Dragon Sin (Dragon 5) Dragon Sin (Dragon 5) Dragon Sin (Dragon 5) - eBook-Ausgabe
Roman
Dragon Sin (Dragon 5) — Inhalt
Rhona die Furchtlose ist fürs Kämpfen geboren. Und als erste Tochter einer Familie von Kriegern hat sie für ihr Ansehen hart gearbeitet. Jetzt ist ihr Platz bei ihrer Truppe, dummerweise besteht diese jedoch aus ungebildeten Nordland-Drachen, die glauben, eine Frau sei nur dazu da, Kinder zu bekommen und die Höhle zu hüten. Aber Rhona heißt nicht umsonst die Furchtlose, sie wäscht ihren Jungs gehörig den Feuer speienden Kopf. Und da wäre auch noch dieser Barbar Vigholf der Abscheuliche. Der sollte besser einen großen Bogen um die feurige Drachin machen. Denn es könnte sein, dass sie dem attraktiven Vigholf sonst ordentlich einheizt – und das Spiel nach ihren eigenen Regeln spielt …
Leseprobe zu „Dragon Sin (Dragon 5)“
Prolog
Das Mädchen schlief. Aber nicht tief. Sie hatte keinen tiefen Schlaf mehr und schlief nie ohne Waffe. Zu oft hatte es mitten in der Nacht Angriffe auf das Lager gegeben. Zu oft hatte sie die eigenen Soldaten dabei erwischt, wie sie in ihr Bett schlüpfen und von ihr das bekommen wollten, was sie sich bei den Lagermädchen nicht leisten konnten. Diejenigen Soldaten, die den Versuch überlebt hatten, wurden für gewöhnlich nach Hause geschickt – nicht wegen dem, was sie getan hatten, sondern weil wegen der eingebüßten Körperteile in einer Schlacht nicht [...]
Prolog
Das Mädchen schlief. Aber nicht tief. Sie hatte keinen tiefen Schlaf mehr und schlief nie ohne Waffe. Zu oft hatte es mitten in der Nacht Angriffe auf das Lager gegeben. Zu oft hatte sie die eigenen Soldaten dabei erwischt, wie sie in ihr Bett schlüpfen und von ihr das bekommen wollten, was sie sich bei den Lagermädchen nicht leisten konnten. Diejenigen Soldaten, die den Versuch überlebt hatten, wurden für gewöhnlich nach Hause geschickt – nicht wegen dem, was sie getan hatten, sondern weil wegen der eingebüßten Körperteile in einer Schlacht nicht mehr viel von ihnen zu erwarten war.
Doch sie hatte keine Ahnung, ob es der leichte Schlaf oder ihre geschärften Instinkte waren, die ihr befahlen, aufzuwachen und sich zu erheben. Leise schlich sie an den anderen schlafenden Knappen vorbei, trat hinaus in die Nacht und folgte dem Weg, den ihre Instinkte ihr wiesen, bis zu einem kleinen Wäldchen rechts vor dem Lager. Dort fand sie die Frau. Sie stahl sich gerade ohne ihre Wachen aus dem Lager, ohne Truppen und Pferd, hatte nur einen Reisesack dabei und sich zwei Schwerter auf den Rücken gebunden. Sie ging allein, denn sie war tapfer. Und sie war verzweifelt. Und selbst wenn sie einen guten Tag hatte, war sie mehr als nur ein wenig verrückt.
Ohne ein Wort zu sagen, rannte das Mädchen zurück zu seinem Zelt, holte sein eigenes Reisegepäck, das Schwert und die Streitaxt sowie seine wärmsten Stiefel und den Umhang. Lächelnd kehrte sie an die Seite der Frau zurück.
„Du hast doch nicht geglaubt, ich lasse dich ohne mich davonziehen, oder? Mein Platz ist an deiner Seite.“
„Du wirst vermutlich deinen Tod an meiner Seite finden, wenn du mich begleitest. Das kann ich nicht erlauben.“
„Wenn du ohne mich gehst, wird das Lager nicht erst innerhalb der nächsten Tage, sondern schon in wenigen Sekunden erfahren, dass du weg bist.“
Hellgrüne Augen glitzerten sie an, aber nachdem das Mädchen sie fünf Jahre lang täglich gesehen hatte, zuckte es nicht mehr vor Angst zurück. Während der vielen Jahre, die dieser Krieg nun schon andauerte, hatte es gelernt, wie weit es gehen konnte – und wo sich die Grenzen befanden.
„Ich übernehme keine Verantwortung für dich, kleines Mädchen. Und du musst durchhalten.“
„Wann tue ich das nicht?“, erwiderte das Mädchen barsch.
„Pass auf, was du sagst. Ich bin noch immer deine Königin.“
„Und deshalb brauchst du mich. Keine Kriegskönigin kann ohne ihren Knappen sein.“
„Knappe? Wann hast du zum letzten Mal mein Pferd gewaschen?“
„Als ich keinen anderen gefunden habe, der das für mich tat.“
Die Königin grinste; die Narbe, die sie vor vier Jahren in einer Schlacht erhalten hatte, erstreckte sich über ihr ganzes Gesicht. Sie verlief von der Schläfe über die Stirn, die Nasenwurzel, die Wange und endete schließlich am Hals. Die Klinge hatte keine wichtigen Blutgefäße getroffen, und die Wunde war gut verheilt, nachdem sie mit einigen Stichen genäht worden war. Aber die Narbe war geblieben, und die Königin hatte nichts dagegen unternommen. Für den Feind sah es nun umso mehr danach aus, dass die Gerüchte stimmten, sie sei eine Untote, denn wie konnte jemand einen solchen Schnitt überleben? Und was die Einstellung der Königin zu dieser Narbe anging – nun, sie schaute sowieso nicht oft in den Spiegel.
„Dann sollten wir uns davonmachen, Knappe, bevor sie herausfinden, dass wir verschwunden sind.“
Sie drangen tiefer in den Wald ein, der das Lager umgab, aber schon nach wenigen Minuten mussten sie stehen bleiben, als sie auf den menschlichen Körper einer jungen Drachin trafen, die bewusstlos vor ihnen lag. Ein Opfer von zu viel Alkohol.
„Was sollen wir mit ihr machen?“, fragte die Königin.
„Wir können sie nicht einfach hier liegen lassen. Außerdem wäre es gut, für alle Fälle einen Drachen an unserer Seite zu haben.“
„Gutes Argument.“ Sie hoben die Drachin auf, die sogleich alles erbrach, was sie getrunken hatte, und stützten sie, bis sie allein gehen konnte.
Nach einiger Zeit fragte die Drachin: „Wohin sind wir unterwegs?“
„Nach Westen“, antwortete die Königin.
„Unsere Feinde sind im Westen.“
„Aye.“
„Sie werden uns töten, wenn sie uns finden.“
„Aye.“
„Aber zuerst werden sie uns foltern.“
„Aye.“
„Ich vermute also, ihr habt einen Plan.“
„Nicht wirklich.“
Die Drachin stieß einen Seufzer aus. „Ich habe irgendwie gewusst, dass ich es bedauern würde, mit dem Achtzehnten Bataillon zu trinken – aber ich habe nicht geahnt wie sehr.“
„Mach dir keine Sorgen. Entweder gelingt es uns, diesen Krieg zu beenden, oder wir werden zu Märtyrern.“
„Ich bin eine Drachin, Mylady. Drachen werden nicht zu Märtyrern. Wir machen bloß andere dazu.“
„Nun, in diesem Fall …“, Annwyl, die Verrückte Königin der Insel Garbhán, klopfte der Drachin auf den Rücken, während sie weiter in Richtung Westen gingen, „… hast du jetzt wenigstens ein Lebensziel.“
1 Sie sah, wie sie sich zwischen den Bäumen bewegten. Sie waren fast unsichtbar, aber nicht ganz. Nicht für ihre Augen.
Für diese feindlichen Drachen, die Eisendrachen, war es zu einer Gewohnheit geworden, mindestens einmal wöchentlich den Versuch zu unternehmen, sich in das Lager zu stehlen. Sie konnte es ihnen nicht verübeln. Nach fünf Jahren Kriegsstillstand in diesem Tal namens Euphrasia hatten beide Seiten die Lust verloren. Wann würden die andauernden, aber wirkungslosen Scharmützel und die gelegentlichen Versuche enden, den Wasservorrat des Gegners zu vergiften? Wann würde dieser Krieg endlich zu einem Ereignis, über das man in der Vergangenheitsform sprach?
Rhona die Furchtlose hatte keine Ahnung. Sie war bloß eine Soldatin in der Armee Ihrer Majestät. Sie erhielt ihre Befehle von den Kommandanten und sorgte dafür, dass diese Befehle ausgeführt wurden. Sie tötete, wann immer es nötig war, und beschützte all jene, die es nötig hatten. Allerdings spielte sie niemals die Politikerin. Sie war nur an den Entscheidungen beteiligt, bei denen es um die allgemeine Sicherheit ihrer Truppe ging. Als Sergeant musste sie nicht für noch mehr verantwortlich sein, und in dem, was sie tat, war sie sehr gut.
Schließlich war sie ein Mitglied des Cadwaladr-Clans. Er bestand aus Kriegerdrachen von niederer Geburt aus den Südländern, von denen viele behaupteten, sie seien zum Töten und Vernichten geboren. Rhonas Mutter, Bradana die Verstümmlerin, sagte immer, dass das stimmte, und zum Beweis dieser Tatsache erwartete sie, dass all ihre Nachkommen Elite-Drachenkrieger in der Armee Ihrer Majestät wurden. Fast alle Kinder Bradanas hatten gehorcht – außer ihren jüngsten Drillingstöchtern, die noch einige Jahre der Ausbildung im Kriegshandwerk vor sich hatten, sowie Bradanas Älteste. Rhona.
Ah, es ging doch nichts darüber, in der Enttäuschung der eigenen Mutter zu schwelgen, wenn man sich während der Wacht in den Wintermonaten hier im Tal warm halten wollte. Aber das waren große, etwas bittere Gedanken, die sie sich für einen späteren Tag aufsparen wollte. Jetzt musste sie sich um etwas Dringenderes kümmern – um die Eisendrachen.
Sie war mit den Geschichten über diese Eisendrachen aufgewachsen. Es waren stahlfarbene Feuerspucker mit weißen Hörnern, die sich bis zu den Mündern herabbogen. Sie glaubten, dass sie dazu auserkoren waren, alle anderen unter dem Banner des wahren und einzigen Gottes zu beherrschen, den sie verehrten: Chramnesind der Blinde. Ihrer Meinung nach sollte die ganze Welt zu ihrem Reich gehören, und alle – Drachen, Menschen sowie andere Wesen – sollten ihre willfährigen Sklaven sein, die sich vor dem Oberherrn Thracius beugten und ausschließlich Chramnesind opferten. Das war eine Weltanschauung, die Rhona und ihren Genossen nicht sonderlich gefiel. Sie ertrugen es schon kaum, Älteste und eine Königin zu haben, von einem Oberherrn ganz zu schweigen. Deshalb hatten sich die Armeen der südländischen Drachenkönigin und die Nordländerhorden, die früher einmal erbitterte Feinde gewesen waren, zusammengeschlossen, um sich Thracius und seinen Soldaten entgegenzustellen. Es gab nur einen Umstand, den keiner von ihnen bedacht hatte: Die Eisendrachen besaßen eine gewaltige Armee. Sie bestand aus mehr Drachensoldaten, als Rhona je zuvor gesehen hatte. Und noch immer trafen frische Truppen ein. Besaßen sie etwa eine Drachenfabrik, die ausgewachsene, zur Schlacht bereite Soldaten ausspuckte? Rhona glaubte das allmählich. Während die Südländer und die Nordländer das Kampfgeschick auf ihrer Seite hatten, waren die verdammten Eisendrachen in der Überzahl und griffen sehr diszipliniert an.
Zum Glück aber waren diejenigen, die sich gerade einzuschleichen versuchten, nicht sonderlich zahlreich. Es handelte sich um etwa zehn feindliche Drachen, mit denen es Rhona und ihre Drillingsschwestern aufnehmen mussten. Die Drillinge hatten sich in die Sicherheit der nahegelegenen Hesiod-Berge begeben wollen, in denen die Südländer- und Nordländer-Drachen eine Festung errichtet hatten, als Rhona die Eisendrachen bemerkt hatte. Nun standen sie und die Drillinge im Schutz der Bäume, und alle vier waren mit dem Wald verschmolzen, so wie ihre Mutter es Rhona beigebracht hatte, als sie noch zu jung zum Fliegen gewesen war. Diese Fähigkeit hatte sie an die Drillinge weitergegeben.
Als die Eisendrachen näher kamen, hob Rhona die Hand und machte sich bereit, das Signal zu geben. Ihre Schwestern packten Waffen und Schilde fester, und auf ihren Gesichtern lag ein identisches Lächeln, während sie eifrig ihren nächsten Befehl erwarteten. Rhona stand kurz davor, ihn zu geben, und wollte den Arm schon in einem Bogen senken, als plötzlich etwas Großes und nicht einmal ansatzweise Anmutiges durch die Bäume brach. Offenbar hatte auch eine kleine Gruppe Blitzdrachen die Eisendrachen bemerkt, denn nun stürmten drei der Bastarde mit ihren purpurfarbenen Haaren und Schuppen aus der entgegengesetzten Richtung herbei und trieben die feindlichen Drachen geradewegs auf Rhona und ihre Schwestern zu.
Rhona wartete einen weiteren Herzschlag, dann gab sie den Befehl. Ihre Schwestern bewegten sich rasch und leise. Im Gegensatz zu den Blitzdrachen waren sie höchst geschmeidig. Sie stapften nicht umher und brachen auch nicht durchs Gehölz wie ihre Cadwaladr-Vettern. Rhona hatte ihren Schwestern beigebracht, sich mit großer, abgemessener Genauigkeit zu bewegen, seit sie sich ihren Weg aus den Eiern freigekämpft hatten. Und so schlichen sie nun auf das Kontingent der feindlichen Soldaten zu.
Wie immer schlug Edana als Erste zu. Ihr Breitschwert fuhr in das Maul des ersten Drachen, der auf sie zustürmte. Sie hieb durch Nase und Knochen mitten ins Hirn, drehte ihre Klinge einmal und zog sie wieder heraus. Nesta wirbelte um Edana herum und hämmerte mit ihrer Keule gegen die Gesichtsplatte des nächsten Eisendrachen. Danach trieb sie ihm die Spitze ihres Schwanzes in den Schädel, während sie gleichzeitig den Brustpanzer eines anderen zerbrach und ihn mit ihrer Keule fertigmachte. Breena hingegen liebte es, aus unmittelbarer Nähe zu töten. Obwohl sie Schwert, Axt und Keule besaß, benutzte sie ihren langen, gebogenen Dolch, um ihr Opfer zu erlegen, nachdem sie es zu Boden geworfen hatte. Von den drei Schwestern erinnerte Breena Rhona am meisten an ihre Mutter.
Während die Drillinge ihr Bestes gaben, stürmten die Blitzdrachen vorwärts – weil sie helfen wollten. Weil sie schwachen Frauen beistehen wollten.
Auch nach fünf verdammten Jahren schienen die Nordländer noch immer zu glauben, Frauen auf dem Schlachtfeld seien ein zu großes Risiko. Ein Risiko für die Frauen natürlich. Für die armen, armseligen Frauen. Doch nach etlichen Tavernenschlägereien mit einigen von Rhonas Cousinen und Schwestern waren die Blitzdrachen inzwischen klug genug, ihre Meinung für sich zu behalten – außer in Situationen wie dieser, wenn sie glaubten, die Frauen befänden sich in „ernster Gefahr“.
Rhona hingegen eilte niemandem zu Hilfe. Sie wusste, dass ihre Schwestern allein zurechtkamen. Also wartete sie ab. Erwartungsgemäß huschten drei Eisendrachen lautlos zwischen die Bäume auf der gegenüberliegenden Seite des Tumults, während der Rest kämpfte. Das waren Elitekrieger. Sie waren viel besser ausgebildet als die Fußsoldaten. Sie waren klüger, schneller und gut darin, aus dem Hinterhalt anzugreifen.
Aber es war allzu dumm, dass sie ihr Manöver in der Nähe einer Cadwaladr machten. Diese Elitesoldaten mochten zwar klug, schnell und lautlos sein, aber sie waren nicht von einer Mutter aufgezogen worden, die Rhona das Fliegen beigebracht hatte, indem sie sich auf dem Gipfel des höchsten Berges von hinten an ihre Tochter herangepirscht, sie bei den Flügeln gepackt und in die Luft geworfen hatte, während sie rief: „Was immer du tust, Liebling, schau nicht nach unten!“
Nein. Man musste sich schon viel geschickter anstellen, wenn man sich an jemanden aus dem Cadwaladr-Clan heranschleichen wollte.
Rhona packte ihren Lieblingsspeer und folgte den drei Elitesoldaten, bis sie nur noch wenige Fuß von ihnen entfernt war. Nun erlaubte sie ihrem Schwanz, ein klein wenig hinter ihr herzuschleifen. Die drei männlichen Drachen blieben stehen, genau wie Rhona. Sie wusste, dass sie so etwas eigentlich nicht genießen durfte. Als Soldatin der Armee Ihrer Majestät sollte sie einfach nur ihre Arbeit tun und dann zu ihren Schwestern zurückkehren. Doch sie hatte in der letzten Zeit so wenig Spaß gehabt.
Der Drache, der ihr am nächsten stand, wirbelte herum, und Rhona stach ihm den Speer ins Auge. Während er aufschrie, zog sie ihre Waffe wieder heraus und benutzte sie, um das Schwert abzuwehren, das auf ihren Hals gezielt hatte. Sie schleuderte es zu Boden und rammte ihren Kopf gegen denjenigen, der es geführt hatte. Sie duckte sich, als ein weiteres Schwert auf ihren Kopf zuschwang, und drosch dann mit ihrem Schwanz auf den Kopf des Angreifers ein. Während er forttaumelte und sich das Blut aus den Augen zu wischen versuchte, wurde Rhona von einem der anderen Drachen nach hinten gestoßen. Sie fiel zu Boden, rollte sich aber schnell wieder auf die Klauen, hob ihren Speer und war bereit zum Zustoßen.
Der Eisendrache stürmte heran und schwang seine Klinge in einem Bogen. Rhona beugte sich zurück, und das Schwert fuhr über den Brustpanzer ihrer Rüstung, doch es ritzte kaum das Metall. Allerdings hatte der Eisendrache in seiner Hast zu viel Schwung genommen und taumelte nun weiter vorwärts. Rhona half ihm, indem sie ihm ihren Schwanz um die Klaue wickelte, die das Schwert hielt, und ihn zu Boden riss.
Sie verschwendete keine Zeit damit, etwas Phantasievolles mit ihm anzustellen, als er auf der Erde lag. Stattdessen rammte sie ihm ihren Speer in den Hals. Danach wich sie rasch zurück. Das war auch gut so. Derjenige, dem sie das Gesicht mit ihrem Schwanz aufgerissen hatte, hatte inzwischen begriffen, dass er nicht allzu schwer verletzt worden war, und griff sie nun an. Sie wehrte seine Schwertklinge mit ihrem Speer ab, bewegte sich nach hinten, hatte aber keine Zeit, elegant über die Körper der beiden anderen am Boden Liegenden hinwegzutänzeln. Sie stolperte und fiel hin. Der Eisendrache ergriff sofort die Gelegenheit und wollte sie abstechen. Rhona bohrte ihren Schwanz in den Boden, fing damit den eigenen Fall ab, drückte sich nach vorn und war wieder auf den Klauen. Sie hob den Speer und war bereit zuzustoßen.
Doch dann stürzte sie erneut. Eine große purpurfarbene Klaue stieß gegen ihre Brust und drängte sie zurück.
Rhona prallte hart auf den Boden, und die Atemluft wurde aus ihr herausgetrieben. Aber sie erlaubte sich nicht, einfach sitzen zu bleiben. Sie zwang sich wieder auf. Noch immer hielt sie ihren Speer gepackt. Sie beobachtete, wie der Eisendrache auf sie zukam, hob den Speer und wartete auf den richtigen Augenblick, um zuzustoßen. Dann sah sie den gewaltigen Kriegshammer von oben herabkommen. Der Eiserne sah ihn ebenfalls. Er packte Rhonas Speer und zog sie zu sich heran. Der Hammer war so schwer, dass nichts ihn mehr aufhalten konnte, und Rhona beugte sich rasch nach hinten. Aber es gelang ihr nicht mehr, ihren Speer ebenfalls wegzuziehen, und zu ihrem großen Entsetzen prallte dieser gewaltige, grobe Klumpen aus Nordländer-Stahl gegen ihre Lieblingswaffe und zerbrach den Schaft in zwei Teile.
Rhona taumelte rückwärts und hielt einen Teil des hölzernen Schaftes noch in der Klaue. Der Eisendrache fiel zu Boden, und der Blitzdrache wandte sich ihm zu, hob seinen Kriegshammer und schmetterte ihn in den Kopf des Feindes. Der Schrei um Gnade, den der Eiserne ausstieß, verstummte jäh, und der Nordländer drehte sich langsam zu Rhona um. Dunkelgraue Augen blickten auf das, was von ihrer Waffe übrig war, und dann sagte er mit vollkommenem Ernst: „Das ist der Grund, warum Frauen nicht hier draußen sein und kämpfen sollten. Das hätte genauso gut dein Kopf sein können.“
Vigholf der Bösartige rammte den Kopf seines Kriegshammers in den Boden und stützte sich auf dem Griff ab.
Das arme Ding. Sie schien über den Schaden an ihrem süßen kleinen Speer vollkommen erschüttert zu sein. Gute Götter, ein Speer? Seit der Frühzeit seiner Ausbildung, die er mit sechs Wintern begonnen hatte, hatte er keine solche Waffe mehr benutzt. Sein Vater, ein Bastard von einem Nordländer, war nicht der Meinung gewesen, dass seine Söhne noch ein wenig warten sollten. Er fand, sie sollten in der Lage sein, mit ihren eigenen Klauen und auch mit Waffen zu töten, noch bevor sie fliegen konnten. Olgeir der Verschwender hatte stets gesagt: „Vielleicht muss ich ja einen von euch kleinen Bastarden in die Kampfgrube werfen, um ein wenig Geld zu machen.“ Aber Vigholf war dem Speer im Alter von zehn Wintern entwachsen und hatte sich danach erst der Keule, später dem Schwert und schließlich seiner Lieblingswaffe, dem Kriegshammer, gewidmet. Er besaß zwei Hämmer. Den einen benutzte er, wenn er seine natürliche Gestalt sowie die eines Menschen angenommen hatte, denn das Ding konnte durch einen heftigen Schlag gegen den Schaft ausgefahren werden. Der andere Hammer, den er nur als Drache einsetzte, hatte einen großen und schweren Kopf, der sogar einen Drachenschädel mit einem einzigen Schlag einschlagen konnte. Wenn Vigholf ein bisschen in Eile war, schwang er manchmal seinen Hammer von der einen Seite zur anderen, bis alle Soldaten entweder tot oder so zerschmettert waren, dass der Rest seiner Truppen sie fertigmachen konnte.
Aber ein Speer? Er war die Angriffswaffe der Legionen; nur eine Frau konnte ihn zu einem anderen Zweck einsetzen.
Da sie noch immer auf dem Boden saß und ihn anstarrte, offensichtlich verwirrt darüber, dass sie beinahe getötet worden wäre, streckte Vigholf ihr die Klaue entgegen. „Komm, Rhona, wir bringen dich in Sicherheit.“
Sie ergriff die Klaue, und er half ihr beim Aufstehen. Aber auf halbem Weg hielt sie inne und flüsterte etwas, wobei sie den Blick ihrer hübschen braunen Augen senkte. Vigholf beugte sich zu ihr hinab, weil er glaubte, sie sei während des Scharmützels verletzt worden – und genau in diesem Augenblick versetzte ihm diese hinterhältige kleine Schlampe einen Kopfstoß!
Verdammte Cadwaladrs! Keinem – absolut keinem – von ihnen konnte man trauen!
Vigholf ließ sie los und hob die Klauen an seine Stirn.
„Was sollte das denn?“
Jetzt stand sie und drückte ihm den abgebrochenen Schaft ihres Speeres gegen die Kehle. „Wenn du dich noch einmal zwischen mich und mein Opfer drängst, du anmaßender Ochse, dann reiße ich dir die Augen raus!“
„Ich wollte doch nur helfen, du unerträgliche Dämonin!“, fuhr er sie an und bekämpfte sein Verlangen, sie wieder zu Boden zu stoßen.
„Keiner hat dich gerufen! Du sollst keinem helfen! Du sollst keinem beistehen! Du sollst einfach nur nichts tun!“
Sie griff hinter sich und packte den anderen Teil des Speeres. „Mein Vater hat ihn mir geschenkt“, sagte sie zu ihm und streckte ihm die beiden Teile entgegen. „Mein Vater! “
„Oh, Rhona.“ Eine weitere Cadwaladr-Frau, einer der hübschen Drillinge, kam herbei. „Dein Speer. Was ist passiert?“
„Dieser Idiot …“
„Ich wollte bloß helfen“, warf er ein.
„Halt den Mund!“ Rhona räusperte sich und schaute starr zu Boden. Vigholf wusste, warum. Sie wollte sich unter Kontrolle bringen. Schließlich war sie Rhona die Furchtlose. Die perfekte Soldatin. Zumindest glaubte sie das. Ihr Frauenverstand sagte ihr, dass Soldaten niemals die Kontrolle über sich verloren, dass sie nicht wütend wurden und nicht herumbrüllten, es sei denn, sie gaben einen Befehl weiter. All das stimmte – aber nur in der Schlacht. Rhona war jedoch immer so.
Ehrlich gesagt genoss er es, dass er Zeuge werden durfte, wie sie endlich einmal die Kontrolle verlor. Wenn auch nur ein kleines bisschen.
Da er sie gern noch ein wenig länger wütend sehen wollte, fügte Vigholf hilfsbereit hinzu: „Ich habe da noch einen anderen hinreißenden Miniatur-Speer, der wie für dich geschaffen ist.“
Sie sah ihn mit ihren braunen Augen an. „Du kannst deinen Speer nehmen und ihn dir in den …“
„Rhona!“, riefen alle drei Schwestern. Sie hatten ihre grünen Augen weit aufgerissen und versuchten krampfhaft, nicht laut zu lachen.
Knurrend stapfte Rhona die Furchtlose davon, während schwarzer Rauch aus ihren Nasenlöchern stieg.
„Bringt diese Leichen zu den Kommandanten“, befahl sie über die Schulter hinweg.
„Du bist entzückend, wenn du wütend bist“, sagte er zu ihr.
„Halt den Mund!“
„Sie wird dich im Schlaf töten“, warnte eine ihrer Schwestern – war es Edana? –, sobald sich Rhona außer Hörweite befand. „Vater hat diesen Speer selbst gemacht.“
„Wir sind uns ziemlich sicher, dass sie ihn sogar mit ins Bett genommen hat“, sagte eine andere der Schwestern.
„Und dann kamst du und hast ihn zerbrochen. Du hast dich zwischen sie und ihr Opfer gestellt und sie verspottet“, bemerkte die dritte. „Das ist, als ob du um einen frühen Tod betteln würdest.“
„Ich wollte wirklich nur helfen. Ihr solltet nicht hier …“
„Wenn du sagen willst, dass wir Frauen nicht hier draußen sein sollten, dann …“
„… hacken wir dir die Beine ab, während du schläfst …“
„… und werfen sie den Waldtieren zum Abendessen vor.“
Eine von ihnen – Nesta? Götter, wer wusste das schon – tippte ihm an die Brust. „Wir mögen dich, Lord Bösartig. Bring uns nicht dazu, das bedauern zu müssen.“
Da Vigholf schon seit fünf Jahren neugierig auf die Antwort war, fragte er: „Rhona mag mich auch, oder?“
„Gute Götter, nein!“, sagte eine lachend und zog zwei Leichname an ihren Hinterklauen davon.
„Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich mich von ihr fernhalten, bis sie über den Verlust ihres Speeres hinweggekommen ist“, sagte eine andere. Vigholf konnte die drei Drachinnen einfach nicht auseinanderhalten. „Ansonsten könnte sie dir deine schönen grauen Augen ausstechen.“
„Ich bin ein Nordländer“, rief er ihr in Erinnerung. „Ich habe keine schönen Augen.“
Die Drillinge lachten.
„Aber wenigstens hast du sie noch, Blitzdrache. Das wird nicht mehr lange so sein, wenn du dich noch einmal zwischen unser Schwesterlein und ihren Schlachtenruhm stellst.“
Vigholf grinste und sah zu, wie die drei Drachenfrauen die sechs Leichen fortschleiften.
„Du solltest ihr einen neuen Speer beschaffen“, murmelte eine tiefe Stimme hinter ihm.
Vigholf warf einen Blick über die Schulter und erkannte seinen Vetter Meinhard. „Warum?“
„Weil ich keine Lust habe, dich an der Hand in die Schlacht zu führen, weil du dein Augenlicht verloren hast.“
„Sie wird mir nichts antun. Dafür ist sie viel zu nett.“
Meinhard betrachtete die Leichen, die auf Rhonas Rechnung gingen. „Ich glaube, Vetter, dass sie dir die Kehle durchschneiden und dann mit ihrer Sippe ein Bier trinken würde, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden.“
„Die Babysitterin?“ Das war sein Spitzname für Rhona die Furchtlose, die es sich zur Aufgabe gemacht zu haben schien, auf jeden aufzupassen, der jünger als hundertfünfzig war.
„Die Babysitterin ist sie nur für diejenigen, die ihr etwas bedeuten.“ Meinhard packte mehrere Leichen gleichzeitig an den Schwänzen. „Für die anderen ist sie eine kaltblütige Soldatin. Die Götter wissen genau, dass du ihr nichts bedeutest, Vigholf.“
„Falsch. Im Augenblick hasst sie mich. Wenn man gehasst wird, bedeutet man für den anderen etwas, und mit einigem Geschick kann man diesen Hass in Liebe und schließlich auch in Anbetung verwandeln.“
Meinhard schüttelte den Kopf und ging davon. „Meine Mum hatte recht. Du bist dumm wie Bohnenstroh.“
„Deine Mum hat mich auch geliebt.“
„Nur weil du ihr leidgetan hast.“
„Siehst du?“, lachte Vigholf. „Mit einigem Geschick kommt danach Liebe und schließlich Anbetung.“
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