Jackman setzte sich auf eine niedrige Steinmauer, die die Dünen begrenzte.
„Was wissen Sie über Ebbe und Flut in dieser Gegend, Marie?“, fragte er.
Sie biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. „Nicht viel, aber ich weiß jemanden, der sich auskennt. Jack Archer hat sein ganzes Leben lang draußen in der Marsch gelebt, und schon sein Vater und Großvater waren Aalfänger. Inzwischen wohnt er in einem Altenheim bei Ihnen ums Eck. Das Sozialamt hat ihn aus der Marsch geholt, als er plötzlich krank wurde und niemand da war, um ihn zu pflegen. Er kennt die Fens besser als jeder andere.“
„Reden Sie mit ihm, Marie. Beschreiben Sie ihm die Fundstelle, und fragen Sie ihn, ob er uns einen Anhaltspunkt liefern kann, wo das Mädchen ins Wasser gegangen oder gefallen sein könnte. Vielleicht kann er uns helfen.“
„Gut. Er ist über achtzig, aber ich schätze, er steht immer noch früh auf. Ich dusche noch schnell und fahre zu ihm, sobald es hell ist.“
Jackman beobachtete, wie die goldene Sonne durch den grau melierten Himmel brach und sich auf dem silbernen Wasser spiegelte. „Sehen Sie sich das an“, murmelte er leise. „Dieser Ort hat etwas Besonderes an sich, nicht wahr? Ohne das arme tote Mädchen am Strand wäre es beinahe magisch.“
„Das ist es trotzdem“, erwiderte Marie sanft. „Wir sollten es als Segen betrachten, dass das Meer sie uns zurückgegeben hat. Egal, wer sie ist.“
Jackman warf einen letzten Blick auf den Strand und war froh, dass die Leiche nicht mehr zu sehen war. Sie wurde bereits von einer Gruppe Polizisten und Mitarbeitern der Spurensicherung umringt. Schon bald würde man sie aus dem kalten, nassen Sand heben und in Rorys Gerichtsmedizin bringen, wo sie ihre Geheimnisse hoffentlich dem einen Mann gegenüber preisgeben würde, der ihr jetzt noch zuhören konnte.
Kapitel 2
Jackman steckte bis zum Hals in Berichten, als Marie von Jack Archer zurückkam. „Zeitverschwendung?“, fragte er, nachdem er einen Blick in ihr ungewöhnlich ernstes Gesicht geworfen hatte.
„Nein, ganz im Gegenteil. Er ist ein netter alter Mann und war sehr hilfsbereit.“ Marie stellte zwei Kaffeebecher auf Jackmans Schreibtisch und schloss die Tür.
„Warum sind Sie dann so schlecht gelaunt?“
„Ach, ich muss nur immer wieder an dieses hübsche junge Mädchen denken, das auf so grausame Weise gestorben ist.“
Jackman schloss die Akte, an der er gerade arbeitete, und deutete auf den Besucherstuhl. „Setzen Sie sich.“
Er griff nach einem der beiden Becher, nahm eine Handvoll Zuckertütchen und betrachtete Marie nachdenklich, während er den Zucker in den Kaffee rührte. Sie war eine attraktive Frau mit langen, glänzend braunen Haaren und einer aufrechten Haltung, die dafür sorgte, dass sich die Männer immer noch nach ihr umdrehten, auch wenn sie mittlerweile sechsundvierzig war. Sie war eine Amazone und nutzte diese Ausstrahlung bei Verbrechern und Kollegen gleichermaßen. Jeder wusste, dass man sich besser nicht mit ihr anlegte. Doch Jackman kannte auch eine andere Seite an Marie. Sie war mitfühlend und sanft, aber immer überaus scharfsinnig. Er legte großen Wert auf ihre Meinung und Einschätzung. Ihrer beider Werdegang und auch der familiäre Hintergrund konnten unterschiedlicher nicht sein, aber sie teilten die tiefe Liebe zu ihrem Beruf, und auch wenn sie auf verschiedenen Wegen zu ihren Ergebnissen gelangten, waren sie sich am Ende immer einig.
„Warum trifft Sie dieser Fall so hart? Sie haben doch schon mehr als genug Tote gesehen.“
Marie zuckte mit den Schultern. „Mein erster Fall war auch eine Wasserleiche. Es war ein Mädchen, ähnlich wie die Kleine heute Morgen. Wir konnten sie nie identifizieren.“ Sie warf sich die Haare über die Schulter und griff nach ihrem Kaffee. „Es kam mir vor, als hätten wir das Mädchen und seine Familie im Stich gelassen. Wir haben die Angehörigen nie gefunden, und es trat auch niemand an uns heran, aber sie muss doch irgendwo eine Familie gehabt haben. Es ist ein schrecklicher Gedanke, dass sie nie nach Hause gebracht werden konnte, um dort ihre letzte Ruhe zu finden.“
„Wir können nicht allen helfen, Marie. Wir geben unser Bestes, aber manchmal arbeitet das Schicksal einfach gegen uns.“
„Glauben Sie, dass das Mädchen Shauna Kelly ist?“
„Mein Bauchgefühl sagt Ja, aber ich will mich noch nicht mit dieser Möglichkeit befassen, bevor es durch die zahnärztlichen Befunde bestätigt wurde.“
Marie nickte und nippte an ihrem Kaffee. „Egal, wer sie ist – wir müssen herausfinden, was ihr zugestoßen ist. Und falls es kein Unfall war …“ Sie ließ den Rest des Satzes unausgesprochen.
„Ja, natürlich. Aber jetzt erzählen Sie mir erst mal, was der alte Mann über das Meer zu sagen hatte.“
Marie legte eine abgenutzte Karte des fraglichen Küstenabschnittes auf den Tisch und strich sie glatt. „Jack Archer meint, das Mädchen wäre irgendwo in diesem Bereich ins Wasser gefallen.“ Sie deutete auf die Karte. „Allenby Creek. Die Gezeiten, die Strömungen und der mäßige Wind in den letzten Tagen machen das zur wahrscheinlichsten Stelle. Es sei denn, sie fiel von einem Boot. Aber das hoffen wir erst mal nicht.“
„Allenby Creek? Das ist sehr abgelegen, oder?“
Marie betrachtete die Karte. „Ja, es liegt an der Grenze zwischen unserem Zuständigkeitsbereich und Harlan Marsh. Es handelt sich vor allem um Farmland und Rohmarsch.“
„Wenn ich mich recht erinnere, war ich als Kind öfter dort. Da war ein ziemlich zugänglicher Strand … in der Nähe des Robbenschutzgebietes am Hurn Point.“
„Mmmm …“ Marie ließ ihren schlanken Finger langsam die Küste entlanggleiten. „Genau! Ich sehe, was Sie meinen. Soll ich ein paar uniformierte Kollegen hinschicken?“
„Ich würde lieber selbst hin.“ Jackman kaute auf seiner Unterlippe. „Aber Sie haben recht. Ich muss diese Berichte bis zum Abend fertig machen, und die Uniformierten sind durchaus befähigt, das zu erledigen.“ Er griff nach dem Telefon. „Ich rede mal mit dem diensthabenden Sergeant, ob er ein paar Leute hat, die sich umsehen und die Anwohner befragen können …“
Wenige Augenblicke später legte er wieder auf. „Alles erledigt.“
„Sir?“ Die Tür ging auf, und der zerzauste Haarschopf von Charlie Button, dem jüngsten Mitglied des Teams, schob sich herein. „Tut mir leid, wenn ich störe, aber Superintendentin Crooke will Sie beide in ihrem Büro sehen.“
Jackman bedankte sich bei dem jungen Detective und trank eilig seinen Kaffee aus. „Du meine Güte, gleich beide! Das lässt Schlimmes erahnen.“
Marie erhob sich. „Dann bringen wir es am besten schnell hinter uns und hoffen, dass es nichts mit dem Budget, Ausgabenkürzungen, Zielvorgaben oder unserer Leistungsstatistik zu tun hat.“
„Oder gleich mit allem auf einmal.“ Jackman lächelte matt. „Das gab es nämlich auch schon mal.“
Superintendentin Ruth Crooke war eine schmallippige Frau, die eine ständige Aura der Unzufriedenheit umgab – vermutlich, weil sie es tatsächlich die meiste Zeit über war. Es war einiges nötig, um ihr etwas anderes als eine negative Reaktion zu entlocken, und wenn sie jemanden in ihr Büro zitierte, kam man der Aufforderung am besten so schnell wie möglich nach.
Marie nahm zwei Stufen auf einmal, um mit Jackman Schritt zu halten. Sie freute sich nicht gerade auf die „Höhle der Löwin“, aber sie arbeitete schon lange genug mit der Superintendentin zusammen, um zu wissen, dass sich hinter der harten, kontrollierenden Fassade und der spitzen Zunge eine verdammt gute Polizistin verbarg, und letztendlich zählte nur das.
Marie folgte Jackman in das Büro und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, doch die dünnen Lippen ihrer Vorgesetzten zeigten keinerlei Reaktion.
Stattdessen deutete Superintendentin Ruth Crooke verärgert auf die beiden Besucherstühle und beschwerte sich erst einmal ausgiebig über ihr letztes Telefonat.
„Ich habe gerade zehn Minuten mit einem dieser verdammten Finanzanalysten gesprochen, der in seinem ganzen Leben noch keine Polizeidienststelle von innen gesehen hat. Jede einzelne seiner Maßnahmen war Mist.“ Sie schleuderte ihren Notizblock quer über den Tisch und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Ich glaube nicht, dass er noch mal anruft. Ich habe ihm sehr deutlich gesagt, was ich von seinen sogenannten Einsparungsmaßnahmen halte.“
„Ich weiß nicht, wie Sie das schaffen, Ma’am“, erklärte Jackman. „Zehn Minuten in Ihrem Job, und ich wäre reif fürs Irrenhaus.“
Sie zuckte mit den Schultern. „Irgendjemand muss ihn ja machen – und ich mache ihn ziemlich gut. Wenigstens haben Sie jemanden, der auf Ihrer Seite ist. Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, hatten Sie noch Funkgeräte, schusssichere Westen und Autos – oder hat sich daran inzwischen vielleicht etwas geändert?“
Jackman lächelte. Auch wenn ihm seine Vorgesetzte nicht direkt sympathisch war, empfand er eine tiefe, wenn auch widerwillige Bewunderung für alle, die mit Budgets und Zielvorgaben jonglierten.
„Nein, wir können noch miteinander reden, uns schützen und uns fortbewegen. Gott sei Dank! Es wäre wohl nicht gerade hilfreich, wenn wir auf Fahrrädern durch die Fens patrouillieren müssten.“ Er lehnte sich ebenfalls zurück und sah die Superintendentin über den großen, glänzenden Schreibtisch hinweg an.
Ruth Crooke schüttelte den Kopf. „Egal. Nachdem es die reinste Verschwendung meiner kostbaren Zeit ist, mit Ihnen über etwas anderes als über Ermittlungsarbeit zu reden, erspare ich mir das lieber.“ Sie schob eine dicke Mappe über den Tisch.
Marie erschauderte, als sie den Namen las.
Kenya Black.
„Wir stehen ziemlich unter Druck. Mir ist natürlich klar, dass der Fall uralt ist, aber die Mutter hat beschlossen, ihn wieder aufzurollen. Sie versucht, die Presse mit an Bord zu holen, und zwar im großen Stil. Sie hat bereits einige bekannte Gesichter auf ihrer Seite und nutzt die sozialen Medien, um Stimmung zu machen.“ Crooke zuckte kaum merklich mit den Schultern. „Natürlich kann ich es der armen Frau nicht verübeln, aber wir kommen sicher nicht gut weg, wenn wir hier nur Däumchen drehen. Deshalb wollen die ganz oben, dass der Fall endlich zu den Akten wandert. Und zwar für immer. Ich weiß, dass Sie gerade mit Shauna Kellys Verschwinden beschäftigt sind, aber ich will Ihr Team für diesen Fall. Er hat oberste Priorität.“
Jackman richtete sich auf. „Mein Gott. Es ist doch sicher schon sieben oder acht Jahre her, dass Kenya verschwunden ist, und Sie wollen ihr wirklich oberste Priorität einräumen?“
Jeder in den Fens hatte vom Verschwinden des kleinen Mädchens gehört, aber weder Jackman noch Marie waren Teil des ursprünglichen Ermittlerteams gewesen, weshalb sie keine Einzelheiten kannten.
Jackman runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass derzeit nichts passiert, aber es handelt sich immer noch um einen laufenden Fall. Es ist doch sicher noch nicht lange her, dass ein anderes Team noch einmal alles durchgegangen ist, oder?“
„Nein, aber die Wissenschaft und die Forensik machen jeden Tag Fortschritte.“
Marie zermarterte sich den Kopf nach weiteren Informationen. Sie konnte sich vor allem an das Foto erinnern, das die Medien damals veröffentlicht hatten. Ein Kind mit weißblonden Haaren saß mit einem Spielzeughund auf einem Sitzsack. Das Mädchen trug Jeans und einen gelben Kapuzensweater mit einem aufgedruckten Teddybären. Ihre kleinen Finger gruben sich in das weiche Fell des Hundes. Sie glich einem kleinen Engel, und ihr herzzerreißendes Verschwinden hatte die größte Suchaktion nach sich gezogen, die die Fens je erlebt hatten. Die gesamte Bevölkerung war daran beteiligt gewesen.
Marie runzelte die Stirn, als ihr plötzlich immer mehr Details einfielen. „Jemand dachte, er hätte sie gesehen, oder? Sie spielte mit einem anderen Kind in der Nähe des Robbenschutzgebietes am Hurn Point.“
„Genau. Und eine Woche später wurde einer ihrer Turnschuhe etwa fünf Kilometer die Küste hinauf angeschwemmt, was die Beobachtungen des Mannes zu bestätigen schien.“ Das Gesicht der Superintendentin glich einer steinernen Maske.
„Man nahm an, dass sie aufs Meer hinausgetrieben wurde.“ Marie erinnerte sich noch an die Schlagzeilen: War es Mord oder ein tragischer Unfall?
„Das ist in etwa der Kern der Geschichte. Die Eltern sind ziemlich wohlhabend, aber es gab nie eine Lösegeldforderung, es wurden keine weiteren Hinweise gefunden, und niemand hat das Mädchen danach noch einmal gesehen. Mal abgesehen von den üblichen Spinnern, die sich jedes Mal melden. Nach einiger Zeit kamen die Verantwortlichen zu dem Schluss, dass sie vermutlich ertrunken war, und wir waren gezwungen, den Fall zurückzustellen.“
„Und jetzt soll er plötzlich wieder oberste Priorität bekommen?“
„Ich will, dass Sie noch einmal von vorne anfangen und ihn aus einem neuen Blickwinkel und mit einem sehr viel größeren Budget neu beleuchten.“ Der Blick der Superintendentin war mehr als eindringlich. „Ich will, dass der Fall ein für alle Mal abgeschlossen wird. Wir sind zwar nicht immer auf einer Wellenlänge, aber ich muss zugeben, dass Ihr Team das gewisse Etwas hat. Ich weiß nicht, was es genau ist, aber wenn jemand herausfinden kann, was mit dem kleinen Mädchen passiert ist, dann sind Sie es. Sie könnten diesen verdammten Fall endgültig aufklären.“
Jackman nahm die Akte und betrachtete sie mit starrem Blick.
Marie hatte plötzlich ein seltsames Gefühl. Aufregung war nicht das richtige Wort dafür. Eher Beklemmung. Niemand aus dem ursprünglichen Ermittlungsteam hatte damals an einen Unfall geglaubt, doch nach jahrelanger erfolgloser Suche hatte man ihnen die Entscheidung einfach aus der Hand genommen. Vielleicht wurde es tatsächlich Zeit, dass man mit neuer Kraft versuchte, der trauernden Familie die Möglichkeit zu geben, mit allem abzuschließen.
Jackman erhob sich. „Wir werden unser Möglichstes tun, Ma’am, darauf können Sie sich verlassen. Aber Shauna Kelly hat trotzdem Vorrang. Falls es sich bei dem ertrunkenen Mädchen tatsächlich um Shauna handelt, werde ich die ersten wichtigen Tage der Ermittlungen sicher nicht mit anderweitigen Nachforschungen vergeuden. Sie ist die Tochter einer Kollegin, was zwar nicht bedeutet, dass wir den Fall anders behandeln, aber wir fühlen uns der Mutter verbunden.“
„Natürlich, etwas anderes hätte ich auch nicht erwartet. Wenn Sie Hilfe brauchen, melden Sie sich.“ Ruth Crooke fixierte die beiden. „Aber sehen Sie zu, dass Sie den Fall Kenya Black nicht auf die lange Bank schieben. Es hängt sehr viel davon ab. Als ich vorhin sagte, dass die da oben wollen, dass er schnellstmöglich abgeschlossen wird, habe ich nicht übertrieben, verstanden?“ Und damit war das Gespräch beendet.
Marie hatte das Gefühl, dass diese Ermittlungen alles andere als einfach werden würden.
Sie gingen gemeinsam zum Aufzug.
„Kenya Black“, murmelte Jackman. „Das hätte ich nicht erwartet.“
„Ich auch nicht“, pflichtete Marie ihm bei.
„Wie fühlen Sie sich bei dem Gedanken, den Fall zu übernehmen?“
„Na ja, wir können natürlich schlecht Nein sagen. Die Superintendentin hat recht. Die Familie braucht Antworten, und vielleicht sehen wir mehr als das Team vor uns.“
„Das habe ich nicht gemeint.“ Jackman sah sie an. „Ich meinte, wie Sie sich dabei fühlen.“
Sie wurden langsamer. „Ich habe zwar keine Ahnung, warum, aber ich bin ziemlich beunruhigt.“
Sie traten in den Aufzug, und Jackman nickte. „Ich auch. Als ich den Namen auf der Akte sah, zog sich mein Magen zusammen.“ Er seufzte. „Aber Sie haben recht. Es wird Zeit, dass dieser schreckliche Fall endlich abgeschlossen wird. Wir sollten also bald die Köpfe zusammenstecken und uns an die Arbeit machen.“
Die beiden schwiegen die restliche Fahrt über, und Marie hatte das untrügliche Gefühl, bald großen Schwierigkeiten gegenüberzustehen
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