Durchs wilde Deutschland - eBook-Ausgabe
Von den Alpen bis zum Wattenmeer
„Die Beobachtungen Kielings faszinieren - und ergeben zusammen mit den vielen Anekdoten ein überraschendes Deutschland-Porträt.“ - Outdoor
Durchs wilde Deutschland — Inhalt
Ausstrahlung bei ZDF zur Primetime Sonntags um 19.30 Uhr Andreas Kieling und seine Hündin Cleo bereisen erneut zusammen die Heimat: Vom Berchtesgadener Land bis zur Nordsee erfahren sie, wie viele Tierarten und Naturwunder Deutschland zu bieten hat. Wie konnten bei uns wieder Wölfe heimischwerden? Wie chinesische Krabben in die Elbe und bis Dresden gelangen? Wie lange noch werden Birkhühner unsere Wälder besiedeln? Und wo entdeckt man mit etwas Glück scheue Schwarzstörche, Luchse oder Waschbären? Der beliebte Dokumentarfilmer und erfolgreiche Autor schildert seine eindrucksvollsten, emotionalsten Erlebnisse mit Steinböcken und Hirschkäfern, Kranichen und Wildkatzen, mit Rothirschen in der Eifel und Seeadlern im Oderbruch – eine überraschende und aufregende Inventur der deutschen Natur.
Leseprobe zu „Durchs wilde Deutschland“
Akrobaten der Berge –
Steinböcke und Murmeltiere
Diese Tour hatte eigentlich schon im November 2010 begonnen. Damals war ich das erste Mal im Berchtesgadener Land, um Alpenwild, speziell Steinböcke, zu filmen. Für den November hatte ich mich aus hauptsächlich zwei Gründen entschieden: Zum einen ist dann Gamsbrunft, zum anderen wollte ich Steinböcke im Schnee drehen. Steinwild im Sommer, auf grünen Matten, fand ich zu lieblich, ich wollte es eher rau.
Während die Gämse – in der Jägersprache der Gams – im gesamten deutschen Alpenraum verbreitet ist, gibt [...]
Akrobaten der Berge –
Steinböcke und Murmeltiere
Diese Tour hatte eigentlich schon im November 2010 begonnen. Damals war ich das erste Mal im Berchtesgadener Land, um Alpenwild, speziell Steinböcke, zu filmen. Für den November hatte ich mich aus hauptsächlich zwei Gründen entschieden: Zum einen ist dann Gamsbrunft, zum anderen wollte ich Steinböcke im Schnee drehen. Steinwild im Sommer, auf grünen Matten, fand ich zu lieblich, ich wollte es eher rau.
Während die Gämse – in der Jägersprache der Gams – im gesamten deutschen Alpenraum verbreitet ist, gibt es in ganz Deutschland nur fünf Steinbockpopulationen. Die drei größeren finden sich in den Allgäuer Alpen, an der Benediktenwand und im Hagengebirge bei Berchtesgaden, wobei die Wahrscheinlichkeit, die Tiere tatsächlich vor die Linse zu bekommen, an den beiden letztgenannten Stellen am größten ist. Schwierig ist es dennoch. Nicht nur lebt der Alpen- oder Gemeine Steinbock zwischen der Wald- und der Schneegrenze, also etwa zwischen 1800 und knapp 3000 Meter Höhe; darüber hinaus bilden Weibchen und Jungtiere einerseits und Junggesellen andererseits nur kleine, schwer auszumachende Rudel, während ausgewachsene Böcke ohnehin Einzelgänger sind.
Da die Zeit knapp war, ich mich in dem Gebiet nicht auskannte und daher nicht wusste, wo am ehesten Steinböcke auszumachen sind, hatte ich mich mit einem Ranger verabredet. Unter der Führung des freundlichen Lorenz machten Cleo und ich uns am Tag nach unserer Ankunft an den Aufstieg zum Schneibstein. Der Schneibstein ist der einfachste Zweitausender im Berchtesgadener Land. Er hat trotz seiner 2276 Meter keinen Schwierigkeitsgrad. Vom Parkplatz Hinterbrand führte Lorenz uns vorbei an der Mitterkaser Alm zum 1736 Meter hoch gelegenen Carl-von-Stahl-Haus. Wir überquerten das Torrener Joch und gelangten zum Bergfuß. Von dort geht der Steig durch dichte Latschen zum Teufelsgemäuer und über den sanften Grat weiter zum Gipfel. Vom Parkplatz an war es mit beinahe jedem Höhenmeter immer kälter geworden. Am Gipfel schließlich war es eisig kalt. Aber der Ausblick!
Der erste Schnee war gefallen, nicht sehr viel, aber genug, um auch die tieferen Lagen wie mit Puderzucker zu bestäuben. Die Lärchen hatten zum Teil noch gelbe Blätter, während die Laubbäume – in höheren Lagen sind das in erster Linie kleinwüchsige Erlen und ein paar Bergahorn und Ebereschen – ihr Laub schon abgeworfen hatten. Dazu in der frostig klaren Luft der herrliche Blick auf das Steinerne Meer, hinüber zum sagenumwobenen Watzmann und auf den tief im Tal zwischen steilen Berghängen eingebetteten wunderschönen Königssee mit seinem berühmten Echo. Das sah einfach zauberhaft aus. Ich habe schon die verschiedensten hochalpinen Landschaften bereist, unter anderem den Himalaja, das Tianshan-Gebirge, die Alaska Range und die Rocky Mountains, aber das hier toppte alles, und ich dachte wieder einmal: Wow, wie schön kann Deutschland sein! Eine Zeile aus einem alten Lied von Wolfgang Ambros fiel mir ein: „Watzmann, Watzmann, Schicksalsberg, du bist so groß und i nur a Zwerg ...“. Genauso fühlte ich mich: unbedeutend klein angesichts dieser grandiosen Bergwelt.
Das ist ein Phänomen in Deutschland: Wenn man erzählt, dass man am Mount Everest, am K2 oder am Mount McKinley war, machen alle große Augen und werden ganz ehrfürchtig. Sagt man aber, ich war auf dem Schneibstein, dann werden die meisten Leute, sofern sie den Berg überhaupt kennen, sagen: „Wie piefig, Zirbelstube, Dirndl und Lederhosen“, halt das typische Alpenklischee. Genau das Gegenteil ist der Fall. Jedes Mal, wenn ich in die Alpen komme, denke ich, wenn man ein paar kleine Berghütten aus dem Bild wegretuschiert und jemandem sagt: „Das war in den Rocky Mountains, gleich hinter Lake Louise“, wird er sagen: „Oh, kannst du mir das mal auf der Karte zeigen? Da möchte ich auch mal hin.“ Dabei hat er die schönsten Landschaften direkt vor der Nase.
Auf dem Schneibstein gibt es zwei Gipfelkreuze, ein altes aus Metall mit einem verrosteten Jesus, das sieht voll schräg aus, und daneben ein großes Holzkreuz. Ich erkannte die Stelle sofort wieder. Vor Jahren hatte ich ein wunderschönes Foto gesehen, da hatte ein Fotograf Steinböcke von hier oben fotografiert. An der Tiefenschärfe konnte man sehen, dass es mit einem Weitwinkelobjektiv gemacht worden war, der Fotograf also ganz nah an den Steinböcken dran gewesen sein musste. Jetzt war allerdings kein einziger Steinbock zu sehen.
Dafür war die Gamsbrunft in vollem Gang, und Cleo und ich staunten nicht schlecht. Für Cleo war es ein unglaubliches Erlebnis. Sie sah den ersten Gamsbock oder überhaupt die erste Gams in ihrem Leben und war völlig aus dem Häuschen. Es macht schon einen Unterschied, ob man in einem Wald ein Wildschwein wegbrechen sieht oder in offenem Gelände ein ähnlich großes Tier vor sich hat. Eine Gämse wird über einen Meter lang und, am Widerrist (dem Übergang vom Hals zum Rücken) gemessen, im Schnitt 75 Zentimeter hoch. Ausgewachsene Tiere wiegen zwischen dreißig und fünfzig Kilogramm. Der gedrungene Körper sitzt auf verhältnismäßig langen, kräftigen Beinen mit relativ großen Hufen. Die Klauensohlen sind elastisch und anpassungsfähig, der vorstehende sogenannte Tragrand hingegen bildet eine harte Kante, die im Winter für sicheren Tritt auf vereisten Flächen sorgt. Im Sommer, wenn sich die Schalenränder am Fels abschleifen, gibt die weiche Sohle Halt. Zwei kleine zurückgebildete Zehen hinter den Hufen, die Afterklauen, dienen als Kletterhilfe und beim Abwärtsgehen als Bremse.
Gämsen sind Boviden, das heißt, ihre Hörner bestehen aus einer fest mit dem Schädel verbundenen Knochenstruktur und werden nicht abgeworfen. Vielmehr wächst das Gehörn zeitlebens, immer nur ein bisschen – und im Alter praktisch gar nicht mehr. Bei den Gämsen tragen sowohl Böcke als auch Geißen Hörner. Diese „Krucken“ werden bis zu 25 Zentimeter lang und sind an der Spitze nach hinten gebogen. Im Sommer ist das Fell rotbraun, am Bauch eher rotgelb, während der Rücken einen schwarzbraunen „Aalstrich“ aufweist. Im Winter färbt sich der Rücken zu dunkelbraun bis braunschwarz und der Bauch weiß.
Zur Brunftzeit sondert ein Drüsenorgan, die sogenannte Brunftfeige, ein schmieriges, stinkendes Sekret ab, dessen Duft bis in unsere Nasen stieg und Cleo nur noch mehr aus der Fassung brachte.
Ich war aus einem ganz anderen Grund fasziniert. Eine überdurchschnittlich große Lunge befähigt das Gamswild nämlich zu außergewöhnlichen Leistungen, was ein Bock vor unseren Augen eindrucksvoll unter Beweis stellte. Wir beobachteten, wie zwei Böcke sich um eine Geiß rangelten, die wohl gerade in die Brunft kam. Die beiden sprangen in einem solchen Tempo aufeinander zu und hakelten sich derart vehement mit ihren scharfen Hörnern, dass es nur so krachte und der Schnee nach allen Seiten stob. Schließlich gab der eine auf und flüchtete. Damit gab sich der Sieger aber nicht zufrieden, und er jagte den unterlegenen Konkurrenten in einem Affenzahn mindestens 200 Meter den Berg hinunter, bis er sicher sein konnte, den anderen wirklich in die Flucht geschlagen zu haben. Dann hetzte er mit unverminderter Geschwindigkeit den Berg wieder hoch, machte nur einmal fft, fft – so eine Art Flämen –, besprang die Geiß, ruckelte kurz, schüttelte sich und stand dann da, als wäre nichts gewesen. Ist der fit, der Junge, dachte ich, ist ja unglaublich. Mir hinge nach einer solchen Aktion die Zunge bis zu den Knien, und der atmete nicht mal schwer! Da gehen einem als Mann seltsame Dinge durch den Kopf, mir zumindest.
„Na ja, es kann sein, dass die Steinböcke schon weggezogen sind, nach Österreich, die machen nämlich quasi eine jährliche Rundwanderung“, unterbrach Lorenz meine neidvollen Gedanken. „Ich ruf mal drüben an und frag nach.“
Lorenz zückte sein Handy und erkundigte sich bei einem Berufsjäger im Nachbarland nach den Steinböcken. Die waren tatsächlich schon in Österreich. Aber die Jäger wollten uns dort drüben nicht haben.
„Hör mal“, hieß es, wie mir Lorenz nach dem Telefonat berichtete, „wir wollen hier keinen Tierfilmer haben. Auch nicht, wenn das der Herr Kieling ist. Bei uns ist gerade Steinbockjagd. Wir wollen hier keinen Tierfilmer herumlaufen haben, der die Tiere aufscheucht und unsere Jagdgäste verprellt. Bleibt mal schön in Deutschland.“
In Deutschland ist der Steinbock ein streng geschütztes Tier, unterliegt zwar dem Jagdrecht, aber mit ganzjähriger Schonzeit, während er in Österreich ganz offiziell geschossen wird. Natürlich nur in Maßen, sodass es dem Bestand keinen Abbruch tut. Apropos Bestand. Heute gilt die Art als gesichert. Während es in Deutschland nur die schon erwähnten fünf Populationen gibt, leben in Österreich etwa 4500 Alpensteinböcke, in der Schweiz immerhin fast 16 000; im gesamten Alpengebiet sind es zwischen 30 000 und 40 000.
Vor knapp 200 Jahren hingegen war der Alpensteinbock bis auf etwa hundert Tiere ausgerottet. Dass die Art überhaupt noch existiert, ist dem Förster Josef Zumstein und dem Naturkundler Albert Girtanner zu verdanken: Auf ihr Betreiben hin wurde die letzte Population, die am Gran Paradiso, einem Gebirgsstock in Italien, lebte, 1856 unter Schutz gestellt. Und zwar, indem König Viktor Emanuel II. aus dem Haus Savoyen die Region zu seinem Jagdgebiet erklärte. Auf den ersten Blick mag das seltsam klingen, hatte aber zur Folge, dass das Gebiet für andere Jäger tabu war. In den Folgejahrzehnten wurden die Tiere durch ein Wiederansiedlungsprogramm in weiten Teilen ihres ursprünglichen Lebensraums wieder heimisch. Eine für die damalige Zeit beachtliche und überraschend moderne Initiative. Alle heute in den Alpen lebenden Steinböcke stammen von diesen damals Letzten ihrer Art ab. 1922 wurde aus dem Schutzgebiet am Gran Paradiso der erste Nationalpark Italiens – der heute zusammen mit dem auf französischer Seite angrenzenden Vanoise den größten Nationalpark Europas bildet.
Den Grundstock der Steinböcke im Berchtesgadener Land legte vor 75 Jahren Hermann Göring, der vom Waschbär über den Wisent bis eben hin zu Steinböcken alles in Deutschland aussetzen wollte. Auf seine Anordnung hin beschaffte die Forstverwaltung drei Geißen und einen Bock vom Schweizer Wildpark St. Gallen. Nach einer Bootsfahrt über den Bodensee, einer Zugreise nach Berchtesgaden und einer Ruderpartie über den Königssee wurden die Tiere in ihren Transportkisten zum Obersee getragen und von dort mit einer eigens errichteten Seilbahn in das Almgebiet Röth gebracht, wo ein etwa fünfzehn Hektar großes Gehege auf sie wartete. Und da sich die Tiere zumindest im Winter in dem Gehege nicht selbst versorgen konnten, mussten sie gefüttert werden, wofür vier (!) Jäger freigestellt wurden. Tja, wenn der „Reichsjägermeister“ einen Wunsch hatte, wurden weder Aufwand noch Kosten gescheut.
Warum aber wurde der Steinbock überhaupt an den Abgrund der Ausrottung getrieben? Der Steinbock war immer ein kultisches Tier. Thors Wagen zum Beispiel wurde nicht etwa von Eseln oder Pferden gezogen, sondern von Steinböcken. Dem Steinbock hat man früher auch magische Kräfte zugesprochen. Er wurde stark mystifiziert und war so etwas wie eine lebende Apotheke. Man hat praktisch jedes Teil von ihm als Heilmittel gegen alle möglichen Krankheiten und Wehwehchen eingesetzt. Sein Blut wurde gekocht und sollte, soweit ich weiß, bei Rheuma helfen; die Hufe wurden zu Pulver gerieben und bei Gicht und Gliederreißen verabreicht. Die Exkremente, die, das nur nebenbei, aussehen wie kleine Kaffeeböhnchen, wurden getrocknet, zerrieben und als Tee gegen ich weiß nicht was aufgebrüht. Besonders begehrt war das Horn. Was heute das Rhinozeroshorn oder der Tigerpenis in Asien, war in Europa das Steinbockhornpulver. Liebesmüde ältere Herren zahlten viele Goldtaler für das vermeintliche Aphrodisiakum.
Das Wertvollste aber war der Bezoarstein. Das ist ein Ballen aus verschluckten Haaren und Pflanzenfasern – bei Greifvögeln kennt man das als Gewölle –, der bei Steinböcken mit dem Harz der Latschennadeln durchsetzt ist. Wenn so ein Ballen vom Pansen (einem der vielen Mägen von Wiederkäuern) in den Darm wandert und sich dort über längere Zeit anlagert, wird er von einer steinharten Kruste überzogen. Bezoarsteinen wurden früher magische Fähigkeiten wie das Beschwören von Regen, Schnee, Wind oder Nebel zugeschrieben, und sie sollten sogar Gift unschädlich machen. Daher rührt auch der Name: Das arabische Bedzehr, das persische Padzahr oder das hebräische Beluzaar bedeuten alle „Gegenmittel“. Zu kostbaren Schmuckstücken verarbeitet, wurden sie, an einer Kette hängend, in ein vermeintlich vergiftetes Getränk getaucht. In der Münchner Residenz kann man einige solche Raritäten bewundern. Da man nur in etwa jedem 50. Steinbock einen Bezoarstein fand, wurden sie in Gold aufgewogen.
Aus damaliger Sicht gab es also gleich mehrere „gute“ Gründe, Jagd auf Steinböcke zu machen. Es gab nachweislich kein Tier in Deutschland oder in Europa, das als Zauber- und Kulttier so stark bejagt wurde wie der Steinbock. Wie praktisch, dass Steinböcke nicht sehr scheu sind und keine riesige Fluchtdistanz haben. Die allerletzten Exemplare der Alpen hatten dann aber wohl doch die Gefahr gewittert und sich außer Reichweite von Gewehren gebracht. Genutzt hat es ihnen nichts, man hat sie mit Kanonen aus dem Berg geschossen. Verrückt.
Na, jedenfalls war nach Lorenz’ Anruf in Österreich klar, dass es dieses Jahr nichts mehr würde mit den Steinböcken, und Lorenz riet mir, im August wiederzukommen, dann seien die Steinböcke eigentlich immer im Berchtesgadener Land.
Cleo und ich nutzten die „geschenkten“ Tage und wanderten kreuz und quer durch die Gegend. Wir kamen aus dem Staunen nicht heraus. Unfassbar, was diese Region auf den vielen Wanderrouten – von leichten Tages- bis hin zu anspruchsvollen mehrtägigen Touren – zu bieten hat: reißende Bäche, tosende Wasserfälle, enge Schluchten und Klammen in den Tälern, traditionell bewirtete Almen auf den Bergen ...
Den besten Blick auf den Königssee hat man, wenn man von der Jennerbahn-Mittelstation über die Königsbach- und die Gotzenalm hinunter zur Anlegestelle Kessel wandert, hatte mir Lorenz als Tipp gegeben.
„Na, Cleo“, sagte ich daher zu meinem Hund eines Morgens, „lass uns das doch mal ausprobieren.“
Bis zur Mittelstation nahmen wir die Jennerbahn. Von dort folgten wir einem Höhenweg durchs Almgebiet, wobei wir in der Tat immer wieder grandiose Ausblicke auf den Königssee hatten. Das letzte Stück des Weges, der relativ steile Abstieg zur Anlegestelle, war wegen des vielen feuchten Laubs recht rutschig, aber wir kamen wohlbehalten am See an. Kessel ist eine Bedarfshaltestelle. Will man von einem Schiff mitgenommen werden, signalisiert man das durch eine am Steg angebrachte Schiebetafel. Nicht lange, nachdem wir die Tafel betätigt hatten, wurden Cleo und ich von einem der neunzehn Elektroboote (achtzehn große für je gut neunzig, ein kleines für 25 Personen) abgeholt, die den Königssee befahren. Im Sommer, während der Hauptsaison, fährt alle 30 Minuten ein solches Schiff. Übers Jahr werden so Hunderttausende Touristen über den Königssee gefahren. Ansonsten sind auf einem der saubersten Seen Deutschlands – mit Trinkwasserqualität! – nur Ruderboote erlaubt.
Die nächste Anlegestelle war die Halbinsel Hirschau mit der wunderschönen barocken Wallfahrtskapelle St. Bartholomä. Ich hatte schon die tollsten Fotos von dieser Szenerie gesehen, trotzdem blieb mir nun vor Staunen der Mund offen stehen. Direkt am Ufer des smaragdgrünen Bergsees prangt das strahlend weiße Kirchlein mit seinen tiefroten Zwiebeltürmen und Kuppeldächern, dahinter steigt die Watzmann-Ostwand in den tiefblauen Himmel auf. Was für ein Anblick! Der nächste Halt war an der gleichfalls berühmten Echowand. Der Bootsführer bläst in sein Flügelhorn oder eine Trompete, und es erschallt ein einfaches, seltener ein zweifaches Echo. Beeindruckend. Wie toll muss das erst früher gewesen sein, als das Mitführen von Schwarzpulver auf Schiffen noch nicht aus Sicherheitsgründen verboten war und vom Schiff aus mit einer Böllerkanone geschossen wurde; das hat ein bis zu siebenfaches Echo erzeugt!
Weil es gar so schön war, wanderten Cleo und ich, nachdem uns das Schiff an der Seelände in Schönau abgeliefert hatte, gleich noch das kurze Stück – fünfzehn Minuten zu Fuß, wenn man langsam geht – am Nordostufer entlang zum Malerwinkel. Das ist einer der ganz besonderen Orte am Königssee und eine der romantischsten Stellen in ganz Deutschland überhaupt. Der Blick schweift fast über die gesamte Länge des zwischen Steilwänden eingebetteten Sees zur Schönfeldspitze im Steinernen Meer, Buchen und Bergahorn säumen dieses zauberhafte Bild. Man fühlt sich an die Werke des großen Malers der Romantik, Caspar David Friedrich, erinnert. Cleo und ich schauten hinab auf das Wasser, das so klar war, dass man glaubte, bis auf den Grund gucken zu können, sahen Forellen, Renken und Saiblinge. Cleo und ich waren überwältigt.
Auf unseren Bergwanderungen sahen wir jede Menge Gämsen, und einmal konnten wir einen Steinadler beobachten, der versuchte, eine Gams vom Fels zu drängen. Das war das stärkste Erlebnis, das wir hier hatten. Leider konnte ich es weder fotografieren noch filmen, da es zu weit entfernt war. Der etwa zwei-, dreijährige Bock stand auf einem Grat, und der Adler flog ihn immer wieder an und wollte ihn dazu bringen, in Panik die Felsen runterzuspringen und abzustürzen. Doch die Gams blieb einfach stehen – ganz schön nervenstark, zog nicht einmal den Kopf ein. Unglaublich. So ein Steinadler ist ja nicht gerade klein. Steinadler zählen sogar zu den größten Adlern, können eine Körperlänge von bis zu einem Meter und ein Gewicht von fast sieben Kilogramm erreichen. Schließlich harkte der Adler etwa drei Meter neben dem Gamsbock auf einem Felsvorsprung auf. Da saß er dann und beobachtete die Gams, und die Gams stand auf dem Grat und beobachtete ihrerseits den Adler. Gerührt hat sie sich immer noch nicht. Irgendwann hat der Adler aufgegeben und ist abgestrichen.
Die Erklärung kann eigentlich nur sein, dass die Hauptbeute der Steinadler kleine bis mittelgroße Säuger sind, also zum Beispiel Murmeltiere. Wenn sie aber in einer Gams eine leichte Beute sehen, werden sie auch die jagen, und wenn eine verendete Gams irgendwo herumliegt, wird sich ein Adler so ein gefundenes Fressen nicht entgehen lassen. Deshalb verstehe ich nicht, dass im Nationalpark Berchtesgaden Gamsen geschossen werden und auch Rotwild, weil ich mir sage: Wenn man hier wirklich wieder Bart- und Gänsegeier und Steinadler in nennenswerter Zahl haben will, dann braucht es verendetes Wild, Wild, das an Altersschwäche, an Entbehrung, an Kälte oder durch Steinschlag ums Leben gekommen ist. In dem Moment, wo drei, vier Jäger die Funktion des Wolfes, des Luchses, des Bären und des strengen Winters übernehmen und die Kadaver schön säuberlich wegräumen, wird den Fleisch- oder Aasfressern natürlich die Lebensgrundlage entzogen, denn von den paar Nachgeburten, die im Frühjahr anfallen, werden sie nicht satt. Das Eingreifen des Menschen ist ein Widerspruch zum Nationalparkgedanken, aber letztlich einer, der sich in praktisch allen Nationalparks und Schutzgebieten Deutschlands findet. Und ein heiß diskutiertes Thema.
Im 1970 gegründeten Nationalpark Bayerischer Wald, dem ersten Nationalpark Deutschlands überhaupt, überlässt man unter dem Motto „Natur Natur sein lassen“ tatsächlich alles sich selbst. Seit dreißig Jahren dürfen sich hier die Wälder, Moore, Bäche und Seen nahezu frei von menschlichem Eingreifen nach ihren ganz eigenen Gesetzen zu einer urwüchsigen Waldlandschaft (zurück-)entwickeln. Mit eindrucksvollem Ergebnis. Da wachsen Bergahorn, Buche, Erle, Birke, Linde, Esche und viele mehr, dazwischen Farne, Moose und Flechten. Und überall liegen Stümpfe und Totholz, Lebens- und Schutzraum für etliche Klein- und Kleinstlebewesen. Diese im ursprünglichen Sinne „natürliche“ Vielfalt spiegelt sich im Reichtum der hier lebenden Tierarten. Für viele seltene und bedrohte Arten wie den Fischotter, verschiedene Raufußhühner, den Schwarzstorch oder den Luchs bietet der Nationalpark ein wertvolles Rückzugsgebiet.
„Natur Natur sein lassen“ heißt aber auch, zum Beispiel den Borkenkäfer fressen zu lassen, so viel er will und kann. Aber der macht ja an den Grenzen eines Nationalparks nicht halt und bedient sich auch im angrenzenden Wirtschaftswald, von dem eine Familie vielleicht schon in der siebten oder achten Generation lebt. Und die ist natürlich überhaupt nicht begeistert, wenn ihnen die Borkenkäfer alles abfressen. Die Nationalparkverwaltung argumentiert, dass die betroffenen Privatwaldbesitzer großzügig entschädigt werden. Nur: Was für den einen „großzügig“, ist für den anderen oft nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.
Zurück zu den Gämsen. Warum werden sie im Berchtesgadener Land geschossen, statt die Natur die Sache regeln zu lassen? Findet eine Tierart in einem Gebiet gute Lebensbedingungen vor und leben dort zu wenige Fressfeinde, vermehrt sie sich sehr stark – bis die Natur eingreift. Recht häufig tut sie das in Form von Viruserkrankungen, zum Beispiel der Schweinepest oder der Tollwut. Im Fall eines zu hohen Gamsbestands greift sie zur hochansteckenden Gamsblindheit, die trotz ihres Namens auch Schafe, Ziegen und Steinböcke treffen kann. Die Erblindung ist zwar nur vorübergehend, doch während dieser Zeit sind die Tiere stark absturzgefährdet. Eine weitere, meist seuchenhaft sich ausbreitende Erkrankung, die ganze Bestände dahinraffen kann, ist die durch Milben verursachte Gamsräude – ebenfalls auch bei Steinböcken und Ziegen zu finden –, in deren Verlauf die Tiere stark abmagern und sich bis zur völligen Erschöpfung scheuern und kratzen.
Nun sieht es natürlich nicht schick aus, wenn Dutzende toter oder sterbender Gämsen herumliegen, und ist es auf Dauer besonders für Almwirte und Ranger nervig, wenn Wanderer und andere Besucher ständig rufen: „Da liegt eine halb tote Gams. Holen Sie doch mal den Tierarzt.“ Das ist nämlich die Kehrseite. Auf der einen Seite wollen wir Menschen, dass die Natur sich selbst überlassen bleibt, auf der anderen Seite soll aber verletzten, kranken oder schwachen Tieren geholfen werden. Ist ein Hirsch abgestürzt und liegt da mit einem gebrochenen Lauf, ist der Ruf nach dem Tierarzt näher als der nach dem Jäger, der den erlösenden Fangschuss gibt. Wobei Letzteres genauso ein Eingriff in die Natur ist.
Ich sprach mit mehreren Almbauern, die eine kleine Gastwirtschaft führen oder einfach nur frische Milch, Buttermilch und Käse an Wanderer verkaufen und auf diese zusätzlichen Einnahmen angewiesen sind, über das Thema, die Natur sich selbst zu überlassen. Steinbock und Gams, Rot- und Rehwild werden geduldet, Murmeltier und Steinadler ebenfalls. Aber bei der Erwähnung von Wolf und Bär stieß ich durchwegs auf Ablehnung, gar Feindseligkeit. „Da bleiben uns die Touristen weg, wenn wieder Wölfe hier leben oder ein Bär, weil sie Angst bekommen. Außerdem reißen die unser Vieh“, bekam ich immer wieder zu hören. Große Prädatoren, also Raubtiere, will man hier nicht haben. Ein Reizthema nicht nur im Berchtesgadener Land, sondern in ganz Deutschland und eines, das die Nation in zwei Lager spaltet. Im Endeffekt wird, davon bin ich überzeugt, der große Beutegreifer der Verlierer sein.
Nun kannte ich diese Furcht vor Wolf, Bär, Luchs und Co. ja schon aus anderen Gebieten Deutschlands, dennoch hat es mich verblüfft, ihr auch hier zu begegnen. Ich hatte nämlich den Eindruck gewonnen, dass die Menschen dieser Region nicht nur unglaublich gastfreundlich und zuvorkommend sind, sondern außerdem sehr aufgeschlossen. Wenn man jemanden nach dem Weg fragt, geht er oft noch mit zur nächsten Wegkreuzung, damit man sich ja nicht verläuft. Das würde man in der Eifel nie erleben. Das hängt zum Teil sicher damit zusammen, dass man hier seit langer Zeit vom Tourismus lebt. Und andererseits diese sehr konservative Haltung. Aber dafür sind die Bayern ja bekannt, glaube ich.
Cleo und ich fühlten uns hier jedenfalls unheimlich wohl, und Cleo lief zur Höchstform auf. Überall waren Fährten von allen möglichen Wildtieren, für einen Jagdhund das reinste Dorado. Einmal allerdings gab es eine Begebenheit, die wir beide nicht so lustig fanden. In einem unkonzentrierten Moment riss sich Cleo beim Anblick eines verletzten Gamsbocks von der Leine und hetzte los, ganz Jagdhund halt. Als der Gamsbock Cleo heranstürmen sah, sprang er den Hang hundert Meter hinab, blieb stehen und guckte, was Cleo machte. Cleo rannte unbeirrt weiter. Als sie auf etwa dreißig Meter an den Gams herangekommen war, kletterte er ein Stück eine Felswand hoch und wartete wieder ab. So ging das ein paar Mal, wobei die Gams immer höher in den Fels einstieg und Cleo regelrecht in die steile Wand lockte. Ich kriegte einen ungeheuren Schreck, denn bei solchen Aktionen sind selbst erfahrene Gebirgsschweißhunde schon abgestürzt, rief und pfiff, aber Cleo hatte ihre Ohren völlig auf Durchzug gestellt und kletterte dem Gamsbock hinterher. Irgendwann ist dann der Punkt erreicht, wo eine Gams noch weiterkann, aber nicht ein Hund. Als Cleo an diesen Punkt kam, stand sie einen Moment ziemlich verunsichert in dem Fels. Sie ist ohnehin nicht die Draufgängerischste, glücklicherweise. Langsam und vorsichtig suchte sie sich schließlich ihren Weg zurück zu mir. Das hätte ganz dumm ausgehen können! Wobei ich sagen muss, dass ich ganz erstaunt war, wie trittfest Cleo, die nie zuvor in einem Hochgebirge gewesen war, sich in dem für sie ungewohnten Terrain bewegte. Das hätte ich ihr nie zugetraut.
Im August des folgenden Jahres kamen Cleo und ich, so wie Ranger Lorenz es uns empfohlen hatte, zurück ins Berchtesgadener Land. Es war noch schöner, als ich es in Erinnerung hatte. Jetzt, im Sommer und bei strahlendem Sonnenschein, bildeten die schroffen grauen Felsen einen herrlichen Kontrast zum saftigen Grün der Almwiesen, den bunten Wildblumen und dem tiefen Grünblau des Königssees. Herrlich! Wieder wollten wir unser Glück mit Steinböcken versuchen, nur leider erhielten wir immer nur vage Antworten, wenn wir fragten, ob die Tiere noch in Österreich oder schon in Deutschland seien. Außerdem standen Murmeltiere, die bei unserem ersten Besuch bereits im Winterschlaf gelegen hatten, und Alpensalamander auf unserer To-do-Liste. Mit von der Partie war Kameramann Frank Gutsche, der mich seit vielen Jahren immer wieder auf Drehs begleitet.
Zunächst wollten wir uns den Murmeltieren widmen und hatten uns dazu mit der Parkrangerin und Murmeltierexpertin Anita Engel verabredet, die uns Stellen zeigen würde, an denen Murmeltiere leben. Anita hatte übrigens, wie ich erfahren sollte, kurz davor Ranger Lorenz geheiratet. So klein ist die Welt. Anita erzählte uns als Erstes, dass Bergwanderer in letzter Zeit zweimal Steinböcke am Schneibstein gesichtet hätten. Offenbar hatte sie von ihrem Mann erfahren, dass wir auch auf der Suche nach diesen Tieren waren. Ich war skeptisch, denn zu oft schon hatten Wanderer Tiere verwechselt. Aber wie gesagt, zuerst waren ohnehin die Murmeltiere dran. Das hatte den ganz einfachen Grund, dass diese Tiere in niedrigeren Höhen als die Steinböcke leben und wir uns so erst einmal ein bisschen akklimatisieren konnten.
Anita nannte die Tiere „Mankei“, ich hatte aber auch schon die Namen „Munkele“ oder „Murmele“ gehört. Der Name „Murmeltier“, so erklärte uns Anita, kommt nicht daher, dass die Tiere ständig vor sich hinmurmeln würden oder etwas in der Art, sondern hat sich aus dem Althochdeutschen „muremunto“ entwickelt, das über den Umweg über das rätoromanische „murmont“ vom lateinischen „mus montis“ stammt, was „Bergmaus“ bedeutet.
„Die Beobachtungen Kielings faszinieren - und ergeben zusammen mit den vielen Anekdoten ein überraschendes Deutschland-Porträt.“
„Kielings Buch motiviert, selbst wieder öfters nach draußen in die deutsche Wildnis zu gehen und die Geschichte aus der Kindheit aufzuspüren. Wer weiß – vielleicht gibt es den Luchs ja doch noch. Unbedingt in 'Durchs wilde Deutschland' nachlesen.“
„Spannende Abenteuer.“
„Als Leser wird man mitgerissen von der Authentizität und Leidenschaft des Autors, dessen Heimat seit Jahrzehnten das Land des Reisens ist. Wer Wildnis-Sehnsucht sucht, liegt mit diesem Buch und der Bildauswahl genau richtig.“
„(…) die Begeisterung des Naturburschen für die Alpen und das Wattenmeer färbt ab“
„Der Dokumentarfilmer und Autor schildert seine eindrucksvollsten, emotionalsten Erlebnisse (…) – eine überraschende und aufregende Inventur der deutschen Natur.“
„Vom Wolf bis zur Wollhandkrabbe – staunenswerte Tierwelt!“
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