

Ein Café in Budapest (Cafés, die Geschichte schreiben 4) Ein Café in Budapest (Cafés, die Geschichte schreiben 4) - eBook-Ausgabe
Roman
— Historischer Roman über eine zerissene Familie, ein legendäres Café und die Kaiserkrönung von Franz und SisiEin Café in Budapest (Cafés, die Geschichte schreiben 4) — Inhalt
„Ein Café in Budapest“ | Spannender und atmosphärischer historischer Roman über eine Konditorenfamilie im bezaubernden Budapest
Der Bäcker der Kaiserin: Autorin Ulrike Fuchs erzählt fesselnd die bewegte Geschichte des Cafés Ruszwurm
Das kaiserliche Lieblingscafé!
Budapest, 1867: Kaiser Franz wird zum König von Ungarn gekrönt, und Konditor Antal Müller soll aus dem Café Ruszwurm das Gebäck für die Feierlichkeiten liefern. Seine Tochter Roza ist eine glühende Verehrerin von Kaiserin Sisi, und Geselle Vilmos freut sich über diese einzigartige Chance. Der Konditor selbst, als ehemaliger Freiheitskämpfer der Revolution, weigert sich. Die Familie ist im Zwiespalt. Doch als dann ein ehemaliger Mitstreiter Antals auftaucht, ändert dieser seine Meinung, und eine Verschwörung bahnt sich an, die den Ruf des Cafés und die Zukunft Ungarns aufs Spiel setzt.
Das perfekte Buch für Fans von historischen Romanen und Kaffeehaus-Charme!
Lassen Sie sich entführen in eine hochspannende Geschichte um eines der schönsten und ältesten Kaffeehäuser Budapests!
Leseprobe zu „Ein Café in Budapest (Cafés, die Geschichte schreiben 4)“
1
Buda, Ungarn
Februar 1867
„Niemals!“ Er ballte die Fäuste, und der helle Teig quoll zwischen seinen Fingern hervor.
„Aber Papa!“
Konditormeister Antal Müller atmete tief ein, löste die Finger und strich den Teig sorgfältig zurück in den Backtrog. Es waren die Bewegungen eines Löwen, dessen wilder Natur wie durch ein Zauberwort Einhalt geboten worden war. Róza betrachtete ihren Vater stirnrunzelnd, dieser Mürbeteig war empfindlich. Warum regte er sich so auf? Alle anderen Bäcker diesseits und jenseits der Donau hätten vor Freude einen Luftsprung gemacht, [...]
1
Buda, Ungarn
Februar 1867
„Niemals!“ Er ballte die Fäuste, und der helle Teig quoll zwischen seinen Fingern hervor.
„Aber Papa!“
Konditormeister Antal Müller atmete tief ein, löste die Finger und strich den Teig sorgfältig zurück in den Backtrog. Es waren die Bewegungen eines Löwen, dessen wilder Natur wie durch ein Zauberwort Einhalt geboten worden war. Róza betrachtete ihren Vater stirnrunzelnd, dieser Mürbeteig war empfindlich. Warum regte er sich so auf? Alle anderen Bäcker diesseits und jenseits der Donau hätten vor Freude einen Luftsprung gemacht, anstatt einen teuren Teig zu zerquetschen.
„Aber warum denn nicht? Es ist eine Ehre …“
„Eine Ehre? Hast du gerade ›Ehre‹ gesagt?“, brüllte Antal und warf die Arme hoch, dass der Plätzchenteig durch die Luft flog und in kleinen Klecksen an Wand und Decke hängen blieb.
Róza machte erschrocken einen Satz zurück hinter den großen Arbeitstisch.
„Was ist denn hier los?“ Die Gattin des Meisters, von allen nur Kitti genannt, stand in der Tür.
„Eine Ehre! Eine Ehre, für den verfluchten Habsburger zu backen!“, brüllte Antal außer sich. „Mein eigen Fleisch und Blut!“ Er deutet mit dem Zeigefinger anklagend auf Róza, die hinter ihrer Mutter Schutz gesucht hatte.
„Hatte ich nicht gesagt, ich spreche mit deinem Vater, du dummes Ding?“, zischte Kitti. „Geh!“ Sie machte eine Kopfbewegung zur Tür hinter sich, und ihre Tochter suchte eilig das Weite.
„Ehre!“, schnaufte Antal und stützte sich mit beiden großen Händen auf dem Arbeitstisch ab. Nun klang er erschöpft. Kitti umrundete den schweren Eichentisch, legte ihrem Gatten begütigend die Hand auf den Arm und schmiegte ihre Wange an seine Schulter. Er war ein Bär von einem Mann, doch in Momenten wie diesem war ihm sein Alter plötzlich anzumerken. Über sechzig Jahre zählte ihr Antal, zwanzig Jahre mehr als sie selbst und noch mal zwanzig mehr als Róza.
„Es ist lange her, sie weiß es nicht besser“, sagte Kitti leise.
„Sie sollte es wissen.“
„Junge Leute leben im Heute. Und heute ist eine andere Zeit.“
„Ehre!“ Er spuckte das Wort geradezu aus. „Pah. Ein Gnadenbrot hat er uns gegeben, keine Freiheit.“
„Aber es ist besser als vorher, oder?“
Antal sah seine Frau von der Seite an. „Damit gibst du dich zufrieden?“
„Es ist ein Schritt in die richtige Richtung.“ Kitti warf einen Blick auf den Teig im Backtrog und an den Wänden und schüttelte den Kopf. „Komm, der Ofen ist heiß, und aus dem hier wird nur noch etwas für die einfachen Leute.“
Antal folgte ihrem Blick schuldbewusst und machte sich daran, die Teigreste auf dem Tisch einzusammeln, während Kitti einen Lappen holte, um die Wände abzuwischen.
„Warum hast du nicht gewartet, bis deine Mutter ihn fragt?“
Vilmos Ruszwurm, frischgebackener Geselle des Konditormeisters, maß Mehl in eine Reihe Glasbecher ab.
Róza ließ sich auf den Hocker hinter der Tür sinken. „Ich verstehe einfach nicht, weshalb er so dagegen ist. Als wäre es eine Beleidigung.“
„Offenbar ist es das.“
„Aber wir backen doch auch sonst für den kaiserlichen Hof. Und für Kaiserin Sisi auch.“
„Das ist etwas anderes.“
„Warum soll es etwas anderes sein? Willst du etwa nicht für die Krönung backen?“
Sie sah Vilmos herausfordernd an. Natürlich wollte er auch für die Krönung backen, das wusste sie genau! Schließlich war es eine immense Ehre, eine Auszeichnung, eine Anerkennung harter Arbeit und herausragender Handwerkskunst. Fast wie die Krönung des Meisters selbst und seines Betriebs. Doch ihr Vater sah das anders. Er hatte 1848 für die Befreiung Ungarns vom österreichischen Kaiser gekämpft, und wie das ausgegangen war, war ja bekannt. Doch die Zeiten hatten sich geändert. Kaiser Franz Joseph hatte den ungarischen Reichstag wieder einsetzen müssen. Und auch wenn man dem Kaiser die Stefanskrone aufsetzte und wie seine Vorgänger zum König von Ungarn krönte, war die Nation jetzt nicht mehr nur ein bloßes Territorium der Habsburger. Die Zeitungen waren voll davon. Graf Andrássy war just zum Ministerpräsidenten des ungarischen Parlaments berufen worden, aber den Nationalisten war das zu wenig, und Antal Müller gehörte dazu.
Die Eingangstür des Ladens klingelte. Róza erhob sich, strich ihre Schürze glatt und ging nach vorne ins Geschäft.
„Guten Morgen, Ildikó!“, begrüßte Róza ihre Freundin.
Vilmos steckte den Kopf durch den Vorhang, der den hinteren Arbeitsraum vom Geschäft trennte. „Guten Morgen!“
„Guten Morgen, Herr Geselle!“
„Hat unsere Hofberichterstatterin etwas Neues für uns?“, fragte Róza, während Ildikó ihr einen Zettel mit ihrer Bestellung reichte. Nicht wenige Kunden kauften Kuchen und Gebäck zum Mitnehmen, und Antal Müller arbeitete auch viel auf Bestellung. Die Konditorei der Familie Müller war für die Qualität ihrer Backwaren berühmt. Das dazugehörige kleine Café konnte zwar platzmäßig mit den großen Kaffeehäusern vor allem in Pest nicht mithalten, war jedoch stets gut besucht, was nicht nur am Gebäck, sondern auch an der gemütlichen familiären Atmosphäre lag. Tatsächlich dachten sie darüber nach, einen Durchbruch in den Nebenraum vorzunehmen und dort noch weitere Tische und Stühle aufzustellen. Ildikó stellte ihren Korb auf einem freien Stuhl ab.
„Im Burgpalast drehen alle völlig durch, wie ihr euch sicher vorstellen könnt. Alle Linnen werden ausgetauscht. Aber auch wirklich alle. Selbst die Kerzen, auch wenn sie noch gut waren, und lass mich bloß nicht von dem Silber anfangen. Und das alles in den laufenden Bauarbeiten.“
„Aber man weiß doch nie, wohin sich das Kaiserpaar verirren könnte!“ Róza machte ein übertrieben besorgtes Gesicht.
„Und dann fände die Kaiserin plötzlich irgendwo eine schiefe Kerze!“
„Oder gar einen Fleck.“
Sie lachten.
„Einen Fleck könnte Ihre Hoheit noch verzeihen, aber ein Frühstück ohne die köstlichen Pfefferminzbiskuits der besten Konditorei Ungarns sicher nicht!“, schaltete sich Vilmos ein.
„Da hast du allerdings recht! Habt ihr welche da?“
Róza schüttelte den Kopf und dachte an ihren Vater, wie er wütend den Teig zerdrückt hatte. Sie musste ein plötzliches Gefühl der Sorge verscheuchen.
„Nein, heute nicht. Die backen wir meistens Freitag. Sag uns auf jeden Fall rechtzeitig Bescheid.“
„Das machen die aus der Burgküche sicher.“
Róza nickte, sie war schon ganz aus dem Häuschen vor Vorfreude. Es war immer toll, wenn das Kaiserpaar nach Buda kam. Alles wurde geputzt und schön hergerichtet. Während die Verwaltung hauptsächlich auf der anderen Seite der Donau in Pest war, befand sich die Burg in Buda und ihre Konditorei gleich um die Ecke davon. Eine richtige Burg war es eigentlich nicht mehr, jedenfalls nicht, wie man sich eine Ritterburg vorstellen würde. In der Vergangenheit war sie schon ein paarmal abgebrannt. An dem Burgpalast, der kaiserlichen Residenz hoch über dem Fluss, wurde schon so lange gebaut, wie Róza zurückdenken konnte. Immer wurde er ein bisschen größer und schöner. Anscheinend genauso wie der Hofstaat, der ebenfalls stetig zu wachsen schien. Am allermeisten freute sich Róza auf die Kaiserin. Sie glich einem Engel aus einer anderen Welt, so lieblich war sie. Ihre Kleider waren herrlich und ihr Geschmeide so schön anzusehen! Jeder einzelne Bericht, der über Kaiserin Elisabeth in der Zeitung stand, wurde von Róza gründlich studiert.
„Hast du etwas aus Wien gehört?“
„Nein, die Hofberichterstatterin muss enttäuschen, es ist heute noch kein Brief gekommen.“ Ildikó schüttelte den Kopf.
„Damit ist der armen Róza dieser Tag verleidet“, stellte Vilmos mit Grabesstimme fest.
„Du solltest lieber wieder in die Backstube gehen und nach dem Rechten sehen, ehe Vater dich erwischt.“
Vilmos lüftet elegant einen imaginären Hut vor den beiden jungen Frauen und verschwand wieder im Hinterraum.
„Endlich können wir in Ruhe schwatzen!“, stellte Róza fest und faltete das letzte Papiertütchen mit kleinen Nussplätzchen zu.
„Ach, der Vilmos stört doch nicht.“
„Das sagst du. Ich muss den ganzen Tag mit ihm zusammen sein!“
Ildikó lachte, schüttelte dann aber bedauernd den Kopf. „Ich habe heute leider gar keine Zeit zum Schwatzen. Mutter hat so viel zu tun, da muss ich zu Hause nach dem Rechten sehen.“
Ildikós Familie hatte in vielerlei Hinsicht mit dem kaiserlichen Hof zu tun. Ihr Vater war Orchestermusiker und probte derzeit mit dem berühmten Franz Liszt die Krönungsmesse, die dieser eigens für das große Ereignis komponiert hatte und an der er, wie Herr Szép berichtete, immer wieder kleine Korrekturen vornahm. Frau Szép war eine der Hauswirtschafterinnen des ungarischen Hofstaats, wenn das Kaiserpaar in Buda residierte. Ildikós Tante wiederum war bei der Hofschneiderei angestellt, ein Vetter war Page, und ein anderer arbeitete in den Stallungen. Wer jedoch Ildikó und Róza am wichtigsten war, war Cousine Blanka: Blanka war Unterzofe von Ida Ferenczy, und Frau Ferenczy war Vorleserin und Hofdame der Kaiserin! Blanka war also ganz nahe dran – jedenfalls so nahe, wie es Normalsterblichen wie Familie Szép oder Müller möglich war. Und da Frau Ferenczy zum inneren Kreis von Kaiserin Sisi gehörte, beschränkte sich Blankas Wirken nicht nur auf Zeiten, in denen das Herrscherpaar in Ungarn war, sondern sie reiste mit dem Hofstaat mit, wo immer es die reiselustige Kaiserin hinzog. Von all diesen Erlebnissen berichtete sie Ildikó und somit auch Róza in ausführlichen Briefen, von denen jeder einzelne sehnsüchtig erwartet wurde.
„Vielleicht kannst du mich ein Stück des Weges begleiten?“, schlug Ildikó vor, als sie ihren Korb aufnahm und ein kariertes Leinentuch über die Gebäcktüten breitete.
Róza musste nun ebenfalls bedauernd den Kopf schütteln. „Nein, heute nicht. Ich muss hier die Stellung halten. Mutter ist hinten.“ Róza warf einen Blick über die Schulter. Normalerweise wäre sie jetzt einfach in die Backstube gegangen und hätte Bescheid gesagt, dass sie Ildikó ein Stück begleiten wollte, und Kitti wäre nach vorne ins Geschäft gekommen. Aber nun würde sie das sicher nicht tun. Róza seufzte. Sie hatte gar nicht begreifen können, warum ihre Mutter den famosen Auftrag, von dem sie selbst erst heute Morgen erfahren hatte, ihrem Vater „im richtigen Moment“ hatte vortragen wollen. Nun wusste sie es. Dieser Zornesausbruch hatte Róza völlig unvorbereitet getroffen. Ja, ihr Vater konnte schon aufbrausend sein, aber niemals so, dass er tatsächlich die Beherrschung verlor oder dass es gar seiner Arbeit schadete. Selbst Vilmos hatte er höchstens mal eine Kopfnuss gegeben, wenn dieser als Lehrling einen dummen Fehler gemacht hatte. Wieder sah Róza die kräftigen Hände ihres Vaters vor sich, die den Teig förmlich zermalmten. Es passte nicht zu ihm. Jedenfalls nicht zu dem Antal Müller, der ihr Vater war.
Die Vormittagskundschaft war größtenteils gegangen, nur Herr Hinterreiter saß noch im Café und las die Zeitung. Seine Frau würde ihn demnächst abholen und wieder mit nach Hause nehmen, wenn sie vom Markt zurückkam. Róza polierte die Einrichtung im Geschäft. Die großen Auslagevitrinen waren Kittis ganzer Stolz, und sobald es etwas Leerlauf gab, hatte Róza die Aufgabe, die Holzrahmen zu polieren. Es war eine Arbeit, die sich lohnte, denn der warme Glanz des Walnussholzes verlieh dem kleinen Café eine gediegene Gemütlichkeit. Sie hatte sich zur linken Vitrinenecke vorgearbeitet, als die Glocke an der Eingangstür neue Kundschaft ankündigte. Róza legte Politur und Lappen beiseite und wischte die Hände an ihrer Schütze ab.
„Guten Tag!“, grüßte der Herr höflich. Er war ein hochgewachsener Mann in einem militärisch aussehenden Tuchmantel, der jedoch keine Uniform war, und schon etwas älter, aber doch recht schneidig, wie Róza fand.
„Guten Tag!“
„Eine wirklich schöne Arbeit“, sagte der Fremde, der an den Vitrinen auf der rechten Seite vorbei auf Róza zuschlenderte.
„Ja, wir geben uns viel Mühe mit unserem Gebäck. Was kann ich dem Herrn anbieten?“
„Ich meinte die Holzarbeit.“
„Oh. Pardon.“ Róza spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg, und konnte sich nicht recht erklären, warum ihr das plötzlich so peinlich sein sollte. Der Herr lächelte, und kleine Falten erschienen um seine Mundwinkel. Róza mochte sein Lächeln.
„Die Gebäckstücke sind natürlich auch schöne Arbeiten. Diese hier besonders. Wie heißen sie?“
„Róza.“
„Das Gebäck heißt Róza?“
Róza wäre am liebsten im Boden versunken. Hatte sie gerade allen Ernstes einem Fremden ihre Bekanntschaft aufgedrängt? Wie hatte sie annehmen können, er wolle ihren Namen wissen?
„Ja, sie heißen Róza-Törtchen. Möchten Sie eines?“ Beherzt trat Róza die Flucht nach vorne an.
„Gerne ein anderes Mal, heute nehme ich nur eine Tasse Kaffee.“ Er strich mit der Hand anerkennend über den hölzernen Verkaufstresen. „Ein echtes Kunstwerk. Die Einrichtung“, fügte er unnötigerweise hinzu.
Froh, keine Unterhaltung über vermeintliche Róza-Törtchen führen zu müssen, stimmte Róza dem Gast zu.
„Sie ist alt. Der Onkel meiner Mutter hat sie damals bei einem bekannten Künstler in Auftrag gegeben.“
„Alt.“ Um die Mundwinkel des Gastes zuckte es.
„Wohl über vierzig Jahre schon.“
„Geradezu antik.“
Róza straffte die Schultern. Er machte sich über sie lustig. Für so einen alten Knacker waren vierzig Jahre vielleicht nicht viel, aber ihr erschien es wie ein langer Zeitraum.
„Für so einen alten Knacker wie mich ist das nicht so alt.“
Róza fühlte, wie nicht nur ihre Wangen, sondern auch ihre Ohrenspitzen glühten. Konnte er Gedanken lesen? Doch er lachte nur freundlich.
„Verzeihen Sie, mein Fräulein, das war ungehörig von mir. Für einen jungen Menschen wie Sie ist es sicher ein langer Zeitraum.“
„Nein, mir tut es leid! Bitte entschuldigen Sie, dass ich so unsinnig daherplappere. Suchen Sie sich doch bitte einen Tisch aus, dann bringe ich Ihnen gleich Ihre Bestellung.“ Sie benahm sich wirklich wie ein Backfisch!
Der Herr wandte sich um und schlenderte zu dem Tisch neben der Eingangstür. Er zog sich die Handschuhe aus und legte seinen Zylinder auf den freien Platz neben sich, den Mantel behielt er jedoch an. Als Róza wenig später den Kaffee aufgebrüht hatte, trug sie die Bestellung zu ihrem Gast hinüber.
„Sie sprachen über Ihre Familie. Sind Sie die Tochter des Hauses, also Fräulein Müller?“
Róza nickte und blieb neben dem Tisch stehen. Offenbar verlangte es den Herrn nach ein bisschen Gesellschaft. Zudem hatte sie das dringende Bedürfnis, ihren desaströsen ersten Eindruck zu revidieren. Er sah sich interessiert um.
„Ein wirklich schönes Café, das muss man sagen.“
„Wir backen für den kaiserlichen Hof!“
„Tatsächlich? Das ist ja allerhand.“
„Kaiserin Sisi schätzt besonders unsere Pfefferminzbiskuits.“
Er sah Róza an, aber sie konnte seinen Ausdruck nicht lesen. Beeindruckt schien er jedoch nicht.
„Wahrlich eine Ehre“, stimmte er schließlich zu. „Die Kaiserin sieht nicht aus, als wenn sie viel Gebäck äße.“
Unerklärlicherweise verstimmte Róza auch diese Bemerkung. Natürlich aß die Kaiserin nicht viel Gebäck, sonst wäre sie wohl kaum so ätherisch zart. Rózas Blick glitt an ihrer eigenen, etwas stämmigeren Figur hinunter. Nein, so zart und kostbar wie Kaiserin Sisi würde sie niemals werden, das war ja auch lächerlich. Róza sah auf ihre Unterarme. Die Kaiserin würde aber sicherlich keinen Brotteig kneten können. Bei diesem absurden Gedanken huschte unwillkürlich ein Lächeln über ihr Gesicht.
„Da bin ich aber erleichtert“, bemerkte der Gast unvermittelt.
Róza sah ihn fragend an.
„Ich hatte befürchtet, Sie verärgert zu haben.“
„Mich? Ach herrje, nein, ganz und gar nicht“, beeilte sich Róza zu versichern, einmal mehr aus dem Konzept gebracht.
Dieser Herr war ein wirklich ungewöhnlicher Gast. Er trank seinen Kaffee und sah sich weiter um. Róza wollte gerade gehen, als er meinte: „Erstaunlich, dass ich noch nie hier war.“
„Warum?“
Er setzte seine leere Tasse ab und erhob sich, um sich sogleich mit einer Verbeugung vorzustellen: „Gestatten, Sándor Vargas. Ich bin ein Freund Ihres Vaters.“
Róza blinzelte überrascht. Ein Freund ihres Vaters? Freunde kamen meistens durch den Hof in die Backstube, nicht vorne durchs Geschäft. Dieser Herr Vargas sah auch gar nicht aus wie ein Freund, so stattlich in seinem feinen Mantel und Zylinder. Die Bekanntschaften von Konditor Müller waren Handwerker, wie er selbst einer war, oder vielleicht auch mal kleine Angestellte wie Karl, der Postbote. Abgesehen davon hätte ihr Vater gar keine Zeit, diesen Freund jetzt zu treffen. Die Männer versammelten sich nach Feierabend im Blauen Bären, jetzt musste er doch backen. Etwas ratlos stand Róza am Tisch, doch ehe ihr noch eine Erwiderung auf diese erstaunlich komplizierte Aussage einfiel, hatte Herr Vargas schon seine Handschuhe angezogen. Er lächelte amüsiert auf Róza nieder, was ihre Verwirrung in dem gleichen Maße vergrößerte wie das Gefühl, sich wie eine dumme Gans zu benehmen.
„Grüßen Sie ihn schön von mir. Ich komme bei Gelegenheit wieder vorbei.“ Damit setzte er seinen Zylinder wieder auf und war auch schon durch die Tür hinaus.
Róza sah ihm durch die Scheibe hinterher, wie er die Straße hinunterging und schließlich hinter der Häuserecke verschwand. Welch eine merkwürdige Begegnung. Sie trug das Geschirr nach hinten und steckte dann den Kopf durch die Tür in die Backstube. Antal Müller schlug in Rekordgeschwindigkeit Eier in eine flache Schale.
„Papa?“
„Ja?“, fragte er, ohne aufzusehen oder die Geschwindigkeit seiner Tätigkeit zu reduzieren.
„Da war gerade ein Freund von dir im Café, ich soll dich grüßen.“
Nun hielt er doch inne und sah überrascht hoch. „Wer denn?“
„Ein Sándor Vargas.“
Ihr Vater starrte Róza an. Er schien sehr überrascht zu sein, nein fast ein bisschen schockiert.
„Was hat er gesagt?“
„Dass er noch mal wiederkommen will.“
„Nein, was hat er genau gesagt?“
Róza runzelte die Stirn und zuckte dann mit den Schultern. „Nichts Besonderes. Er hat am Tisch neben der Tür gesessen und nur schnell einen Kaffee getrunken. Kurz bevor er ging, sagte er, dass er dein Freund sei und ich dich grüßen solle und er wiederkommen werde.“
„Das war alles?“
„Ja. Er hat sich noch gewundert, dass er noch nie hier gewesen ist.“
„Hat er gesagt, wann er wiederkommen will?“
„Nein.“
„Hm.“
„Ist er denn dein Freund?“, wollte Róza wissen, deren Neugierde nun richtig entflammt war.
„Ja.“
„Ich habe ihn noch nie hier gesehenen.“
„Ich kenne ihn von früher.“ Damit nahm Antal die Eier wieder auf, und es war offenkundig, dass er nicht weiter über den mysteriösen Herrn Vargas sprechen wollte. Róza sah zu Vilmos hinüber, der am anderen Ende des langen Tisches stand und Zuckerguss rührte. Er zuckte mit den Schultern. Die Türglocke das Cafés klingelte. Das waren sicher die Damen Gackstadter und Prodanz, die kamen immer um diese Zeit. Róza machte auf dem Absatz kehrt, denn die Damen Popanz, wie sie die beiden Stammgäste im Stillen nannte, waren nicht leicht zufriedenzustellen und beschwerten sich gerne.
„Róza!“
Sie machte kehrt und sah ihren Vater überrascht an.
„Das musst du deiner Mutter nicht erzählen, das mache ich schon selbst.“
„Aber …“
„Lass die Gäste nicht warten.“
Was ging hier vor sich?, wunderte sich Róza, als sie zurück ins Café stürmte. Erst sollte sie ihren Vater nicht wegen des Auftrags für das Krönungsbankett fragen, nun sollte sie ihrer Mutter nichts von diesem Vargas sagen. Zum zweiten Mal an diesem Tag musste Róza ein Gefühl der Beunruhigung unterdrücken.
„Ha, ich dachte schon, Sie hätten heute geschlossen!“, wurde sie begrüßt, als sie in die Kaffeestube trat.
Dann wäre wohl kaum die Tür offen gewesen, dachte Róza erbost.
„Guten Tag! Was darf es denn sein?“
Was nun folgte, war immer das gleiche Zeremoniell. Die Damen standen vor der Glasvitrine und schauten und schauten. Und sie stellten Fragen und wunderten sich und schauten noch mehr und nahmen schließlich das, was sie immer nahmen: ein Eclair und ein Schokoladentörtchen. Immerhin mussten sie nicht jedes Mal die Entscheidung, eine Tasse Kaffee zu bestellen, überdenken. Aber ganz frisch und trotzdem nicht zu heiß! Als ob sie hier alten Kaffee servieren würden! Anschließend nahmen die Damen ihren Stammplatz auf dem Sofa ein, kommentierten jeden, der vorbeikam, und ließen dabei kein gutes Haar an den armen Leuten.
Kaum hatte Róza sie bedient, klingelte die Eingangstür erneut. Frau Hinterreiter kam ins Geschäft, um ihren Mann einzusammeln. Schnaufend stellte sie ihre Taschen ab und inspizierte begehrlich die Auslagen.
„Darf es noch etwas sein?“
Frau Hinterreiter schüttelte bedauernd den Kopf. „Ach, Róza, ich musste dieses Kleid schon zum zweiten Mal auslassen. So kann das nicht weitergehen.“
Tatsächlich sah Frau Hinterreiter in ihrem Wollumhang über einem blau-weiß gestreiften Rock samt Krinoline aus wie ein Ball. Oder vielleicht wie ein Lampenschirm? Da half auch kein Korsett.
Nun legte sie den Kopf schief. „Vielleicht irgendetwas ohne Sahnecreme?“
„Wir hätten hier diese kleinen Mürbeplätzchen mit Anis, zum Beispiel“, schlug Róza vor.
„Ja! Anis soll auch gut für die Verdauung sein. Dann nehme ich eine Tüte davon.“
Während Róza Plätzchen in eine Papiertüte füllte, ging Frau Hinterreiter an den Tisch der Damen Popanz und sprach mit ihnen über das Wetter, das bei älteren Leuten erstaunlicherweise immer ein ergiebiges Thema war. Entweder war es zu warm, oder es war zu kalt. Herr Hinterreiter hatte sich inzwischen erhoben und seinen Hut aufgesetzt. Seine Gattin kam zu Róza zurück, nahm die Plätzchen entgegen und zahlte etwas umständlich. Dann drückte sie ihrem Gatten die Einkaufstasche in die Hand und verließ mit ihm das Kaffeehaus.
Herr Hinterreiter erinnerte Róza immer ein bisschen an einen Schoßhund, der traulich seinem Frauchen folgte. Er sprach nicht viel, war aber ein freundlicher, bescheidener Gast, der immer „bitte“ und „danke“ sagte und gerne auch „wenn es keine Umstände macht“. Es war schon erstaunlich, welche Menschen zu einer Ehe zusammenfanden. Obwohl sie die Damen Popanz nicht ausstehen konnte, waren sie für Róza doch eine wichtige Informationsquelle für Klatsch und Tratsch. Wenn jemand wusste, was im Burgenviertel und darüber hinaus vor sich ging, waren es diese beiden. Aus diesem Grund hatte Róza, wenn es keine anderen Gäste gab oder diese schon zufriedengestellt waren, auch immer etwas in der Nähe ihres Tisches zu tun. Sie richtete die weißen Spitzendeckchen auf den Tischen oder die Blumen oder die Kissen oder füllte Zuckerbruch nach.
„Ich sage dir, die ist guter Hoffnung!“, hörte Róza jetzt, als sie die Teller auf dem Tisch abstellte.
„Es ist das Elfte!“
„Ist nicht eines vor Weihnachten gestorben?“
„Was macht das für einen Unterschied?“
Frau Gackstadter sah zu Róza auf. „Vorsicht mit dem Kaffee, Kindchen.“
Vorsicht mit dem Kaffee? Kindchen? Als würde sie das zum ersten Mal machen, ärgerte sich Róza, während sie mechanisch lächelte. Es war jedes Mal das Gleiche, und jedes Mal ärgerte sie sich, um sich anschließend darüber zu ärgern, dass sie sich ärgerte.
Sie stellte das Tablett auf dem Nachbartisch ab und strich die runde Spitzendecke in der Mitte glatt. Letztes Jahr hatte ihre Mutter die Lochstickereien gegen Klöppelarbeiten ausgetauscht. Das sei schicker und jetzt sehr modern, hatte sie gemeint. Die geklöppelten Deckchen lagen aber leider nicht so flach wie die aus Webstoff und sahen daher, wie Róza fand, immer einen Tick unordentlich aus. Wenn sie einmal die Konditorei übernahm, würde sie wieder Lochstickerei auflegen. Andererseits gab es ihr einen Vorwand, an den Tischen zu verweilen und so vielleicht herauszufinden, wer denn nun sein elftes Kind erwartete.
„Mein Gatte sagt, dieser Ausgleich wird den Kaiser schwächen“, wechselte Frau Prodanz zu Rózas Enttäuschung abrupt das Thema.
„Tatsächlich? Mir scheint die Krönung doch nur angemessen und auch überfällig. Schließlich war das Haus Habsburg doch immer Oberhaupt von Ungarn, oder nicht?“
„Aber niemals musste ein österreichischer Kaiser Konzessionen dafür machen, sagt mein Mann.“
Herr Prodanz, ein Geheimrat, sagte so einiges, das seine Gemahlin dann gerne in die Welt hinaustrug. Róza interessierte sich nicht für Politik. Warum auch? Die kleinen Leute hatten sowieso keinen Einfluss auf das, was die hohen Herren entschieden. Ihr Vater hatte in der Revolution gekämpft und war interniert worden. Er sprach nicht gerne darüber. Das war vor Rózas Zeit gewesen, und nun hatte es Familie Müller doch gut: die beste Konditorei am Platz, sie waren angesehen und konnten sich schöne Dinge leisten. Sie hatten so viel mehr als andere. Warum sollte man das alles aufs Spiel setzen? Und doch wollte ihr Vater nicht für „diesen Habsburger“ backen. Róza konnte sich nicht des Gefühls erwehren, dass sich etwas zusammenbraute, etwas, das sie nicht verstand und eigentlich auch lieber gar nicht verstehen wollte.
Die Türglocke schellte wieder. Es war Maria von der Krone. Die Krone war das Hotel drei Straßen weiter. Es hatte eigentlich einen pompösen deutschen Namen, aber jeder nannte es nur die Krone, weil auf dem Schild über der Tür eine solche zu sehen war. Angeblich hatte Kaiser Leopold II. einmal dort übernachtet, obwohl böse Zungen behaupteten, dass das Hotel zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gestanden habe. Maria kam jeden Tag, um für die Hotelgäste Gebäck für das Nachmittagsgedeck zu holen. Róza fand, dass die Leute dann eigentlich auch direkt zu ihnen ins Kaffeehaus kommen könnten, aber die Krone wollte die Gäste natürlich lieber für sich behalten. Sie ließ von dem Deckchen ab und begrüßte Maria.
„Hast du gehört, dass wir für die Krönung einen Teil des Hofstaates beherbergen sollen?“, platzte es aus Maria heraus.
„Das ist ja toll, wen denn?“ Die Damen Popanz reckten die Hälse, um hören zu können. „Sind es wichtige Leute?“, fuhr Róza daher auf Ungarisch fort. Gut die Hälfte der Einwohner von Buda und Pest waren keine Ungarn und sprachen ausschließlich Deutsch. Deutsch war auch die offizielle Sprache, und während viele städtische Ungarn Deutsch sprachen, war es umgekehrt nicht so. Außer die Kaiserin Sisi, die vor ein paar Jahren angefangen hatte, Ungarisch zu lernen, und auch deshalb von Róza und Ildikó und sicher allen anderen Ungarn so sehr geliebt wurde.
„Die wichtigen Leute wohnen natürlich auf der Burg. Aber trotzdem sind alle sehr aufgeregt. So ein bisschen herrschaftliches Flair ist gut fürs Geschäft.“ Maria deutete auf ein Kringelgebäck. „Ist das mit Haselnuss?“
„Nein, das ist Walnuss.“
„Ich nehme es trotzdem, zwanzig Stück.“
„Gerne.“
„Das merkt sowieso keiner.“
Rózas Zange hatte gerade das Gebäck erreicht und verharrte dann abrupt. „Was meinst du mit ›das merkt keiner‹?“
„Nuss ist Nuss.“
„Nuss ist Nuss?“ Róza zog die Zange zurück und stemmte die Hände in die Hüften.
„Nun mach schon, Róza, ich habe es eilig.“
„Nuss ist Nuss? Das ist doch wohl nicht dein Ernst. Eine Haselnuss schmeckt doch ganz anders als eine Walnuss!“, empörte sich Róza.
Maria zuckte mit den Schultern.
„Nein, so kann ich dir das nicht verkaufen.“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
Maria starrte sie konsterniert an und wollte gerade zu einer Erwiderung ansetzen, als Vilmos mit einem Blech Makronen aus der Backstube kam. Er blickte von einer zur anderen.
„Oha!“, rief er lachend. „Was ist passiert?“
„Maria sagt, alle Nüsse schmecken gleich!“, beschwerte sich Róza.
„Das habe ich gar nicht gesagt.“
„Das hast du wohl gesagt!“
„Kann ich jetzt endlich die Kringel haben? Ich bin spät dran.“
„Walnusskringel.“
„Herrje, das ist mir doch gleichgültig. Ob Haselnuss oder Walnuss, ich bekomme sowieso nichts davon ab.“
Vilmos nahm einen Kringel aus der Vitrine, brach ein Stück davon ab und reichte es Maria über den Tresen.
„Hier, probier mal. Das ist Walnuss.“
Maria steckte sich das Gebäckstück in den Mund und kaute. Währenddessen holte Vilmos ein Stück Haselnusskuchen aus der Auslage und brach auch hiervon ein Stück ab.
„Und das ist Haselnuss. Es ist zwar ein Rührteig, aber der Geschmack ist ganz ähnlich wie der von den Kringeln.“
Maria aß auch dies mit offensichtlichem Genuss.
„Und? Schmeckt doch unterschiedlich, oder?“, fragte Vilmos freundlich.
„Ja. Und sehr lecker.“
„Siehst du?“ Vilmos drehte sich zu Róza um, die widerwillig zwanzig Walnusskringel in die Tüte abzählte und sie auf die Rechnung schrieb, die immer mittwochs vom Hotelbesitzer beglichen wurde. Maria verstaute das Gebäck in ihrem Korb und eilte auch schon davon.
„Nuss ist Nuss“, brummte Róza.
„Mensch, Róza, du kannst doch nicht die Gäste vergraulen.“
„Das war kein Gast, das war Maria.“
Vilmos lachte. Er steckte sich das verbleibende Stück Nusskuchen in den Mund.
„Lass dich nicht erwischen.“
„Na, hör mal, ich habe den gemacht, da muss ich doch kosten, ob er etwas geworden ist.“
Die Damen am Fenster, die die gesamte Szene wenn schon nicht verstanden, so doch beobachtet hatten, sahen missbilligend zu ihnen herüber.
„Nun geh schon“, scheuchte Róza Vilmos zurück in die Backstube. Bestimmt würden die Damen Popanz alles ihrer Mutter erzählen. Róza arrangierte die Makronen auf dem dafür vorgesehenen Silbertablett und seufzte. Mal wieder war ihr Temperament mit ihr durchgegangen. Aber wie konnte man denn behaupten, alle Nüsse schmeckten gleich? Das hieße ja, alle Kringel schmeckten gleich! Also wirklich!
Gegessen wurde in der Wohnküche, die gleich neben der Backstube lag. Sie grenzte außerdem an den Arbeitsraum der Kaffeestube, die sogenannte Caféküche. Eine weitere Tür ging zum Schlafzimmer von Rózas Eltern ab, und die Hintertür schließlich führte auf den Hof. Letztere war die Tür, durch die Bewohner, Verwandte und Freunde das Haus betraten. Der Vordereingang war den zahlenden Gästen vorbehalten. An der Wand neben der Tür zur Caféküche stand das hohe, leicht abgewetzte Sofa, auf dem Antal seinen Mittagsschlaf zu halten pflegte, davor der ovale Tisch samt Stühlen. Es war genug Platz, auch für Gäste. Wenn in der Konditorei etwas angeliefert wurde, Holz oder Mehl zum Beispiel, durften die Lieferanten mitessen. Heute waren sie aber nur zu viert, der Meister, Kitti, Róza und er selbst.
Vilmos setzte sich auf seinen angestammten Platz. Kohlrouladen! Ihm lief das Wasser im Munde zusammen, wahrlich, er war ein Glückspilz! Also, seitdem Meister Antal ihn als Laufburschen angestellt und dann später in die Lehre genommen hatte. Davor natürlich nicht so sehr. Seine eigene Mutter hätte niemals Kohlrouladen auf den Tisch bringen können, schon gar nicht für zehn Kinder und die Großeltern. Es war so lange her, dass er seine Familie gesehen hatte, dass er sich nicht einmal mehr genau an das Gesicht seiner Mutter erinnern konnte. Nur ein Gefühl war geblieben, eine vage Sehnsucht. Doch hauptsächlich verband er mit seiner Kindheit Hunger und Schläge von seinem Großvater. An seinen Vater konnte Vilmos sich nicht erinnern. Er hatte bei der Armee gedient. Nicht als Offizier natürlich, sondern in der Versorgung. Genaueres wusste Vilmos nicht. Der Vater war nur sporadisch nach Hause gekommen, gerade lange genug, um ein weiteres Kind zu zeugen und dann wieder zu verschwinden. Irgendwann war er dann gar nicht mehr gekommen. Der Großvater hatte Vilmos als Jungknecht an einen Bauern, man konnte wohl sagen, „verkauft“, aber da gab es auch nichts zu essen und noch mehr Schläge. Also war er geflüchtet und schließlich in Buda gelandet. Hätte Kitti ihn damals nicht beim Klauen erwischt und ihn anstatt der Gendarmerie dem Meister übergeben, wäre sein Leben jetzt sicher ein anderes. Ja, er war wirklich ein Glückspilz! Oh, wie das duftete! Vilmos füllte sich enthusiastisch Kartoffeln auf.
Róza knuffte ihn in die Seite. „Man könnte meinen, es gäbe morgen keine mehr.“
„Weiß man’s?“
Sie schüttelte nur den Kopf. Vilmos ließ von den Kartoffeln ab. Was wusste Róza schon von Hunger? Aufgewachsen in einer Zuckerbäckerei! Kitti verteilte die Rouladen, und nach dem Tischgebet herrschte Schweigen. Es dauerte eine Weile, ehe Vilmos bemerkte, dass das übliche Schweigen heute tiefer schien als sonst. Er blickte in die Runde. Der Meister, Kitti und Róza konzentrierten sich auf den Inhalt ihrer geblümten Teller. Etwas stimmte nicht. War es dieser Auftrag? Oder der mysteriöse Gast? Oder hatten die Damen Popanz gepetzt? Vilmos zog innerlich ein bisschen den Kopf ein.
Die Müllers waren das, was man „charakterstark“ nannte. Der Meister war ein langmütiger Bär, aber wenn er zu sehr gereizt wurde, wackelten die Wände. Kitti war vernünftig und pragmatisch, wenn sie allerdings etwas durchsetzen wollte, dann war sie nicht aufzuhalten, noch weniger, wenn sie etwas in Erfahrung bringen wollte. Die Konditorei hatte zuvor ihrem Onkel, nein eigentlich ihrer Tante gehört. Und so hatte Kitti, sicher nicht zu Unrecht, das Gefühl, dass sie im Geschäft ein Wörtchen mitzureden hatte. Oder, wenn Vilmos es recht bedachte, die Hosen anzuhaben. Was sich ja auch bewährt hatte, nicht umsonst hatten sie das beste Kaffeehaus der Stadt, und die Konditorei bekam sogar Aufträge aus Wien. Und nun sollte der Meister sogar für das Krönungsbankett backen!
Vilmos warf einen Seitenblick auf Róza. Falls Róza jetzt nicht alles vermasselt hatte. Warum hatte sie nicht einfach abwarten können? Das war schon immer so gewesen: erst handeln, dann denken! Aber es war ihm unmöglich, sich lange über sie zu ärgern, denn er hatte sie wirklich sehr, sehr gern – so wie er alle Müllers sehr gernhatte, inzwischen war er Teil der Familie. Weil Vilmos natürlich niemals das Lehrgeld hätte aufbringen können, hatte er mit dem Meister verabredet, dass er als Geselle noch zwei Jahre für Kost und Logis arbeiten würde. Eigentlich konnte er sich gar nicht vorstellen, je woanders zu backen. Und der Meister wurde ja auch nicht jünger. Aber das war Zukunftsmusik, über die er sich jetzt noch keine Gedanken machen sollte.
„Du hast dich mit Maria gestritten?“, fragte Kitti unvermittelt.
Róza schüttelte den Kopf, ohne aufzusehen. „Habe ich nicht.“
Kitti warf ihrer Tochter einen eindringlichen Blick über den Tisch zu. „Was war es dann?“
Róza reckte das Kinn. „Ist schon schlecht, wenn man jemanden anschwärzen will, aber die Sprache nicht versteht, nicht wahr?“
Jetzt sah auch der Meister auf und blickte fragend in die Runde. Mutter und Tochter starrten einander mit zusammengezogenen Brauen an.
„Die Damen Gackstadter und Prodanz fühlten sich bemüßigt, mich darauf hinzuweisen, dass sie sich durch eine Auseinandersetzung zwischen Róza und einer Kundin …“
„Maria.“ Róza rollte mit den Augen.
„… einer Kundin in ihrem Aufenthalt gestört fühlten. Und dass dann tatsächlich noch der Geselle aus der Backstube kam, um Nusskuchen zu essen.“
„Was?“, entfuhr es Vilmos entrüstet.
„Ich frage mich also, was da los war.“
Róza und Vilmos begannen ihre Verteidigung gleichzeitig.
Kitti hob die Hand. „Einer nach dem anderen, wenn ich bitten darf.“
„Maria, die Kundin“, Róza betonte das Wort besonders, „kam und wollte Haselnusskringel.“
„Maria ist eine Kundin. Es ist gleichgültig, ob du mit ihr zur Sonntagsschule gegangen bist oder nicht, sie arbeitet jetzt in der Krone, und das Hotel Krone ist ein guter Kunde von uns. Damit ist auch Maria eine Kundin!“, antwortete Kitti streng.
Róza presste die Lippen zusammen.
„Also?“
„Also, die gute Kundin Maria kam und wollte Haselnusskringel. Wir hatten keine Haselnusskringel. Ich bot ihr Walnusskringel an, und sie sagte, das sei in Ordnung, denn Nuss sei Nuss, man schmecke ohnehin keinen Unterschied.“
„Wie?“ Der Meister straffte sich.
„Das hat sie gesagt!“, wandte sich Róza, Unterstützung suchend, an ihren Vater.
„Unerhört!“ Aber er schmunzelte.
Seine Frau warf ihm einen bösen Blick zu, fuhr jedoch in ihrem Verhör fort: „Und dann?“
„Dann kam Vilmos.“
Nun war es Vilmos, der Róza einen vorwurfsvollen Blick zuwarf. Warum musste sie die Aufmerksamkeit jetzt auf ihn lenken?
„Und er kam, um die Makronen zu bringen, und nicht, um Nusskuchen zu essen!“, stellte Róza richtig.
„Ich habe lediglich Maria von dem Kuchen kosten lassen, damit sie den Unterschied schmeckte. Wie soll sie das sonst lernen?“, fragte Vilmos treuherzig. Der Meister nickte gefällig, während Kitti zweifelnd von einem zur anderen sah. Natürlich hatten sie Rózas Weigerung, Maria die Walnusskringel zu verkaufen, unerwähnt gelassen. Die Geschichte machte aber Gott sei Dank trotzdem einigermaßen Sinn.
„Ich möchte, dass ihr beide euch im Café angemessen verhaltet. Was sollen denn die Gäste denken, wenn ihr euch da streitet!“
„Wir haben doch gar nicht gestritten!“, kam es gleichzeitig aus Rózas und Vilmos’ Mund.
„Und es gibt auch keinen Kuchen umsonst für Maria!“, setzte Kitti nach, nun offensichtlich doch etwas in der Defensive.
„Aber Liebes, wenn sie noch nicht einmal Haselnüsse von Walnüssen unterscheiden kann?“
„Jetzt fang du nicht auch noch an!“, schnappte Kitti in Antals Richtung und erhob sich, um abzuräumen. Aber der Meister erwischte sie an der Schürze und zog sie auf seinen Schoß.
„Hör doch nicht auf das Geschwätz der alten Weiber.“
„Aber es sind Stammkundinnen. Und ich möchte nicht, dass sie überall erzählen, in unserem Kaffeehaus gehe es zu wie in einer Kneipe.“
„Aber sie haben doch gar nicht verstanden, was eigentlich los war, oder?“
„Es geht um unseren Ruf“, beharrte Kitti, aber ihr Zorn war verpufft. Sie warf einen Blick über die Schulter zu Róza und Vilmos.
„Das nächste Mal sprecht ihr Deutsch.“
„Also, das wäre ja nun noch schöner!“, empörte sich Antal.
Kitti erhob sich, nahm die Teller wieder auf und trug sie zum Spülstein. „Es ist den Gästen gegenüber höflicher.“
„Wir sind hier in Ungarn, und da spricht man eben Ungarisch.“
„Wenn man aber auch Deutsch kann, ist es höflicher, die Sprache zu sprechen, die alle verstehen“, insistierte Kitti.
„Die könnten ja auch Ungarisch lernen, die Kaiserin tut das schließlich auch“, warf Róza ein, obwohl es im Allgemeinen besser war, sich aus Auseinandersetzungen ihrer Eltern herauszuhalten.
„Will das Fräulein jetzt nur noch an Menschen mit Ungarischkenntnissen verkaufen? Oder an Leute, die alle Nusssorten kennen?“
Róza reckte kampfeslustig das Kinn, aber Vilmos flüsterte: „Komm, lass uns verschwinden.“
„Das stände den Bleistiftkratzern auf dem Amt gut zu Gesicht, wenn sie mehr als nur Deutsch könnten“, brummte Antal.
„Darum geht es hier doch gar nicht!“ Kitti verschränkte die Arme vor der Brust.
Vilmos und Róza verließen eilig die Küche.
„Ich finde, dass Vater recht hat“, meinte Róza, als sie die Tür zur Wohnküche geschlossen hatte und sich wieder ihre Schürze umband.
Vilmos zuckte mit den Schultern. „Sprechen die bei Hofe nicht auch Französisch? Oder verstehst du, was der Priester in der Kirche auf Latein sagt? Ist doch gleichgültig, wer welche Sprache spricht, Hauptsache, die kaufen bei uns.“
„Da hast du auch wieder recht.“
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