Ein Engel für Weihnachten Ein Engel für Weihnachten - eBook-Ausgabe
Roman
— Gefühlvoller Weihnachtsroman zum Fest„Sehr schöne Lektüre für die dunkle Jahreszeit.“ - Wetzlarer Neue Zeitung
Ein Engel für Weihnachten — Inhalt
Kiel 1979: Albertine Hollmann steckt mitten in den Weihnachtsvorbereitungen, die Familie hat sich angekündigt. Da erreicht sie ein Brief: Im Sommer des Jahres ist Grete Wendt verstorben. Berti ist geschockt, war Grete doch Freundin, Mentorin und Vorbild für sie. Zwischen den Jahren, in der besinnlichen Zeit der Raunächte, erinnert sich Berti: 1919, als Siebzehnjährige, hatte sie in der Manufaktur Wendt & Kühn ihre erste Stelle gefunden. Sie bekam die Möglichkeit, ihr Talent zu entfalten – bis die Stürme der Geschichte ihr Leben für immer veränderten.
Leseprobe zu „Ein Engel für Weihnachten“
Weihnachten 1979
22. Dezember
„Weihnachtsmannexpress für Frau Hollmann!“, ruft Hajo, als ich die Tür öffne. „Alles wie bestellt, sogar die Granatäpfel habe ich bekommen. Und ein bisschen Weihnachtspost habe ich auch noch mitgebracht. Lag im Treppenhaus. Die guten Wünsche der Sparkasse und ein Brief aus Grünhainichen von deiner Cousine Birgitta.“
Hajo stellt die Tasche in der Küche ab. Ich lege die Post unter das kleine Weihnachtsbäumchen auf der Kommode im Wohnzimmer und gehe in die Küche, um die Milch für den Kakao heiß zu machen.
»Euer Weihnachtsbaum [...]
Weihnachten 1979
22. Dezember
„Weihnachtsmannexpress für Frau Hollmann!“, ruft Hajo, als ich die Tür öffne. „Alles wie bestellt, sogar die Granatäpfel habe ich bekommen. Und ein bisschen Weihnachtspost habe ich auch noch mitgebracht. Lag im Treppenhaus. Die guten Wünsche der Sparkasse und ein Brief aus Grünhainichen von deiner Cousine Birgitta.“
Hajo stellt die Tasche in der Küche ab. Ich lege die Post unter das kleine Weihnachtsbäumchen auf der Kommode im Wohnzimmer und gehe in die Küche, um die Milch für den Kakao heiß zu machen.
„Euer Weihnachtsbaum steht?“, frage ich. Hajo hat seine Jacke an der Garderobe aufgehängt und ist mir in die Küche gefolgt.
„Er steht, samt Lichterkette, Kugeln, Strohsternen, Lametta und Christbaumspitze. Kritisch überprüft von Elke. Sie hat mir eine Stunde freigegeben – sie weiß, dass jetzt das Hollmannsche Weihnachtsritual fällig ist. Traditionen wollen gepflegt werden, besonders wenn sie süß und mit einem Schuss Alkohol verfeinert sind.“
Er nimmt eine Flasche aus dem Wohnzimmerschrank und gibt in jeden der bereitstehenden Kakaobecher einen kleinen Schluck Weinbrand. Ich gieße den Kakao ein und kröne das Getränk mit einem Sahnehäubchen, das ich mit Zimt verziere. Der Teller mit den Kokosmakronen steht schon auf dem Tischchen am Erkerfenster bereit.
„Herrlich, Tante Berti“, sagt Hajo. „Heiße Schokolade mit Schuss und meine Lieblingsplätzchen! Als Vater mir zum ersten Mal ein Schlückchen Weinbrand in den Weihnachtskakao gegeben hat, hat er gesagt, so sei es schon bei seinem Vater und bei seinem Großvater üblich gewesen, wenn der Weihnachtsbaum fertig geschmückt und die Leiter weggestellt war. Damals habe ich mich ganz als Mann gefühlt. Schöne Erinnerung. Aber auch ein bisschen Wehmut. Vater fehlt!“
Ja, Paul fehlt. Mein Mann ist vor drei Jahren gestorben. Hajo ist Pauls Sohn. Er war vier Jahre alt, als wir eine Familie wurden und in dem alten Reetdachhaus unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest feierten. Inzwischen lebt Hajo mit seiner Frau Elke und den drei Kindern – der siebenjährigen Solveig und den vierjährigen Zwillingen Swenja und Sören – in dem großen Haus.
Kurz nach Pauls Tod hatte ich beschlossen, in eine kleine Wohnung in der Strandstraße an der Kieler Förde zu ziehen. Von meinem Erkerfenster habe ich einen freien Blick auf das Wasser, das gegenüberliegende Ufer von Schilksee, den lebhaften Schiffsverkehr und die Sonnenuntergänge, von denen mir Paul schon in den ersten Monaten unserer Liebe in seinen Briefen vorgeschwärmt hatte.
„Bleibt es dabei, Tante Berti? Morgen Nachmittag nach der Probe für das Krippenspiel kommen wir zum Adventskaffee zu dir?“
Ich nicke, den Plan haben wir schon am vergangenen Sonntag gemacht.
„Dieses Jahr ist Weihnachten wirklich anstrengend. Heiligabend an einem Montag!“, stöhnt Hajo. „Das sollte verboten sein! Zumindest für Familien mit kleinen Kindern. Wir warten auf das Christkind! Und das drei Tage lang. Solveig macht sich Sorgen, dass das Christkind ihren Wunschzettel nicht lesen konnte. Sören quengelt wegen des Polizeiautos, das er sich wünscht, und hat mich schon drei Dutzend Mal gefragt, ob das Christkind auch wisse, dass das Auto eine Sirene haben müsse. Und Swenja fragt ständig, was sie machen soll, und fünf Minuten später: ›Und jetzt?‹ War ich auch so anstrengend, Tante Berti?“
Ich zwinkere ihm zu. „Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals anstrengend warst, außer vielleicht …“
Hajo lacht. „Schon gut, schon gut, du musst jetzt nicht alle meine Schandtaten aufzählen.“ Er nimmt den letzten Schluck Kakao und sagt: „Schade, das war es für heute. Ich hatte die Becher irgendwie größer in Erinnerung. Dann will ich mal wieder …“
Nachdem ich die Tür hinter Hajo geschlossen habe, nehme ich Birgittas Brief und setze mich wieder auf meinen Platz am Erkerfenster.
Aus meiner Familie lebt nur Birgitta noch in Grünhainichen. Ihre Briefe sind die einzige Verbindung, die ich noch zu meinem Geburtsort habe. Viele Jahre sind vergangen, seit ich das Erzgebirge verlassen habe und zu Paul nach Kiel gezogen bin. Pauls Heimat wurde meine Heimat.
Birgitta ist keine große Briefschreiberin, aber jedes Jahr zu Weihnachten kommt ein Bericht über alles, was mich interessieren könnte. Ich überfliege ihre Zeilen. Noch immer hat Birgitta die schöne klare Schrift, die ihr damals nach der Schule zu einer Anstellung im Büro der Papierfabrik verholfen hat.
Plötzlich hakt sich mein Blick an einem Namen fest: „Im Juli ist Grete Wendt gestorben.“ Der Satz, der zwischen vielen Belanglosigkeiten steht, trifft mich wie ein Schlag. Im Juli … seitdem sind fünf Monate vergangen, und ich habe es nicht gewusst, nicht geahnt. Hätte ich es nicht fühlen müssen, dass die Welt um einen Menschen ärmer geworden ist, der mir einmal so wichtig war?
Teil 1
Jahre der Entscheidungen
Grünhainichen 1919
Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit den beiden Greten. Direktor Wendt, der Leiter unserer Gewerbeschule, hatte mich zu seiner Tochter geschickt, um ihr meine Zeichnungen und vor allem die beiden Kerzenleuchter zu zeigen, die ich für meine Großmutter zu Weihnachten angefertigt hatte. Das war 1919 im Februar; der Große Krieg war gerade zu Ende gegangen. Ich lebte bei meiner Großmutter, die wie viele andere in unserem Dorf als Heimarbeiterin in der Spielzeugherstellung tätig war. Die Wohnstube in unserem kleinen Häuschen war mit den gedrechselten Holzrohlingen angefüllt, die Großmutter mit Farbe und künstlerischem Geschick zum Leben erweckte: Bergmänner, Zwerge, Räuchermännchen. Ich hatte schon früh gelernt, bei dieser Arbeit zu helfen, und wurde von meiner Großmutter für den sicheren Umgang mit Pinsel und Farben gelobt.
Ich war fast siebzehn Jahren alt und hoffte, Fräulein Kühn und Fräulein Wendt würden mich einstellen. Die Manufaktur der beiden Frauen war für ihre Qualität und den hohen künstlerischen Anspruch bekannt, und manche, die
wie Großmutter von schlecht bezahlter Heimarbeit lebten, träumten von einer Anstellung bei Wendt & Kühn. Die gedrechselten Leuchter, fein bemalten Dosen und Truhen verkauften sich auch in schwierigen Zeiten gut. Viele in unserem Ort beobachteten es mit Bewunderung, manche auch mit Neid.
Auf dem Weg zu dem großen Fachwerkgebäude, in dem die Manufaktur untergebracht war, schloss sich mir Fräulein Wendts Hund an. Der Boxerrüde namens Roland war im Ort gut bekannt, da er oft zwischen dem Wohnhaus der Wendts und dem Firmengebäude unterwegs war. Mit seiner platten Schnauze sah er grimmig aus, aber ich kannte ihn gut genug, um keine Angst vor ihm zu haben. Er schob den Kopf durch die angelehnte Tür zur Werkstatt, und ich trat hinter ihm ein, schüchtern das Leuchterpaar vor meiner Brust haltend, als könnte es mich schützen.
„Roland, wen hast du denn da mitgebracht?“ Fräulein Wendt sprach den Hund an, doch ihr Blick war auf mich gerichtet. Freundlich oder kritisch, ich konnte es nicht erkennen.
„Albertine Bresser, Fräulein Wendt, guten Tag. Ihr Vater schickt mich. Sie möchten …“
Aber da unterbrach sie mich auch schon, ihr Blick war nun eindeutig freundlich, vielleicht sogar erfreut. „Albertine! Berti, nicht wahr? Komm hier an meinen Arbeitstisch und lass mich sehen.“
Ich stellte die gedrechselten, bunt bemalten Kerzenleuchter, die ich in den Werkräumen unserer Schule angefertigt hatte, auf den Tisch und zog aus dem Beutel, den ich bei mir hatte, meine Zeichnungen. Es dauerte eine Ewigkeit, zumindest schien es mir so, bis Fräulein Wendt mit der Durchsicht fertig war, und auch dann sagte sie nichts zu mir, sondern rief in den Nachbarraum: „Grete, komm doch mal und schau dir etwas an.“
Grete Kühn grüßte mich, wischte sich die Hände an der Schürze ab und hielt meine Zeichnungen unter das Licht der großen Lampe, die über dem Arbeitstisch angebracht war. Inzwischen war ich so angespannt, dass ich kaum noch atmen konnte.
„Famos“, sagte sie und legte die Blätter nebeneinander auf den Tisch. „Möchten Sie nach Dresden, Fräulein …“
„Bresser, Albertine Bresser, Fräulein Kühn, aber eigentlich Berti.“
„Berti … gut. Also, Berti, möchtest du an die Akademie?“
Ich schluckte. Ja, ich wollte an die Akademie, und nein, das war ganz unmöglich.
„Ich dachte …“, begann ich, doch mit einem Mal war mein Kopf ganz leer.
„Ja, was, was dachtest du?“ Fräulein Kühns Stimme klang etwas spöttisch, und Fräulein Wendt sah abwartend zwischen uns beiden hin und her.
„Ich dachte … ich könnte bei Ihnen arbeiten. Ich … ich möchte etwas verdienen.“
Die beiden Frauen sahen sich an, und ich wusste, dass mit diesen Blicken ein Urteil gefällt wurde. Ein Urteil über mich.
„Setz dich“, sagte Fräulein Wendt und zeigte auf einen Stuhl, der etwas abseits stand. Ehe ich noch saß, bedeutete sie mir, den Stuhl näher an den Arbeitstisch zu ziehen.
„Wie alt bist du, Berti?“
„Siebzehn, Fräulein Wendt, fast siebzehn, nächsten Monat habe ich Geburtstag.“
„Und du lebst bei deiner Großmutter, wie ich hörte?“ Als ich nickte, fuhr sie fort: „Deine Großmutter ist die Gesichter-Malwine, bei der jede Figur ihr ganz eigenes Gesicht hat, richtig?“ Auch dazu nickte ich.
„Mein Vater hat dich zu uns geschickt, weil er dein Talent erkannt hat. Und wenn ein junges Mädchen Talent hat, dann möchte ich, dass dieses junge Mädchen eine Chance bekommt. Und Fräulein Kühn denkt genauso. Deine Chance besteht aber nicht darin, für uns zu arbeiten, sondern darin, bei guten Lehrern und Professoren an der Akademie dein Talent weiterzuentwickeln.“
Die Worte wirbelten in meinem Kopf: Akademie, Talent, Chance. „Aber …“
„Ja, da gibt es viel Aber. Wir werden sehen, ob es nicht auch Möglichkeiten gibt, die Abers aus dem Weg zu räumen. Weißt du, seit wann Frauen an der Akademie in Dresden zugelassen sind?“ Auf mein Kopfschütteln hin fuhr sie fort: „Seit 1907, also erst seit zwölf Jahren. Fräulein Kühn und ich gehörten zu den ersten Frauen, für die ein solches Studium möglich war. Die Frauen, die vor uns im Kunsthandwerk tätig waren, standen vor sehr viel größeren Abers. Ich werde mit deiner Großmutter sprechen, dann werden wir weitersehen. Sag ihr, dass ich morgen am Vormittag, wenn du in der Schule bist, zu ihr komme und mit ihr über deine Zukunft sprechen möchte.“
Ich nickte, stand auf, machte einen Knicks und ging in Richtung Tür. Fräulein Kühn war bereits während Fräulein Wendts kleiner Rede in den Nachbarraum zurückgekehrt.
„Halt!“, rief Fräulein Wendt mir nach. „Vergiss nicht die Kerzenleuchter und deine Zeichnungen.“
Ich packte die Papiere zurück in den Beutel, knickste noch einmal, und mit einem Leuchter in jeder Hand war ich froh, dass Fräulein Wendt mit mir zur Tür ging und diese für mich öffnete. Und jetzt endlich sagte ich: „Danke, vielen Dank!“
Die Tür schloss sich hinter mir, und im gleichen Augenblick fragte ich mich, ob sie verstanden hatte, dass dieser Dank nicht dem Türöffnen gegolten hatte, sondern allem, was sie zu mir gesagt hatte.
Ich wollte zurücklaufen und alles richtigstellen: danken für ihr Lob, danken für die Pläne, von denen sie gesprochen hatte, und danken dafür, dass sie mit meiner Großmutter über meine Zukunft sprechen wollte. Aber dann traute ich mich nicht, noch einmal zu stören.
***
„Haben deine Arbeiten Fräulein Wendt gefallen?“, fragte Großmutter, als ich zu ihr in die Wohnstube trat und die Kerzenleuchter auf der Kommode abstellte.
„Ja. Sie möchte morgen mit dir sprechen.“
„Was hat sie zu den Kerzenleuchtern gesagt?“
„Sie wird morgen zu dir kommen, wenn ich in der Schule bin.“
„Wird sie dir Arbeit geben? Dich in ihre Manufaktur aufnehmen?“
„Sie möchte, dass ich mehr lerne!“
Großmutter sah mich ungläubig an. „Mehr lernen sollst du? Ist das nicht gut genug, was du gemacht hast?“
Ich schüttelte den Kopf. „Sprich mit ihr! Morgen!“
Großmutter wirkte enttäuscht, aber ich konnte nichts von den Plänen, die Fräulein Wendt und Fräulein Kühn für mich hatten, erzählen. Dass ich gelobt worden war, war gut. Dass ich keine Arbeit bekommen und also auch kein Geld verdienen würde, war das große Aber. Ein Aber, das vielleicht viel größer war, als die beiden Greten es sich vorstellen konnten.
So oft hatte Großmutter in den letzten Monaten davon gesprochen, wie viel besser unser Leben wäre, wenn auch ich etwas verdienen würde. Dass wir Lederschuhe kaufen könnten, an jedem Sonntag ein Stück Gebratenes auf dem Tisch stehen würde und wir zum nächsten Weihnachtsfest unseren eigenen Christstollen haben könnten.
In dieser Nacht wachte ich auf. Eine Sorge hatte mich geweckt. Was, wenn Fräulein Wendt mich für undankbar hielt? Vielleicht war sie, nachdem sie die Tür hinter mir geschlossen hatte, in den Arbeitsraum von Fräulein Kühn gegangen und hatte gesagt: „Komisches kleines Ding, diese Berti. Bedankt sich dafür, dass ich ihr die Tür öffne, und das ist alles!“
Dabei hatte mir Großmutter das Danken frühzeitig beigebracht. Wir dankten dem lieben Gott für den Malzkaffee am Morgen, für die dünn bestrichenen Brotscheiben am Mittag und für die heiße Suppe am Abend. Ich dankte Großmutter für das warme Wasser, das sie mir am Morgen zum Waschen hinstellte, und für alles andere, was sie mir an Gutem bescherte: die warmen Handschuhe, die sie aus der Wolle der Pullover strickte, die mir zu klein geworden waren, den heißen Stein, mit dem sie abends mein Bett wärmte, und das Stück Kuchen, das sommers und winters am Sonntagnachmittag neben meinem Malzkaffeebecher lag. Ja, das Danken hatte ich gelernt, und ausgerechnet bei Fräulein Wendt hatte ich es vergessen oder doch fast vergessen.
Am nächsten Tag war ich in der Schule unaufmerksam. Immerzu musste ich daran denken, ob Fräulein Wendt schon bei Großmutter war oder ob sie sich vielleicht dazu entschlossen hatte, den Namen Berti Bresser zu vergessen. Auf dem Nachhauseweg, den ich wie immer gemeinsam mit meiner Cousine zurücklegte, trödelte ich, was so untypisch für mich war, dass Birgitta fragte, was los sei. Aber auch ihr mochte ich nichts erzählen.
„Berti?“ Ich hatte kaum die Tür aufgemacht, als ich Großmutters Rufen hörte, und noch ehe ich etwas antworten konnte, stand sie in der Tür der Wohnstube.
„Berti, warum hast du nichts gesagt?“
Ich zuckte die Achseln und wich Großmutters Blick aus. Aber ihre Stimme hatte freundlich, ja freudig geklungen, und so traute ich mich doch, ihr ins Gesicht zu sehen, als sie auf mich zukam und mich in die Arme schloss. „Du hast großen Eindruck gemacht! Auf unseren Direktor und auf Fräulein Wendt und Fräulein Kühn. Sie wollen dich nach Dresden zur Kunstgewerbeschule schicken, zur Akademie, wie sie sagen. Berti Bresser soll studieren! Ist das nicht wunderbar?“
„Aber ich muss doch Geld verdienen! Wir wollten doch Schuhe kaufen …“
„Komm herein und setz dich zu mir in die Stube, dann erzähle ich dir alles!“
Und so erfuhr ich, wie der Plan aussah, den sie für mich gemacht hatten: Um in die Kunstgewerbeschule aufgenommen zu werden, musste ich mindestens achtzehn Jahre alt sein und zuvor die Zeichenschule in Dresden besucht haben. Für alle Kosten, die mit dem Schulbesuch verbunden seien – und dazu gehörten nicht nur eine Unterkunft und Materialien, sondern auch die Kleidung, die notwendig sei, damit ich unter den anderen Schülerinnen nicht auffiele –, würden Fräulein Wendt und Fräulein Kühn aufkommen oder vielmehr die Firma Wendt & Kühn. In den kommenden Monaten bis zum Unterrichtsbeginn in der Zeichenschule und zukünftig in den Ferien könne ich in der Manufaktur mitarbeiten und mir ein kleines Taschengeld verdienen.
„Und das wollen sie alles für mich tun?“
„Für dich und deine Begabung, Berti!“
Großmutters Gesicht schien vor Freude zu glühen, vor Freude über mein Glück, und auch mir wurde mit einem Mal in unserer schlecht geheizten Stube ganz warm. Dresden! Ich hätte nie gewagt, auch nur davon zu träumen. Ich, Berti, in Dresden! Gemeinsam mit jungen Damen wie Fräulein Wendt und Fräulein Kühn würde ich lernen dürfen, studieren, wie sie sagten.
„Aber du, Großmutter, was wird aus dir? Ich habe dir doch immer geholfen mit deiner Arbeit, und trotzdem …“
Trotzdem hatten wir an manchen Abenden Hunger gehabt, wenn die Suppe gar zu dünn gewesen war, da die Reste vom Vorabend gestreckt werden mussten.
„Etwas anderes Gutes gibt es auch noch, Berti“, und jetzt leuchteten Großmutters Augen noch ein bisschen mehr. „Künftig werde ich für Wendt & Kühn arbeiten, nicht mehr hier in der Stube bei schlechtem Licht und unregelmäßigem Einkommen, sondern in der Manufaktur, gemeinsam mit den anderen Frauen in der Malstube und mit einer festen Bezahlung.“
An diesem Abend schmeckte die Suppe wie ein Festessen, und das lag nicht nur an dem geräucherten Speck, den Großmutter mit den Zwiebeln angebraten hatte.
„Morgen nach der Schule gehst du zu den beiden Greten und bedankst dich. Und weil man nicht mit leeren Händen geht, suchst du die beiden schönsten deiner geschnitzten Blumen aus und bindest jede mit einem Tannenzweig zusammen. Fräulein Wendt liebt Blumen. Schon als Kind kam sie immer mit Wiesenblumen von ihren Spaziergängen zurück. Und wenn es im Winter keine Blumen gibt, wird sie sich über eine Holzblume freuen, und Fräulein Kühn bestimmt auch.“
Ich kramte in der Schachtel, in der ich meine Schnitzereien verwahrte, und sosehr ich jede einzelne auch liebte und stolz auf meine kleine Sammlung war, so schien mir jetzt keine der Blumen gut genug. „Es fehlt die Farbe“, jammerte ich, aber Großmutter ließ das nicht gelten und entschied schließlich, ich solle die beiden Margeriten nehmen. „So ist’s gerecht und passt. Für jede Grete eine Margerite. Aber die Tannenzweige musst du selbst aussuchen und abschneiden.“
Als ich dieses Mal vor der Manufaktur ankam, war Roland nicht zu sehen, und die Tür schien fest verschlossen. Ich klopfte, und als ich von drinnen „Es ist offen“ hörte, drückte ich zaghaft die Klinke nach unten und betrat den hellen, warmen Raum.
Fräulein Wendt saß an ihrem Arbeitstisch, Fräulein Kühn stand hinter ihr, und beide beugten sich über zwei Schachteln, die auf dem Tisch lagen.
„Oh, Berti“, rief Fräulein Kühn, „du kannst uns helfen! Sag uns deine Meinung.“
Ich trat an den Tisch, und auch Fräulein Wendt nickte mir freundlich zu. „Berti, du kannst das Zünglein an der Waage sein. Wir sind uns nicht einig. Sag, was denkst du, welche Schachtel besser als Verpackung zu den Beerenkindern passt?“ Dabei deutete sie auf die drei kleinen Holzfiguren, die auf dem Tisch standen.
„Aber …“ Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Da stand ich schon wieder hier und stotterte. Wie sollte ich denn so eine Entscheidung treffen?
„Du kannst nichts falsch machen“, beteuerte Fräulein Kühn, und tatsächlich hatte ich die Antwort schon gefunden. „Diese!“, sagte ich rasch, bevor mich der Mut verließ, und zeigte auf die linke Spanschachtel, auf deren grünen Untergrund weiße Blüten gemalt waren. „Sie sieht aus wie die Brombeerhecken in unserem Wald!“
Fräulein Kühn klatschte in die Hände: „Hab ich’s dir nicht gesagt, Grete? Und Berti hat es direkt erkannt!“
„Die andere ist auch schön“, schob ich eilig nach.
„Für sie wird sich auch Verwendung finden! Fräulein Kühns Spandosen sind alle schön!“, sagte Fräulein Wendt und sah mich an, als würde sie sich plötzlich über meine Anwesenheit wundern. „Berti, wolltest du zu mir?“
„Ich wollte zu Ihnen beiden.“ Jetzt musste ich all meinen Mut zusammennehmen und die Sätze aufsagen, die ich mir zurechtgelegt hatte. „Meine Großmutter hat mir erzählt, wie alles geplant ist, und ich möchte Ihnen beiden danken. Es ist ganz, ganz wunderbar, dass ich nach Dresden gehen und Großmutter hier arbeiten darf. Danke, tausend Dank, und …“, an dieser Stelle holte ich tief Luft, „ich will mich immer bemühen und alles recht machen.“
Ich knickste, da fielen mir die beiden Tannenzweiglein ein, und bevor eine der beiden etwas hatte sagen können, zog ich den ersten Tannenzweig aus dem Beutel hervor und gab ihn Fräulein Wendt, dann reichte ich Fräulein Kühn den zweiten.
„Wie schön, Berti. Blumen im Winter, das ist eine hübsche Idee!“ Fräulein Wendt fuhr mit der Fingerspitze über den Kopf der Margerite.
„Du hast sie selbst geschnitzt?“, fragte Fräulein Kühn. Als ich nickte, sagte sie: „Sehr gut! Wir freuen uns, wenn du nach Ostern dein Praktikum bei uns beginnst!“
Auf dem Rückweg fühlte ich mich, als würde ich trotz der schweren Holzschuhe schweben. Mein kleines Geschenk hatte den beiden gefallen, das freute mich. Aber noch mehr freute es mich, dass sie nach meiner Meinung zu den Spanschachteln gefragt hatten.
Grünhainichen 1919
Das Schuljahr endete vor Ostern, und ich begann mein Praktikum in der Manufaktur. „Praktikum“ nannten die beiden Greten meine Tätigkeit, da sie beschlossen hatten, dass ich bis zu meinem Eintritt in die Zeichenschule Einblick in alle Arbeitsbereiche erhalten sollte. Im ersten Monat stand die Dreherei auf dem Plan. Meister Schöbler betrachtete mich etwas skeptisch, als ich die Werkstatt betrat. „Gibt’s jetzt Kinderarbeit bei uns?“, grunzte er und lachte gutmütig, als ich sagte, dass ich schon siebzehn sei.
„Na gut, dann wollen wir mal sehen, Fräulein Berti.“
„Nur Berti“, sagte ich, und er lachte wieder.
„Dann hol mal die Holzplatten von dort drüben, Berti, und erzähl mir, was du weißt.“
Die Platten, auf die er gedeutet hatte, waren glücklicherweise nur kleine Musterstücke, die ich in einem Schwung durch den Raum tragen konnte.
„Vier Sorten Holz“, sagte Schöbler. „Welches ist das Pappelholz?“
Ich musste wohl etwas entgeistert zu ihm aufgesehen haben, denn ein breites Grinsen erhellte sein Gesicht. „Na, was ist?“
„Pappel?“, fragte ich, schüttelte den Kopf und zeigte auf die vier Platten: „Linde, Buche, Fichte und Ahorn, die einheimischen Hölzer, die in der Manufaktur verwendet werden.“
Schöbler kratzte sich am Kopf: „Und was willst du hier noch lernen?“
„Die Maschinen zu bedienen, bisher habe ich nur in der Werkstatt der Schule gearbeitet.“
„Aha“, sagte er und rief quer durch den Raum: „Heiner, komm mal rüber! Aber erst die Maschine abstellen.“ Im nächsten Moment stand Heiner Pietsch vor mir und grinste mich an. „Das ist Berti“, stellte Schöbler mich vor.
„Kenne ich“, erwiderte Heiner immer noch grinsend.
„Berti ist für die nächsten Wochen Lehrmädchen bei dir. Zeig ihr, wie man die Hasenkörper und Hasenköpfe macht, und pass auf ihre Pfötchen auf. Und darauf, dass sie die Holzsorten nicht vertauscht!“ Mit einem dröhnenden Lachen entließ Schöbler uns, und als wir außer Hörweite waren, beugte sich Heiner zu mir herunter und sagte: „Mach dir nichts draus, den Spruch mit den Holzsorten bringt er bei jedem!“
Die Zusammenarbeit mit Heiner war angenehm. Er zeigte mir manchen Kniff im Umgang mit der Drehmaschine und beim Schleifen des Holzes. Jeden Morgen beim Betreten der Werkstatt sog ich den frischen Holzgeruch tief ein. Wie schön, dachte ich, wenn Arbeit so riecht.
Doch das blieb nicht lange so, denn die nächste Station war die Leimerei.
„Gewöhnst dich dran, nach zwei Jahren riechst du es nicht mehr!“, erklärte Hilde, die diesen Arbeitsbereich leitete. Die schweren Schwaden des im Wasserbad erwärmten Perlleims, mit dem die einzelnen Teile der Figuren verleimt wurden, überlagerten alle anderen Gerüche. Dicht an dicht saßen wir da und fügten die Holzteile, die in Kisten auf dem Tisch standen, zu Figuren zusammen, was viel Fingerfertigkeit und Konzentration erforderte. In den ersten Tagen hatte ich häufig Kopfschmerzen und war dankbar, wenn die anderen mich immer mal wieder ins Lager auf den Dachboden schickten, um Nachschub zu holen.
„Wir brauchen eine Kiste Köpfe! Läufst du mal, Berti, du hast doch die jüngsten Beine“, hieß es, und ich lief gerne und nutzte die Gelegenheit, ein wenig frische Luft zu schnappen.
Auf die Leimerei folgte die Malstube, zu der auch die Taucherei gehörte, in der die Figuren ihre weiße Grundierung bekamen, um anschließend mit den endgültigen Farben für Körper, Haare und Kleidung versehen zu werden. Die letzte Station in der Malstube waren die Gesichtermalerinnen. Bei dieser feinen Arbeit durfte ich freilich nicht helfen. Stattdessen übernahm ich es, die Kleidung der Beerenkinder und die Hosen und Joppen der Hasen mit Farbe zu versehen.
An einem anderen Tisch in der Malstube wurden die kunstvollen Spanschachteln bemalt, auch dies erforderte sehr viel Sicherheit und Geschick im Umgang mit dem Pinsel. Ich bewunderte Großmutter und die anderen Frauen, die das Muster von einer fertigen Spanschachtel, die vor ihnen auf dem Tisch lag, auf ihr Arbeitsstück übertrugen.
„Keine Gesichter?“, hatte ich Großmutter gefragt, als sie mir nach ihren ersten Tagen in der Malstube von der Arbeit, die ihr übertragen worden war, erzählte.
„Doch, natürlich male ich auch Gesichter für die Beerenkinder und die Hasen, aber meistens bin ich mit den Spanschachteln beschäftigt.“
Die bemalten Schachteln waren ein beliebtes Produkt der Firma. Sie wurden in unterschiedlichen Größen von einem Hersteller aus unserer Region bezogen und bei Wendt & Kühn bemalt. Die Muster entwarf Fräulein Kühn, die auch die Umsetzung in der Malstube überwachte. Verwendet wurden die Schachteln als Verpackung, die größeren waren auch als Schmuckkästen für die Wohnräume beliebt.
Nach meiner täglichen Arbeit in den Werkstätten waren an jedem Nachmittag zwei Stunden für das Zeichnen reserviert. Fräulein Kühn hatte mir ein Zeichenlehrbuch überreicht, mit dem ich mich im Selbststudium weiterbilden sollte. „Jeden Tag nimmst du dir zwei Stunden Zeit und folgst den Aufgaben in diesem Buch. Am Samstag legst du mir deine Arbeiten vor, und wir gehen sie gemeinsam durch.“
Dafür erhielt ich einen Zeichentisch in einer Ecke von Fräulein Kühns Arbeitsraum. An einem meiner ersten Praktikumstage kam Fräulein Wendt während meiner Zeichenstunden in den Raum. Die beiden Greten sahen am Arbeitstisch eine Bestellung durch und besprachen die Abwicklung der Arbeiten. Erst als Fräulein Wendt den Raum verlassen wollte, entdeckte sie mich in meiner Ecke. „Da sitzt ja die Berti!“, rief sie überrascht. „Mucksmäuschenstill!“ Ich sprang auf und entschuldigte mich, aber sie lachte und sagte: „Setz dich doch wieder!“
Von da an hatte ich meinen Spitznamen „Mäuschen“ und häufig begrüßte Fräulein Kühn mich mit den Worten: „Da kommt ja mein Mäuschen!“
Jeder Tag meines Praktikums war ein Fest, an dem ich Neues lernen durfte. In der Manufaktur herrschte eine gute Stimmung. Alle, die hier arbeiteten, waren froh, aus der bedrückenden Enge der Heimarbeit befreit zu sein. Bei gutem Wetter saßen wir in den Pausen mit unseren mitgebrachten Broten im Garten auf den zahlreichen Bänken, deren Aufstellung Fräulein Wendt veranlasst hatte. „Frische Luft ist wichtig“, sagte sie, „und wo könnte sie besser sein als hier in unserem schönen Blumengarten.“
„Du hast es gut, Fräulein Praktikantin“, stichelte meine Cousine Birgitta, aber es war eine freundschaftliche Stichelei, und ich wusste, dass sie sich für mich freute. „Hast es verdient“, sagte sie. „Ich dagegen habe zwei linke Hände.“ Bei den Worten verdrehte sie regelmäßig ihre Hände. „Für mich sind nur die groben Arbeiten richtig.“
Wir lachten, denn Birgitta hatte keinen Grund, neidisch zu sein. Sie hatte eine Anstellung im Kontor der Papierfabrik – auch ihr wurde die Möglichkeit geboten, mehr zu lernen. „Sie haben mich eingestellt, weil ich eine schöne Handschrift habe, und jetzt soll ich lernen, mit so einer Klapperkiste zu arbeiten. Mit einer Schreibmaschine!“ Das letzte Wort kam wie ein Trompetenstoß, was deutlich machte, wie stolz Birgitta war, dass man ihr diese Maschine anvertraute.
Nein, Birgitta neidete mir meine Stellung in der Manufaktur nicht, sie neidete mir aber, dass ich im gleichen Gebäude arbeitete wie Heiner Pietsch. Heiner, der mich in der Dreherei angelernt hatte, war nur wenig älter als wir, und natürlich hatte ich längst bemerkt, dass Birgitta sonntags im Gottesdienst immer zu seiner Bank hinschielte und später gerne vor der Kirche stand und wartete, bis er herauskam und zu uns hin grüßte.
„Ich glaube, er hat heute zuerst zu mir hingesehen“, stellte sie jeden Sonntag fest, und ich hatte keinerlei Ehrgeiz, ihr diesen Rang streitig zu machen. Aber ich stand nicht gerne da vor der Kirche, weil ich merkte, dass es die eine oder andere gab, die wirklich neidisch auf mich oder auch auf Großmutter war. „Habt’s gut getroffen, deine Großmutter und du!“, wurde mir zugerufen oder auch: „Ah, das Fräulein Berti! Kennst du uns überhaupt noch?“
„Mach dir nichts draus“, sagte Großmutter, doch das Gerede der anderen kränkte mich.
Den Abschluss meines fünfmonatigen Praktikums bildeten zwei Wochen im Kontor, das seit Beginn des Jahres Johannes Wendt, Fräulein Wendts jüngerer Bruder, leitete. Immer wieder hatte ich gehört, wie froh die beiden Greten darüber waren, dass er diese Aufgabe übernommen hatte, sodass sie sich auf die künstlerische Arbeit konzentrieren konnten. In der Leimerei und in der Malstube wurde leise über den neuen Geschäftsführer getuschelt; die eine oder andere der jüngeren Frauen strich sich übers Haar oder legte in der Mittagspause, wenn Herr Wendt vors Haus trat, rasch den Kittel ab. „Haltung, Marie“ oder „Gerade sitzen und Brust raus, Evi“, hieß es manchmal, und die so Angesprochene versuchte, rasch eine günstige Position einzunehmen und den Blick von Herrn Wendt auf sich zu ziehen.
„Achte nicht auf die Äffchen“, sagte Großmutter. Aber wenn ich hin und wieder ins Kontor geschickt wurde, um ein Papier abzugeben oder Herrn Wendt zu einem Gespräch an den Arbeitstisch seiner Schwester zu bitten, war auch ich aufgeregt.
„Sieh da, das Fräulein Bresser“, sagte er immer, wenn ich nach dem „Herein“ sein Kontor betrat, und allein die Begrüßung verunsicherte mich. Niemand sonst nannte mich so. Für alle anderen war ich Berti – für alle außer Herrn Wendt. „Ein Auftrag von meinem Fräulein Schwester?“, fragte er dann, oder er nannte mich „Die Botin der Chefinnen“.
Er hatte den Vorschlag, ich solle ein paar Tage in seinen Arbeitsbereich hineinschnuppern, selbst gemacht. „Ich weiß schon, dass Sie eine Künstlerische sind“, sagte er an meinem ersten Tag in seiner Abteilung zu mir. „Aber was hilft alle Kunst, wenn sich nicht jemand um das Verkaufen kümmert?“
Damit hatte er wohl recht, genauso wie mit der Annahme, dass diese Seite des Geschäfts nicht gerade meine Stärke war. Dennoch stellte er nach ein paar Tagen fest: „Rechnen können Sie, Fräulein Bresser, und eine ordentliche Ablage haben Sie auch gemacht.“
Da errötete ich wieder, stotterte ein Dankeschön – und dachte den Rest des Abends an Herrn Wendts freundlichen Blick.
Dresden 1919
Im Herbst begann mein Kurs an der Zeichenschule. Fräulein Kühn, die ihre Eltern in Dresden besuchen wollte, begleitete mich auf meiner ersten Fahrt in die Großstadt. Alles war verwirrend, und ich war mir sicher, dass ich mich jeden Tag verlaufen und immer zu spät zum Unterricht kommen würde. Doch zum Glück logierten bei Witwe Genner drei weitere junge Frauen, mit denen ich den Weg zur Schule allmorgendlich gemeinsam zurücklegte.
Lene, die bereits seit einigen Monaten die Zeichenschule besuchte, nahm mich direkt unter ihre Fittiche. Auch sie wollte im Anschluss an die Zeichenausbildung zur Kunstgewerbeschule wechseln. Ihr Vater war Eigentümer einer kleinen Porzellanmanufaktur, und Lene sollte eines Tages den Familienbetrieb übernehmen. „Nachdem unsere beiden Brüder gefallen sind und meine nichtsnutzige Schwester einen Franzosen geheiratet hat, bleibt die Klitsche wohl an mir hängen“, sagte sie, aber ich wusste, dass es durchaus keine Klitsche war, sondern ein angesehener Betrieb, den ihr Vater schon vom Großvater übernommen hatte und dessen Porzellan weit über Sachsen hinaus Kunden fand.
Die Schwestern Annchen und Betti, mit denen wir uns das Zimmer teilten und von denen eine dünner und blasser war
als die andere, kamen aus Pirna. Der Onkel betrieb dort eine Druckerei, er hatte die beiden Nichten nach Dresden geschickt, damit sie künftig die Gestaltung von Werbeanzeigen in den bei ihm gedruckten Zeitungen übernahmen. Genau wie ich waren die beiden erst in diesem Herbst nach Dresden gekommen; ansonsten schienen wir aber nicht viel gemeinsam zu haben, zumindest konnte ich nichts Gemeinsames entdecken, da sie immer zusammensteckten und uns andere wenig beachteten.
Unser Zimmer war groß und durch einen Paravent in zwei Bereiche geteilt, die jeweils mit einem Kleiderschrank und einer Waschkommode ausgestattet waren. „Leider hält der Paravent die Geräusche nicht ab“, flüsterte Lene mir nach der ersten Nacht zu und hüstelte geziert. Annchen und Betti hatten die ganze Nacht hindurch um die Wette gehustet.
„Man kann ja kaum ein Auge zutun“, beklagte sich Lene ein paar Tage später, aber sie sagte es nur zu mir, denn die beiden Schwestern machten einen solch beklagenswerten Eindruck, dass wir uns hüteten, sie auch noch mit unseren Beschwerden zu verunsichern.
„Wichtig ist, dass ihr eure Arbeitskittel nicht vergesst!“, wies uns Lene am ersten Morgen an. „Und das Pausenbrot!“, ergänzte Frau Genner, die uns zum Frühstück dampfenden Haferbrei servierte und die Pakete mit den Pausenbroten neben die Teller legte. Auch einen rotbackigen Apfel gab sie jeder von uns mit auf den Weg.
Wenn wir nach den langen Schultagen zurückkamen, hatte sie schon in der Küche den Tisch für das Abendessen vorbereitet. „Mädchen, ihr müsst essen“, sagte sie und servierte uns ein über den anderen Abend Klitscher, die sie Kartoffelpuffer nannte, oder Eintöpfe, die so wohlriechend und gehaltvoll waren, dass mir schon in der Haustür das Wasser im Mund zusammenlief.
„Fräulein Bresser, was sollen wir Ihnen eigentlich noch beibringen?“, fragte mich einer der Lehrer in der dritten Woche. Einige meiner Mitschülerinnen starrten mich an, und ich fühlte, dass ich rot wurde.
Die Studien und Übungen mit Fräulein Kühn hatten mich gut auf den Unterricht vorbereitet, und voller Dankbarkeit dachte ich an die Nachmittage mit meinem Übungsbuch und an die samstäglichen Korrekturstunden. Das perspektivische Zeichnen ging mir ebenso leicht von der Hand wie Licht-und-Schatten-Bilder und das Zeichnen von Blüten und Blättern nach der Natur. Während Annchen und Betti genau wie die anderen, die im Herbst mit uns in die Schule eingetreten waren, mit leichten Anfänger-Übungen betraut wurden, rückte ich bereits nach vier Wochen in die Gruppe der Fortgeschrittenen auf, wo ich mit Lene einen der Arbeitstische teilte.
„Du hast wirklich Talent, Berti“, stellte sie fest, nachdem ich eine Kohleskizze von ihr angefertigt hatte. Auch Herr Weber, der uns im Porträtzeichnen unterrichtete, hatte wenig auszusetzen. Lene bat mich, sie bei der Bleistiftzeichnung eines Porträts ihrer Mutter zu unterstützen, wozu eine Fotografie als Vorlage diente. Mehrere Versuche waren nötig, bis Lene zufrieden war und das Blatt, in Seidenpapier eingeschlagen, in ihrem Koffer verstaute. „Das wird das Weihnachtsgeschenk für meinen Vater“, erklärte sie und bot mir an, dass ich mir zum Dank etwas aus ihrem Adventspäckchen aussuchen dürfe. Die Mutter versorgte sie regelmäßig mit dem, was Lene ihre Fresspakete nannte, die so reichlich bemessen waren, dass wir alle vier die ein oder andere Zusatzscheibe Schinken oder Hartwurst für unsere von Frau Genner bereitgelegten Butterbrote erhielten.
Als das Adventspäckchen eintraf, entschied ich mich für eine köstlich duftende Mettwurst, die ich direkt in einem Leinenbeutel verpackte und in meiner Tasche versteckte – vor mir selbst, denn dem Geruch der Wurst konnte ich kaum widerstehen. Sie sollte mein Weihnachtsgeschenk für Großmutter sein.
***
„Denk dir, Berti, unsere Hustenfräulein kommen nicht wieder!“, sagte Lene, als ich nach Weihnachten wieder in Dresden eintraf.
Auf unsere Fragen hin berichtete Frau Genner, dass sie einen Brief vom Vater der Mädchen erhalten habe. Die Dresdener Luft wäre den beiden wohl nicht gut bekommen, sie würden nun in Pirna von einem Privatlehrer unterrichtet.
„Ich wüsste nicht, was an der Dresdener Luft so schlecht sein sollte“, sagte Lene, als wir uns in unserem Zimmer, das wir vorläufig allein bewohnten, auf das Zubettgehen vorbereiteten. „Jedenfalls werden wir nun ruhigere Nächte haben.“
„Und die Neue? Was denkst du über sie?“
Die Neue, das war die rotbackige Luise, die von einem kleinen Gut im Vogtland stammte und in dem Zimmer logierte, das früher Frau Genners Sohn bewohnt hatte. Gleich nachdem wir uns miteinander bekannt gemacht hatten, präsentierte Luise uns ihren funkelnden Verlobungsring. „Ganz frisch! Bei einer Schlittenfahrt am Nikolaustag hat Ferdinand mich geküsst, am Tag darauf bei meinem Vater um meine Hand angehalten, und am zweiten Weihnachtstag war die Verlobungsfeier“, sprudelte es aus ihr hervor. „Praktisch, da waren sowieso alle noch zu Hause, und am nächsten Tag fand wie jedes Jahr die Jagd auf dem Gut von Ferdinands Vater statt. Nur mit meinem Verlobungskleid gab es ein Problem. Damit es rechtzeitig fertig wurde, haben sich zwei Näherinnen abwechseln müssen.“
„Und wann heiratet ihr?“, fragte Lene, während Luises Bericht mir die Sprache verschlagen hatte.
„Im Sommer, nach der Ernte, das ist die beste Zeit für eine große Feier.“
„Und bis dahin besuchst du die Zeichenschule?“
Luise kicherte. „Oh, das wäre fein. Blumen zeichnen und im Frühling an der Elbe sitzen und romantische Landschaftsskizzen machen …“
„Warum bist du denn dann hier?“
„Ach, Kinder.“ Sie seufzte und sah mit einem tragischen Blick von einer zur anderen. „Suppen kochen, Zwiebeln schälen und Bratensoßen rühren. Das war die Idee meiner zukünftigen Schwiegermutter, und meine Mutter hat doch tatsächlich zugestimmt. Eine Kochschule!“ Sie rümpfte die Nase, als würden die Zwiebeldüfte sie schon umwehen. „Dabei werden Ferdinand und ich selbstverständlich eine Köchin und weiteres Personal einstellen.“
Was Luise da erzählte, hörte sich an wie Geschichten aus einer anderen Welt, und ich dachte, wie erstaunlich es war, dass sich unsere Lebenswege hier bei Witwe Genner kreuzten. Dabei war Luise durchaus nicht hochnäsig oder eingebildet und sprach mit uns wie mit ihresgleichen.
„Luise, mein liebes Kind“, sagte sie und ahmte damit ihre zukünftige Schwiegermutter nach, „wenn du später einmal ein großes Haus führen wirst, solltest du wissen, was in deiner Küche und deinen Hauswirtschaftsräumen geschieht.“
„Das klingt in meinen Ohren sehr vernünftig, und Frau Bernings Haushaltsschule ist doch auch viel mehr als nur eine Kochschule, Fräulein Luise!“, kommentierte Frau Genner, die von ihrem Kochherd aus zugehört hatte, Luises Worte.
„Vernünftig, ja, das meint meine Mutter auch. Aber ich verpasse alle Frühjahrsbälle in der Nachbarschaft!“, erklärte Luise mit einem Stöhnen und fügte dann hinzu: „Aber liebe Frau Genner, lassen Sie doch das Fräulein weg, Luise reicht!“
Während Lene und ich uns einen raschen Blick zuwarfen, da wir wohl beide gleichermaßen über die Frühjahrsbälle staunten, schob Luise mit einem tragischen Blick auf den Verlobungsring nach: „Und im nächsten Frühjahr bin ich dann ja schon fast eine Matrone oder sitze mit einem dicken Kinderbauch bei den Matronen!“
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