Drei Tage im Feuer (Schicksalsmomente der Geschichte 7) Drei Tage im Feuer (Schicksalsmomente der Geschichte 7) - eBook-Ausgabe
Roman
— Historischer Roman über die Zerstörung der Frauenkirche in Dresden 1945 | Jahrestag der Zerstörung im Februar 2025Drei Tage im Feuer (Schicksalsmomente der Geschichte 7) — Inhalt
Mit dem Bombenregen über Dresden verändert sich die Welt für immer
An einem kalten Februartag 1945 verloben sich Marta und Hermann auf der Aussichtsplattform der Dresdner Frauenkirche. Doch der so wundervolle Tag wendet sich zu einer furchtbaren Nacht, denn überraschend fallen Bomben auf Dresden. Das darauffolgende furchtbare Inferno reißt das Liebespaar auseinander. Drei Tage kämpft sich Marta durch die brennende Stadt und ist entsetzt: Das Dresden, das sie kannte und liebte, ist mitsamt der Frauenkirche zerstört. Vor ihr liegen nur noch Trümmer, und Marta weiß nicht, ob sie ihren Verlobten je wiedersehen wird. Ist er in Sicherheit?
80. Jahrestag am 13. Februar 2025
Leseprobe zu „Drei Tage im Feuer (Schicksalsmomente der Geschichte 7)“
Prolog
Dresden, 11. Februar 1945
Das leise Ticken erfüllte die staubig kalte Luft in der kleinen Uhrmacherwerkstatt Ignis, die im Schatten der Frauenkirche in der Münzgasse lag. Den hypnotischen Takt der Pendel seiner Wanduhren, die den Raum so zahlreich umsäumten, dass sie kaum eine Sicht auf die Tapete zuließen, nahm der Uhrmachermeister seit vielen Jahren nicht mehr bewusst wahr. Doch wie eh und je ließen ihn die metallenen Herzschläge seine Arbeit mit größter Präzision erledigen. Deswegen betrieb Meister Ignis den Ofen, der nur nachts zum Aufheizen [...]
Prolog
Dresden, 11. Februar 1945
Das leise Ticken erfüllte die staubig kalte Luft in der kleinen Uhrmacherwerkstatt Ignis, die im Schatten der Frauenkirche in der Münzgasse lag. Den hypnotischen Takt der Pendel seiner Wanduhren, die den Raum so zahlreich umsäumten, dass sie kaum eine Sicht auf die Tapete zuließen, nahm der Uhrmachermeister seit vielen Jahren nicht mehr bewusst wahr. Doch wie eh und je ließen ihn die metallenen Herzschläge seine Arbeit mit größter Präzision erledigen. Deswegen betrieb Meister Ignis den Ofen, der nur nachts zum Aufheizen brannte, bei Arbeitsbeginn nicht. Es war das Knistern des Feuers, das seine Konzentration störte, ihm Angst einflößte inmitten der vertrauten Synchronizität seiner Zeitmesser. Er liebte die Zeit, doch hasste das Feuer. Zur Folge hatte diese in den letzten Tagen immer stärker gewordene Aversion, dass er in diesem kalten Februar nur wenige Stunden am Vormittag werkeln konnte. Doch er hatte ohnehin nicht mehr viele Kunden. Die Menschen schienen die Zeit zu vergessen, nur noch auf das Ende zu warten. Der rundliche Handwerker hatte eine dicke Wollweste über sein langärmliges blaues Flanellhemd gezogen, Strickmütze und Schal anbehalten. Heute galt seine volle Aufmerksamkeit den feinen Zahnrädern von Marta Rielkes goldener Armbanduhr, die er sacht in seinen vom Alter gezeichneten Händen hielt. Durch die Lupe, die er mit der Kraft seines Gesichtsmuskels in der linken Augenhöhle fixierte, betrachtete er das filigrane Innenleben der Uhr.
Als er den ersten Schlag der zur Mittagsstunde einsetzenden Kirchturmuhr vernahm, fiel Meister Ignis vor Schreck beinahe der Schraubenkürzer aus der Hand. „Verflixtes Geschepper!“ Der Ausruf des Unmutes entfuhr dem weißbärtigen Mann mindestens einmal täglich, wenn ihn die Glocke kalt erwischte und nicht nur seine Fensterscheiben zum Erzittern brachte. Meistens passierte ihm das Ungeschick um die Mittagszeit, wenn seine Konzentration merklich nachließ. Er räusperte sich und wollte sich gerade wieder den kleinen Zeigern widmen, als er am Rande seines Sichtfeldes einen menschlichen Schatten über der mit Räderwerken, Armbändern und Gläsern vollgestellten Werkbank erkannte.
„Nanu. Ausgerechnet die Kirchturmuhr ein Feind des Uhrmachers?“
Meister Ignis entspannte seine Augenmuskeln, sodass die Lupe, die er an einem Gummiband an seiner obersten Kitteltasche befestigt hatte, herunterfiel. Als er aufblickte, erkannte er die rothaarige Frau in grünem Wollmantel als die Kundin wieder, deren Uhr er in den Händen hielt. „Frau Rielke“, sagte er und hüstelte. „Ich habe Sie gar nicht gehört. Warum haben Sie denn nichts gesagt?“
„Wollte ich gerade“, antwortete die Auftraggeberin mit lieblicher Stimme. „Da habe ich gemerkt, wie sehr Sie in meinen kleinen Schatz vertieft sind.“
Tatsächlich hatte Marta alles darangesetzt, den Uhrmacher nicht zu stören, nachdem sie unbemerkt durch das angrenzende Ladengeschäft gegangen war und ihn in der Werkstatt vorgefunden hatte. „Ich fand das so faszinierend, was Sie da machen, dass ich es mir einfach angucken musste. Sie scheint ja nichts aus der Ruhe zu bringen, außer …“
„Ja, außer die verflixten Glocken“, sagte Ignis und legte Uhr und Schraubenzieher auf seiner Arbeitsplatte ab. Sein Blick fiel durch das seitlich dahinterliegende Fenster empor zum Turm der Frauenkirche, deren barocke Schönheit ihn jedes Mal sofort für allen Ärger entschädigte. Er seufzte. „Als Maria noch da war, ist mir das nie passiert. Kein einziges Mal.“
„Oh“, antwortete Marta. „Ich wusste nicht … Das tut mir sehr leid mit Ihrer Frau.“
„Meine Frau?“ Meister Ignis zog die dünnen grauen Brauen zusammen. „Was ist mit der denn jetzt?“
„Habe ich das falsch verstanden?“ Marta zupfte nervös an den Ohrklappen ihrer Strickmütze. „Ich dachte, Maria wäre …“
Der Uhrmacher lächelte. „Ach so, nein, nein, Fräulein Rielke. Die Maria, das ist kein Mensch. Das können Sie aber auch gar nicht wissen, sind Sie doch gerade erst aus … Was sagten Sie noch, mit welchem Flüchtlingstreck sind Sie gekommen?“
„Ich komme aus Danzig“, antwortete Marta mit einer merkwürdigen Mischung aus Stolz und Schwermut in ihrer Brust. „Daher stammt auch die Uhr meiner lieben, mir schmerzlich vermissten Mutter, die ich Ihnen gegeben habe. Sie ist mir heilig, aber ich möchte sie jemandem geben, der sie dringender brauchen wird.“ Martas Blick wanderte auf ihre schöne Uhr mit den eingravierten Initialen, so als müsse sie sich jetzt von beiden verabschieden. Schnell lenkte sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Meister Ignis. „Aber sagen Sie doch: Wenn Maria kein Mensch ist, was könnte sie dann sein?“
„Maria, so hieß die letzte unserer schönen alten Glocken. Können Sie sich das vorstellen? Gegossen 1518 von Martin Hilliger.“ Ignis schaute Marta empört an, doch die zuckte nur mit den Schultern.
„Sagt mir auch nichts.“
„Hilliger aus der unübertroffenen sächsischen Glocken- und Kannengießerdynastie“, stieß er aus und machte eine Pause, als erwarte er einen Ausdruck der Erkenntnis im Gesicht seiner attraktiven Kundin. Als dieser ausblieb, fuhr er mit seinem Vortrag fort: „Nun, es ist nicht so wichtig. Maria musste vor zwanzig Jahren – ich war gerade in der Blüte meiner Meisterzeit – gehen. Und wissen Sie, warum?“ Dieses Mal wartete er keine Reaktion ab. „Weil 1925 die drei Originalglocken, die für die Front hatten eingeschmolzen werden müssen, durch drei billige Bronzebimmeln ersetzt worden sind. Eine davon haben Sie gerade gehört.“ Erneut schaute der Uhrmacher aus dem Fenster, um sich beim Anblick der Kirche zu beruhigen.
„Und Maria?“
„Wie? Ach so, ja.“ Er drehte sich wieder zu Marta, die, der Schusseligkeit des betagten sympathischen Handwerkers in Wollmütze geschuldet, schon seit Minuten ein Kichern unterdrücken musste.
„Es gab Beschwerden unter den Dresdnern, dass Marias wundervoller Klang nicht mehr harmoniere mit den neuen Glocken“, sprach Ignis weiter. „Und da hat sich unser leichtfertiger Pfarrer unter Druck setzen lassen. Und weg war sie, über Nacht. Das hat unsere Frauenkirche nicht verdient. Damals ist mir das erste Mal meine Lupe runtergefallen. Mittlerweile habe ich sie mit einem Band gesichert. Ich bin recht schreckhaft geworden.“
„Das ist ja wirklich jammerschade.“ Jetzt konnte Marta nicht mehr an sich halten und lachte laut. Meister Ignis aber ignorierte ihren Gefühlsausbruch, klemmte sich die Lupe wieder ans Auge und zog konzentriert eine Schraube im Uhrgehäuse fest.
„Es tut mir leid“, sagte Marta, als sie erkannte, dass sie den Mann verletzt haben könnte. „Ich kann mich einfach kaum hineinversetzen in so ein Glockendilemma. Aber ich bin mir sicher, eines besseren Tages findet Ihre Maria zurück zu diesem wunderschönen Ort.“
„Na, das glaube ich nicht“, sagte der Uhrmacher, ohne von dem hauchzarten ovalen Ziffernblatt aufzuschauen, das er gerade einsetzte. „Eher kann ich mir vorstellen, dass unser wahnsinnig gewordener Führer sie als Panzer an die Front geschickt hat.“
Dann spielt sie den Russen … Nein, Marta bremste sich. Sie wollte und durfte jetzt nicht darüber fabulieren, dass Maria den Feinden sicher ein schönes Ständchen darbietet, wenn sie ihre Granaten auf sie abfeuern. Was war nur in sie gefahren? Albern wie ein liebestolles Backfischchen benahm sie sich. Aber verliebt, das war sie ja auch, bis über beide Ohren sogar. Und das kehrte die missliche Lage, in die sie der Krieg manövriert hatte, in fast schon absurder Weise um.
Meister Ignis schnaufte. „Ich hoffe, das alles ist kein böses Omen gewesen. Mein Vater, der damals auf seine alten Tage noch hin und wieder in sein Geschäft gekommen ist, hat mir damals schon prophezeit, dass der Glockentausch Unglück über die Stadt bringen wird.“
„Sie meinen, dass wir den Krieg verlieren?“ Marta dachte nach. „Wenn ich so überlege, dann ist das wohl nicht mehr abzuwenden. Ob ich je mein schönes Danzig wiedersehe?“ Sie schaute nach dem weisen Rat des Uhrmachers, der das Glas ihrer Uhr polierte. „Oder glauben Sie noch an den Endsieg?“
Jetzt lachte Meister Ignis laut und linste von der Uhr auf. „Wo denken Sie hin? Deutschlands Zeit ist abgelaufen. Ich hoffe lediglich noch, dass es jetzt ganz schnell geht, bevor sie Dresden auch erwischen.“
„So etwas glauben Sie?“
„Wieso denn nicht? Wenn ich an eines glaube, dann ist das die Vergänglichkeit der kostbaren Zeit. Und mit jeder Sekunde, die wir hier stehen, vergeht auch Deutschland unaufhörlich.“
„Man sagt, man sei ganz sicher, dass die Alliierten Dresden verschonen.“
„Das glaube ich erst, wenn die Russen in Berlin sind. Oder die Amerikaner. Dieser Churchill, dem traue ich nicht. Das ist genauso ein Verbrecher wie unser sogenannter Führer. Sehen Sie doch, was er mit Hamburg gemacht hat, mit Köln, mit den Hunderten von Städten, in denen es schließlich auch Kultur gibt, die man verschonen und bewahren hätte können. Die Menschen sind elendig im Feuer verbrannt.“
Marta geriet ins Grübeln. „Da haben Sie recht, Herr Ignis. Trotzdem, die Engländer wissen, dass hier in Dresden keine Gefahr lauert. Die Straßen sind doch voller Frauen und Kinder.“ Sie dachte an ihren Geliebten. „Und von den Soldaten sind nur die Verletzten hier. Es verteidigt doch keiner was.“
„Ihr Wort in Churchills Ohr“, sagte der Uhrmacher und reichte Marta die Uhr. „Passen Sie gut auf die Zeit auf, Fräulein Rielke. Und meiden Sie das Feuer.“
„Feuer? Ich verstehe nicht, was meinen Sie?“
Ignis gab keine Antwort, schielte nur mit einem plötzlich veränderten, ängstlich wirkenden Blick auf ihre Haare. Schnell streifte Marta einen ihrer Handschuhe ab, nahm die Uhr entgegen und ließ sie in ihrer Manteltasche verschwinden. „Was bin ich Ihnen schuldig?“
„Lassen Sie mal!“ Er winkte ab und wirkte wieder klar. „Ich weiß, dass Sie nichts haben.“
„Aber …“ Nun bereute Marta ihr albernes Gekicher mehr als zuvor. „Sie brauchen doch auch …“
„Ich brauche gar nichts“, raunte Meister Ignis. „Auch meine Tage sind gezählt. Das spüre ich.“ Er reichte ihr seine Hand über die Werkbank. Als Marta sie nahm und dabei in die wehmütig dreinblickenden Augen des Uhrmachers sah, durchzuckte sie ein seltsames Gefühl. Ihr wurde von einem Moment auf den anderen unglaublich heiß, und es war ihr, als wüsste sie für einen Augenblick nicht, wo sie sich befand, als hätte sie das Gespür für Raum und Zeit verloren. Es gelang ihr nicht, seinem durchdringenden Blick auszuweichen. Seine Augen schienen wie Flammen zu glühen. Gleichzeitig begannen die Zeiger all seiner Uhren an den Wänden lauter zu ticken. Dann immer schneller. Martas Herzschlag passte sich der heißen Raserei an. Im ersten panischen Moment schaffte sie es nicht, ihre Hand aus seinem Griff zu lösen. Ein stimmloser Schrei entfuhr ihrer Kehle, als der Uhrmacher schließlich losließ. In genau diesem Moment schlugen die Zeiger und Pendel um sie herum wieder gleichmäßig und ruhig, und Marta spürte auch die Kälte zurück in ihren Körper kriechen. Ihr Blick blieb auf Meister Ignis kleben, als der sich umdrehte, ohne ein weiteres Wort von der Werkbank trat und hinter einem aschgrauen Vorhang in einen Nebenraum verschwand.
Kapitel 1
Die Bomber Harris und Klaus Dresden,12. Februar 2000
Am Takt der Schuhsohlen erkannte Bianca, dass Klaus die stillgelegte Schwermaschinenfirma betreten hatte. Die anderen lungerten bereits auf den ausrangierten Sofas im ehemaligen Aufseherbüro herum, aber sie war noch eine Weile alleine in der verlassenen Halle 2 sitzen geblieben. Mit nur einem Stück Pappe als Unterlage hockte sie auf dem staubigen Boden, den Rücken an die kahle Betonwand neben dem Büro gelehnt. Während ihre Arme auf den zerschlissenen Maschen ihrer schwarzen Netzstrumpfhose ruhten, drehte Bianca sich aus den letzten Krümeln, die sie in ihrer zerknitterten Tabakpackung fand, eine Zigarette.
Die sonst so lebendige Stille der Fabrik wurde nur mehr durchbrochen vom leisen Geflüster ihrer Kumpels und Müslis Rotzgeräuschen. Niemand lachte heute oder erzählte dumme Witze. Selbst der Kassettenrekorder, der sonst die Halle mit rebellischem Punkrock erfüllte und damit den scheppernden Geist der einst hier ratternden Maschinen zu wecken schien, schwieg an diesem historischen Tag. So empfand es Bianca, als sie mit ihrem Sturmfeuerzeug die Zigarette entzündete und den Rauch tief einatmete. Dabei war ihr die Tragweite des Augenblicks deutlich bewusst. Den gesamten Abend über hatte sie gegrübelt, ebenso wie die anderen Angehörigen ihres Widerstandsnetzwerks Bomber Harris. Drei Monate zuvor hatte ihr Ex-Freund Müsli Klaus als neues Mitglied aufgenommen. Bomber Harris verstand sich als eine von zahlreichen miteinander verbundenen Gruppen, deren Ziel es war, die Verharmlosung der Luftangriffe auf Dresden ins öffentliche Bewusstsein zu rücken. Als gebürtige Dresdner kam den fünf Kernmitgliedern, zu denen auch Bianca zählte, eine besondere Rolle zu. Sie kannten nämlich viele der in der rechtsextremen Szene aktiven Neonazis persönlich aus Schulzeiten oder der Nachbarschaft und waren bestrebt, deren Namen und Adressen öffentlich zu machen. Ihre bisherigen Bemühungen – Demonstrationen, Flugblattaktionen, Hausbesetzungen – hatten jedoch kaum Erfolge erzielt. Angesichts der nahenden Gedenkfeiern der Bombardements auf Dresden hatten Müsli und sein Bruder Flakes entschieden, drastischere Maßnahmen zu ergreifen, etwas Großes zu zerstören, auch wenn es Nazi-Opfer fordern sollte, denn Menschenopfer waren das ja dann nicht – da waren sich alle weitestgehend einig. Und so waren sie schließlich auf Klaus gestoßen, obwohl die genauen Umstände seiner Herkunft zumindest Bianca verborgen blieben. Als sie einmal nachfragte, hatte ihr Müsli erklärt, dass selbst er nichts Genaues wisse, denn Klaus leite eine eigene Gruppe von Intellektuellen mit einflussreichen Kontakten und finanziellen Mitteln, die Aktionen wie die ihre fördern wollten. Über diesen Kreis müsse allerdings Stillschweigen bewahrt werden.
Für Bianca – mit ihren siebzehn Jahren die Jüngste der Gruppe und die Einzige ohne Vorstrafen – erschien das als ausreichende Begründung. Klaus war steinalt, Anfang bis Mitte vierzig, glaubte sie. Er hätte ihr Vater sein können, trug seine schütteren grauen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, rauchte Pfeife, hörte Bob Dylan und zierte seinen schwarzen Mantel mit Buttons von Protestmärschen, von denen Bianca noch nie gehört hatte. Doch dies war für sie nebensächlich, denn Klaus, von den anderen auch „der Alte“ genannt, vertrat mit Leidenschaft antifaschistische Werte, er war ein starker Anführer und hatte durch seine Kontakte zur Roten Armee Fraktion Zugang zu Sprengstoff. Den hatte er auch wie versprochen besorgt. Reichlich davon. Und darum ging es schließlich.
Entschlossenheit trieb Bianca an, ihren Teil zum Gelingen der Aktion beizutragen. Sie kannte die Gefahren eines erstarkenden Neonazismus aus eigener Erfahrung. Nervös spielte sie mit ihrem Nasenring, ein Tick, der einsetzte, wenn sie in tiefes Nachdenken über ihre Ziele versank, besonders aber, wenn sie an die Nacht im Sommer 1998 dachte, in der Ronny nach dem Sommerfest ihrer Gruppierung Neustadt Antinational verschwunden war. Sie war fünfzehn Jahre alt gewesen, als sie ihren großen Bruder am Bahndamm entdeckt hatte und er kurz darauf in ihren Armen verblutet war. Die Wut auf die Täter, die Skinheads, die ihn aus Hass auf die Gleise gestoßen hatten, nur weil er gegen Faschismus kämpfte, loderte seither in ihr. Sie hatte sich geschworen, seinen Kampf noch energischer fortzusetzen, koste es, was es wolle. Der Staat hatte die Mörder ihres Bruders geschützt, da war Bianca sich sicher. Ihre angeblichen Alibis waren getürkt. Daher war ihr Hass auf den Staat noch größer als auf die Täter selbst. Nach Ronnys Tod war Bianca politischer geworden, vor allem aber radikaler. Sie wusste, nach Ende des Zweiten Weltkriegs war es den Demokraten nicht gelungen, den Nationalsozialismus aus Deutschland zu verbannen. Sie war überzeugt, dass dafür drastische Maßnahmen notwendig gewesen wären. Ihrer Meinung nach hätte man die Nazis einfach in ebenjenen Konzentrationslagern vergasen müssen, wo sie das Gleiche mit den Juden gemacht hatten. Doch sie wusste inzwischen auch, dass solche Thesen auf wenig Akzeptanz bei den gemäßigten linken Gruppen stießen, zu denen Bomber Harris auch Anschluss suchte. Müsli hatte ihr deswegen geraten, moderatere Parolen zu verwenden. In ihrem Inneren dachte Bianca natürlich weiterhin ganz anders. Aber nun sollte der morgige Tag ja endlich den Beginn einer neuen Ära einleiten. Und außerdem auch für sie einen Wendepunkt in ihrem eigenen bisherigen Dasein auf dieser, wie sie fand, beschissenen kapitalistischen Welt, in einem abgrundtief kranken Deutschland, markieren. Die von ihnen zu erwartende, herbeigerufene Explosion der sich im Aufbau befindlichen Frauenkirche sollte endgültig das Bewusstsein der Welt für die Gefahren durch den wieder aufkeimenden Faschismus verändern. Besonders wenn das am Jahrestag der Erinnerung an die Luftangriffe von 1945 geschah, mit der ganzen symbolischen Strahlkraft Dresdens. Bei dem Gedanken, dass ihre Taten bald weltweit Schlagzeilen machen und später Einzug in die Geschichtsbücher halten würden, strich sich Bianca etwas verlegen ihren grünen Scheitel auf die linke Seite. Ja, sie war sich der historischen Dimension ihres Vorhabens voll bewusst. Und sie stand dazu und ganz dahinter, auch wenn ihre Mutter, die elendige Säuferin, die sie nie unterstützt hatte, nicht stolz auf sie sein würde. Dafür wäre es Ronny umso mehr gewesen, und das globale antifaschistische Kollektiv würde ihnen allen großen Respekt zollen.
Tief in sich spürte Bianca allerdings seit einigen Tagen Unbehagen bei dem Gedanken, dass aus irgendeinem blöden Zufall heraus Kinder in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. Doch dies durfte sie niemandem offenbaren, am wenigsten Klaus. Sie hatte sich nun mal zu Koste es, was es wolle bekannt. Ihre Sorgen waren wahrscheinlich sowieso albern. Denn warum sollten sich Kinder unter die Glatzen mischen, wenn sie ihren Fackelzug da beendeten, wo sie zuschlagen wollten?
Und wenn doch? Biancas Unterlippe begann zu zittern. Sie zupfte an ihrem Piercing, zog an ihrer Zigarette, bevor ihr Blick auf Klaus fiel, der mit einem breiten Grinsen im Gesicht durch die Halle auf sie zulief. Überall klafften noch Kabel und Rohre wie abgeschnittene, blutlose Adern aus dem Mauerwerk. Jede zweite Fensterscheibe lag in Scherben, und dass hier mal Maschinen gestanden hatten, davon zeugten nur noch die tiefen Abdrücke im brüchigen Fundament. Alles war bis auf die letzte Schraube abmontiert worden. „Wie immer haben die Deutschen nur Staub und Asche hinterlassen“, zischte sie bei diesem trostlosen Anblick.
„Na, Grünschnabel“, begrüßte Klaus sie. „Mit wem plapperst du denn da? Wieder mit dir selbst?“
„’türlich, nur laut gedacht.“ Bianca fuhr sich durch die Haare und schaute den Anführer mit ihren blauen Augen, deren Lider sie wie jeden Morgen mit dickem Kajalstift umrandet hatte, erwartungsvoll an.
„Dann mal rein da“, sagte Klaus und hielt ihr die Hand hin, an der sie sich hochziehen ließ. „Gibt noch einiges zu bequatschen, bevor wir die Bombe platzen lassen.“ Er lachte.
Bianca folgte dem Anführer in das stickige Wärterbüro. Klaus stieß die halb angelehnte schwere Eisentür mit dem Fuß auf und wedelte, wie jedes Mal, wenn er das Hauptquartier von Bomber Harris betrat, erst mal die Qualmschwaden beiseite. An der hinteren, mit Graffiti vollgesprühten Wand lehnten drei abgewetzte Matratzen mit fleckigen Bettlaken, auf denen sie alle schon mindestens zwanzig Räusche ausgeschlafen hatten. Rechts standen hinter den mit Flaschen und überfüllten Aschenbechern vollgestellten Beistelltischen ihre beiden zerbeulten Sofas. Auf einem saßen Müsli und Flakes zugedeckt mit einem Schlafsack, der das Brüderpaar wie ein Kokon umschloss. Darüber reichten sie sich einen in dem düsteren Raum orange funkelnden Joint hin und her. Das zahnlose Grinsen ihres Ex-Freundes, das ihr immer entgegenschlug, wenn sie das Hauptquartier betrat, kannte sie inzwischen besser als ihr eigenes Spiegelbild. Es ließ sie kalt, doch erkannte sie jedes Mal, dass dies ein eindeutiges Zeichen dafür war, dass er immer noch auf sie stand. Müslis Bruder war mit siebenundzwanzig Jahren nicht nur der Älteste der Gruppe, sondern auch der Intelligenteste. Soweit Bianca wusste, studierte Flakes im 21. Semester Maschinenbau, obwohl sie nie mitbekommen hatte, dass er sich mal zu einer Vorlesung aufgemacht hätte. Mit seinem hochstehenden blauen Irokesenschnitt konnte sie sich Flakes auch gar nicht so recht in einem Hörsaal vorstellen, obwohl sie selbst nie einen von innen gesehen hatte und auch nie sehen wollen würde.
Auf der anderen Couch lag breitbeinig Frettchen in ihrer weiten Cordhose und lackierte sich passend zu ihrer Haarfarbe die Nägel in Knallpink. Neben ihr hockte auf der Sofalehne Stinker, ein glatzköpfiger, oftmals aggressiver Skinhead-Punk. Von seinen buschigen Augenbrauen bis hinunter zu seinem Kinn zog sich eine lange, wulstige Narbe über seine linke Gesichtshälfte hinab, die von einer Auseinandersetzung mit entweder Nazis oder Polizisten herrührte. Keiner wusste das so genau, denn Stinker, der stets ein kariertes Kragenhemd und Hosenträger trug, erzählte die Geschichte, je nach Alkoholpegel, immer wieder anders. Seine Springerstiefel mit roten Schnürsenkeln standen auf dem Polster, er trank einen Schluck aus seiner Sternburg-Pils-Flasche, rülpste und grüßte: „Na, sieh mal einer an, der Alte ist wieder da!“
„Mach mal lieber Platz da, Penner“, fauchte ihn Bianca an, drückte seine Stiefel zur Seite und quetschte sich zwischen ihn und Frettchen. Sie mochte beide sehr gerne, denn sie waren herzensgut und hatten ihr Herz am linken Fleck. Stinker befand sich gerade wegen Körperverletzung im offenen Vollzug und konnte normalerweise nur die Nachmittage mit ihnen verbringen. Da er aber nach dem Anschlag ohnehin nicht plante, wieder zurück in den Knast zu wandern, war er schon seit zwei Tagen in der Fabrik untergetaucht. Frettchen war lesbisch und mit einer ganz normalen Frau liiert, einer Friseurin aus Leipzig, zu der sie immer am Wochenende fuhr. Die meisten Männer nahmen ihr ihre Rolle nicht ab, weil Frettchen unglaublich sexy aussehen konnte, wenn sie sich für eine Party zurechtmachte.
„So, Genossen“, sagte Klaus, der sich auf den wackeligen Holzstuhl hinter den ramponierten Holztisch gesetzt hatte, auf dem zwischen Bierdosen und Chipstüten auch zwei große Kerzen brannten, weil das schummrige Licht der einzigen an der Decke an einem Kabel baumelnden Glühlampe nicht ausreichte. „Es ist zum Kotzen. Heute Abend sind bereits ein paar Dutzend Glatzen durch die Altstadt gezogen und haben für einen Trauermarsch, den sie wie jedes Jahr für morgen Abend planen, geübt. Man darf gespannt sein, ob die Bullen ihn platzen lassen oder sich mit den Faschisten gemeinmachen werden.“
„Auf die Fresse, auf die Fresse“, rief Stinker, der an diesem Abend alleine eine halbe Kiste Pils geleert hatte.
„Aber es ist auch gut so“, fuhr Klaus fort, während er sich eine Pfeife stopfte. „Denn es wird ja dann gleichzeitig ihr letzter Marsch sein.“
„Weil dann keiner mehr von denen lebt, wa?“, warf Flakes ein. Bianca schaute rüber zum anderen Sofa und bemerkte, dass Müslis Bruder zitterte und ganz blass im Gesicht geworden war. Sie hatte schon geahnt, dass irgendwas nicht stimmte mit ihm, denn so ruhig wie an diesem Abend hatte sie Flakes wirklich nie erlebt. Ob er Gewissensbisse bekommen hatte, einen Rückzieher machen würde? Und wenn ja, was würde das für sie alle bedeuten?
„Was willst du damit sagen?“, giftete Klaus in seine Richtung.
„Das eben, Alter“, sagte Flakes mit brüchiger Stimme. Er wagte nicht, aufzuschauen, starrte auf den Tisch und kaute auf seinen Fingernägeln herum.
„Was eben? Ich habe euch Gammlern doch schon etliche Male verklickert, dass wir genau wissen, wo die Bastarde aufmarschieren. Sie sollen nicht alle draufgehen, meine Güte, aber sie sollen mit eigenen Augen erleben, wie ihr Heiligtum in die Luft fliegt. Verdammt noch mal.“
„Und, wenn schon“, warf Stinker trocken ein. „Was ist so schlimm daran, wenn ein paar von den Wichsern von den Trümmern ihres eigenen Hasses plattgemacht werden?“
„Korrekt“, sagte Frettchen leise.
„Meine Fresse, das meine ich nicht“, polterte Flakes. „Von mir aus könnten die ganzen verfluchten Hunde abnippeln, wa. Aber was passiert, wenn die Kinder dabeihaben? Das wär ja wohl übelst krass, wa?“
Bianca erschrak. Flakes stellte sich also die gleiche Frage wie sie. Hoffentlich war das kein schlechtes Omen.
„Kinder?“, rief Klaus. „So ein Käse. Was sollen Kinder auf einem Nazi-Fackelmarsch?“
„Alter, die indoktrinieren doch ihre Blagen von klein auf!“ Flakes wagte es nun tatsächlich, Klaus anzuschauen und ihn offen zu konfrontieren.
„Da sagst du es doch selbst.“ Der Alte schlug mit der Handkante auf den Tisch. „Kinder, Kinder. Was soll das? Selbst wenn, für den unwahrscheinlichen Fall. Dann sind das Kartoffel-Blagen, die genauso zu dem werden würden, was ihre Eltern sind, wenn sie nicht in die Luft geflogen wären.“
„Korrekt“, zischte Frettchen.
„Wenn du Schiss hast, dann verpiss dich jetzt.“ Klaus wies mit strammem rechtem Arm auf die Tür. Wenn er dabei nicht den Zeigefinger ausstrecken würde, dachte Bianca in diesem Moment, könnte man ihn für einen Vorzeige-Faschisten halten.
„Fick dich echt, Alter!“, raunte Flakes.
„Fick dich selber, ja. Du Flöckchen, du!“ Für einen Moment vergrub Klaus sein Gesicht in seinen Händen. Nur seine Pfeife schaute zwischen ihnen hindurch und ließ nervöse Dampfwolken in die Luft ab. „Wochenlang habe ich euch … haben wir darüber geredet, wie wichtig dieser Tag ist. Es kann doch um Himmels willen nicht sein, dass das jahrzehntelange Rumgeopfere und Geheule der Nazis jetzt gesellschaftliche Akzeptanz findet. Wir leben im Jahr 2000, verdammte Axt.“ Noch einmal schlug er mit der Hand auf die Tischplatte, sodass dieses Mal sogar eine der Kerzen umfiel, vom Tisch kullerte, dabei erlosch und auf dem Boden liegen blieb. „Was glaubt ihr eigentlich?“, schnauzte er weiter. „Was passiert, wenn so eine Hitler-Kuppel wieder in vollem Glanz erstrahlt? Was kommt dann als Nächstes? Ja, richtig, dann macht als Nächstes auch Auschwitz wieder die Tore auf. Wollt ihr das?“
„Hehe, Alter“, raunte Stinker, der sich eine neue Flasche aufgemacht hatte, dazwischen. „Du bist ja richtig wild. Aber warum eigentlich wir? Hab ich etwa rumgenölt?“
„Ja, sorry. Ich meine das Arschloch da.“
„Komm, Klaus, lass ma stecken jetzt!“ Müsli schaltete sich ein. Bianca wusste, dass es ihm schwerfiel, dem Alten, den er als Idol begriff, zu widersprechen oder auch nur ins Wort zu fallen. Doch ihr war auch bewusst, dass er seinen Bruder über alles liebte und ab einem gewissen Punkt nicht anders konnte, als den Mund aufzumachen.
„Er hat es nicht so gemeint. Ich bin sein Bruder, Mann. Ich weiß, dass er voll hinter uns und der Sache steht. Flakes ist nur übelst nervös!“ Er boxte seinen Bruder leicht mit der Faust auf die Schulter, rüttelte ihn. „Ist doch korrekt so, Timo. Oder nicht?“
„Jo“, sagte Flakes. „Tut mir leid, Klaus, wa. Ich kiffe mir gleich noch einen, und dann ist alles easy peasy.“
„Na also“, sagte der Alte, wartete noch einen Augenblick und warf dann seine Aktentasche auf den Schreibtisch. „Ich weiß, dass ihr Gammler nicht gerne lest, aber ich habe euch trotzdem noch mal alle relevanten Infos ausgedruckt. Für den Schnellcheck. Ihr bekommt jetzt von mir alle eine Mappe.“ Er zog einen Ordner aus der Tasche und blätterte die Seiten durch. „Alles, was ihr wissen müsst. Minutiöse Zeitpläne, Zünderaufbau, Zündsequenzen, Fluchtwege. Gammler verständlich zusammengefasst.“
„Wozu?“, fragte Stinker. „Wir haben doch übelst genau abgecheckt, wer wann, was machen soll. Hast du uns doch alles x-fach auf deinem Taschencomputer vorgeführt.“
„Laptop“, säuselte Frettchen.
„Bla, bla.“
„Das ist mir klar“, rief Klaus. „Trotzdem. Ich will, dass ihr euch das alles noch mal in Ruhe durchlest und dass ihr die Mappen auch in euren Rucksäcken mit drin habt.“
„Ergibt das Sinn?“, fragte Bianca. „Bringt uns wohl alle mit der Tat in Verbindung, oder nicht?“
„O Mann, Grünschnabel. Ihr seid doch die Täter.“ Er sah sie fragend an: „Mal ehrlich, was soll das alles jetzt auf die letzte Minute?“
„Chill mal, hab’s kapiert!“, antwortete Bianca, die sich allerdings innerlich bereits schwer über Klaus’ Gereiztheit wunderte. Er schien noch nervöser als sie alle zusammen zu sein. Womöglich bekam er Druck von seinen Hintermännern, dachte sie und legte sich somit selbst eine Erklärung zurecht.
„Ich muss mich auf jeden Einzelnen von euch verlassen können“, fuhr der Alte fort. „Absolut. Es ist ja nicht so, dass ich euch diesen Anschlag aufgedrängt habe. Ihr habt doch nach jemandem gesucht, der euch so was Geiles ermöglicht, Müsli hat mich förmlich angebettelt, euch zu unterstützen. Jetzt habt ihr diese einmalige Gelegenheit! Nutzt sie dann auch!“
„Jawohl.“ Stinker sprang auf, legte sich zwei Finger über die Oberlippe und formte mit der anderen Hand einen Hitlergruß. „Heil Bomber Harris!“
Danach lachten alle.
„Denkt an eure Tarnklamotten“, mahnte Klaus und nahm die restlichen Mappen aus der Tasche, die er anschließend sofort wieder schloss und sich um die Schulter legte. „Kein Wort zu irgendjemandem, auch nicht am Telefon. Ist das klar?“
„Verstanden, mein Alter“, rief Stinker und rülpste. „Dann lass uns jetzt mal die letzten Stunden der Naziherrschaft relaxen. Wer trinkt noch einen mit mir?“
„Ich muss los.“ Klaus war aufgestanden. „Ihr wisst, wo ihr alles findet. Falls nicht, guckt hier rein!“ Er legte die Mappen auf den Tisch. „Wir sehen uns heute Nacht an Ort und Stelle“, sprach er zum Abschluss. „Alles wird gut! Ihr werdet Helden sein, auf der ganzen Welt. Ihr ahnt noch nicht mal, wie sehr man euch für diese mutige Tat verehren wird. Ich verehre euch jetzt schon.“ Nachdem er zu Ende gesprochen hatte, verließ Klaus das Büro. Erst als seine Schritte in der Mitte der Halle verstummten, brachen alle in Gelächter aus. Auch Bianca stieg ein. Sie merkte, wie befreiend dieses Gefühl war.
„Ich verehre euch jetzt schon“, äffte Stinker den Anführer nach.
„Übelst krass“, pflichtete Müsli bei. „Ich brauch jetzt ein Bier. Volle Kanne!“
„Prost!“
„Prost.“
Die Flaschen klirrten, und nun spielte der Kassettenrekorder auch endlich wieder Punkrock. Ein selbst aufgenommenes Tape von Müsli und seiner Band, das alle mitsingen konnten.
Im Schatten der Stadt, wo die Lügen beginnen,
Kein Platz für uns, sie wollen uns verdrängen.
Ihre gierigen Augen sehen nicht den Schmerz,
Doch wir brennen, wir brennen, wir haben noch Herz.
Feuer in der Nacht, es lodert und schreit,
Zorn in uns aufgestaut, bereit für den Fight.
Die Flammen tanzen hoch, sie erleuchten hell die Nacht,
Ein Schrei nach Freiheit, unsere letzte Macht.
Es gab kein Zurück mehr. Um 3:50 Uhr morgens zogen alle Mitglieder der Gruppe Bomber Harris, nachdem sie bereits in die vom Alten bereitgestellten schwarzen Ganzkörper-Overalls geschlüpft waren, ihre Sturmhauben über. Schweigend saßen sie in Klaus’ grauem Van, der sie wie verabredet vor dem Hauptquartier eingesammelt hatte. Draußen zeichnete sich der dunkle Schattenriss der Frauenkirche vor dem Nachthimmel ab. Bianca starrte auf das Baugerüst, das gespenstisch im Mondlicht schimmerte.
„Es läuft alles nach Plan“, sagte Klaus vom Fahrersitz aus. Er hatte sich umgedreht und schaute zu Frettchen und Stinker, die reglos neben Bianca auf der Rückbank kauerten. „Ihr beide schleicht euch vor und nehmt eure Positionen ein. Klar?“
Stinker und Frettchen nickten stumm.
„Schnell wie ein Feuersturm, lautlos wie der Tod selbst“, trieb Klaus sie an. „Zwei Minuten nach euch sind die Brüder dran.“ Er wandte sich Müsli und Flakes zu, die mit den Rucksäcken auf dem Schoß auf dem Doppelbeifahrersitz kauerten. „Wie lange braucht ihr also?“
„Drei Minuten zum Platzieren“, erwiderte Müsli, „zwei zum Scharfmachen, zweieinhalb, um abzuhauen.“
„Exakt wie trainiert“, lobte Klaus. „Ich warte hier, der Motor läuft. Bianca, du hältst draußen Wache und machst die Türen wieder auf, wenn sie zurückkommen.“
„Gecheckt“, murmelte Bianca, während sich gleichzeitig ihr Magen zusammenkrampfte. Gleich würde der Plan in die Tat umgesetzt. Die Stunde der Wahrheit stand bevor. Noch einmal zogen die grausamen Bilder verstümmelter und schreiender Kinder vor ihrem inneren Auge vorbei, die sie in den vergangenen Nächten immer wieder eingeholt hatten. Wenn sie daraufhin erwacht war, hatte sie sich immer wieder selbst versichern müssen, dass sie an Hirngespinsten leide.
„Denkt immer daran, wofür wir das tun“, sagte Klaus und riss Bianca aus ihren sorgenvollen Gedanken. „Heute Abend schauen wir gemeinsam zu, wie das Ding hochgeht. Versteckt alles gut, dann können wir entspannt den Tag abwarten. Jetzt beginnt der Tanz.“ Er blickte auf die Uhr. „Gleich geht’s los.“
Totenstille senkte sich über den Van. Gebannt starrten alle zum dunklen Schatten der Kirche. Kurz schaltete Klaus die Scheinwerfer an. Sie blendeten Bianca, dann erkannte sie die Silhouette des auf zwanzig Meter angewachsenen hohen Kirchturmes, der mit Gerüsten umstellt war. Daran befestigt war das allen echten Linken verhasste Banner mit der Aufschrift Brücken bauen, Versöhnung leben. Nach zehn Sekunden erlosch das Licht des Fahrzeugs wieder, und bunte Flecken zeichneten sich auf ihrer Netzhaut ab. Sie fragte sich, warum Klaus die Scheinwerfer überhaupt angemacht hatte. Das stand nicht auf dem Plan, auch nicht in der Mappe, die sie stellvertretend für die ganze Gruppe noch einmal akribisch durchgegangen war. Und sie alle wussten doch genau, wie die Baustelle aussah. Das hatte sich über Wochen in ihren Köpfen regelrecht eingebrannt. Außerdem missfielen ihr die Worte des Anführers, die keinerlei antifaschistische Gesinnung mehr erkennen ließen: Lautlos wie der Tod, gleich beginnt der Tanz. Was für ein Spinner!
„Los jetzt!“, rief Klaus.
Stinker und Frettchen schlüpften hinaus in die Dunkelheit. Bianca schloss leise die Tür, zwei Minuten später schwärmten Müsli und Flakes aus. Klaus verriegelte die Tür wieder, und im gleichen Moment sah Bianca winzige rote Lichter in der Dunkelheit aufblitzen – vor den Gerüsten, etwa dort, wo der große Baucontainer stand. „Was war das?“, zischte sie. Er antwortete nicht.
„Klaus?“ Bianca hörte das Klicken der automatischen Türverriegelung. Nein, das war nun sicher kein Hirngespinst, das sie eingeholt hatte.
„Ich checke das nicht“, rief sie. „Was ist los?“
Statt eine Antwort zu geben, schaltete Klaus die Scheinwerfer erneut ein. Damit war Bianca klar, dass etwas im Busch war. Etwas lief völlig aus der Kontrolle. Fassungslos starrte sie durch das Panoramafenster und sah, wie Müsli und Flakes, irritiert von der plötzlich einfallenden Helligkeit, nur noch ein paar Meter von der Kirche entfernt, alarmiert in Richtung des Vans blickten und ihre Arme schützend vor die Augen warfen.
„Erklär es mir!“ Bianca konnte ihre Angst nicht mehr bändigen, und ihre Stimme überschlug sich. „Sofort!“
Klaus blieb stumm.
„Mann, Alter! Was geht hier ab? Was soll das Theater?“ Von draußen vernahm Bianca Motorengeräusche und quietschende Reifen. „Nein!“, rief sie laut aus, als sie im grellen Blaulicht die schwer bewaffneten Beamten einer Sondereinheit erkannte, die den Platz vor der Kirche von allen Seiten aus stürmten. Sie musste hilflos mitansehen, wie vermummte Polizisten mit Maschinenpistolen aus dem Baucontainer stürzten und ihre Freunde in Sekundenbruchteilen überwältigten und zu Boden rissen. Tränen der Verzweiflung und Wut brannten in ihren Augen. Reflexartig versuchte sie, vergeblich, die Autotür zu öffnen, dann schlug sie mit beiden Fäusten von hinten auf Klaus ein. „Du Dreckschwein“, schrie sie. „Hast uns verraten, du Nazi-Bastard. Wer bist du? Was bist du?“ Sie hörte das Klicken der Türverriegelung abermals, doch als sie sich umwandte, um erneut zu versuchen, aus dem Van zu entkommen, erschrak sie erneut. Direkt vor der Scheibe stand ein vermummter, behelmter Beamter. Eine Sekunde später wurde die Tür aufgerissen, und zwei Pistolen waren auf sie gerichtet.
„Hände hoch, keine Bewegung!“, befahl eine raue Stimme.
Als sie die Hände über dem Kopf hatte, riss sie jemand aus dem Wagen und verdrehte brutal ihre Arme hinter ihrem Rücken. Ein Stoß drückte sie seitlich gegen die Scheibe des Vans, an dem sie mit der Wange kleben blieb. Sie spürte, wie ihre Beine auseinandergerissen wurden und grobe Hände sie abtasteten, während sie den kalten Stahl der Handschellen an ihren Handgelenken fühlte. Das Letzte, was sie sah, bevor man sie rücklings in ein Einsatzfahrzeug drängte, war Klaus, der in aller Seelenruhe aus dem Van stieg und sich seine Pfeife anzündete. Dieses verdammte Bullenschwein!
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