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Die Zeuginnen Die Zeuginnen - eBook-Ausgabe

Margaret Atwood
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Roman

— Die Fortsetzung zu „Der Report der Magd“

„›Die Zeuginnen‹ ist rasanter, mehr auf Aktion aus als der Vorgänger.“ - Süddeutsche Zeitung

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Die Zeuginnen — Inhalt

Die lang erwartete Fortsetzung des Weltbestsellers „Report der Magd“


Als am Ende vom „Report der Magd“ die Tür des Lieferwagens und damit auch die Tür von Desfreds „Report“ zuschlug, blieb ihr Schicksal für uns Leser ungewiss. Was erwartet sie: Freiheit? Gefängnis? Der Tod? Mit „Die Zeuginnen“ nimmt Margaret Atwood den Faden der Erzählung fünfzehn Jahre später wieder auf. Das Regime im totalitären Schreckensstaat Gilead ist weiterhin an der Macht, doch die Zeichen, dass der Anfang vom Ende nah ist, werden deutlicher. Im entscheidenden Moment treten drei Frauen für ihre Überzeugungen ein – mit Zeugenaussagen, die Gilead schwer erschüttern werden …

„›Die Zeuginnen‹ übertrifft den Vorgänger an Tempo, Handlungsreichtum und Dialog, es lässt keine Fragen offen.“ Süddeutsche Zeitung

€ 12,00 [D], € 12,40 [A]
Erschienen am 31.08.2020
Übersetzt von: Monika Baark
576 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31665-1
Download Cover
€ 11,99 [D], € 11,99 [A]
Erschienen am 10.09.2019
Übersetzt von: Monika Baark
576 Seiten
EAN 978-3-8270-7999-2
Download Cover
„›Die Zeuginnen‹ ist rasanter, mehr auf Aktion aus als der Vorgänger.“
Süddeutsche Zeitung

Leseprobe zu „Die Zeuginnen“

„Jede Frau soll dieselben Eigenheiten aufweisen, sonst gilt sie als Ungeheuer.“

George Eliot, Daniel Deronda

„Wenn wir einander ansehen, dann erkennen wir nicht nur ein verhasstes Gesicht, sondern wir schauen in einen Spiegel … Erkennen Sie sich denn nicht selbst?“

Obersturmbannführer Liss zu dem alten Bolschewiken Mostowskoi; Wassili Grossman, Leben und Schicksal

»Sie lernte allmählich, dass Freiheit schwer wog, dass sie eine Bürde, eine große und seltsame Last war, die der Seele zugemutet wird … Sie ist keine Gabe, die gegeben, sondern eine Wahl, die [...]

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„Jede Frau soll dieselben Eigenheiten aufweisen, sonst gilt sie als Ungeheuer.“

George Eliot, Daniel Deronda

„Wenn wir einander ansehen, dann erkennen wir nicht nur ein verhasstes Gesicht, sondern wir schauen in einen Spiegel … Erkennen Sie sich denn nicht selbst?“

Obersturmbannführer Liss zu dem alten Bolschewiken Mostowskoi; Wassili Grossman, Leben und Schicksal

»Sie lernte allmählich, dass Freiheit schwer wog, dass sie eine Bürde, eine große und seltsame Last war, die der Seele zugemutet wird … Sie ist keine Gabe, die gegeben, sondern eine Wahl, die getroffen wird, und die Wahl fällt schwer.

Ursula K. Le Guin, Die Gräber von Atuan


I

Denkmal


Das Hologramm von Haus Ardua 1 

Nur Tote dürfen Denkmäler haben, ich aber habe zu Lebzeiten eines bekommen. Schon jetzt bin ich versteinert.

Dieses Denkmal sei ein kleines Zeichen der Anerkennung für meine zahlreichen Verdienste, hieß es in der Würdigung, die von Tante Vidala vorgetragen wurde. Unsere Obrigkeit hatte sie dazu verpflichtet, was bei ihr nicht gerade auf Gegenliebe stieß. Ich dankte ihr mit aller aufzubietenden Bescheidenheit, dann zog ich an dem Seil und löste damit den Stoffvorhang, der mich verhüllte; sich bauschend sank er zu Boden, und da stand ich. Bei uns in Haus Ardua wird nicht gejubelt, aber hier und da wurde diskret applaudiert. Ich neigte den Kopf zu einem Nicken.

Mein Denkmal ist wie die meisten Denkmäler überlebensgroß, es zeigt mich als jüngere, schlankere Frau und besser in Form, als ich es seit Langem bin. Ich stehe kerzengerade da, meine steinernen Lippen sind zu einem festen, aber wohlwollenden Lächeln geformt. Meine Augen sind auf irgendeinen kosmischen Bezugspunkt gerichtet, was offenbar meinen Idealismus darstellen soll, mein tadelloses Pflichtbewusstsein, meine Entschlossenheit, allen Widrigkeiten zum Trotz voranzuschreiten. Nicht, dass am Himmel irgendetwas zu sehen wäre für mein Denkmal, dort, wo es aufgestellt wurde, inmitten von trübsinnigen Bäumen und Büschen neben dem Weg, der an Haus Ardua vorbeiführt. Wir Tanten sollen uns nichts einbilden, nicht mal die steinernen.

An der linken Hand halte ich ein Mädchen von acht oder neun Jahren, das vertrauensvoll zu mir hochschaut. Meine rechte Hand ruht auf dem Kopf einer Frau, die an meiner Seite hockt, das Haar bedeckt, den Blick gen Himmel, ein Ausdruck, der Duckmäusertum oder Dankbarkeit bedeuten könnte – es ist eine unserer Mägde –, und hinter mir steht eines meiner Perlenmädchen, wie im Aufbruch zu ihrer Missionsarbeit begriffen. An meinem Gürtel hängt mein Viehtreiber. Diese Waffe erinnert mich an meine Versäumnisse: Wäre ich resoluter gewesen, hätte ich ein solches Hilfsmittel gar nicht gebraucht. Meine Stimme allein hätte vollauf genügt.

Als Gruppendenkmal ist das Werk nicht sehr gelungen: total überfüllt. Besser gefunden hätte ich einen stärkeren Akzent auf meine Person. Aber zumindest sehe ich aus wie ein klar denkender Mensch. Es hätte durchaus anders sein können, da die betagte Bildhauerin – eine wahre Gläubige, inzwischen entschlafen – dazu neigte, ihre Sujets mit Glupschaugen auszustatten, um deren religiöse Inbrunst zu unterstreichen. Ihre Büste von Tante Helena sieht tollwütig aus, die von Tante Vidala nach Schilddrüsenüberfunktion, und ihre Tante Elizabeth wirkt, als würde sie gleich platzen.

Bei der Enthüllung war die Bildhauerin nervös. War ihre Darstellung schmeichelhaft genug? Würde ich sie gutheißen? Würde ich sie vor aller Augen gutheißen? Ich spielte mit dem Gedanken, beim Fallen des Stoffs die Stirn zu runzeln, aber ich besann mich eines Besseren: Es ist ja nicht so, als hätte ich kein Mitgefühl. „Sehr lebensecht“, sagte ich.

Das war vor neun Jahren. Seitdem ist mein Denkmal verwittert: Die Tauben haben mich dekoriert, Moos sprießt aus meinen feuchten Ritzen. Fromme Verehrerinnen legen mir regelmäßig Opfergaben zu Füßen: Eier für Fruchtbarkeit, Orangen, die die Fülle der Schwangerschaft andeuten sollen, Croissants, die auf den Mond anspielen. Die Backwaren ignoriere ich – meist hat es draufgeregnet –, doch die Orangen stecke ich ein. Orangen sind so erfrischend.

 

Dies schreibe ich in meinem Privatgemach in der Bibliothek von Haus Ardua – einer der wenigen verbliebenen Bibliotheken nach den eifrigen Bücherverbrennungen landauf, landab. Die verderbten und blutigen Fingerabdrücke der Vergangenheit müssen getilgt werden, um einen sauberen Ort zu schaffen für die sicherlich bald kommende Generation, die reinen Herzens ist. So die Theorie.

Aber unter diesen blutigen Fingerabdrücken sind welche, die von uns selbst stammen, und die lassen sich nicht so leicht beseitigen. Über die Jahre habe ich viele Leichen in den Keller gebracht, nun bin ich geneigt, sie wieder ans Tageslicht zu holen – und sei es nur zu deiner Erbauung, mein unbekannter Leser. Wenn du dies gerade liest, wird zumindest dieses Manuskript überlebt haben. Aber vielleicht fantasiere ich nur: Vielleicht werde ich nie einen Leser haben. Vielleicht rede ich in gleich mehrfacher Hinsicht nur mit der Wand.

Genug geschrieben für heute. Mir tut die Hand weh, mir tut der Rücken weh, und meine allabendliche heiße Milch wartet auf mich. Ich werde das Geschriebene in sein Versteck geben, fernab der Überwachungskameras – ich weiß, wo sie sind, da ich sie selbst installiert habe. Trotz solcher Vorkehrungen bin ich mir meines Risikos bewusst: Schreiben kann gefährlich sein. Welche Formen von Verrat und dann, welche Denunzierungen könnten mich erwarten? Es gibt einige in Haus Ardua, die diese Seiten liebend gern zwischen die Finger bekommen würden.

Wartet, rate ich ihnen schweigend: Es wird noch schlimmer kommen.


II

Kostbare Blume

Abschrift der Zeugenaussage 369A 2 

Ich soll euch erzählen, wie es für mich war, im Innern von Gilead aufzuwachsen. Ihr sagt, es wäre hilfreich, und ich möchte euch ja gern helfen. Vermutlich rechnet ihr mit nichts als Gräueln, doch wahr ist, dass viele Kinder geliebt und verhätschelt wurden, in Gilead genau wie überall, und dass viele Erwachsene liebevoll, aber fehlbar waren, in Gilead genau wie überall.

Ich hoffe, ihr werdet zudem berücksichtigen, dass wir alle ein wenig nostalgisch werden, wenn wir an das Gute denken, das uns als Kind auf die eine oder andere Weise widerfahren ist, egal, wie absonderlich die Umstände dieser Kindheit Außenstehenden erscheinen mögen. Ich stimme euch zu, dass Gilead in Vergessenheit geraten sollte – zu viel davon war verkehrt, zu viel heuchlerisch, und es gab zu viel, das sicherlich unvereinbar mit dem Willen Gottes ist – aber ein wenig Raum müsst ihr mir gönnen, um das Gute zu betrauern, das uns verloren gehen wird.

 

An unserer Schule stand Rosa für Frühling und Sommer, Violett für Herbst und Winter, Weiß für besondere Tage: Sonntage und Feierlichkeiten. Bedeckte Arme, bedecktes Haar, die Röcke bis zum fünften Geburtstag knielang und danach höchstens eine Handbreit über dem Knöchel, denn die Begierden der Männer waren etwas Schreckliches, und diese Begierden mussten in Schach gehalten werden. Die Männeraugen, die immer hierhin schweiften und dorthin schweiften wie die Augen eines Tigers, diese Scheinwerferaugen mussten abgeschirmt werden von der betörenden und wahrhaft blendenden Macht, die wir waren – von unseren wohlgeformten oder dünnen oder dicken Beinen, von unseren anmutigen oder knubbligen oder wurstförmigen Armen, von unserer Pfirsichhaut oder unserem fleckigen Teint, von unseren glänzenden Locken oder unseren störrischen Mähnen oder unseren strohigen Zöpfen, es spielte keine Rolle. Wie wir auch aussehen mochten, ob wir wollten oder nicht, wir waren Fallstrick und Verlockung, wir waren die unschuldige und schuldlose Ursache dafür, dass wir allein durch unser Dasein die Männer trunken machen konnten vor Lust, bis sie ins Taumeln gerieten und in den Abgrund stürzten – in welchen Abgrund eigentlich?, fragten wir uns, war es wie eine Klippe? – und in Flammen aufgehen würden wie Schneebälle aus brennendem Schwefel, geschleudert von der zornigen Hand Gottes. Wir waren die Wächterinnen einer unschätzbaren Kostbarkeit, die tief in uns verborgen lag; wir waren kostbare Blumen, die in sicheren Gewächshäusern erblühen mussten, um nicht überfallen und entblättert und unseres Schatzes beraubt und zertrampelt zu werden von ausgehungerten Männern, die hinter jeder Ecke lauern könnten dort draußen in der scharfkantigen, sündenvollen Welt.

Solcherlei Dinge erzählte uns die schniefende Tante Vidala in der Schule, während wir Stickereien anfertigten für Taschentücher und Fußschemel und Bilder: Blumen in einer Vase, Früchte in einer Schale, das waren die bevorzugten Motive. Tante Estée, unsere Lieblingslehrerin, sagte immer, Tante Vidala übertreibe und es sei unvernünftig, uns in Angst und Schrecken zu versetzen, denn derart anerzogene Aversionen könnten sich negativ auf unser künftiges Eheleben auswirken.

„Es sind nicht alle Männer so, ihr Mädchen“, sagte sie mit beruhigender Stimme. „Die Besseren haben einen eher guten Charakter. Einige können sich durchaus beherrschen. Und wenn ihr erst mal verheiratet seid, werdet ihr sehen, es ist alles halb so wild und gar nicht so furchteinflößend.“ Nicht, dass sie irgendeine Ahnung gehabt hätte, denn die Tanten waren nicht verheiratet; sie durften nicht heiraten. Das war der Grund, weshalb sie schreiben und Bücher lesen konnten.

„Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir und eure Väter und Mütter eure Ehemänner weise wählen“, pflegte Tante Estée zu sagen. „Ihr braucht also keine Angst zu haben. Seid einfach schön fleißig und vertraut den Älteren, dass sie tun werden, was am besten ist, und alles wird gut. Ich werde dafür beten.“

Aber trotz Tante Estée mit ihren Grübchen und ihrem freundlichen Lächeln war es Tante Vidalas Version, die sich durchsetzte und in meinen Albträumen auftauchte: die eingeschlagenen Scheiben des Gewächshauses, das Zerreißen und Zerfetzen und das Trampeln der Hufe, und wie ich in Form von rosafarbenen, weißen und violetten Bruchstücken überall verstreut bin. Mir graute vor dem Gedanken, älter zu werden – alt genug zum Heiraten. Ich hatte kein Vertrauen in die weisen Entscheidungen der Tanten: Ich hatte Angst, am Ende mit einem brennenden Ziegenbock vermählt zu werden.

 

Die rosafarbenen, weißen und violetten Kleider waren Vorschrift für besondere Mädchen wie uns. Gewöhnliche Mädchen aus Ökonofamilien hatten immer das Gleiche an – diese hässlichen mehrfarbigen Streifen und grauen Umhänge, genau wie die Sachen ihre Mütter. Sie lernten nicht einmal sticken oder häkeln, nur Nähen und Seidenblumen basteln und derlei Pflichten. Sie kamen nicht so wie wir in die Schar der Auserwählten, um mit den allerbesten Männern verheiratet zu werden – den Söhnen Jakobs und den übrigen Kommandanten oder deren Söhnen –; wobei sie später noch auserwählt werden konnten, wenn sie älter waren, vorausgesetzt, sie waren hübsch genug.

Das sagte aber niemand. Man sollte sich nicht brüsten mit seinem guten Aussehen, das war unbescheiden, oder das gute Aussehen anderer zur Kenntnis nehmen. Aber wir Mädchen wussten Bescheid: Es war besser, hübsch zu sein als hässlich. Sogar die Tanten schenkten den Hübschen mehr Beachtung. War man aber schon in der Vorauswahl, spielte das Aussehen keine so große Rolle mehr.

Ich schielte nicht wie Huldah, ich hatte kein dauerhaft verkniffenes Gesicht wie Shunammite, ich hatte keine fast unsichtbaren Augenbrauen wie Becka, aber ich war noch unfertig. Ich hatte ein Teiggesicht wie die Kekse, die Zilla, meine Lieblings-Martha, mir zur Belohnung backte, mit den Rosinenaugen und den Kürbiskernzähnen. Aber trotz meiner nur durchschnittlichen Schönheit war ich sehr, sehr auserwählt. Doppelt auserwählt: Nicht nur war ich in der Vorauswahl zur Kommandantenfrau, erst mal war ich von Tabitha auserwählt worden, meiner Mutter.

So hat Tabitha es mir immer erzählt. „Ich ging im Wald spazieren“, sagte sie, „und kam an ein verwunschenes Schloss, und dort waren viele kleine Mädchen gefangen, und keines davon hatte eine Mutter, und sie waren verzaubert von den bösen Hexen. Ich hatte einen Zauberring und konnte damit das Schlosstor öffnen, aber ich konnte nur ein einziges kleines Mädchen retten. Also sah ich sie mir alle genau an, und dann fiel meine Wahl auf dich!“

„Und was wurde aus den anderen?“, fragte ich. „Den anderen kleinen Mädchen?“

„Die wurden von anderen Müttern gerettet“, sagte sie.

„Hatten die auch alle einen Zauberring?“

„Natürlich, mein Liebling. Nur mit einem Zauberring kann man eine Mutter sein.“

„Wo ist der Zauberring?“, fragte ich dann. „Wo ist er jetzt?“

„Na hier, an meinem Finger“, sagte sie und zeigte mir den Mittelfinger ihrer linken Hand. Das sei der Herzfinger, sagte sie. „Aber mein Ring konnte nur einen einzigen Wunsch erfüllen, und den habe ich für dich benutzt. Der Ring ist jetzt also nur noch ein ganz normaler Mutterring.“

Und dann durfte ich den Ring anprobieren, der aus Gold und mit drei Diamanten besetzt war: einem großen und je einem kleineren zu beiden Seiten. Er sah wirklich aus, als wäre er vielleicht mal ein Zauberring gewesen.

„Hast du mich hochgehoben und getragen?“, fragte ich jedes Mal. „Aus dem Wald rausgetragen?“ Ich kannte die Geschichte auswendig, aber ich hörte sie gern immer wieder.

„Nein, mein Liebes, dazu warst du schon zu groß. Hätte ich dich getragen, hätte ich husten müssen, und dann hätten uns die Hexen gehört.“ Das war einleuchtend: Sie hustete wirklich ziemlich viel. »Also nahm ich dich an der Hand, und wir haben uns aus dem Schloss geschlichen, damit uns die Hexen nicht hören – Pst, Pst, haben wir beide gemacht –, und sie hielt sich den Finger an die Lippen, und auch ich hielt mir begeistert den Finger an die Lippen und machte Pst. „Und dann mussten wir ganz schnell durch den Wald laufen, um den bösen Hexen zu entkommen, denn eine davon hatte uns aus der Tür gehen sehen. Wir sind gerannt, und dann haben wir uns in einem hohlen Baum versteckt. Es war sehr gefährlich!“

Ich hatte tatsächlich eine verschwommene Erinnerung daran, an jemandes Hand durch einen Wald zu laufen. Hatte ich mich in einem hohlen Baum versteckt? Mir schien, als hätte ich mich irgendwo versteckt. Also stimmte die Geschichte vielleicht.

„Und was ist dann passiert?“, fragte ich.

„Und dann habe ich dich in dieses schöne Haus gebracht. Bist du nicht glücklich hier? Wo dich alle so sehr lieb haben! Was für ein Glück für uns beide, dass ich dich auserwählt habe, nicht wahr?“

Dann schmiegte ich mich an sie, sie legte den Arm um mich, und ich lag mit dem Kopf an ihrem dünnen Körper, durch den ich ihre knochigen Rippen spüren konnte. Ich drückte mein Ohr an ihren Brustkorb und konnte ihr Herz hören, wie es in ihrem Innern vor sich hin hämmerte – immer schneller und schneller, schien mir, während sie auf eine Reaktion von mir wartete. Ich wusste, meine Antwort war wirksam: Ich konnte sie zum Lächeln bringen oder auch nicht.

Was konnte ich da anderes sagen als Ja und Ja? Ja, ich war glücklich. Ja, ich hatte Glück gehabt. Außerdem war es die Wahrheit.

Margaret Atwood

Über Margaret Atwood

Biografie

Margaret Atwood, geboren 1939 in Ottawa, gehört zu den bedeutendsten Autorinnen unserer Zeit. Ihr „Report der Magd“ wurde für inzwischen mehrere Generationen zum Kultbuch. Zudem stellt sie immer wieder ihr waches politisches Gespür unter Beweis, ihre Hellhörigkeit für gefährliche Entwicklungen und...

Pressestimmen
Süddeutsche Zeitung

„›Die Zeuginnen‹ ist rasanter, mehr auf Aktion aus als der Vorgänger.“

arte

„Die Bücher der Kanadierin Margaret Atwood entfalten durch ihre bildreiche Sprache einen magischen Sog.“

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