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Dolce Vita mortale Dolce Vita mortale - eBook-Ausgabe

Marie Kärsting
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Toskana-Krimi

— Cosy Crime mit ermittelnden Senioren, Gefühlen und Italien-Flair
€ 13,00 inkl. MwSt. Erscheint am: 27.02.2025 In den Warenkorb Im Buchshop Ihrer Wahl bestellen
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Dolce Vita mortale — Inhalt

Eine Seniorenreisegruppe ermittelt – skurril-lustige Cosy Crime mit Sonne und Italienflair. Für Fans von Luca Fontanella und Gisa Pauly 

„Da waren Palmen! Echte Palmen mit Wedeln und allem. Die Fußgängerzone, in die sie einen Blick warf, war filmreif. Mit Marmor verkleidete Gebäude, antik wirkende Säulen, üppige Blumenbeete, perfekt gestutzter Rasen – Antonia wusste nicht, wohin sie zuerst schauen sollte.“

Von ihrer Freundin erbt die scheue Antonia eine Busreise in die Toskana. Bereits im Reisebus kommt sie sich zwischen den Senioren, die über ihre diversen Beschwerden und Diagnosen sprechen und Fotos von ihren Vorgärten tauschen, deplatziert vor. In dem charmanten, wenn auch etwas baufälligen Hotel in der Toskana wird es besser – doch dann wird Reiseleiterin Tanja tot im Hotelpool aufgefunden. War es Mord? Und warum sind gleichzeitig mehrere Wertgegenstände, unter anderem Antonias geliebte Halskette, verschwunden? Statt Gelato, Sonne und Dolce Vita beginnt Antonia mit den umtriebigen Senioren zu ermitteln und dem örtlichen Carabiniere Frederico auf die Nerven zu gehen. 

€ 13,00 [D], € 13,40 [A]
Erscheint am 27.02.2025
256 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-50786-8
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€ 2,49 [D], € 2,49 [A]
Erscheint am 27.02.2025
280 Seiten
EAN 978-3-377-90151-4
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Leseprobe zu „Dolce Vita mortale“

1

Der Wind unter der Autobahnbrücke zerstörte den frühlingshaften Start in den Tag voller Vogelgezwitscher und Morgenröte. Antonia zog an den Kordeln ihres Parkas, um eisige Luft von ihrem Hals zu halten. Auf eine Erkältung verzichtete sie gerne, schließlich stand eine große Reise an. Ihre erste, um genau zu sein. Sie konnte nicht fassen, dass sie tatsächlich hier wartete. Mit diesem furchtbaren Koffer, der sie nicht nur unglaubliche 147,99 Euro gekostet hatte, sondern auch die letzten noch vorhandenen Nerven. Besonders der verdammte Reißverschluss, der [...]

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1

Der Wind unter der Autobahnbrücke zerstörte den frühlingshaften Start in den Tag voller Vogelgezwitscher und Morgenröte. Antonia zog an den Kordeln ihres Parkas, um eisige Luft von ihrem Hals zu halten. Auf eine Erkältung verzichtete sie gerne, schließlich stand eine große Reise an. Ihre erste, um genau zu sein. Sie konnte nicht fassen, dass sie tatsächlich hier wartete. Mit diesem furchtbaren Koffer, der sie nicht nur unglaubliche 147,99 Euro gekostet hatte, sondern auch die letzten noch vorhandenen Nerven. Besonders der verdammte Reißverschluss, der ihr jeglichen Dienst verweigert hatte. Erst kurz bevor das Taxi sie abgeholt hatte, war das Ding kooperativ gewesen. Niemals hatte sie vermutet, dass eine Reise so intensiv in der Vorbereitung war. Und dass man so viele Aspekte bedenken musste. Passende Flip-Flops und eine Sonnenbrille, die nicht von ihrer schmalen Nase rutschte. Eine Reiseapotheke voller Mittel, die ihr aufgeschwatzt worden waren, und das Adressschildchen aus grünem Plastik, das nun unpassend an dem rosafarbenen Ungetüm hing. All das nur, damit diese Reise nicht ungenutzt verstrich. Sie musterte mit der Sorge, ein wichtiges Teil vergessen zu haben, ihr Gepäck, das wie ein Farbklecks das Grau der Umgebung durchbrach. Eine Landstraße, die kaum befahren war, die Autobahn direkt über ihr, deren Dröhnen ihr bereits jetzt Kopfschmerzen bereitete, und keine Menschenseele in Sicht. Nicht dass Antonia das dringende Bedürfnis verspürte, sich mit jemandem zu unterhalten. Schon gar nicht mit einem Fremden. Aber sie fühlte sich allein und schutzlos. Zum Glück wurde es langsam hell. Und mit jedem Sonnenstrahl wurde die Atmosphäre dieses Ortes weniger unheimlich. Sie könnte jetzt im Büro sitzen und ihre E-Mails checken. Einen heißen Kaffee trinken, damit ihr System wach wurde. Stattdessen stand sie in der Pampa und wartete auf einen Bus, der mittlerweile mehr als zwanzig Minuten Verspätung hatte. Absolut inakzeptabel. Automatisch griff sie an die zarte Kette, die sie sich heute Morgen umgelegt hatte.

Scheinwerfer blendeten sie. Mit zusammengekniffenen Augen nahm sie einen großen dunkelblauen Reisebus wahr. Dieser wirbelte Staub auf, als er auf den Schotterparkplatz fuhr. Das war ihre letzte Chance zu verschwinden. Sie könnte einfach ihren monströsen Koffer über die Steine ziehen und das Taxi zurückrufen, damit es sie wieder in ihr gewohntes Umfeld brachte. Zwei Wochen Urlaub zu Hause zu verbringen, war nicht die schlechteste Option. Das machte sie seit Beginn ihres Berufslebens. Warum das ändern, was gut funktionierte?

Der Bus hielt einige Meter vor ihr an. Mit einem Zischen, das sich in den Lärm der Autobahn einfügte, öffneten sich die Türen. Eine Frau in Antonias Alter, chic in Bluse und Stoffhose gekleidet und mit hellblondem Kurzhaarschnitt, sprang schwungvoll aus dem Bus.

„Frau Oedt, nehme ich an? Herzlich willkommen!“ Ihre Stimme war hell und schrill. Die Tonart, aber auch ihr ganzes Auftreten erinnerte Antonia an ihre beste Freundin Christine. Allein bei dem Gedanken an sie schmerzte es in ihrer Brust.

„Morgen“, hielt sie sich bedeckt. Einen Moment stand sie nur da. Es kam ihr wie ein surrealer Traum vor, dass sie dort jetzt wirklich einstieg. Hatte sie etwa Fieber? Als sie mit ihrem Koffer langsam näher kam, erkannte sie die an den Fensterscheiben platt gedrückten Nasen. Sie atmete tief ein und aus.

„Geben Sie mir gerne Ihren Koffer, damit ich –“

„Ich mache das schon! Ich komme ja!“ Aus dem Bus stolperte deutlich undynamischer ein Mann mit Fliege und Jackett. Während er Antonia den Koffer abnahm und ihn grummelnd auf die andere Seite des Busses zog, verströmte er einen strengen alkoholischen Duft. Viel zu viel Aftershave für Antonias Geschmack. Sie rümpfte die Nase. Hoffentlich waren keine Stoffe enthalten, gegen die sie allergisch war.

„Das ist alles Ihr Handgepäck?“ Die Frau runzelte die Stirn.

„Ähm, ja …“ Hilfe suchend sah sich Antonia um, doch das war ein Fehler. Noch immer waren alle Augen auf sie gerichtet. Hitze stieg ihr in die Wangen.

„Gut. Super, kein Problem“, verkündete ihr Gegenüber. „Sie haben Sitz Nummer vierundzwanzig. Der befindet sich auf der rechten Seite.“

Antonia nickte. Als hätte sie eine Ahnung, wovon die Dame da sprach. Ein beklemmendes Gefühl machte sich in ihrer Brust breit. Letzte Chance auf Flucht. Jetzt oder nie! Doch sie folgte der Fremden wie in Trance. Damit sie möglichst unbemerkt in den Bus einsteigen konnte, das bildete sie sich zumindest ein, ordnete sie die Schlaufen ihres Rucksacks, der Laptop- und Stofftasche in ihren Händen.

Die Fremde blieb vor der Öffnung im blauen Metall stehen und bedeutete ihr einzusteigen. „Bitte beeilen Sie sich ein wenig. Wir haben einen engen Zeitplan, nicht wahr?“ Sie gackerte los, was Antonia regelrecht in den Ohren klingelte.

Die Fremde sprach in Rätseln, trotzdem tat Antonia wie angeordnet. Schnellen Schrittes erklomm sie die Stufen in den Bus, stets darauf bedacht, nirgendwo hängen zu bleiben. Bloß keinen Lärm verursachen. Auf keinen Fall wollte sie die Aufmerksamkeit der anderen Gäste noch mehr auf sich lenken. Selten in ihrem Leben hatte sie sich so fehl am Platz gefühlt. Ihr Herz schlug hoch bis in den Hals.

Der Innenraum war dunkel. Nur kleine Lampen über den Sitzreihen erhellten das Fahrzeuginnere. Ihr Blick glitt über die vielen Gesichter, die sie alle mit großen Augen ansahen. Ein Herr hob zum Gruß seinen Hut an. Der Rest der Rentner in dem Reisebus starrte sie nur an. Mit dem Lächeln, das sie immer aufsetzte, wenn sich ein Bürger in ihr Büro beim Friedhofsamt verlief, nickte sie den älteren Herrschaften zu. Doch die Mimik passte nicht zu dem, was ihr Körper signalisierte. Nichts wie weg von hier!

„Dann kann es ja weitergehen!“, rief die Fremde, die direkt hinter ihr war. Doch sie blieb vorn neben dem leeren Fahrersitz stehen, während Antonia mit sich selbst rang. Weder der Zielort noch die versprochenen Ausflüge überzeugten sie, sich weiter durch den engen Gang zu zwängen. Nur Christines Worte in ihren Ohren trieben sie voran.

„Bitte verstauen Sie Ihre Habseligkeiten in dem Gepäckfach über Ihnen und setzen Sie sich hin!“, wies die Fremde sie an und übertünchte damit die Erinnerung.

War der Sinn einer Urlaubsreise nicht Entspannung? So erfüllte das Reiseunternehmen nicht seinen Zweck. Mit glühenden Wangen hielt Antonia nach den Sitznummern Ausschau, doch weder an den Sitzen selbst noch über ihnen auf den Gepäckgittern waren Zahlen zu erkennen. Sie wollte um Hilfe bitten, aber die Fremde sah nur kopfschüttelnd auf ihre Uhr. Der Mann, der den Koffer verstaut hatte, erschien ebenfalls im Gang und setzte sich in das Cockpit. Dann diskutierten die beiden.

Antonia pfefferte bei der nächsten freien Sitzreihe ihre Stofftasche in das Gepäckfach und ließ sich auf den Sitz plumpsen. Es dauerte einige Minuten, bis sie sich organisiert hatte. Jacke aus, Laptop auf die Seite, Wasserflasche ins dafür vorgesehene Netz. Verhielt man sich so in einem Reisebus? Sie blickte zu den anderen Gästen und ahmte sie nach. Es gab Regler, Schieber und Knöpfe, die sie allesamt überforderten. Unzählige Fragen lagen ihr auf den Lippen, doch der Bus rollte los. Hier wartete niemand auf irgendwen.

Hinter Antonia begann man schon bald zu tuscheln.

„Die hat die Reise doch gewonnen“, oder: „Was schleppt die alles mit sich rum“, waren nur der Anfang. Sie rutschte immer tiefer in ihren Sitz. Bis jetzt hatte sie nicht die Gelegenheit gehabt, sich ausführlich umzusehen. Die Mitreisenden, die sie aus ihrer Position wahrnahm, waren alle deutlich älter als sie. Wie immer fiel ihr das Schätzen schwer. War das Pärchen vor ihr sechzig, siebzig oder gar achtzig Jahre alt? Sie sahen auf jeden Fall alt aus. So alt wie die Angehörigen und Freunde, die sich um die Osterfeiertage auf den Friedhöfen ihrer Heimatstadt getummelt hatten.

Antonia beschloss, wie immer bei fremden Menschen, ihre innere Mauer hochzuziehen. Sie war es gewohnt, dass die Leute redeten. Das taten sie ununterbrochen – egal, wie man sich verhielt, sprach oder aussah. Ihr Blick war fest auf die Landschaft draußen gerichtet. Ein Feld ging ins nächste über. Der Reisebus fuhr auf die Autobahn und beschleunigte. Ihre Finger krallten sich um die Armlehne, denn mit so einer Geschwindigkeit hatte sie nicht gerechnet. Wie schnell durften Reisebusse überhaupt fahren? Wie viele Haltestellen klapperten sie wohl noch ab, bis sie endgültig den Weg in den Süden antraten?

Die Antwort war: zwei. Sie hielten erst in der Kreisstadt, wo drei Paare, ebenfalls Rentner, zustiegen. Die Aufmerksamkeit der anderen schwenkte endlich auf die Neulinge um, sodass Antonia aufatmete. Auch wenn ein gewisser Druck auf ihrer Brust blieb, denn sie verabscheute das Gefühl, nicht zu wissen, was auf sie zukam. Das hier war absolutes Neuland.

Beim letzten Halt stiegen fünf Personen ein. Das erzeugte eine ziemliche Unruhe in dem Bus, denn die wenigen nicht belegten Plätze wurden jetzt eingenommen. Christine hatte eine Reihe nur für sich gebucht, die Antonia nun übernommen hatte. Somit hatte sie keinen unangenehmen Sitznachbarn zu befürchten. Davon ging sie so lange aus, bis eine Frau, die bereits an ihr vorbeigegangen war, wieder nach vorn kam. Sie war nicht nur klein, sie war winzig und zierlich. Eine niedliche Omi, bis sie den Mund aufmachte.

„Hömma, Kind, du bist auf meim Platz, ne?“

Antonia verschluckte sich an ihrem Wasser und verschüttete ein wenig auf ihre Jeans. Nach einem Husten und einigem Räuspern krächzte sie nur: „Wie?“

„Du hockst auf’m falschen Sitz, Mädel! Dat is Platz zweiundzwanzig! Dat is meiner!“ Ihre Stimme war heiser, beinahe kehlig. Es war auch klar, weshalb sie so klang. Der Geruch von Zigaretten kroch in Antonias Nase und biss sich dort fest.

„Oh, also ich …“, setzte sie an, brach dann jedoch ab.

Die ältere Dame vor ihr fuchtelte mit den Händen durch die Luft. „Dat kann doch nich wahr sein! Wat soll dat?“

„Entschuldigung, das war keine Absicht.“ Antonia sprach zu leise. Die Fremde übertönte sie immer wieder mit ihrem Gemecker. Die Reiseleiterin kam dazu.

„Frau Oedt, ich hatte Ihnen doch gesagt, dass Sie sich links hinsetzen sollen!“

Antonia schüttelte den Kopf. Das stimmte nicht! Sie hatte doch ganz klar rechts gesagt, oder nicht? Immer wieder öffnete sie den Mund, kam jedoch gegen das Gezeter der beiden nicht an. Die alte Dame beschwerte sich lauthals über sie. Nicht nur bei der Reiseleiterin, sondern auch bei den anderen Gästen.

„Bitte gehen Sie auf Ihren Platz!“

„Aber wo ist der denn?“ Wenn Antonias Gesicht vorher schon geglüht hatte, dann war es nun verbrannt. Ihr Herz pochte so heftig, dass sie es in den Fingerspitzen spürte. Was für ein Desaster!

„Dort drüben!“ Beide Frauen sahen sie mit gerunzelter Stirn an, wobei die der Alten sich deutlich öfter faltete, und zeigten auf die Reihe rechts neben Antonia. Das war gerade mal ein halber Meter Unterschied. Kurz hielt sie inne, denn sie erwartete die versteckte Kamera. Oder, wie ihr Neffe immer sagte, dass es sich um einen Prank handelte. War sie geprankt worden, oder meinten die Damen das ernst? Bei genauer Betrachtung der Mienen verpuffte dieser Zweifel. Antonia packte ihre Sachen zusammen. Wasserflasche zurück in die Tasche, Laptop schnappen, Jacke unter den Arm klemmen. Alles gleichzeitig und möglichst schnell, denn die eigentliche Platzbesitzerin meckerte schon wieder vor sich hin.

„Was hat die alles dabei?“, ertönte von hinten, als Antonia aus der Sitzreihe zur anderen Seite stolperte.

„Keine Ahnung, aber ich habe ein Handgepäckstück, wie erlaubt.“

„Regeln und Gesetze gelten also nicht für jeden …“

„Herrje, es ist schon so spät!“

Was gerade Scham und Verwunderung gewesen war, entwickelte sich zu Wut. Auf ihrem neuen Platz, der sich nicht von ihrem vorherigen unterschied, verstaute sie ihre Habseligkeiten. Dieses Mal nahm sie sich extra Zeit. Sie würde sich nicht ein weiteres Mal so stressen lassen. Es ärgerte sie, dass sie den Mund nicht aufbekommen hatte. Jetzt, natürlich nach der Konfliktsituation, fielen ihr unzählige kesse Sprüche ein. Argumente, die Sinn ergaben und die anderen entwaffnet hätten. Aber es war zu spät. Wieder mal. Das kannte sie ja schon von der Arbeit. Mit geballten Fäusten sah sie sich noch mal um, denn die anderen flüsterten. Mit einem Knäuel aus Ärger, unausgesprochenen Einwänden und Scham rückte sie vom Gang weg auf den Platz am Fenster. Dabei drückte sie sich eng an die Wand des Busses, als hätte sie so die Möglichkeit, jederzeit zu fliehen. Noch ein Zwischenfall dieser Art, und sie würde verlangen, sie aussteigen zu lassen. Diese dämliche Reise war nicht ihre Idee gewesen! Sie brauchte das alles hier nicht!

„Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

Antonia war so in ihren Gedanken gefangen gewesen, dass sie die ältere Dame mit dem breiten Lächeln erst in diesem Augenblick wahrnahm.

„Äh, klar“, murmelte sie.

Die Frau strich sich die grob gehäkelte, mit großen, ebenfalls gehäkelten Blumen verzierte Strickjacke glatt, bevor sie sich neben Antonia setzte.

„Also das mit dem Platz … Es war nicht –“

„Schokolade?“ Die Frau hielt ihr einen Riegel hin und legte den Kopf schräg. Ganz so, als wäre Antonia ein Kind, das sie zu durchschauen versuchte. Etwas eigenartig, aber Antonia nahm die Nervennahrung trotzdem an.

„Danke.“ Das Zerknüllen der Silberfolie verschluckte beinahe ihr Wort.

„Paula, übrigens.“

Antonia versuchte sich an einem Lächeln. „Antonia.“

Kurz war Stille. Sogar in den Reihen um sie herum wurde nicht gesprochen.

„Das ist mein fünftes Mal“, meinte die Rentnerin, während sie nach vorn sah.

„In die Toskana oder mit einem Reisebus?“

„Beides. Dreimal mit einer Freundin, nun das zweite Mal allein. Kann ich nicht empfehlen.“ Nun sah sie Antonia an.

„Allein zu reisen oder die Toskana so oft zu besuchen?“ Während die beiden sich ansahen, schob sich Antonia ein Stück der Schokolade in den Mund. Süße zog ihre Schleimhäute zusammen. Eigentlich aß sie keine Süßigkeiten, doch Urlaube stellten eine Ausnahme dar, oder?

„Die Toskana ist immer eine Reise wert.“ Paula sah sich um, dann blickte sie wieder nach vorn.

Vorhin hatten ein paar Opas gedöst und wenige Omas gelesen, doch das war nach Paulas Annäherung Geschichte. Getuschel stieg auf und wuchs heran. Alle redeten durcheinander. Von Autobahndröhnen keine Spur mehr, ganz zu schweigen vom Vogelgezwitscher. Doch es war anders, als Antonia es erwartet hatte. Die ein oder andere ältere Dame berichtete von den vorherigen Reisen mit dem Unternehmen Zimmermann: jeden Februar Sylt, jeden Frühling Toskana und im Sommer dann je nach Laune entweder Berge oder Ostsee.

Antonia lauschte die ganze Zeit, auch wenn sie sich beschäftigt gab. Paula war keine aufdringliche Person im eigentlichen Sinne. Sie holte eine Häkelnadel und ein kleines Wollknäuel aus ihrer Tasche und begann, Luftmaschen zu machen. Selig gab die Seniorin sich der Handarbeit hin. Erst hatte Antonia Sorge, dass sie die Fremde unterhalten musste. Genau deshalb hatte sie sich keine Sitznachbarin gewünscht. Doch Paula war mit der Stille zwischen ihnen zufrieden. Sie koexistierten einfach. Antonia versuchte, zu entspannen und es sich auf dem schmalen Sitz gemütlich zu machen. Das erste Mal in ihrem Leben legte sie ein Nackenkissen um. Sogar eine Schlafmaske hatte sie sich zugelegt, denn diese war auf diversen Internetseiten über Busreisen empfohlen worden. Wenn sie eines war, dann vorbereitet. So viel Geld für eine Reise, die sie geschenkt bekommen hatte. Auch wenn der Gedanke daran wieder Bitterkeit in ihr auslöste, die selbst das letzte Stück Schokolade nicht vertrieb. Gerade als Antonia sich die Maske aufsetzte und nach hinten lehnte, knirschte es über ihr. Ein kreischender Laut ertönte. Sie hielt sich sofort die Ohren zu. Allerdings war sie die Einzige. Das stellte sie fest, nachdem sie sich die Maske vom Gesicht gerissen hatte. Paula und die restlichen Reisenden saßen senkrecht auf ihren Sitzen, unterhielten sich nicht weiter über Kamelienbüsche und legten die Kreuzworträtselhefte beiseite.

„Herzlich willkommen noch mal an alle im Namen von Zimmermann-Reisen!“ Der Ton drang aus den Lautsprechern über Antonias Kopf. Sie sah nach vorn und bekam mit, wie sich die Reiseleiterin verbeugte.

„Mein Name ist Tanja Lambrecht, und ich werde Sie in die wunderschöne Toskana entführen. Natürlich nicht allein, denn wir werden von Andrej Kaminski befördert. Einen Applaus bitte!“

Alle klatschten. Antonia sah sich um und drückte ebenfalls ihre Hände sanft zusammen.

„Unser Busfahrer wird sich gleich noch selbst vorstellen, deshalb –“

Wieder knirschte das Mikrofon, in das sie sprach. Die Kombination ihrer Stimme mit der eher zweitklassigen Technik war ohrenbetäubend im schlimmsten Sinne. Tatsächlich wäre eine Betäubung die bessere Wahl.

Vorn gab es Unstimmigkeiten. Antonias Hintern lüftete sich von ihrem Platz, und trotzdem bekam sie nicht mit, was dort vor sich ging.

„Andrej wird sich später bei Ihnen vorstellen. Egal, dann weiter im Text! Sie können mich zumindest gerne Tanja oder Tata nennen, ganz wie Sie wünschen. Wir machen alle anderthalb Stunden Pause, sodass Sie die Bustoilette nicht benutzen müssen. Diese steht nur im Notfall zur Verfügung.“

Wieder ein Knarzen. Antonia wiederholte die gegebenen Informationen in ihrem Kopf, damit ihr keine entglitt. Die anderen tuschelten. Auch wenn Antonia sich wünschte, sie würde nicht jedes Detail mitbekommen, es war unausweichlich.

„Ich weiß nicht, ob meine Prostata das durchhält. Du weißt doch, Linda –“

„Hans, ich bitte dich! Die Leute!“

Während diese Diskussion direkt hinter Antonia geführt wurde, sprach Tanja vorn weiter: „In den Pausen bitten wir Sie, den Bus zu verlassen und Ihre Wertgegenstände mitzunehmen. Trödeln Sie bitte nicht, wir haben einiges an Strecke vor uns. Gegen Mittag machen wir eine längere Pause. Dann haben Sie auch die Gelegenheit, das Busmenü zu genießen. Für alle, die noch nicht mit uns gefahren sind …“ In diesem Moment sah Tanja genau zu Antonia. War sie etwa die Einzige, die noch nicht mit dem Unternehmen unterwegs gewesen war? Die noch nie eine solche Busreise gemacht hatte? Überhaupt verreist war? Sie sah weg und öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse, so warm war es in diesem Fahrzeug.

„Unser Busmenü besteht aus einer Bockwurst, einer Scheibe Toast und optional Senf. Die Kosten belaufen sich auf drei Euro pro Portion.“

Durch die Reihen ging ein Raunen. Alle tuschelten wieder. Einige bekundeten, wie lecker ihr letztes Busmenü gewesen war, andere beschwerten sich, dass der Preis um fünfzig Cent gestiegen war, und eine Dame rief von hinten nur: „Ja! Wurst! Ja!“ Die Leidenschaft, die sie bei der Erinnerung an diese Speise empfand, suchte ihresgleichen. Das letzte Mal hatte Antonia Fußballfans so euphorisch jubeln hören, als Borussia die Meisterschaft geholt hatte. Oder etwas anderes gewonnen hatte. Was auch immer. Sie hasste Fußball. Was sie noch mehr verabscheute, war das Public Viewing auf dem Marktplatz vor ihrer Wohnung, denn die Feierei übertönte ihre True-Crime-Podcasts, denen sie beim Häkeln lauschte.

„Getränke haben wir natürlich auch in der Bordküche, sodass ich Sie gerne mit Wasser, Apfelschorle, Bier, Aperol Spritz oder Zimmis versorge. Hat jetzt schon jemand Bedarf?“

Sofort schossen mindestens zehn Hände in die Höhe. Es glich beinahe einer Choreografie, die Antonia vollkommen unbekannt war. Sie beobachtete, wie Tanja die Bestellungen der Gäste abfragte. Alles lief wie einstudiert per Handzeichen. Manche orderten Wasser, die meisten allerdings einen oder zwei Zimmis. Wie sich herausstellte, handelte es sich dabei um kleine bräunliche Fläschchen, gefüllt mit scharf riechender Flüssigkeit. Erst war Antonia ungläubig, doch als ein älterer Herr nach dem anderen den Kopf in den Nacken legte und den Schnaps hinunterkippte, wurde ihr klar, wo sie hier gelandet war. Die Damen hielten sich genauso wenig zurück. Aperol Spritz war ein Kassenschlager. Sogar Paula neben ihr schlürfte einen. Es gab auch kleine Schirmchen aus bunter Pappe dazu. Mit einem Blick zur Uhr stellte Antonia fest, dass es halb neun Uhr morgens war. Mit vielem hatte sie gerechnet, aber das überstieg ihre Vorstellungskraft. Liefen Seniorenbusreisen immer so ab wie Klassenfahrten von Halbstarken, oder war nur diese Reisegruppe eine besondere?

Einen Vorteil hatte der frühmorgendliche Alkoholkonsum: Innerhalb einer halben Stunde war Ruhe in dem Bus eingekehrt. Zumindest bis zum nächsten Knarzen des Mikrofons.



2

Antonia hatte zu Beginn der Reise nicht gewusst, dass der Frauenchor von Heiligenroth seit vierzig Jahren miteinander musizierte. Ebenfalls war sie völlig ahnungslos gewesen, dass in Merklingen vor Kurzem ein toter Wolf gefunden worden war, der sich allerdings als Wolfshybrid herausgestellt hatte und seinem Besitzer entwischt und leider angefahren worden war. Auch dass das Basketballteam USC Heidelberg in den Siebzigern zweimal den deutschen Meistertitel geholt hatte, war eine neue Information für sie gewesen. Schade nur, dass es sie nicht interessierte. Nichts davon. Auch die anderen Mitreisenden nicht, die sich munter über Fußpflege und orthopädische Schuhe austauschten. Selbst Paula, die sonst für alle Themen offen schien, war in ihre eigene Reihe zurückgekehrt, um die Beine auszustrecken und zu schlafen. Doch Tanja kümmerte das nicht. Seit der Bus Köln hinter sich gelassen hatte, redete sie ohne Unterbrechung. Antonia fragte sich, ob sie nicht mal einen Schluck Wasser zu sich nehmen musste. Pausenlos überhäufte sie sie mit diversen Randinfos zu den vorbeiziehenden Städten. Wenn die privaten Unterhaltungen der anderen Reisegäste zu laut wurden, ermahnte sie sie zur Ruhe. Nur um dann direkt wieder die Lautsprecher quietschen zu lassen. Antonia machte das zu schaffen. Ihre Schläfen pochten. Selbst die Ohrstöpsel, die ihr das Internet ebenfalls empfohlen hatte, brachten keine Linderung. Bei einer mindestens zehnminütigen Predigt über das letzte Play-off zwischen Berlin und Ulm rissen sogar Antonias Nerven. Das erste Mal, abgesehen von den Pausen, in denen sie sich die Füße vertreten hatte, stand sie auf, um besser mit dem Ehepaar hinter sich sprechen zu können.

„Entschuldigen Sie bitte die Störung, aber empfinden Sie die Lautsprecher auch als viel zu laut?“ Antonias Stimme hüpfte, denn es kostete sie Überwindung, mit den Menschen zu sprechen, die sich heute Morgen über sie echauffiert hatten. Seit dem Vorfall hatten die meisten Gäste sie in Ruhe gelassen. Nur die Platzvertreiberin hatte ihr immer wieder fiese Blicke zugeworfen und sich bei den umliegenden Nachbarn lauthals über ihre Dreistigkeit beschwert. Man könnte meinen, Antonia hätte ihre Katze gestohlen. Es war doch nur ein Sitzplatz, herrje! Die Spannungen belasteten jede ihrer Kontaktaufnahmen.

„Haben Sie denn eine Lautstärke eingestellt?“ Der Mann lächelte freundlich, doch seine Frau stieß ihm mit dem Ellbogen in die Seite.

„Das geht?“ Mit erhobenen Brauen sah Antonia zur Fahrzeugdecke. Dort waren zwei Knöpfe: ein roter, den sie besser nicht drückte, und einer mit einem Ventilator drauf. Kein Lautsprechersymbol, kein Regler für die Lautstärke.

„Keine Ahnung! Sonst fragen Sie doch vorn“, schlug er weniger zuvorkommend vor.

„Eine gute Idee, danke. Ich wollte nur wissen, ob Sie es als störend empfinden, wenn es so laut ist.“

„Nein, wir haben Hörgeräte. Wenn es uns zu laut wird, drehen wir die einfach leiser“, meinte seine Frau und sah demonstrativ aus dem Fenster.

„Okay, danke.“ Mit zusammengepressten Lippen verließ Antonia ihren Platz. Wie schon den ganzen Tag waren sie auf der Autobahn unterwegs, deshalb hielt sie sich bei jeder Sitzreihe, die sie passierte, an den Griffen fest.

„Tanja?“

Die Reiseleiterin unterbrach ihren Wortschwall. Das Mikrofon gab wieder ein Störgeräusch von sich.

„Oh, was gibt es? Ist etwas passiert? Sie dürfen während der Fahrt nicht einfach aufstehen. Bitte rufen Sie mich das nächste Mal zu sich, ja?“

Erst nickte Antonia, dann schüttelte sie den Kopf. „Das ist nicht möglich, denke ich.“ Sie verstummte bei den zusammengekniffenen Augen der Reiseleiterin.

„Wir haben Sie alle doch zu Beginn der Reise daran erinnert, dass es in Deutschland eine Anschnallpflicht gibt.“ Sie lächelte, aber die Freude erreichte nicht ihre rehbraunen Augen.

„Nur ganz kurz: Kann man die Lautsprecher ein wenig leiser stellen? Es ist wirklich sehr laut auf meinem Platz, und ich würde gerne die Fahrt nutzen, um zu schlafen oder –“

„Entschuldigung, aber das ist nicht möglich. Die einzelnen Boxen lassen sich nicht regulieren. Ich könnte höchstens die Gesamtlautstärke runterschrauben, aber das ist ja nicht im Sinne der Gäste.“ Sie sagte es so, als wäre es das Logischste der ganzen Welt. Eine richtige Argumentation gab es nicht. Pseudofakten, die Antonia entgegengefeuert wurden. Das Lächeln war verschwunden. Sowohl das Gequälte auf Antonias als auch das Höfliche auf Tanjas Gesicht.

„Leiser würde ich auch begrüßen“, warf der Busfahrer von der Seite ein. Er wechselte einen schnellen Blick mit Antonia, dann achtete er wieder auf die Straße.

„Das ist unmöglich! Die Senioren hören schlecht. Die meisten von ihnen tragen ein Hörgerät, sodass sie eine laute, klare Stimme benötigen. Und die von mir vermittelten Fakten sind der Hauptgrund, weshalb sie diese Fahrt unternehmen. Das habe ich dir vorhin auch schon gesagt!“ Tanja sprach nicht mehr mit Antonia, sondern mit dem Fahrer.

Gerne hätte sie der Reiseleiterin widersprochen. Niemals genossen die Rentner diese trivialen Fakten. Selbstverständlich gehörten Informationen und Erzählungen zu einer solchen Reise. Allerdings war eher Wissen zum Zielort gefragt. Zu den Städten, die sie in den nächsten zwei Wochen besuchen würden. Antonia hatte sich ausreichend im Internet informiert. Sie wusste genau, wie der Hase lief. Und so hoppelte er nun mal nicht. Es fehlte ihr zwar an echten Vergleichen, aber das Prozedere fühlte sich unnatürlich an. Von den heruntergeregelten Hörgeräten ihrer Sitznachbarn fing sie gar nicht erst an. Doch wie so oft blieben diese Zweifel und Einwände unausgesprochen. Tanjas Blick brachte sie dazu zurückzuweichen.

„Also noch mal zu Ihrer Frage: Nein. Leider nein.“ Wieder dieses oberflächliche Lächeln.

„Klar, kein Problem“, nuschelte Antonia und trat einen zweiten Schritt zurück. Sich in dem engen Gang zu drehen, damit sie wieder zu ihrem Platz gelangte, war eine Herausforderung.

Das Mikrofon rauschte so laut, dass sie automatisch die Hände über ihre Ohren legte.

„Liebe Gäste, in wenigen Minuten erhalten Sie Ihr Busmenü! Bitte klappen Sie den Tisch am Vordersitz aus, damit ich die Köstlichkeit nur abstellen muss. Kassieren können wir später!“ Tanjas schrille Anweisungen brausten durch den Bus und verflüchtigten sich in den vielen aufkeimenden Stimmen der anderen.

Nur eine war deutlich aus der letzten Reihe zu vernehmen: „Ja! Wurst! Ja!“

„Frau Oedt, möchten Sie die erste Wurst?“

War das ihre Auffassung von einem Friedensangebot?

„Nein danke, ich esse kein Fleisch.“

„Oje, das könnte aber zu Problemen führen! Wieso haben Sie das nicht bei der Anmeldung angeben?“ Tanja sprach noch immer in das Mikrofon, sodass der ganze Bus diese Konversation mitbekam. Auf hundert Dezibel.

„I-ich … A-also …“ Das erwischte Antonia erbarmungslos. Die Worte sammelten sich in ihrem Mund, aber gelangten nicht nach draußen. Kälte zog ihren Rücken hinauf, und der Druck auf ihrer Brust wurde so schwer, dass eine Angst sich in ihr regte, die sie in den letzten Tagen zu oft verspürt hatte. „Sie wissen ja, dass ich diese Reise übernommen habe“, begann sie erneut.

Tanja nickte, wirkte jedoch unbeeindruckt. Die Sekretärin von Zimmermann-Reisen, der sie den Sachverhalt dargelegt hatte, hatte zugesichert, dass sie die Reiseleiterin über alles informierte. Der Zwischenfall, die Übernahme der Reise – die Dinge, die Antonia nicht aussprach.

„Stimmt“, sagte Tanja und zog dabei die Wortmitte unnatürlich in die Länge.

„Es war etwas chaotisch. Das habe ich im Eifer des Gefechts wohl vergessen.“ Es war leichter, die Schuld auf sich zu nehmen, als sich weiterhin in voller Lautstärke vor Publikum mit Tanja zu streiten.

„Na ja, in Italien sind Änderungen bestimmt möglich. Das Essen bei unserer Zwischenübernachtung in Tirol ist jedoch fix. Es gibt heute Abend Schweinefilet, Salzkartoffeln und Salat.“

„Kein Problem. Kartoffeln und Salat sind perfekt“, murmelte Antonia. Noch immer stand sie im Gang, krallte ihre Finger um die Griffe zu den Seiten, damit sie nicht aus dem Gleichgewicht geriet.

Tanja starrte sie an, als hätte sie Zweifel an ihrer geistigen Verfassung. Lächelnd entfernte Antonia sich von ihr. Bloß weg von dieser Frau, die so tolerant war wie ein Schwan in der Brutzeit.

 

Die Pausenregel wurde nicht wie angekündigt eingehalten. In Österreich gab es mehrere Verkehrsunfälle, sodass der Bus die Autobahn verlassen musste, um Straßensperren zu umfahren. Endlose Landstraßen wanden sich um Flüsse, über Brücken und Berge. Mit jeder Kurve, um die der Busfahrer vorsichtig manövrierte, verschob sich der Zeitplan. Wie sehr das Tanja stresste, bemerkte Antonia an ihrem Tonfall. Vorher schon war er wie ein Bienenstock gewesen, unangenehm und unberechenbar, doch jetzt glich er einem Wespenschwarm beim Grillfest. Kaum auszuhalten. Nicht nur Tanjas passiv-aggressives Gerede über Gott und die Welt setzte Antonia zu. Während die restlichen Gäste ein Verdauungsschläfchen bei heruntergeregelten Hörgeräten hielten, knurrte ihr Magen mit Tanjas Groll um die Wette. All ihre Snacks waren verspeist, und die Hoffnung auf einen Rasthof verflüchtigte sich mit der langsam untergehenden Sonne. Ihr Hals war schon ganz trocken, denn sie hatte vor ungefähr einer Stunde aufgehört, Wasser zu trinken. Bereits jetzt war ihre Blase gut gefüllt, und offenbar war es ein ungeschriebenes Gesetz bei derartigen Busreisen, unter keinen Umständen die Bustoilette zu benutzen. Zum Leidwesen des älteren Herrn hinter ihr. Er kannte kein anderes Gesprächsthema mehr, und die zunächst harmlosen Kabbeleien mit seiner Frau wuchsen zu ernsten Diskussionen heran.

„Du machst uns nur lächerlich!“

„Bitte sei vernünftig. Lass mich jetzt durch!“

„Unmöglich!“

„Es gehört sich auch nicht, sich einzunässen.“

Zu Antonias Verwunderung setzte der Herr sich durch. Mit kleinen Schritten, damit er der kurvigen Landstraße, die sich wie eine Blumenranke den Berg hinaufschlängelte, nicht zum Opfer fiel, strebte er die Tür bei der hinteren Treppe des Busses an. Als hätte Tanja einen sechsten Sinn für Regelverstöße oder sogar einen Toilettensinn, unterbrach sie ihren Redeschwall und eilte auf den Gast zu.

„Die Toilette darf nur im Notfall benutzt werden.“

„Gut, das ist einer“, gab der Herr zurück und hielt sich oben am Gepäckfach fest, denn der Bus bremste ab. Gegenverkehr bei dieser Art von Kurven war eine knifflige Angelegenheit.

„Bitte gedulden Sie sich noch ein wenig. Wir können gleich wieder auf die Autobahn wechseln und halten bei dem nächsten Rasthof. Ein ganz toller Ort, von dem man wunderbar die Berge betrachten kann. Man sieht sogar die Zugspitze …“

Der Gast gab nichts auf ihre Erklärungen und das Vertrösten. Er winkte ab und quetschte sich dann an Tanja vorbei. Sie war es offenbar nicht gewohnt, übergangen zu werden. Als die Toilettentür ins Schloss fiel, schaute sie sich mit großen Augen im Bus um. Schnell tat Antonia so, als hätte sie das Drama nicht mitbekommen. Sie sah aus dem Fenster und genoss sofort den Anblick der Orange- und Rottöne, die sich auf den Bergspitzen sammelten und so den Horizont wie viele Blütenblätter verzierten.

 

Tanja hielt Wort. Der Bus fuhr auf die Autobahn auf und verließ sie bei der nächsten Gelegenheit wieder. Der kleine Rastplatz entsprach nicht ganz den vorherigen Standards der Autobahnhöfe mit Fast-Food-Ketten und Andenkenläden, bei denen sich Antonia eh gewundert hatte. Denn wer wollte schon einen Magneten von einer etwas schickeren Tankstelle haben?

Das Haus aus dunklen Holzbalken, das sich vor ihnen auftat, thronte an einem Abhang, der umgeben von frisch austreibenden hellgrünen Lärchen war. Die Stille am Mikrofon, gepaart mit dem ersterbenden Motor, war eine Wohltat. Antonia sprang beinahe aus dem Bus wie von einem Beckenrand. Sie hoffte auf eine saubere Toilette und einen kleinen vegetarischen Snack. Kein Busmenü. Von all diesem Nonsens hatte sie nach fast zwölf Stunden genug. Von dem Wurstwassergeruch, dem Lärmpegel und der eingeschränkten Beinfreiheit.

Ihre Schuhe knarzten auf dem Schotterparkplatz. Die Luft war frisch, und sie fröstelte, denn die Sonne verlor kontinuierlich an Strahlkraft. Kaum jemand stieg aus. Die meisten Herren hatten, angestiftet durch den Vorläufer, entgegen Tanjas Bitten die Bustoilette benutzt. Sie wollten alle einfach nur ankommen und nach einem Abendessen die Beine hochlegen, vermutlich ihre Kompressionsstrümpfe abstreifen und eine kühle Dusche genießen. Deshalb hatte Antonia vor, sich zu beeilen. Doch das, was sich vor ihr befand, ließ sie erst stehen bleiben, dann aufgeregt wie ein Kind loslaufen. Schon die ganze Zeit hatte sie die Berge bewundert. Noch nie gesehen, aber direkt eine Verbindung zu ihnen aufgebaut. Der Anblick vor ihr machte sie emotional. Ob das normal war? Sie näherte sich dem Abgrund, der mit einem Netz abgesichert war und einen Fotospot bot. Ein großer Holzaufsteller verkündete, dass es sich bei der Bergformation vor ihr unter anderem um die Zugspitze handelte. Der Schnee auf dem Gipfel brachte Antonias Kopf zum Rattern. Wie war es dort oben? Wie kalt mochte es da wohl sein?

Mit dem Sicherheitsnetz in Gedanken trat sie um den Holzaufsteller herum und sah direkt hinunter. Ein funkelnder türkis wirkender Fluss zog sich durch Nadelwaldtäler. Es war wie im Fernsehen. Noch nie hatte sie so eine schöne Szenerie gesehen. Sie hätte hier stundenlang stehen, sich den Wind um die Nase wehen lassen und die Frische einatmen können. Doch ihre Blase drückte, ihr Magen knurrte, und die Zeit hielt entgegen ihren Wünschen nicht an. Mit schwerem Herzen löste sie sich von dem Anblick, nahm sich jedoch vor, auf dem Rückweg ein Foto zu schießen.

Sanifair war hier zwar kein vorhandenes Konzept, trotzdem waren die Sanitäranlagen annehmbar. Die vegetarische Auswahl dagegen nicht. Während Antonia vor der Theke stand und ihre Optionen abwägte, schnaufte die Verkäuferin immer wieder. Sie blickte sogar zur Wanduhr, ganz so, als würde sie jeden Moment das Geschäft schließen wollen. War das möglich? Hatten Rastplätze nicht rund um die Uhr auf, oder war das ein Märchen aus dem Internet?

„Ich nehme ein Croissant und ein Ciabatta mit Tomate und Mozzarella. Oh, sind dort Gewürze drauf?“ Antonia presste die Lippen zusammen, während sie die Geldbörse aus der Hosentasche zog.

„Nein, keine Gewürze“, sagte die Bedienung. Völlig ohne Elan packte sie die Backwaren in eine hauchdünne Papiertüte.

„Kein Oregano?“

„Nein.“

Antonia blickte die Fremde an. Eine Falte bildete sich zwischen den Augenbrauen. Sie stemmte die Hände in die Hüften. „War es das?“

„Ich möchte das Ciabatta doch nicht.“ Antonia räusperte sich. Warum konnte sie sich nicht wie ein normaler Mensch verhalten und anderen vertrauen? Genervt von sich selbst riss sie am Reißverschluss des Portemonnaies. Mit Schreck stellte sie fest, dass von den vielen Pinkelpausen kaum noch Kleingeld übrig war. Und all ihre Scheine waren im Bus in einem Umschlag in ihrer Stofftasche verstaut. Schnell hatte sie auf dieser Reise nicht nur gelernt, wie Sanifair funktionierte, sondern auch, dass Tankstellen horrende Preise für alles verlangten. So kostete auch dieses Croissant unverschämte 3,49 Euro. Hektisch schob sie Münzen umher.

„Nehmen Sie hier Sanifair-Bons?“ Ihre ganze Geldbörse war mit diesen Scheinen gefüllt. Auf ihnen stand immer fein säuberlich „50 Cent“, also konnte sie die endlich alle einlösen. Sie zog drei Stück auf einmal heraus und reichte sie der Kassiererin, die sofort den Kopf schüttelte.

„Nein, nein. Die nehmen wir gar nicht. Und kombinieren geht auch bei anderen Raststätten nicht.“

Antonia verzog das Gesicht. Was war denn der Vorteil dieses Systems, wenn man damit nicht bezahlen konnte?

„Hier“, ertönte es von der Seite.

Antonia folgte der aus dem Nichts erschienenen Hand. Paula grinste sie an, während sie der Bedienung einen Fünfeuroschein reichte. Der Dame war egal, von wem das Geld kam, und nahm es entgegen.

„I-ich habe Geld im Bus. Sie kriegen das sofort zurück, versprochen.“

„Keine Sorge.“ Paula tätschelte Antonia die Schulter, dann ging sie in Richtung Toilette. Ihre dunkle Kleidung verschmolz mit den Holzbalken und der indirekten Beleuchtung an den Wänden. Nur ihre eigentümliche Strickjacke stach hervor. Nach ein paar Schritten wurde sie von einem Jungen, der höchstens zehn Jahre alt war, aufgehalten. Er trat ihr in den Weg und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Kann ich auch Geld haben?“

Paula gluckste über diese Dreistigkeit. „Wo sind denn deine Eltern?“

„Schon am Auto. Ich will aber ein Eis!“ Bei den letzten Worten schob er die Unterlippe vor.

„Kinder, die etwas wollen, kriegen was auf die Bollen … Geh zurück zu deiner Familie“, sagte Paula und ließ ihn stehen.

„Gemeine alte Hexe!“

Antonia machte wegen dieser Unverschämtheit große Augen, doch Paula zeigte keine Regung. Sie verschwand in der Damentoilette. Der Junge blickte ihr kurz hinterher, wirbelte dann auf dem Absatz umher und funkelte Antonia böse an. Erst als sie das Wechselgeld erhielt, wurde sie aus ihrer Trance gerissen. Mit einer Portion Blätterteig mehr in der Tasche verließ sie die Raststätte.

Da die Abfahrtszeit auf sie zuraste, knipste sie ihre Bilder und eilte dann zu dem blauen Metallmonster. Neben dem Bus stand ein Pkw, an dem der Junge mit dem losen Mundwerk lehnte. Sein Blick lag auf Antonia, während er an einem Eis schleckte. Sie ignorierte ihn und stieg in den Bus. Alle Augen im Inneren waren auf sie gerichtet, sodass sie die Schultern sinken ließ und, den Blick auf den Boden geheftet, ihren Platz aufsuchte.

„Dann hat es auch unser letzter Gast geschafft. Sehr schön!“, verkündete Tanja durch das Mikrofon für alle hörbar. Noch bevor Antonia ihren Sitzplatz eingenommen hatte, sprang der Motor wieder an. Zurück war der Lärmpegel, verschwunden die Seelenruhe, die sie mit Aussicht auf die Zugspitze empfunden hatte. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück, um tief einzuatmen. Es konnte nicht mehr lange dauern. Bald würde sie in ihrem Einzelzimmer verschwinden können. Sie wollte unbedingt weg von den anderen. Diese Reise kam ihr noch immer wie eine Schnapsidee vor. Am liebsten wäre sie wieder ausgestiegen und bei den Bergen geblieben, die ihr Ruhe und Frieden schenkten. Ob man hier übernachten konnte? Mit Blick zum Gebäude prüfte sie die oberen, ebenfalls holzverkleideten Stockwerke, dann die parkenden Autos. Doch anstatt eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten, öffnete sie den Mund.

„Paula“, wisperte sie. Ihr Blick war auf die Seniorin gerichtet, die mit den Armen in der Luft herumwedelte.

„Anhalten!“

Niemand reagierte auf ihren Befehl.

„Wir haben jemanden vergessen! Sofort ANHALTEN!“

Durch den Bus ging ein Ruck, der Antonias Hintern kurz von der Sitzfläche hob. Sie winkte Paula zu, dann stand sie auf.

Tanja war sofort bei ihr. „Oje, wie konnte das denn passieren? Ich habe doch durchgezählt. Das kommt davon, wenn man trödelt.“

Natürlich war es Paula selbst schuld, wenn es nach Tanja ging. Generell kam es Antonia so vor, als würde die Reiseleiterin weder gerne Verantwortung übernehmen noch ihre Fehler ausbaden.

Doch was zählte, war, dass Paula ihr Tempo drosseln konnte, denn sie hatte nun die Gewissheit, dass sie nicht mutterseelenallein auf dieser Raststätte zurückgelassen wurde. Noch immer heftig winkend passierte Paula den Pkw mit dem Jungen. Mit einem Arm stieß sie ungünstig gegen ihn, sodass sein Eis zu Boden fiel. Es gab eine kurze Diskussion. Einen Wortwechsel, den Paula zügig abbrach, denn sie eilte weiter zum Bus. Mittlerweile hatte der Busfahrer auch die zischenden Türen geöffnet, sodass noch sanft ein „Hexe!“ in das Fahrzeug hineingeweht wurde. Dann stieg Paula endlich zu. Obwohl sie sonst so ruhig und besonnen wirkte, schien sie nun aufgelöst zu sein.

„Haben Sie keine Augen im Kopf? Was sind Sie für eine Reiseleitung, wenn Sie einen Gast vergessen?“ Paula war ernsthaft verletzt, das erkannte Antonia an der zerbrechlichen Note in ihrer sonst so fröhlichen Stimme.

Tanja stand nur da. Das war das zweite Mal, dass sie vor den Kopf gestoßen wurde. Antonia freute das regelrecht. Nicht nur sie lernte bei dieser Reise einiges dazu. Auch anderen in diesem Bus erging es so. Sie versuchte, ihr Lächeln zu unterdrücken, als Paula sich zu ihr setzte. Wortlos entnahm sie dem Geldumschlag einen Schein und schob ihn ihrer Sitznachbarin über deren ausgeklappten Plastiktisch zu.

„Lassen Sie mal stecken.“

Mit einem leichteren Gefühl in der Brust holte Antonia ihr Gebäck aus der Tüte und biss beherzt hinein.

Marie Kärsting

Über Marie Kärsting

Biografie

Marie Kärsting, 1993 in Kempen geboren, lebt mit ihrem Ehemann und zwei Hunden in einem kleinen Dorf am Niederrhein. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie Betriebswirtschaftslehre und schloss eine kaufmännische Ausbildung ab, doch trotz der vielen Zahlen fand sie ihre Liebe zu Wörtern wieder. Mit...

Veranstaltung
Lesung
Samstag, 08. März 2025 in Krefeld
Zeit:
15:00 Uhr
Ort:
Thalia ,
Hochstr. 96-100
47798 Krefeld
Lesung
Mittwoch, 12. März 2025 in Wesseling
Zeit:
18:30 Uhr
Ort:
Buchhandlung Kayser,
Flach-Fengler-Str. 62-64
50389 Wesseling
Lesung
Mittwoch, 19. März 2025 in Kempen
Zeit:
18:30 Uhr
Ort:
Mo's Bücherkiste,
Königsstr. 6
47906 Kempen
Lesung
Freitag, 21. März 2025 in Viersen
Zeit:
19:00 Uhr
Ort:
Buchhandlung Frau Eule,
Hochstraße 43
41749 Viersen
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