Ein Lied für die Vermissten Ein Lied für die Vermissten - eBook-Ausgabe
Roman
„Ein neuer Jarawan wie wir ihn lieben: einfühlsam, spannend und virtuos verknüpft mit der bewegten Geschichte des Nahen Ostens.“ - Rheinischer Spiegel Online
Ein Lied für die Vermissten — Inhalt
„Schon ein Sandkorn genügt, um eine große Geschichte daraus zu machen.“
Als 2011 der Arabische Frühling voll entfacht ist, löst der Fund zweier Leichen auch in Beirut erste Unruhen aus. Während schon Häuser brennen, schreibt Amin seine Erinnerungen nieder: an das Jahr 1994, als er als Jugendlicher mit seiner Großmutter aus Deutschland in den Libanon zurückkehrte – zwölf Jahre nach dem Tod seiner Eltern. An seine Freundschaft mit Jafar, mit dem er diese verschwiegene Nachkriegswelt durchstreifte. Und daran, wie er lernen musste, dass es in diesem Land nie Gewissheit geben wird – weder über die Vergangenheit seines Freundes noch über die Geschichte seiner Familie.
„Dieser bewegende Roman ist 17 000 Menschen gewidmet, die während 15 Jahren Bürgerkrieg spurlos verschwanden. Doch Jarawan schildert auch die Schönheit und Poesie des Landes und erinnert an die große Tradition der Hakawati, der arabischen Geschichtenerzähler.“ Madame
„Auf mehreren Zeitebenen erzählt Pierre Jarawan souverän und warmherzig von den Wunden des Krieges, verdrängten Traumata und dem Lebensgefühl einer Generation mit beschränkter Hoffnung“ Abendzeitung München
Leseprobe zu „Ein Lied für die Vermissten“
Yeki Bud. Yeki Nabud
Die besten, die ältesten Geschichten der Welt beginnen seit jeher auf diese Weise: Es war so. Und es war nicht so. Ein einzelner persischer Satz aus einer ganzen Schatzkiste persischer Sätze, aber dieser ist das Fundament. Die Triebfeder jedes Geschichtenerzählens. Der Beginn jedes Märchens.
Jemand war dort. Und jemand war nicht dort.
Es gab einmal eine Zeit, und es gab keine Zeit.
Yeki Bud. Yeki Nabud. Deine Fantasie ist ein windschiefes Haus. Oder ein geheimer Thronsaal. Höre, wie es schwirrt vor Botschaften und Bildern. Sieh dich [...]
Yeki Bud. Yeki Nabud
Die besten, die ältesten Geschichten der Welt beginnen seit jeher auf diese Weise: Es war so. Und es war nicht so. Ein einzelner persischer Satz aus einer ganzen Schatzkiste persischer Sätze, aber dieser ist das Fundament. Die Triebfeder jedes Geschichtenerzählens. Der Beginn jedes Märchens.
Jemand war dort. Und jemand war nicht dort.
Es gab einmal eine Zeit, und es gab keine Zeit.
Yeki Bud. Yeki Nabud. Deine Fantasie ist ein windschiefes Haus. Oder ein geheimer Thronsaal. Höre, wie es schwirrt vor Botschaften und Bildern. Sieh dich um. Atme ein. Harzdurchwirkte Luft und Olivenhaine. Etwas im Duft dieses Augenblicks fordert dich auf: Habibi ya albi, schließe die Augen und denke an eine weiße Stadt. Die Stadt der Brunnen und des weichen Lichts, die Orchidee des Mittelmeers. Schließe die Augen und denke an Beirut. Denn es war so, und es war nicht so, wie die Alten es erzählen, das Beirut von damals. Sie erinnern sich gut.
Das Beirut vor dem Krieg? Habibi ya eini, das waren die Sonne, die Freiheit und die Lebenslust! Und die Sommernächte in Pepe Abeds Taverne direkt am Meer, wo der Hummer die schönste Farbe hatte und nachts die Jachten vertäut auf den Wellen wogten – das Saint-Tropez der Levante. Von den Decken der Familien am Strand stieg das ganze Jahr über der warme Geruch der Mezze auf, die man bei Abu Naim in der Rue Duraffourd kaufte, wo es auch Dattelkekse für die Kleinen gab, die sie am Meer auf den Felsen verspeisten. Unter ihnen: Schatten auf der azurblauen See – die Flieger der Middle East Airlines im Tiefflug, die immer neue Touristen brachten ins Paris des Nahen Ostens. Das alte Beirut, das war das Licht, das morgens über die Berge kam, um die Stadt mit allen Farben zu übergießen. Oder nachts das schummrige Leuchten in den Jazzbars und Clubs, wo sich das Licht der Scheinwerfer in ihrem Bauchtanzschmuck fing, wenn Jamela Omar tanzte und sang. Dort in der Gegend, nur einen Steinwurf entfernt, stand das altehrwürdige St. Georges Hotel, in dem schwere Teppiche die Gerüchte dämpften und Geheimnisse bewahrten, die Spione am Tresen flüsterten, zwielichtige Figuren auf dem Schachbrett der Stadt. Beirut, das waren die Straßenhunde, die durch die Gassen streiften, und manchmal brachte Maurice, der junge Kellner aus Mar Elias, ihnen marinierte Hühnerleber mit, die er heimlich in der Küche stahl. Denn Beirut, das war Überfluss, das war Nächstenliebe und Rücksicht, wenn die halbe Stadt sich zum Freitagsgebet in den Moscheen leerte und etwas später wieder füllte, während nun die Klänge der Kirchenglocken, die aus dem Osten herüberschallten, die Christen zum Abendgottesdienst luden. Das Beirut vor dem Krieg, das waren die Klänge der Stadt. Stadt der Lieder und Melodien! Passanten sangen, der Muezzin sang, und die Nonnen in den Kirchen sangen mit den Gemeinden. Es gab das Rufen der Geldwechsler am Place des Martyrs, das Lachen der Verliebten an der Corniche, das Schachern der Händler auf dem Souk, rund um den Glockenturm am Place de l’Étoile, und das Gemurmel von Achmed Aziz, dem Schuhputzer vor dem Moonlight Hotel, der Marlon Brando und Brigitte Bardot einen angenehmen Tag wünschte. In dieser flirrenden, bunt gemischten Stadt, in der der armenische Juwelier mit dem maronitischen Schneider und dem schiitischen Obsthändler Dame spielte, in den Vorhallencafés der Basare, wo man sich eine Pfeife teilte und nach der Gesundheit der Familie fragte, aber nie nach der Religion. Denn die Feste, die feierte man gemeinsam, und eine Stadt, die viele Religionen kennt, kennt viele Feiertage. Beirut, das waren die Lieder von Dikran Najarian, dem Lautenspieler an der Rue Monot, der unter den Spitzbogenfenstern seine Lieder sang, die die Frauen in den Zimmern erröten ließen. Und es war das ständige Gemurre von Hussein Badir, dem Souvenirverkäufer an der Rue Hamra, dem der zurückgehende Absatz seiner Sorgenkettchen Sorgen machte, weil die Leute sich einfach zu wenig sorgten.
Es gibt das Erzählen, und es gibt das Schweigen. Und es gibt das Fragen dazwischen. Was war mit dem Misstrauen? Mit den Ängsten, mit den Zweifeln? Wie konnte das, was später kam, passieren und warum? Doch wo Antworten sein sollten, stößt du nur auf Schweigen. Sand und Wüste. Die Geografiebücher sagen: Der Libanon ist das einzige arabische Land ohne Wüste. Doch das stimmt nicht. Die Wüste ist überall. Und in ihr gibt es kein Erinnern, das sich in Sprache fassen lässt. Keine Sprache für das Erinnerte. Das Schweigen, nach dem du fragst, ist tiefer als Stille. Weil Stille nie wirklich alles verschluckt. Selbst im kleinsten Raum bleiben das Ticken einer Uhr oder das Brummen des Kühlschranks. Dazu draußen vor dem Fenster gedämpfter Rummel, alltägliches Leben. Ruhe, Lautlosigkeit, Stille, es gäbe viele falsche Wörter.
Das Schweigen aber ist anders. Es dehnt sich über jeden Horizont und frisst, was es berührt, und jede Gewissheit, die zu finden du gehofft hast, stiehlt sich davon wie ein behandschuhter Dieb.
Schon die Erzähler früherer Tage in den Cafés und auf den öffentlichen Plätzen von Isfahan, Kairo, Damaskus und Beirut wussten, dass in der Wüste mehr ist als Leere. Dass sich unter dem Sand ganze Städte befinden, Zivilisationen, die irgendwann versunken sind.
„Schon ein Sandkorn genügt“ – das sagte mir, als ich noch ein Kind war, einer der alten Meister. Wir waren von einem Sturm überrascht worden und hatten die Nacht im Haus eines Fremden verbracht. „Schon ein Sandkorn genügt, um eine große Geschichte daraus zu machen.“
Erste Strophe
„Wie oft holen wir diese Momente hervor, die wir im Rückblick als Wendepunkte erkennen?“
Ein Haus mit vielen Zimmern
Eine Geschichte erscheint in jeweils anderem Licht, je nachdem wo man sie zu erzählen beginnt. Diese hier ließe sich mit den beiden Särgen eröffnen, die eigentlich einfache Holzkisten waren und die man vor den Augen der Öffentlichkeit von einer Baustelle trug. Oder mit der herabfallenden Asche in einer Straße, als kurz danach die ersten Häuser brannten, als zu befürchten war, alles würde sich wiederholen. Sie könnte auch mit einem Bild beginnen: Großmutter und ich vor einer zugewucherten Mauer, und sie sagt: Hier. Hier ist es passiert. Oder mit einem anderen Bild, einer Zeichnung, die mir ein Mann, der später berühmt wurde, schenkte, als ich dreizehn war. Sie könnte auch damit beginnen, dass ich mir die Linie bewusst mache, in der das Mädchen sich über den Flohmarkt und später von der Geisterbahn weg bewegte, bevor es aus meinem Leben verschwand. Oder mit dem Blick auf eine Hand, die einen Mantel entgegennimmt, in einem alten und schönen Theater. Oder aber, und das erscheint mir richtig, genau in der Mitte. Mit einem Tag vor fünf Jahren. Denn alles ist mit allem verbunden. Und soweit ich weiß und sagen kann, war dies ein Tag, der gleichzeitig in die Zukunft und in die Vergangenheit wies.
2006
Tausend Bomben waren auf Beirut gefallen, und ich war endlich angekommen. Selbst hier in der Abgeschiedenheit des Hauses, in das ich mich zurückgezogen hatte, konnte man sie hören: Jets, die in großer Entfernung über den Himmel jagten, und dann, verzögert und abgeschwächt, das Grollen von Detonationen. Ihre Schallwellen legten die Strecke aus der Stadt bis herauf ins Gebirge innerhalb von Sekunden zurück. Sie stiegen aus dem Tal auf, wälzten sich über die einsamen Hänge und über die Steinmauern meines Hauses hinweg. Ein Zittern der Luft. Die hohen Zypressen vor dem Fenster schwankten. Vögel stoben aus den Zweigen. Wäre es nicht Sommer gewesen, taghell und nur vereinzelte Wolken am Himmel, ich hätte es für Donner gehalten. Ein Sommergewitter.
Ich stand am Küchenfenster und sah den Vögeln zu, wie sie in Schwärmen über den Himmel zogen. Sie legten sich schräg in den Wind, dicht an dicht wie ein geflochtenes Band, stoben über den Hügeln auseinander und verschwanden aus meinem Blick. Ich legte das Werkzeug beiseite und ging hinaus in den Garten. Es war August. Die Luft voller Wärme und Feuchtigkeit. Ein Geruch von Holz, Harz und Laub über dem Garten. Das Haus lag, von zwei Hügeln umgeben, in einer Senke, und ein schmaler Weg, dessen Einfahrt man leicht übersah, führte vom Ende des Anwesens aus in gerader Linie einige Hundert Meter weit auf eine Straße zu. Ich durchquerte den Garten, ging in Hausschuhen den Weg entlang und warf einen Blick in den Briefkasten. Ich hatte ihn blau angestrichen, damit er nicht zu übersehen war, denn das Haus lag versteckt hinter Bäumen. Der Briefkasten war leer. Wieder eine Detonation. Schwach und leise und weit entfernt.
Ich ging zurück ins Haus, setzte eine Kanne Kaffee auf und trat wieder in den Garten, wo ich mich auf einem morschen Stuhl niederließ, den Wind und Wetter lange bearbeitet hatten und der unter meinem Gewicht verdächtig knackte. Eine Eidechse huschte unter einem Stein hervor und verharrte zwei Armlängen entfernt in einem Sonnenfleck.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte ich, „hier sind wir sicher.“
Was mich an Nachrichten aus Beirut erreichte, waren kurze, irrlichtgleiche Anekdoten, die ich aufschnappte, wenn ich zweimal in der Woche das Grundstück verließ. Etwa eine Viertelstunde Fußmarsch von der Einfahrt entfernt gab es eine größere Kreuzung. Ein Mann namens Walid kam dort regelmäßig mit seinem Pick-up hin, von dessen Ladefläche er Brot, Reis, Gemüse und Medikamente verkaufte, die die Menschen aus der Umgebung bei ihm bestellten. Die Häuser hier oben lagen so weit auseinander, dass es ihn Stunden gekostet hätte, sie einzeln anzufahren, und irgendwann vor meiner Zeit hatte man sich darauf geeinigt, dass dieser Punkt in etwa in der Mitte lag.
Die Tage, wenn ich vor zur Kreuzung ging, waren im Grunde die einzigen, an denen ich auf meine Nachbarn traf. Viele von ihnen waren hier geboren. Sie grüßten mich, wir unterhielten uns. Und mehr als einmal luden sie mich zu sich ein. Ein Abendessen, ein kühles Getränk in der Sommerhitze, höfliche Gespräche. Ich glaube, sie misstrauten mir. Hier oben in den Häusern aus der Zeit der Jahrhundertwende, fast zwei Autostunden von Beirut entfernt, lebte sonst niemand unter dreißig. Nur ein Sonderling also konnte dieses Haus in den Bergen gekauft haben. Dieses Haus mit dem verwilderten Land, das es umgab.
Während Walid seine Ware verteilte, ließ er das Radio laufen. So drängten sich seit Wochen Nachrichten in die Gespräche: ein Luftangriff auf Kana. In Beirut wurden die Viertel der Hisbollah beschossen, die sich in Wohnhäusern unter Zivilisten verschanzte. Das Ölkraftwerk in Dschije war bei Kampfhandlungen beschädigt worden, Tausende Tonnen Öl flossen seitdem ins Meer.
„Vollkommen schwarz ist die See vor Byblos“, ergänzte Walid, der gerade zwei Kartoffelsäcke von der Ladefläche hob, um sie einer Frau auf die Sackkarre zu reichen, „ein schwarzer Teppich, und was den Fischern ins Netz geht, ist bereits tot.“
Ich stand da und versuchte, mich an die geschwenkten Fahnen, den Jubel, die Tänze zu erinnern. All das war erst ein knappes Jahr her. Freudentränen waren in aller Öffentlichkeit vergossen worden, als die syrische Armee abgezogen war. Nach dreißig Jahren militärischer Präsenz. Nach Wochen der Proteste und des öffentlichen Drucks waren die letzten Panzer über die Grenze gerollt, dorthin zurück, woher sie gekommen waren. Ich war an jenem Tag durch Beirut gelaufen. Die Stadt eingehüllt ins letzte Licht des Tages, dunkelblau, fast Nacht, die langen Schatten der Häuser und in diesen Schatten Menschen, großes Gedränge, ein Gefühl von statischem Knistern. Ich sah die Leute einander umarmen, hörte sie rufen: Endlich! Endlich können wir aus eigener Kraft unser Land führen! Es war wie ein Lied, fröhlich und hoffnungsvoll, und ich weiß noch, dass ich dachte: Vielleicht, vielleicht ist dies der Anfang von etwas Gutem, auch für mich.
„Wir werden die Hisbollah vernichten und den Libanon um zwanzig Jahre zurückwerfen“, zitierte Walid jetzt einen israelischen General. „Das haben sie gesagt. Zwanzig Jahre. Den Flughafen, die großen Straßen und Brücken haben sie zerstört. Sogar das Meer ist abgeriegelt.“ Walids Gestalt hob sich gegen den Himmel ab. Von der Ladefläche aus sah er auf uns herab, unser Bote aus der Stadt.
In der kurzen Zeit, die ich hier oben wohnte, hatte meine Unruhe abgenommen. Und immer häufiger gab es überraschende Momente heller Zuversicht, ausgelöst durch nebensächlichste Dinge: wanderndes Licht an der Wohnzimmerwand, das genau zur Mittagszeit das Bild erhellte, das ich dort aufgehängt hatte. Oder der stille Anblick der Landschaft, die sich verschwenderisch leer unter einem strahlend blauen Himmel über Hügel, Talfalten und Bergketten zog. Oder wenn ich unverhofft an ein vergessenes Lied denken musste, das plötzlich mit Text und Melodie wieder vor mir stand. Ich wachte nachts nur noch selten auf, fühlte mich meist sogar ausgeruht, und es fiel mir schwer, mir in Erinnerung zu rufen, wie es gewesen war, als ich glaubte, der Boden müsse jeden Moment unter meinen Füßen einbrechen und mich mit in eine Tiefe reißen, in der ich nie aufhören würde zu fallen.
Sicher hatte es auch mit den vielen Dingen zu tun, die es rund um das Haus zu erledigen gab. Ich verbrachte meine Tage damit, das Holz der Fensterläden abzuschleifen, die früher einmal blau gestrichen worden waren, überprüfte Ziegel an Teilen des Dachs, zog Schrauben in Türrahmen und Regalen nach, wischte Staub von Möbeln, von jeder Schräge, jedem schiefen Fenstersims und fiel abends erschöpft ins Bett. Das Haus verwandelte mich, so wie es sich verwandelt hatte. Früher war das Grundstück weitläufig und gepflegt gewesen, doch über die Jahre war die Natur näher herangerückt, hatten Unkraut und dichtes Gras die Herrschaft über die Einfahrt und den Weg zur Straße übernommen, bewuchs Efeu die alten Mauern und Fensterläden, wucherten Hecken und Bäume in alle Richtungen aus.
An manchen Abenden, wenn ich vor dem Haus saß, während die Zypressen wie Schattentänzer in der Dämmerung wogten, hatte ich das befreiende Gefühl, nichts, weder Moskitos noch die fernen Kriegsgeräusche, könnte die Abgeschiedenheit, die ich hier gefunden hatte, jemals stören.
An jenem Tag im August 2006 wartete ich im Garten darauf, dass es Mittag wurde. Walid kam immer relativ pünktlich zur Kreuzung, und auch ich hatte wieder ein paar Dinge bei ihm bestellt. Seit die Israelis das Land großflächig unter Feuer nahmen, um, wie sie sagten, Rache zu üben für die Entführung zweier Soldaten, hatte er uns gebeten, in größeren Mengen zu bestellen, da er nicht wusste, ob die Strecke in nächster Zeit noch zu befahren sein würde.
Als ich aus meinen Gedanken auftauchte, ließ ein dunkler Fleck mich stutzen. Er wölbte sich auf der Steinplatte neben mir, wo ihn Fliegen umkreisten. Wie lange hatte ich über Walid und dessen düstere Geschichten nachgedacht? Vor wenigen Augenblicken noch hatte sich hier die Eidechse in der Sonne gewärmt. Jetzt war sie verschwunden, und nur der Fleck und die Fliegen verrieten, dass etwas passiert sein musste. Ich fand nichts, das auf einen Kampf hingedeutet hätte, nichts, das die Abwesenheit der Eidechse erklärte. Nur diese leere Stelle.
Den Vogel nahm ich wahr, weil er mich blendete. Er saß auf dem obersten Ast des Apfelbaums, seine Federn reflektierten das Sonnenlicht. Ein Shikra. Wie schön er war! Und wie groß! Etwas Stolzes umgab ihn. Eine Haltung, die ihn entrückt und würdevoll zugleich wirken ließ, wie einen alten König. Er saß da auf dem Ast mit seinem hellen Federkleid, das im Wind, der durch die Blätter fuhr, kaum wahrnehmbar erzitterte. Scharfe Klauen, ein kräftiger, grauer Schnabel und Augen von der Farbe schwarzer Perlen, in denen etwas Fernes und Strahlendes lag. Die Ruhe in seinem Blick befremdete mich, denn ich wusste, dass diese Augen alles aufnahmen, alles sahen: die tanzenden Lichtpunkte auf den Dächern der Häuser, Hunderte von Metern entfernt, das Zucken einer Maus zwischen den Steinen, Walids schwarzen Wagen, der noch kilometerweit weg war und der heute eine andere als die übliche Route nahm. Und mich. Natürlich sah er mich. Er betrachtete mich mit einer Gleichgültigkeit, die mich verletzte, wie ich irritiert bemerkte. Sie barg eine Überheblichkeit in sich, die mich klein und bedeutungslos werden ließ, während er unnahbar und unangreifbar erschien. Ich bin sicher, er spürte mein Unbehagen, als ich ihn ansah und mir klar wurde, dass er hier gewesen war, in meinem Garten, und dass er etwas entwendet hatte, ohne dass ich es hatte wahrnehmen können. Seine imposante Erscheinung stand in schroffem Gegensatz zu der Lautlosigkeit, mit der er vorgegangen sein musste. Nicht einmal seinen Schatten hatte ich bemerkt.
Der Räuber musste den Windstoß gespürt haben, bevor er aufkam. Ein Wetterumschwung, so plötzlich wie ein Wimpernschlag. In einer einzigen fließenden Bewegung breitete er die Flügel aus, durchschnitt die Luft und verschwand in der Ferne. Dann spürte ich ihn ebenfalls, den Wind, der über die Hügel kam.
Als ich jünger war, nach unserer Rückkehr aus Deutschland, hatte ich mit meiner Großmutter in einer kleinen Wohnung in einem Viertel in Ostbeirut gelebt. Damals liebte ich diese Augenblicke – die traumartige Flüchtigkeit der Ruhe vor Stürmen. Alles schien stillzustehen, die Umgebung wie elektrisch aufgeladen, auf Bordsteinen wirbelten Zeitungsseiten, welke Apfelblütenblätter tanzten in den Abflussrinnen, Mutterhände umschlossen Kinderfinger, zogen sie in Hauseingänge, und Jafar, der nicht weit entfernt wohnte, rannte über die Straße bis unter mein Fenster und rief: „Amin, wir müssen den Zeichner finden, bevor die Welt untergeht!“
Mit dem auffrischenden Wind zogen Wolken am Himmel auf und umzingelten das Blau. Verdrängte, vergessen geglaubte Bilder hoben sich aus meiner Erinnerung: Jafar und ich vor einer bröckelnden Lehmmauer auf dem Flohmarkt, wie wir Geld zählten, das wir ergaunert hatten. Jafar, der auf einem Auge blind und trotzdem der geborene Privatdetektiv war, denn er konnte Menschen aufstöbern, die nicht gefunden werden wollten. Und Großmutter. Wie sie die Fenster schloss, sich ins Bett legte und sich die Decke über den Kopf zog, wenn ein Sturm durch die Straßen und ihr Bewusstsein fegte.
Sie kamen kurze Zeit später. Ich war bereits so an die Stille gewöhnt, dass ich auffuhr beim Geräusch des Motors. Als ich in den Regen hinaustrat, hielt Walids schwarzer Wagen gerade an der Einfahrt zur Straße. Mein erster Gedanke war, dass das schlechte Wetter ihn dazu bewogen haben musste, die Häuser diesmal einzeln anzufahren. Doch dann öffnete sich die Beifahrertür, und eine Frau stieg aus. Unter ihrer Jacke trug sie ein schwarzes Gewand, dessen Saum den Boden streifte, als sie gebückt durch den Regen lief. Sie hielt einen Beutel in der Hand. Ich erkannte sie. Sie war alt geworden.
„Hallo, Amin“, sagte Umm Jamil.
Während sie ihre tropfnasse Jacke an den Haken neben der Tür hängte und im Wohnzimmer Platz nahm, legte ich die bei Walid bestellten Dinge in der Küche ab, setzte Tee auf, kramte nach Keksen, Nüssen oder irgendetwas, das ich ihr anbieten konnte. Der Regen prasselte gegen die Scheiben.
Später, als wir uns gegenübersaßen und Umm Jamil mir die Nachricht vom Tod meiner Großmutter überbracht hatte, sah sie mich über den dampfenden Tee hinweg an. Vielleicht hatte ich konsterniert oder geistesabwesend dreingeschaut, denn sie fragte, leise und ohne Dringlichkeit: „Hast du verstanden, was ich dir gesagt habe?“
„Ja.“
„Es kam für uns alle völlig unerwartet“, sagte Umm Jamil. „Niemand hat damit gerechnet.“
„War sie im Krankenhaus? War sie … krank?“
„Nein. Sie ist friedlich eingeschlafen. Sie war zu Hause. Yara und ich waren zum Frühstück verabredet, ich habe sie gefunden.“
Yara. Ich hatte sie nie bei ihrem Vornamen genannt. Für mich war sie immer nur Teta, Großmutter, gewesen.
Ich spürte, wie Umm Jamil mein Gesicht nach einer Regung absuchte. Nach irgendeinem nachvollziehbaren Gefühl hinter der Starrheit, die ich ihr gegenüber wohl ausstrahlte.
„Wie geht es dir, Amin? Kann ich irgendetwas für dich tun?“
„Danke“, sagte ich leise, „ich komme schon klar.“ Und nach einer Pause fügte ich hinzu: „Danke, dass ihr immer für sie da wart.“
Sie musterte mich schweigend. Und möglicherweise verbunden mit dem stillen Vorwurf: im Gegensatz zu dir. Doch dann sagte sie: „Was passiert ist, ist passiert. Ich bin nicht hergekommen, um darüber zu urteilen. Du hattest deine Gründe, dich von ihr abzuwenden.“ Sie gab der Aussage Raum, als könnte Stille ihr mehr Glaubwürdigkeit verleihen, beugte sich vor, nahm einen Schluck von ihrem Tee und fügte dann hinzu: „Aber ich will, dass du weißt, deine Teta hat dich immer beschützt. Ihr ganzes Leben lang. Sie war überzeugt davon, dass der Weg, den sie dazu wählte, der richtige war.“
Ich erinnere mich noch an den Geruch des Parfums, das Umm Jamil an diesem Tag aufgelegt hatte. Moschus und ein Hauch Jasmin. Allein dieser Duft löste tausenderlei Erinnerungen aus. Sie hier sitzen zu sehen, war verwirrend. Als wäre mein Haus das Foyer eines Theaters und sie, um viele Jahre gealtert, ungeschminkt aus der Garderobe getreten, nachdem die Vorstellung zu Ende war.
„Ich soll dich von Abbas grüßen“, sagte sie. „Von ihm und den anderen. Abu Amar, Nadja, Fida, sie alle richten dir ihr Beileid aus.“
In diesem Raum, der mir bis dahin wie eine warme Höhle erschienen war, löste der Klang dieser Namen eine Gänsehaut auf meinen Armen aus. Umm Jamil bemerkte es. Sie beugte sich über den Tisch und berührte meine Hand. Blaue Adern unter faltiger Haut. Altersflecken auf ihrem Handrücken. Ich wagte nicht, ihr in die Augen zu sehen.
Die Geräusche des sich abschwächenden Sturms streiften ums Haus. Umm Jamils Hand lag auf meiner, und ich war bedacht darauf, sie dort zu lassen, mich ihr nicht zu entziehen und nicht zu zittern.
„Bist du sicher, dass dieses Haus der richtige Ort für dich ist?“, fragte sie nach einer Weile.
Als ich sie endlich ansah, lächelte sie. Es war ein schmerzvolles Lächeln. Mitfühlend und mitleidig zugleich. So wie jemand Älteres über einen lächelt, der dabei ist, dieselben Fehler zu machen wie er. Nicht hochmütig, sondern zärtlich.
„Es ist der einzige Ort“, sagte ich.
In der Nacht, lange nachdem Umm Jamil gegangen und mit Walid in die Stadt zurückgefahren war, stand ich im Türrahmen meines Schlafzimmers und schaute auf das unberührte Bett. Ich fand keine Ruhe. Ich wollte nicht einmal für längere Zeit die Augen schließen. Ich weiß nicht, ob ich mich vor den Träumen fürchtete oder davor, lange wach zu liegen und mich herumzuwälzen. Meine Unruhe war einfach zu groß. Noch heute sehe ich mich dort stehen. Und mir fallen die Tage ein, in denen Großmutter im Regen unter den Linden vor dem Schultor stand, um mich abzuholen. Gehen wir zusammen?, fragte sie dann, und ich begreife, dass es wohl diese Augenblicke waren, in denen sie mir ihre Angst offenbarte.
Wir hatten seit über einem Jahr nicht miteinander gesprochen. Doch auf eine undurchschaubare Weise war sie immer Teil meines täglichen Lebens geblieben, trotz der Stille, die ich gewählt und die sie respektiert hatte. Auch ohne direkten Kontakt begegnete ich ihr weiter in meinen Träumen, hörte sie weiter zu mir sprechen. Und trotz allem, was sie in diesen Träumen und Erinnerungen sagte, wurde mein Leben von dem beherrscht, was meine Teta nicht gesagt, was sie mir nicht erzählt hatte.
Umm Jamil war etwa eine Stunde geblieben. Sie und die anderen würden sich um alles kümmern, hatte sie gesagt, die Beerdigung finde in drei Tagen statt, und wenn ich wollte, würden sie mir noch genauer Bescheid geben. Ich denke, da erst wurde mir wirklich bewusst, dass diese kleine Gruppe von Menschen um Großmutter immer mehr gewesen war als eine Schicksalsgemeinschaft. Sie waren füreinander wie eine Familie gewesen.
Dann hatten Umm Jamil und ich uns verabschiedet. Doch keine zehn Sekunden später hatte es noch mal an meiner Haustür geklopft.
„Hast du kein Telefon hier oben?“
„Doch, natürlich. Warum?“
„Deshalb“, sie griff in ihre Handtasche, „hier, den hätte ich fast wieder mitgenommen.“ Sie zog einen Zettel hervor. Eine Nummer war darauf notiert. Kein Name.
„Eine Frau aus Kanada hat bei Yara angerufen, als ich gerade in ihrer Wohnung war. Du sollst zurückrufen. Sie sagte, es sei dringend.“
Ewig hatte ich den Zettel zwischen meinen Fingern gedreht, ihn zuerst auf die Vitrine im Wohnzimmer und dann oben neben das Telefon gelegt, jedoch ohne die Nummer zu wählen. Wenn es hier Abend war, wie spät war es dann in Kanada? Früher Morgen? Lange hatte ich auf einen Anruf von dort gehofft. Doch jetzt, in der stumpfen Stille meines Hauses, in dem so unvermittelt Raubvögel und Geister vergangener Jahre aufgetaucht waren, wagte ich es nicht, zurückzurufen. Ich fürchtete eine weitere schlechte Nachricht. Nach einer Weile wandte ich mich vom Telefon ab, stieg die Treppe hinunter und verließ das Haus.
Die Luft war vom Sturm reingewaschen. Eine sternenklare Nacht. Nur noch vereinzelte Wolken, grau und unförmig wie Staubflusen, zogen vor dem Mond vorbei. Letzte Regentropfen lagen auf den Halmen. Selbst der Fleck auf der Steinplatte, dort, wo ich die Eidechse gesehen hatte, war verschwunden. Ich ging durch den Garten und einfach immer weiter. Bald verfärbte sich der Saum meiner Hose dunkel, die Nässe drang durch Schuhe und Socken. Eine ganze Weile ging ich so, den Blick geradeaus gerichtet, und versuchte, das Gefühl abzustreifen, das ich empfand. Trauer oder Scham oder beides. Und irgendwann stand ich auf einem der Hügel und sah zurück ins Tal. Mondlicht fiel auf die Zypressen und die Mauern des Hauses. Vor zwölf Jahren hatte ich an dieser Stelle mit Großmutter gestanden. Wir waren zur Obsternte in die Berge gefahren, und aus einer Stimmung heraus, die ich heute nicht mehr nachvollziehen kann, hatte sie mir das alte Haus gezeigt. Der Garten war schon damals wie verzaubert gewesen, und die blauen Fensterläden hatten in der Spätsommersonne geleuchtet.
„Warum leben wir nicht hier, in diesem Haus, wenn es doch dir gehört?“, hatte ich sie gefragt.
Sie hatte meine Hand genommen und sie etwas zu fest gedrückt.
„Weil ich es verkauft habe, Amin. Es gehört mir nicht mehr. Wir brauchen das Geld für das Café, für deine Schule und für den neuen Start in der Stadt.“
Die Endgültigkeit in ihrer Stimme und der Druck ihrer Finger hatten mich abgehalten, weiter nachzufragen.
Später am Abend, zurück in Beirut, hatte ich unter den Eindrücken des Tages am Fenster gestanden und auf die Stadt geblickt – auf die Umrisse der Baukräne und die Hochhäuser, die in der Ferne entstanden.
„Was glaubst du, wer wird dort oben wohnen, wenn all die Türme fertig sind?“, hatte ich gefragt.
Womöglich ohne dass es ihr bewusst war, hatte sie mir mit ihrer Antwort mehr über sich verraten als mit allen anderen Antworten zuvor und danach. Doch das konnte ich damals noch nicht wissen. Ich kann die Bitterkeit in ihrer Stimme nicht beschwören. Vielleicht sagte sie den Satz auch spöttisch. Beides hätte zu ihr gepasst.
„Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern, Amin“, das war es, was sie mir sagte. „In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.“
„Ein feinfühliger Text, aus dem die Liebe für den Libanon und seine Menschen spricht, jenseits orientalistischer Klischees, mit einer poetischen Erzählstimme.“
„Es ist bei aller Leichtigkeit des Romans, der sich auch als Coming-of-Age-, Liebes-, Freundschafts- und Familiengeschichte lesen lässt, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Libanon.“
„Sinnlich und faktenreich lässt (Pierre Jarawan) den Libanon über Jahrzehnte lebendig werden..“
„Pierre Jarawan schildert in ›Ein Lied für die Vermissten‹ (Berlin-Verlag) ein bewegendes Schicksal.“
„Ein neuer Jarawan wie wir ihn lieben: einfühlsam, spannend und virtuos verknüpft mit der bewegten Geschichte des Nahen Ostens.“
„Ein hochpoetisches Buch in einer ebensolchen Sprache. Man taucht förmlich ein in so eine orientalische Welt voller Geschichten, Atmosphären.“
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