Ein ehrenwerter Tod (Commissario-Benussi-Reihe 4) - eBook-Ausgabe
Ein Triest-Krimi
Ein ehrenwerter Tod (Commissario-Benussi-Reihe 4) — Inhalt
Während herbstliche Stürme über Triest hinwegfegen, wird eine junge Frau aus der Ukraine brutal zusammengeschlagen und vor den Toren eines Klosters liegen gelassen. Da Commissario Benussi am Herzen operiert wird, müssen seine beiden Mitarbeiter Elettra und Valerio beweisen, was in ihnen steckt. Doch viel können sie über Julija, so der Name des Opfers, nicht herausfinden, nur dass sie kürzlich ein Baby verloren hat – ob ungewollt oder nicht wissen sie nicht, denn Julija liegt im Koma. Kurz darauf wird eine vierundsechzigjährige Touristin im Park einer Villa erstochen. Hat derselbe Täter erneut zugeschlagen? Sämtliche Hinweise führen zu dem Bed & Breakfast, in dem die Amerikanerin übernachtet hat, beziehungsweise zu den anderen amerikanischen Gästen dort. Doch alle Verdächtigen haben für die Tatzeit ein hieb- und stichfestes Alibi ...
Leseprobe zu „Ein ehrenwerter Tod (Commissario-Benussi-Reihe 4)“
1 Inspektorin Elettra Morin hatte kein Auge zugemacht.
Und nicht nur wegen der Bora, die sich die ganze
Nacht über erbittert gegen die alten Fenster ihrer Einzimmerwohnung
in der Via Tigor geworfen hatte.
Schuld war ihr Kollege Valerio Gargiulo, der wie ein betrunkener
Husar schnarchte. Sie hätte ihn geweckt, aber
sie wusste, dass es nutzlos war. Es wäre ihm nur unendlich
peinlich gewesen. Schließlich war sie es gewesen, die nach
dem Essen darauf bestanden hatte, dass er über Nacht
blieb. Sie hatten beide zu viel getrunken, und das Resultat
war dieses großartige [...]
1 Inspektorin Elettra Morin hatte kein Auge zugemacht.
Und nicht nur wegen der Bora, die sich die ganze
Nacht über erbittert gegen die alten Fenster ihrer Einzimmerwohnung
in der Via Tigor geworfen hatte.
Schuld war ihr Kollege Valerio Gargiulo, der wie ein betrunkener
Husar schnarchte. Sie hätte ihn geweckt, aber
sie wusste, dass es nutzlos war. Es wäre ihm nur unendlich
peinlich gewesen. Schließlich war sie es gewesen, die nach
dem Essen darauf bestanden hatte, dass er über Nacht
blieb. Sie hatten beide zu viel getrunken, und das Resultat
war dieses großartige Konzert aus Zisch-, Grunz- und
Röchellauten, das sie über Stunden wach gehalten hatte.
Sie beschloss, noch ein wenig zu lernen. Der interne
Kommissarlehrgang stand bevor, und sie hoffte, es dieses
Mal wirklich zu schaffen. Wenn sie bestand, würde sie
wahrscheinlich Triest verlassen müssen, das war ihr klar.
Den hitzköpfigen und empfindlichen Commissario Ettore
Benussi, ihren Vorgesetzten, konnte sie bestimmt nicht
verdrängen, auch wenn er seit Jahren schon von der sehnlichst
erwarteten Pensionierung redete. Er würde es niemals
ertragen beiseitezutreten.
Doch die Vorstellung war ihr gar nicht mal so unangenehm. Triest wurde ihr allmählich zu eng.
Ihr ganzes Leben wurde ihr allmählich zu eng.
Die Beziehung zu Valerio, die in Wirklichkeit wesentlich
besser lief, als sie es jemals erwartet hätte, war an einer
schicksalsträchtigen Klippe angelangt: Ein „Qualitätssprung
“ musste her. Nach zwei Jahren Beziehung „ohne
Verpflichtungen“ begann Gargiulos sprichwörtliche neapolitanische
Geduld fadenscheinig zu werden.
Was Laura betraf, ihre leibliche Mutter, die sie erst
jüngst wiedergefunden hatte, so schwankten Elettras Gefühle
zwischen Schuld und dem dringenden Bedürfnis,
die Flucht zu ergreifen. War es nicht Mutter Teresa gewesen,
die gesagt hatte, dass mehr Tränen vergossen werden
wegen erhörter Gebete als wegen unerhörter? In Wahrheit
hatten Tränen eigentlich nichts damit zu tun, was
sie gegenüber dieser Fremden empfand, die jahrelang
ihre Fantasie beschäftigt hatte. Da waren Enttäuschung,
Fremdheit, Unduldsamkeit. Alles Gefühle, die ihr keine
Ehre machten, das wusste sie, aber sie wurde sie nicht
los. Umso weniger, als besagte Erzeugerin im Gegensatz
zu ihr ganz begeistert darüber schien, die verlorene Tochter
wiedergefunden zu haben, und sie per WhatsApp mit
Herzchen und Emojis überschüttete, die ihre Nerven aufs
Äußerste strapazierten.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken.
Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach sieben.
„Ja, Pitacco? Wo? In Ordnung, ich bin gleich da. Ja, ich
benachrichtige den Commissario.“
Valerio war bereits auf den Beinen, vom Läuten des
Telefons geweckt, und zog sich an.
„Ein Mädchen wurde halb tot aufgefunden.“
„Wo?“
„Bei Pater Florence.“
„Gib mir zwei Minuten.“
Valerio ging ins Bad, während Elettra ihren Vorgesetzten
anrief.
Es war der letzte Tag im Oktober, und die Kälte begann
sich bemerkbar zu machen.
Seit einiger Zeit fühlte Kommissar Ettore Benussi sich
nicht gut. Ohrensausen, Schwindel und Übelkeit machten
ihm zu schaffen, sodass er noch reizbarer und unduldsamer
wurde als ohnehin schon. Seiner Frau Carla hatte er
nichts davon gesagt, weil er ihre Neigung, sich als Krankenschwester
zu betätigen, fürchtete. Sie würde ihn sofort
zum Blutbild schicken, und er ließ sich nicht gern piksen.
Er wusste, dass es lächerlich war, aber wenn er nur eine
Nadel sah, war er schon nah an einer Ohnmacht.
Der Reflex war einfach stärker als er.
An diesem Morgen hatte er jedoch einen gehörigen
Schreck bekommen, als er im Bad das Gleichgewicht verloren
und zu Boden gestürzt war, nachdem ihm ein stechender
Schmerz ins rechte Bein gefahren war. Genau
an der Stelle, an der er es sich vor zwei Jahren gebrochen
hatte, als er einen jungen Mann zu retten versucht hatte,
der sich umbringen wollte.
Nur mit großer Anstrengung, verstärkt noch durch
die Leibesfülle, die ihm die einfachsten Bewegungen erschwerte,
gelang es ihm, wieder auf die Beine zu kommen.
Schnaufend ließ er sich auf den Toilettensitz fallen.
Mit einem tiefen Seufzen betrachtete er sich im Spiegel.
Nach einem halben Jahrhundert ehrenvollen Dienstes bei
der Polizei – was war nur aus dem ehrgeizigen, allseits gefürchteten
Commissario Ettore Benussi von der Kriminalpolizei
Triest geworden?
Das, was er da vor sich sah.
Ein hässlicher Mann von sechzig Jahren, das Haar spärlich
und angegraut, die Haut von schrecklichen dunklen
Flecken durchzogen und, was noch deprimierender war,
schon wieder in einem Meer aus kompaktem Fett ersoffen;
den ewigen Kampf gegen die Waage hatte er unwiderruflich
verloren. Ein gescheiterter Schriftsteller, der
sich der Illusion hingegeben hatte, seinem Leben mit
dem Schreiben – und erfolgreichen Veröffentlichen – eines
Kriminalromans eine Wendung geben zu können, welcher
jedoch vollkommen unbeachtet geblieben war. Nach
Erscheinen war er sofort untergegangen in der Masse
vergleichbarer Bücher, die den aufgeblähten Buchmarkt
überschwemmten. Ein unzulänglicher Vater einer höchst
komplizierten Tochter, die mit achtzehn Jahren nichts
wollte als Triest verlassen, ansonsten aber nicht die geringste
Vorstellung davon hatte, was sie mit ihrem Leben
anfangen könnte. Ein enttäuschender Ehemann für Carla,
seine Frau, der es, nach einer traumatischen Entführung
durch einen Verrückten, wie vielen anderen Frauen gelungen
war, sich aus der Asche zu erheben und sich mit noch
mehr Energie und Einsatz ins Leben zurückzustürzen. Die
Tatsache, dass sie ihn immer noch liebte, verstärkte seine
Schuldgefühle. Was hatte er ihr denn zu bieten außer seiner
ständig schlechten Laune und einem unbegründeten
Groll gegen alles und alle?
Ein typischer Italiener.
Das war er.
Stets großzügig gegenüber eigenen Schwächen und intolerant
gegenüber denen anderer; polemisch, verächtlich
gegenüber seinesgleichen, die prinzipiell schuld waren an
allen Missständen des Landes; Missstände, für die er sich,
wie alle anderen Italiener auch, nicht im Mindesten verantwortlich
fühlte.
„Ettore!“ Die durchdringende Stimme seiner Frau riss
ihn aus seinen nutzlosen Grübeleien.
„Ich bin im Bad!“, wollte er antworten, aber es wurde
nur ein ersticktes Röcheln.
Carla schaute besorgt herein. Sie sah, wie er zittrig im
derangierten Schlafanzug auf der Toilette saß, blass und
zerzaust.
„Was ist denn mit dir passiert?“
Benussi räusperte sich und versuchte, den Schmerz im
Bein zu überspielen.
„Nichts … wieso?“
„Du siehst schrecklich aus!“
„Es … ist nichts, mir … geht’s gut.“
„Sicher?“
„Natürlich!“
Carla verbarg ihre Skepsis nicht, zog es aber vor, das
Spiel mitzuspielen. „Morin hat angerufen, sie sagt, bei Pater
Florence habe es einen Überfall gegeben.“
„Ich … ich komme!“
Seine Stimme klang erstickt und schwach. Carla drehte
sich um und sah ihn an, verunsichert.
„Alles in Ordnung?“
Mit einer verärgerten Handbewegung forderte der
Kommissar seine Frau auf hinauszugehen. „Aber klar, alles
bestens … Nun geh schon.“
Als sich die Tür endlich schloss, versuchte er aufzustehen,
indem er sich an der Wand abstützte. Kaum hatte
er es mühsam in die aufrechte Position geschafft, spürte
er, wie es ihn erneut zu Boden zog.
Alarmiert durch die Geräusche, steckte Carla abermals
den Kopf durch die Tür. „Was ist passiert?“
„Der Kopf …“
„Was ist mit deinem Kopf?“
„Er dreht sich mir …“
„Stütz dich auf mich, ich helfe dir.“
„Nein, es ist … nichts …“, sagte er kaum hörbar.
„Hast du schon wieder eine Diät angefangen?“
„Ja …“, log er.
„Wahrscheinlich bist du unterzuckert. Komm, leg dich
noch mal hin. Ich hole dir was zu essen.“
Während er sich fühlte wie Pinocchio gegenüber Geppetto,
verließ der große Commissario Benussi das Badezimmer
und zog es vor, sein Unwohlsein lieber darauf zurückzuführen,
dass er zu wenig gegessen habe, als sich etwas
wesentlich Beunruhigenderem zu stellen, dem er sich
in keinerlei Hinsicht gewachsen fühlte.
Der Himmel über Triest war mit dicken Wolken bezogen,
die alles andere als zuversichtlich stimmten. Die dunkle
Bora, die die ganze Nacht gewütet hatte, zeigte keinerlei
Neigung nachzulassen. Als reichte das noch nicht, hatte es
auch noch angefangen, in Strömen zu regnen.
Valerio Gargiulo fühlte sich unwohl. Er fuhr nicht gern
bei solchem Wetter. Außerdem ärgerte er sich über den
vergangenen Abend. Er hätte nicht nachgeben dürfen, er
hätte zum Schlafen nach Hause gehen sollen. Er ertrug
seine Nachgiebigkeit gegenüber Elettra nicht mehr. Jeden
Morgen beschloss er, dass es ihm reichte, dass er genug
hatte von diesem Hin und Her, und jeden Abend, kaum
dass sie vorschlug, gemeinsam zu essen, gab er nach, ohne
es wirklich zu wollen. Später bereute er es.
Das war keine Liebe.
Das war eine Krankheit.
Er musste unter allen Umständen hier weg, eine Versetzung
beantragen, diese unterkühlte und unzugängliche
Stadt verlassen, die ihn vor vier Jahren verführt hatte, doch
ohne ihm jemals das Gefühl vermitteln zu können, angenommen
worden zu sein, genau wie seine Kollegin Elettra
Morin. Er sehnte sich nach Wärme, nach Sonne, danach,
sich an ein vertrautes Meer zu setzen, wo es vor Leben
wimmelte, nach vertrauten Stimmen, danach, eine schöne
warme Sfogliatella zu bestellen, ein paar Worte mit Freunden
zu wechseln, vielleicht im Hintergrund irgendein geliebtes
neapolitanisches Lied zu hören und sich von der
schlichten Freude am Leben tragen zu lassen, die er als
Student empfunden hatte. Alles, was ihn anfangs hierhergezogen
hatte, war sowieso abgestorben angesichts der
Ablehnung, die ihm entgegenschlug, und des Unwohlseins,
das sein Herz umklammerte.
Nachdem er nur knapp einem vom Wind umgestürzten
Motorroller hatte ausweichen können, fand er sich plötzlich
einem Müllcontainer gegenüber, den der Wind mitten
auf die Straße geschoben hatte. Das waren die Überraschungen
der Bora: überall verstreute Hindernisse, die
den Autofahrern das Leben schwer machten. Um einen
Zusammenstoß zu vermeiden, riss er das Lenkrad herum
und geriet dabei auf die Gegenfahrbahn.
„Pass auf!“, rief Elettra, die einen entgegenkommenden
Bus sah. Erschreckt riss Valerio das Lenkrad gleich noch
mal herum, mit minimalem Abstand fuhren sie aneinander
vorbei.
„Madonne, chi tè muorto!“, fluchte er, während das
Adrenalin durch seine Adern rauschte.
Elettra konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie
liebte es, wenn er auf Neapolitanisch fluchte. Es machte
ihr gute Laune.
„Und du lachst auch noch. Fast wären wir tot gewesen!
“, protestierte Valerio, bleich wie ein Leintuch. Elettra
nahm seine Verärgerung wahr, zog es jedoch vor, sie zu
ignorieren. Aber ihr war klar, dass sie das nicht mehr lange
durchhalten würde.
Früher oder später würde sie eine Entscheidung treffen
müssen.
Das Offene Haus, das von Pater Florence geleitet wurde,
lag in San Vito, unweit von Elettras Wohnung. Seit Jahren
schon arbeitete der brasilianische Ordensbruder – der
sich allerdings nach einem Vierteljahrhundert, das er in
der julianischen Stadt verbracht hatte, als triestin patocco,
als echter Triestiner, betrachtete – daran, Nahrung und
Obdach für all die Verzweifelten zu bieten, die ziellos in
Triest umherstreiften.
Seit Beginn der Krise waren zu den Fremden auch einige
Italiener dazugekommen, überwiegend Rentner an
der Schwelle zur Armut, getrennt lebende Väter, Arbeitslose
und ältere, nicht vermittelbare Arbeitslose, die dank
eines neuen Gesetzes noch keine Rente beziehen konnten.
Ein Meisterwerk der sozialen Ungerechtigkeit, das ganze
Familien in Armut gestürzt und ihre mageren Ersparnisse
aufgefressen hatte.
Elettra Morin bewunderte Pater Florence für die Energie
und die positive Einstellung, mit der er seine Arbeit
versah. Seine Art, den Glauben zu leben, bestand aus Handeln,
Initiative und Urteilskraft. Er verstand es, sowohl
autoritär und ernst als auch einladend und väterlich zu
sein, je nachdem, was der Einzelfall erforderte. Er verurteilte
nie, sondern hörte lieber zu. „Der größte Notstand
heutzutage ist die Zerstreutheit“, hatte er einmal gesagt.
„Niemand findet mehr Zeit, dem anderen seine Aufmerksamkeit
zu schenken.“
Als die Inspektoren Morin und Gargiulo am Tatort eintrafen,
der zwischen den Abfallcontainern hinter der Einrichtung
lag, fanden sie Pater Florence über das Opfer
gebeugt. Neben ihm stand eine etwa vierzigjährige, gut
aussehende Frau mit dicht gelocktem Haar, die einen
Schirm über beide hielt, um sie vor dem prasselnden Regen
zu schützen.
Elettra stieg aus und rannte zu ihnen, während Valerio
den Wagen parkte.
„Guten Morgen, Pater. Violeta …“
Die Frau lächelte traurig. Sie kannten sich schon lange.
Violeta Amado war eine der vertrautesten Mitarbeiterinnen
von Pater Florence. Wie er stammte sie aus Brasilien
und war vor drei Jahren nach Triest gekommen, um die
Geburtsstadt der Frau kennenzulernen, die sie in Rio de
Janeiro adoptiert und aus der Favela gerettet hatte, in der
sie geboren worden war. Am Ende war sie geblieben.
„Sie ist zusammengeschlagen worden“, sagte der Pater
mit gequälter Miene. „Ich fürchte, es ist etwas gebrochen,
sie bekommt nur schwer Luft … Ich habe sie nicht bewegt.
“
„Sehr gut, der Rettungswagen ist auf dem Weg.“
Das Mädchen lag zusammengekrümmt auf der Seite,
die Arme schützend über das verquollene, blutverkrustete
Gesicht gelegt, die Beine voller Blutergüsse und Wunden.
Zierlich, klein, blond, sah sie nicht älter als fünfundzwanzig
aus. Elettra fiel ein kleiner Leberfleck links über der
Lippe auf.
„Wisst ihr, wer sie ist?“
„Nur, dass sie Julija heißt. Sie kommt aus der Ukraine.
Gestern kam sie zu uns und bat um Hilfe“, erklärte Violeta.
„Welche Art von Hilfe?“
„Sie sagte, sie sei in Gefahr und brauche einen sicheren
Platz für die Nacht. Ich habe sie bei mir im Zimmer schlafen
lassen.“
„Und sie hat nicht gesagt, wer sie bedroht?“
„Nein, sie war vollkommen verängstigt. Ich habe versucht,
sie zum Reden zu bringen, aber sie wollte nichts
sagen. Sie hat nur geweint. Ich hatte gehofft, dass sie mir
heute Morgen etwas erzählt, aber als ich aufgewacht bin,
war sie nicht mehr da.“
„Haben Sie sie nicht weggehen gehört?“
„Leider nein, ich schlafe nicht gut und hatte eine Schlaftablette
genommen.“
Der Regen prasselte unbarmherzig auf sie herunter.
Der Rettungswagen traf ein, und die Sanitäter sprangen
heraus, während Valerio den Tatort in Augenschein
nahm und versuchte, mit dem Fotoapparat irgendwelche
nützlichen Hinweise für die Ermittlungen festzuhalten,
bevor der Wolkenbruch alle Spuren wegspülte.
Während das Mädchen eine orthopädische Halskrause
angelegt bekam und auf die Trage gehoben wurde, suchte
Elettra, schon völlig durchnässt, Schutz unter Violetas
Regenschirm.
„Wer hat sie denn gefunden?“
„Rina, die Köchin. Sie hat sie hier liegen sehen, als sie
zur Arbeit kam, halb versteckt zwischen dem Abfallcontainer
für Plastik und dem für Glas. Anfangs hat sie sie für
einen Müllsack gehalten.“
„Ich fahre mit“, sagte Pater Florence und zeigte dabei auf
den Rettungswagen. „Ich möchte sie nicht allein lassen.“
Elettra schaute sich suchend um. Hoffentlich kam Benussi
bald. Es war schon mehr als eine halbe Stunde vergangen,
seit sie ihn angerufen hatte. Es sah ihm gar nicht
ähnlich, sich so viel Zeit zu lassen.
„Der Commissario wurde aufgehalten“, erklärte ihr Valerio,
als hätte er ihre Gedanken gelesen, während er mit
dem Handy in der Hand zu ihr trat. „Er hat mich gerade
angerufen. Ich habe die Staatsanwaltschaft informiert.“
„Gut. Also, gehen wir mal rein und hören uns um, ob
vielleicht jemand was mitbekommen hat …“
„Ich würde lieber ins Krankenhaus mitfahren“, schlug
Valerio vor. „Falls das Mädchen wieder zu Bewusstsein
kommt.“
Elettra hätte ihn gern aufgehalten, aber sie ertappte
sich dabei, wie sie nickte. Sein Vorgehen war korrekt. Sie
sah ihm nach, als er durch den Regen davonging, und
fühlte sich unwillkürlich schuldig an etwas, das sie nicht
akzeptieren wollte. Zum Glück gab es einen Fall aufzuklären,
und das Privatleben, mit all seinen Forderungen und
Widrigkeiten, konnte zurückgestellt werden.
2
Boston, 29. August 1965
I can’t get no satisfaction …
Klasse, diese Rolling Stones! Ganz was anderes als die
Schnulzen von Dean Martin oder Frank Sinatra, die aus
dem Plattenspieler meiner Mutter plärren. Das ist richtige
Musik, das ist pures Adrenalin, das direkt in die Adern
geht. Mick Jagger ist eine Legende! Ich liebe ihn! Ich kann
es kaum erwarten, diese Stadt voller Snobs hinter mir zu
lassen und zu Paul und Rosy nach San Francisco zu gehen.
Da passieren die abenteuerlichsten Sachen, und ich
bin hier gefangen in einer Welt voller Mumien, die mich
gruseln lässt.
Heute bin ich endlich, endlich achtzehn geworden. Erwachsen!
Meine Mutter hat für heute Abend eine Cocktailparty
zu meinen Ehren im Jachtklub meines Vaters organisiert
und all die Sprösslinge der guten Gesellschaft der
Stadt eingeladen, Leute, die ich noch nie leiden konnte.
Ich habe versucht, ihr zu sagen, dass mich das nicht interessiert,
dass ich keine Feier will, und schon gar nicht
mit diesen Weichlingen, mit denen sie mich so gern sehen
würde. Aber es war nichts zu machen. „Du musst allmählich anfangen, dich mit jungen Leuten
aus deinen Kreisen anzufreunden“, wiederholt sie seit
Monaten gebetsmühlenartig. Was für ein Unsinn, diese
verdammten Kreise! Ich hasse es, wenn sie so redet. Sieht
sie denn gar nicht, wie sich gerade alles ändert? Wir ertragen
diese ganzen absurden Regeln nicht mehr, diese
Konventionen, diese Heuchelei. Wir ertragen keine leeren
Autoritäten mehr. Tausende von jungen Leuten lassen
sich seit gut fünf Jahren in Vietnam in einem sinnlosen
Krieg ermorden. Gestern ist Bob gestorben, der große
Bruder von Susan, einer meiner Schulkameradinnen. Er
wollte nicht in den Krieg, er war einer von denen, die öffentlich
den Einberufungsbescheid verbrannt haben, aber
sie haben ihn trotzdem gezwungen. Du musst deine Pflicht
tun! Aber was für eine Pflicht ist denn das? Die, unbewaffnete
Zivilisten zu erschießen? Mein Gott, wird denn
dieses nutzlose Massaker an Unschuldigen nie ein Ende
finden? Für meine Familie ist es natürlich ein gerechter
Krieg. Sie hassen die Kommunisten und haben Angst,
dass, wenn die Vereinigten Staaten Südvietnam nicht unterstützen,
die Roten Khmer bei uns einmarschieren. Was
für ein Blödsinn. Ich fange gar nicht mehr davon an, es
nützt ja sowieso nichts. Ich muss nur weg von hier, so bald
wie möglich weg.
Mein Vater hat sich nicht die Mühe gemacht, extra aus
Miami zu kommen, aber dagegen hab ich nicht unbedingt
was. Im Gegenteil. Er hat mir ein Übelkeit erregendes Telegramm
geschickt, mir ein Leben voller Erfolg und Glück
gewünscht. Was für ein Arschloch. Natürlich vor allem
Erfolg und erst in zweiter Linie Glück. Aber was nützt
einem der Erfolg, wenn man dann so ein Scheißleben hat
wie sie? Ich will glücklich sein, der Erfolg geht mir am
Arsch vorbei. Aber wie sollte er mich auch verstehen? Er weiß ja kaum, wer ich bin, ich bin ihm überhaupt nicht
wichtig. Familie ist für ihn nur dekoratives Beiwerk. Er ist
so wenig wie möglich zu Hause, gerade lang genug, um
den Schein zu wahren. Er erträgt meine Mutter nämlich
auch nicht, aber weil sie zu einer der einflussreichsten
Familien in Boston gehört und ihm für seine Arbeit als
Schiffsmakler nützlich ist, tut er so, als wäre alles in
schönster Ordnung. Abgesehen davon wollen sie ja beide
das Gleiche. Von Party zu Party treiben, in einer mondänen
Welt Small Talk machen, möglichst mit einem Glas
Champagner in der Hand.
Eine Tochter wie mich zu haben – die einzige Tochter
auch noch – muss für beide eine Enttäuschung gewesen
sein, ich kenne sie doch. Sie haben von einer affektierten
Prinzessin geträumt, mit der sie auf ihren Partys prahlen
können, und stattdessen haben sie eine störrische Hippiebraut
bekommen, die zu allem Überfluss auch noch
ein bisschen kurzsichtig ist. Meine Mutter hätte es am
liebsten, wenn ich Kontaktlinsen tragen würde – um deine
schönen grünen Augen besser zur Geltung zu bringen, wie
sie immer sagt –, aber ich liebe meine Schildpattbrille,
hinter der ich mich geschützt und unsichtbar fühle.
Zum Glück ist es mir gelungen, Mary, meine beste
Freundin, zu überreden, zu der Cocktailparty zu kommen.
Meine Mutter wollte das nicht, sie gehört nämlich nicht
zu „unseren Kreisen“, hat sie mir gesagt. Die anderen
Gäste würden sich in ihrer Gegenwart unwohl fühlen.
Aber ich habe darauf bestanden, es ist schließlich mein
Geburtstag, und wenn es ihr wirklich so viel bedeutet,
dass ich bei diesem Affentheater mitspiele, dann muss
Mary unbedingt dabei sein, auch wenn sie dick ist und
schwarz. Mary ist der aufgeweckteste Mensch, den ich
kenne. Und sie war es auch, die mir gesagt hat, dass ich für mein Leben kämpfen muss. „Du musst diesen goldenen
Käfig verlassen, bevor er dich verschlingt. Du verdienst
was Besseres.“
Heilige Worte.
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