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Ein Märchen im Winter

Ein Märchen im Winter - eBook-Ausgabe

Kate Lord Brown
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Roman

„Leichte Lektüre für kalte Wintertage.“ - TV für mich

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Ein Märchen im Winter — Inhalt

Seit dem Tod ihres Mannes und der Pfändung ihres Hauses steht Grace vor einem Scherbenhaufen. Bis ihr eines Tages der exzentrische ältere Schriftsteller Fraser Stratton einen Job als Assistentin anbietet. Die junge Frau bezieht für den Winter ein Cottage auf Frasers Anwesen, das von seinem sympathischen Patensohn Jack verwaltet wird. Als ihr eine antike Brosche in die Hände fällt, ahnt Grace noch nicht, dass sie auf ein lang gehütetes Geheimnis gestoßen ist, das die Strattons mit ihrer eigenen Familie verbindet und ihr Leben völlig verändern wird …

€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 02.11.2016
Übersetzt von: Elke Link
496 Seiten
EAN 978-3-492-97522-3
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Leseprobe zu „Ein Märchen im Winter“

PROLOG

„ Hier ist meine Hand “, sagte er. Was hätte ich denn tun sollen ? Ich wollte ja gar nichts weiter, ich wollte nur das Haus sehen, wo alles angefangen hat, und mehr über die Geschichte der Diamantbrosche erfahren. Aber schon in diesem ersten Mo­ment wusste ich es – bei manchen Menschen weiß man einfach, dass sie irgendwie wichtig werden, sobald man ihnen be­gegnet ist. Wir lernten uns im Januar 1979 kennen, dem Winter des Missvergnügens. Es schneite heftig, seine dicken, dunklen Haare waren schneebedeckt. Damals trug er sie noch länger, sie [...]

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PROLOG

„ Hier ist meine Hand “, sagte er. Was hätte ich denn tun sollen ? Ich wollte ja gar nichts weiter, ich wollte nur das Haus sehen, wo alles angefangen hat, und mehr über die Geschichte der Diamantbrosche erfahren. Aber schon in diesem ersten Mo­ment wusste ich es – bei manchen Menschen weiß man einfach, dass sie irgendwie wichtig werden, sobald man ihnen be­gegnet ist. Wir lernten uns im Januar 1979 kennen, dem Winter des Missvergnügens. Es schneite heftig, seine dicken, dunklen Haare waren schneebedeckt. Damals trug er sie noch länger, sie streiften den Kragen seiner Jacke. Jetzt sind sie weiß wie Schnee, aber damals glänzten sie schwarzblau wie geschliffener Obsidian. Ich weiß noch genau, wie sich die Flocken in seinen Wimpern fingen, wie die Atemwolken die Leuchtkraft seiner saphirblauen Augen verschleierten. Ich wusste, ich konnte ihm vertrauen, und deshalb streckte ich den Arm aus.

Es war so ein Wintertag, an dem das Eis schwarz ist und die Straße sich unter dem frisch gefallenen Schnee in eine Eisbahn verwandelt, ohne dass man es merkt. Der schlimmste Winter seit 1963, hieß es, bitterkalt. Er hatte ein Stück weiter angehalten. Die Scheinwerfer seines alten blauen Land Rovers vergoldeten die gefrorenen Schneewehen, die die Hecken wie Zuckerguss überzogen, Spiralen von Schneeflocken fielen langsam vom Himmel, und eine weiße Abgaswolke waberte über der Straße. Der Motor brummte gleichmäßig, aus dem Innenraum drang ein Pink-Floyd-Refrain und trieb über die schweigenden Felder. Zuerst war nur seine Silhouette zu sehen, als er aus dem Licht auf mich zuging. Als er dann näher kam, er­kannte ich, dass er lächelte, er hatte Fältchen um die Augen und versuchte, nicht zu lachen. Ich musste grotesk ausgesehen haben, wie ich da in meinen himmelhohen Stiefeln und meinem zotteligen alten weißen Lammfellmantel mitten auf der Straße stand. Was für Absätze ich damals trug ! Die Arme hatte ich ausgestreckt wie eine Seiltänzerin, um das Gleichgewicht zu halten, und der Wind fuhr mir durch die blonden Haare, die unter meiner schwarzen Baskenmütze hervorquollen. Meine Füße drohten, jeden Moment unter mir wegzurutschen. Nehmen Sie meine Hand. Das waren die ersten Worte, die er zu mir sagte.

„ Ich schaffe das schon “, sagte ich. Ich versuchte, mich zentimeterweise rückwärts zu der Stelle zu schieben, wo ich meinen alten roten VW Käfer geparkt hatte. Die Scheinwerfer meines Autos schienen durch die eiskalte Luft nach dem Licht seiner Scheinwerfer zu greifen, die vor uns im Schnee im Zickzack leuchteten wie Scheinwerfer auf einer Bühne.

„ Aber sicher. Sie haben ja auch die richtige Wanderausrüstung an. “

„ Ich wollte ja nicht. Mein Hund … “, begann ich, aber sein Lachen war ansteckend. Also tat ich es. Ich nahm seine ausgestreckte Hand und hielt mich fest. So fest, dass er bei dem Versuch, mich zu retten, mit mir hinfiel, als ich wieder auf eine Eisplatte geriet und es mir die Füße wegzog. Ich konnte ihn doch nicht loslassen ! Wir sagen gerne, wir hätten uns gegenseitig den Boden unter den Füßen weggezogen.

Wir lagen im Schnee und schöpften Atem, und ich weiß noch, dass ich einen Augenblick lang hinauf in den milchigen Himmel blickte, auf die beleuchteten Schneeflocken, die wie Blattgold träge auf uns herabfielen. In diesem Teil von West Sussex spürt man die Nähe des Meeres. Man sieht zwar die Küste nicht, aber die Luft und das Licht haben ein ganz besonderes Funkeln. Da­mals war alles ganz neu : dieser Mann, diese Straßen, dieses Land, und ich hatte Herzklopfen. Als ich zu ihm hinüberschaute, sah er mich bereits an und lächelte. Für mich war das alles fremd. Ich war so lange müde und traurig gewesen, dass ich gar nicht mehr wusste, wie ein echtes Lächeln ging, und plötzlich musste ich lachen. Ich war wie befreit. Von mir war richtiggehend eine Last genommen. Genau so hatte es sich angefühlt mit ihm, ich schwöre. Ich spürte nichts als Er­leichterung und Freude – ich habe dich gefunden. Das empfand der ruhige, leise Teil von mir, der ihn von irgendwoher erkannte und sich nach ihm ausstreckte. Es war, als triebe der schwere, kalte Felsen der Traurigkeit einfach davon, leicht wie ein Ballon.

„ Ich heiße Jack. “ Er beugte sich vor und reichte mir die
Hand.

„ Grace “, sagte ich und ergriff sie. „ Danke für die Rettung. “

„ Na, das habe ich ja super angestellt. “

„ Ich gebe normalerweise nicht so eine lächerliche Figur ab. “ Ich meine, ich komme klar. Dafür bin ich bekannt. Die gute, alte Grace, immer gefasst, immer vorbereitet. Die Parzen hatten offenbar beschlossen, sich zu amüsieren, als sie mich an diesem Tag in himmelhohen Stiefeln auf einer vereisten Straße der Liebe meines Lebens über den Weg laufen ließen.

Er stützte sich auf den Ellbogen und lächelte zu mir herab. „ Wollen Sie zu Fraser Stratton ? “

„ Ja. “

„ Der wird Sie mögen. “ Schon wieder dieser amüsierte Blick in seinen Augen. „ Aber Sie sind den falschen Weg gefahren. Hier geht es nur zu mir. “ Wie könnte das der falsche Weg sein ?, war mein erster Gedanke.

„ Sind Sie nicht von hier ? “, fragte ich. „ Ursprünglich, meine ich. “

„ Der Akzent ? “ Er lachte. » Ich bin hier aufgewachsen, aber ge­boren wurde ich in den Staaten. «

„ Das erklärt einiges. “ Er hatte auch amerikanische Zähne, viel zu gut für einen Engländer in den 1970ern.

„ Sie wissen ja, wie es hier ist – man muss Großeltern haben, die auf dem Friedhof begraben liegen, bevor sie einen als Einheimischen akzeptieren. “

„ Haben Sie ? “, fragte ich.

„ Zählt eine Großtante ? “

„ Auf jeden Fall. Wie ist denn Mr Stratton ? “

Jack lachte. „ Das werden Sie schon sehen. Ich fahre Sie hin. “ Er stand auf, klopfte sich den Schnee von den Beinen und reichte mir die Hand. Er neigte den Kopf. „ Sie sehen aus wie ein Schneeengel. “ Seine Züge wurden weich. Ich bewegte Arme und Beine hin und her. Ich weiß ehrlich nicht, was in mich gefahren war. Ich hatte das seit meiner Kindheit nicht mehr gemacht, aber mit ihm – na ja, so ist das eben. Seit viel zu langer Zeit fühlte ich mich endlich einmal wieder unbeschwert. „ Kommen Sie. Ihnen muss ja eiskalt sein. Ich lasse Sie nicht wieder fallen, versprochen. “

„ Ehrlich ? “

„ Wir schleppen Ihren Wagen zum Gutshaus. “

» Ich will keine Umstände machen. Ich habe die Zufahrt ge­sucht. Mein Hund … «

„ Dieser verrückt aussehende Lurcher, an dem ich gerade vorbei bin ? “

» Jagger heißt er. Er hat an der Tür gescharrt. Ich dachte, er muss mal, deshalb habe ich gleich neben der Hauptstraße ge­hal­ten, aber er ist sofort in diese Richtung hier losgerannt, und ich bin stecken geblieben, als ich hinterherlief. « Lautlos dankte ich meinem Hund dafür, dass er mich hergebracht hatte.

„ Keine Sorge. Ich wette, ich weiß, wo er hinwill. “

„ Danke. “ Ich stand auf. Selbst in meinen Stiefeln war ich nicht so groß wie er. Er legte mir den Arm um die Taille und stützte mich, während wir auf den Land Rover zugingen. Aus der Nähe fielen mir die ersten grauen Haare auf, die er an den Schläfen hatte – ich schätzte ihn auf fünfunddreißig, sechsunddreißig Jahre ? Er trug einen dicken weißen Rollkragenstrickpulli und eine alte blaue Wolljacke, die einen einlädt, sich darin einzuwickeln. Seine Jeans waren sauber, aber zerknittert, und er roch nach Regen, nach Erde, nach etwas Eindeutigem und Echtem, nach einem Ort, wo man leicht atmen konnte. Als er mich an­schaute, hatte ich das Gefühl, er würde mich sehen. Mich wirklich sehen. Das ging mir zum ersten Mal seit Jahren bei jemandem so.

Ich erinnere mich noch an jedes Detail der Fahrt durch den Schnee zu Wittering Manor. Die Hauptzufahrt des Anwesens war geräumt, und an den Zäunen aus rissigem Eichenholz war Schnee aufgehäuft. In Jacks Land Rover war es warm, und es roch nach Öl und Heu. Ich fühlte mich geborgen. Daran erinnere ich mich. Bei ihm fühlte ich mich sicher und geborgen, als wäre ich nach Hause gekommen. Es war damals natürlich noch nicht der schicke Gutshof mit den Hofläden und Cafés und den Ferienwohnungen. Damals fuhr man nur an ein paar Häuschen vorbei, aus deren schiefen Kaminen der Holzrauch aufstieg, und an Wegen, die zu alten, baufälligen Scheunen führten. Und dann kam das Gutshaus in Sicht. Der erste Anblick überraschte mich. Ich hatte mir ein bleiches, abschreckendes Haus mit Säulen vorgestellt, doch stattdessen sah ich ein einladendes Ge­bäude aus rotem Backstein und Holz inmitten eines wunderschön gestalteten Grundstücks. Das Haus schien mit der Zeit gewachsen zu sein, mit nachträglich angebauten Seitenflügeln, und das mit Terrakottaziegeln gedeckte Dach war entzückend schief und mit Schnee bestäubt. Ich weiß noch, als wir auf den Hof fuhren, fiel mir auf, dass selbst die Wetterfahne auf dem Stallgebäude windschief und eingefroren war und in die falsche Richtung zeigte.

Vielleicht war das ein Zeichen. Wie das Leben so spielt, sollte nichts einfach für uns sein, aber oft muss das Wertvollste auch erkämpft werden. Vielleicht lernt man so die Dinge erst schätzen. Und ich bin jeden Tag dankbar dafür, dass mich die Diamantbrosche meiner Großmutter zu ihm führte. Gogo sagt immer : Fall sieben Mal hin, steh acht Mal auf. Damals war das ein echter Prüfstein für mich, und mir gefällt diese Einstellung immer noch. Jack hat mich aufgefangen, als ich fiel – und wir landeten gemeinsam auf den Füßen.



JANUAR

Granat

Beständigkeit, Treue, Geduld



1

Grace läuft durch den dunklen Wald ; in der Stille bildet ihr Atem weiße Wölkchen. Der frisch gefallene Schnee leuchtet im Mondlicht, und über den Bäumen glitzern die Sterne, ein Feld von Diamanten. Sie kommt ins Rutschen, als sie zwischen den Bäumen hindurchtritt und die überfrorene Straße erreicht, frostige Zweige knacken unter ihren Stiefeln. Sie rafft den Saum ihres blauen seidenen Abendkleids und wirft einen Blick hinter sich, ihre hellblonden Haare wehen im Wind, ein silberner Strang. Sie hat, wenn überhaupt, nur ein paar Minuten, in denen sie sicher sein kann, dass alle Dorfbewohner in ihren Häusern sind, dass alle neugierigen Blicke sich von den Gardinen weg auf Festivitäten oder den Fernseher richten und die Leute zum Jahreswechsel das traditionelle „ Auld Lang Syne “ singen.

Drei Mal schlägt die Glocke, sie zählt mit. Viertel vor Zwölf.

Am Tor bleibt sie kurz stehen und schnappt in der Kälte nach Luft. Sie legt die behandschuhte Hand auf die steinerne Tafel, spürt die vertrauten Buchstaben : Altes Pfarrhaus. Auf der anderen Straßenseite fängt sich der Schnee an der starren Buchsbaumhecke von Mrs Millers strohgedecktem Häuschen. Das Haus er­innert Grace an einen zusammengerollten Igel, der die Stacheln zeigt. Die tief liegenden, perlenartigen Fenster beobachten alles, was im Dorf vor sich geht.

Grace läuft die von Bäumen gesäumte Zufahrt zum Pfarrhaus hinauf und hält sich im Schatten. Sie zieht sich die Kapuze ihres Samtcapes über, atmet den beruhigenden Duft ihres Parfums ein, Opium, warme Vanille und Patchouli. Das Haus liegt vor ihr, die eleganten Fenster schimmern bläulich im Mondlicht, eingerahmt von dunklen, kahlen Bäumen, so ruhig wie der Blick einer Frau, die sich ihrer Schönheit gewiss ist. Es wartet auf sie. Als ihre Familie nach Hampshire gezogen war und sie das Haus zum ersten Mal gesehen hatte, erinnerte es sie an die Häuser, die sie als kleines Mädchen gemalt hatte – rechtwinklig und solide, sicher. Sie bleibt stehen, als sie Stimmen hört, Gelächter aus einem Haus in der Nähe. Grace hebt den Kopf und lauscht, schnell und ängstlich wie ein Reh im Wald. Eine Tür geht zu. Jetzt ist nur noch das ferne Rauschen des silbernen Flusses durch die Auen hinter der Kirche von Exford zu hören. Sie eilt die Zufahrt hinauf, ausnahmsweise knirscht der Kies nicht, er steckt in der ge­frorenen Erde fest, bedeckt von Schnee.

Sie zieht den Schlüssel aus der Tasche und schiebt ihn mit zitternder Hand in das Schloss. Er lässt sich nicht drehen. Sie hatte damit gerechnet, dass es wie immer mit einem Klicken aufgehen würde, dass sie die Haustür ganz einfach aufschieben und in den Gang treten konnte, in dem sie sich selbst mit verbundenen Augen zurechtfinden würde. Sie schaut durch die Scheibe, die Bodenfliesen reflektieren das Oberlicht, das vom Mond beleuchtet wird. Sie haben schon die Schlösser ausgetauscht. Fluchend zieht sie den Schlüssel mit einem Ruck heraus. Als auf der Straße ein Auto vorbeifährt, verschwindet sie im Schatten des Sandsteinvorbaus. Sie atmet kurz und flach. Sie wartet, dann läuft sie um das Haus herum zur Hintertür. Sie drückt die Klinke. Verschlossen. Denk nach.

Die Erinnerungen stürzen auf sie herein, das Leben, das in diesen vier Wänden gelebt worden war. Sie lässt sie durch sich hindurch wie einen Schwarm Vögel im Formationsflug. Sie erinnert sich an den endlosen Sommer, in dem sie eingezogen waren, 1976. Sie waren befeuert von Hoffnung und Ehrgeiz. In diesem Sommer schien jeden Tag die Sonne zu scheinen. Sie erinnert sich, wie sie mit Harry zu „ Dancing Queen “ Jive tanzte, ihre Tochter hatte sich auf ihre Füße gestellt. Das Radio tönte durch das ganze Haus, während die Umzugsleute die Kisten hereintrugen. Es tut immer noch weh, das Glück, das sie empfand, als sie den geschmeidigen, leichten Körper ihrer Tochter durch die leeren Räume wirbelte. Sie wünscht sich diese Zeit so sehr zurück, diese unbeschwerten Momente. In Gedanken geht sie weiter durch das Haus, die Zimmer werden nacheinander hell. Sie sehnt sich nach den Flammen des Kaminfeuers, der warmen Umarmung des Holzrauchs, nach Cognac auf der Zunge. Oder nach der blauen Kühle ihres Schlafzimmers, dem Streicheln einer Brise durch die offenen Fenster in einer Sommernacht. Vor Sehnsucht stockt ihr der Atem. Grace ballt die Faust und schlägt frustriert gegen den Türrahmen. Dafür ist keine Zeit. Denk nach. Da fällt ihr der Abend im April ein, an dem Sam in dem Kino in Winchester seine Schlüssel verloren hatte. Freunde hatten sie nach Hause gefahren, aber sie waren ausgesperrt. „ Wir könnten in der Spielhütte schlafen “, sagte er. „ Harry übernachtet bei ihren Freundinnen. Das wäre doch lustig … “

„ Bist du verrückt ? “, sagte sie. Sam zog sein Schweizer Messer heraus, die Klinge schimmerte im Licht der Außenlaterne. „ Sei vorsichtig. “

„ Keine Sorge. “ Er sah sie an, seine grünen Augen waren ganz ruhig, unlesbar hinter seinem blonden Pony. Er ging zum nächsten Fenster und schob die Klinge zwischen die klappernden Rahmen, um den Riegel wegzudrücken. Innerhalb weniger Sekunden war er im Haus und öffnete ihr die Hintertür.

„ Wo hast du das denn gelernt ? “

„ Das willst du gar nicht wissen. “

Grace schaltete das Licht in der Küche an. „ Wenn das so einfach ist, sollten wir uns bessere Schlösser besorgen. “

„ Wer würde es wagen, hier einzubrechen ? “, fragte er und nahm sie in die Arme. „ Hier kann uns nichts etwas anhaben. “

Grace steht da und betrachtet die Hintertür. Nichts kann uns etwas anhaben. Selbst damals war sie sich unsicher gewesen. Sie zuckt zusammen, merkt, dass sie sich wieder in der Vergangenheit verliert. In der Manteltasche sucht sie nach Sams Messer. Es ist ein Talisman, den sie immer bei sich hat. Sie sieht auf seine Omega-Uhr. Fünf Minuten vor zwölf. Das erste Fenster, bei dem sie es versucht, ist zu fest verschlossen, das nächste auch. „ Sam “, murmelt sie, „ ich brauche deine Hilfe. “ Grace er­schrickt, als eine Gruppe von Leuten in den Pub am Platz unterwegs ist, kurz ist durch die offene Tür You’re the one that I want aus der Jukebox zu hören, Gelächter und Gesang : Uu-uu-uuh. Die Zeit drängt. Sie geht zum nächsten Fenster und zwängt das Messer in den Spalt, drückt die Klinge fest gegen den Riegel. Ihre Finger sind steif vor Kälte, aber sie spürt, wie es nachgibt. „ Danke “, flüstert sie und schiebt das Fenster hoch.

Ihre Schritte auf den Dielen hallen durch das Haus. Es tut unendlich weh, das alles wiederzusehen. Eigentlich hatte sie nie mehr zurückkommen wollen. Grace schaut absichtlich nicht zu dem Türrahmen in der Küche hin, der die Markierungen trägt, die sie gemacht hatten, während Harry heranwuchs, die dünnen blauen Linien für sie selbst und gleich darüber für Sam, und Harrys krakelige Striche für Jagger, den Hund. Sie zwingt sich, weiter den Gang entlangzugehen, erinnert sich, wie sie kurz vor Weihnachten vor der Tür stand, als der Lieferwagen ihres Vaters Ted mit den letzten Kisten schlingernd dem dunklen Cortina auf der Auffahrt auswich. Der Vertreter der Bank nahm geschäftsmäßig den Satz Schlüssel entgegen. Sie ging da­von, ohne einen Blick zurückzuwerfen, staunend, wie schnell ein Leben auseinanderfallen kann.

Vor der Tür zum Wohnzimmer zögert sie, fürchtet sich da­vor, einzutreten. Einerseits erwartet sie, noch alles an Ort und Stelle vorzufinden, das dunkelrote Samtsofa, die Schaffelle vor dem Kamin im Schein der zwei Lampen. Los, tu es, denkt sie und geht weiter. Als sie die Tür öffnet, ist alles leer, Mondlicht beleuchtet den nackten Boden unter ihren Füßen. Grace läuft rasch zum Kamin und zieht die Feuerböcke zur Seite. Sie geht in die Hocke, holt eine kleine Taschenlampe hervor und schaltet sie ein. Sie hält sie mit den Zähnen fest und quetscht sich in die Öffnung hinein, tastet nach dem losen Ziegel über dem steinernen Bogen. Da. Mit dem Messer hackt sie auf die Mauer ein, löst den Ziegelstein heraus. Sie blinzelt, hat Staub in der Lunge, ihr brennen die Augen. Der Ziegelstein fällt zu Boden, und sie greift in die Nische, sucht mit den Fingerspitzen nach der kleinen Holzschatulle. Ich hatte recht. Sie ist weg. Gleich wird die Kirchenglocke das neue Jahr einläuten.

Grace setzt den Stein wieder ein und schiebt sich vorsichtig aus dem Kamin heraus. Wer konnte das nur gewesen sein ? Das Licht von Autoscheinwerfern huscht über die gegenüberliegende Wand, als das Auto über die verschneite Zufahrt rutscht. O Gott, o Gott, denkt sie, dreht sich um, läuft zum Gang. Wer hat sie ge­sehen ? Sie hastet durch den vom Mond beleuchteten Korridor, Cape und Kleid hinter sich her schleifend. Vielleicht hat jemand die Polizei gerufen ? Ist es strafbar, in sein eigenes Haus einzubrechen ? Es ist nicht dein eigenes Haus, nicht mehr, denkt sie, eilt durch die Küche, klettert durch das Fenster hinaus und schiebt es leise wieder zu.

„ Was hast du dir eigentlich dabei gedacht ? “

Grace wirbelt herum, als sie direkt hinter sich eine Männerstimme hört. „ Dad ? Du hast mir einen Heidenschreck eingejagt. “

„ Halt still, dein Kleid hat sich verfangen. “ Ted löst den Saum von der Fensterbank. „ Ich habe gesehen, wie du die Feier verlassen hast, und dachte mir irgendwie, dass du vielleicht zum Haus willst. “ Er zieht den Rahmen fest nach unten. „ Ich weiß, die Situation ist nicht gerade rosig, aber ich hätte nicht gedacht, dass du gleich einen Einbruch begehst. “ Er nimmt ihr das Messer ab und schiebt den Riegel wieder so zurück, dass das Fenster verschlossen ist. „ Wir wollen doch nicht, dass jeder so einfach in das alte Haus einbrechen kann, oder ? “ Er streicht liebevoll über die Mauer. „ Ist alles in Ordnung mit dir ? “

„ Ja “, sagt sie, als sie zu Teds rotem Jaguar E-Type gehen, der vor dem Haus parkt. „ Ich musste einfach nachsehen. Sie sind weg. “ Ihr Gesicht ist bleich, ängstlich. „ Die Geburtssteine sind weg. “

Die Glocken läuten über das gefrorene Land. „ Frohes neues Jahr, mein Liebes “, sagt Ted.

„ Dir auch, Dad. Hoffen wir es. “ Grace schaudert, zieht den Kragen ihres Capes hoch. „ 1979 hätte wegen mir nicht unbedingt so anfangen müssen. “

„ Wer auf der Welt tut denn so etwas ? Wer ? “ Ted runzelt die Stirn. „ Willst du zurück auf die Feier ? “ Vorsichtig steuert er das Auto über die gestreute Straße, die Reifen rauschen durch den Schnee. Die Flocken wirbeln wie in einem Kaleidoskop auf sie zu. „ Das wird jeder verstehen. Kein Wunder, dass dir dieser Brief einen Schrecken eingejagt hat. Mach dir keine Sorgen, Schatz. Wir werden die Sache aufklären. Du hast schon genug durchgemacht, ohne … “

„ Schon gut, Dad. “ Sie starrt durch die Windschutzscheibe auf den langsam fallenden Schnee. „ Es ist schon erstaunlich, oder ? Letztes Jahr um diese Zeit hätte ich dir nicht geglaubt, wenn du mir erzählt hättest, ich wäre obdachlos, verwitwet, alleinerziehend … “

„ Du bist nicht obdachlos, Liebes. Du hast einen Platz bei uns, so lange du ihn brauchst. “ Ted greift nach ihrer Hand und drückt sie.

Grace zieht einen einfachen braunen Umschlag aus der Tasche, auf dem nur ihr Name steht, mit Schreibmaschine getippt. In dem Umschlag befindet sich eine kleine Holzschatulle und eine Karte :

Unsrer treuen Liebe zum Gedenken /
will ich diesen Granat dir schenken.

Die dicke rote Schleife, die um die Schatulle gebunden ist, fällt im Auto unbemerkt auf den Boden. Grace zittert vor Kälte und Adrenalin, als sie die Schatulle öffnet und mit der Fingerspitze über die elf Vertiefungen streicht, bis sie bei dem Granat angelangt ist. Grace hält den Edelstein zwischen Daumen und Zeigefinger hoch, im Halbdunkel schimmert er rot. „ Ich habe den Stein sofort erkannt. Ich weiß noch, wie ich ihn geschliffen habe. “

„ Hast du deshalb eingebrochen ? Um nachzusehen, ob die Schatulle weg ist ? “, fragt er. Grace nickt. Sie betrachtet immer noch den Stein. » Hätte ich doch nur gesehen, wer ihn bei der Mühle vor die Tür gelegt hat. Ich habe den Umschlag nur be­merkt, weil ich ein paar Gäste hereinlassen wollte. Wer würde denn die Steine nehmen ? « Ted überlegt. „ Du glaubst doch nicht … “

„ Er ist tot. “ Über den Straßen von Exford explodieren Feuerwerkskörper : kühne Raketen vom Anwesen, ein etwas gesetzterer Goldregen über dem Mühlhaus ihrer Eltern. Sie muss an das Feuerwerk denken, das Sam zu ihrem Einzug in die Alte Pfarrei organisiert hatte. Die Terrasse war voll mit Leuten, die sie nicht kannte. Danach hatte Sam alle ins Wohnzimmer gebeten und eine große Rede gehalten, bevor er die Edelsteine als Glücksbringer für ihr neues Zuhause im Kamin einmauerte. Als Grace das vorgeschlagen hatte, war das als private Geste gedacht gewesen, nur für sie selbst und Sam. Stattdessen sah er darin die Ge­legenheit für einen eindrucksvollen Abschluss der Feier. Sie er­innert sich, wie ihr die Wangen brannten, wie sie sich in dem Raum umsah, während Sam in seinem Augenblick des Ruhms badete, mit dem Haus prahlte, mit der Familie seiner Träume. Ganz in der Nähe wurden die lächelnden Gesichter von Harry und ihren Eltern vom Kaminfeuer beleuchtet, aber dahinter sah sie stechende Augen im Schatten funkeln, Gesichter, die sie nicht kannte, Menschen, die ihrem Eindruck nach alles andere als be­geistert über Sams Glück waren. Wie Wölfe, die ein Lagerfeuer um­kreisen.

„ Sam ist tot, Dad “, sagt sie. „ Ich habe keine Ahnung, wer alles davon wusste, dass er Edelsteine als Glücksbringer eingemauert hat, aber es gibt genügend Leute, die böse auf ihn sind. Sams Gläubiger, seine Familie – die Liste von Leuten, denen seine Firma Geld schuldete, ist endlos. Ich dachte, es würde aufhören, sobald das Haus verkauft ist, aber sie waren trotzdem noch hinter ihm her, und jetzt spielen sie Spielchen mit mir. “

„ Soll ich mal herumfragen ? Wenn jemand versucht, dir wehzutun … “

„ Keine Sorge. Ich kann schon auf mich selbst aufpassen. “ Sie dreht den Kopf zu ihm. „ Hör mal, ich habe wirkliche keine große Lust, wieder auf die Party zu gehen, aber Mum … “

» Deine Mutter wird es schon verstehen, wenn ich es ihr er­kläre. «

„ Egal, ich habe Ben sowieso versprochen, dass ich ihm helfe. “

„ Ben ? Was hat der alte Teufel denn nun schon wieder ausgeheckt ? “

„ Du wirst schon sehen “, sagt sie, als ihr Vater vor der Alten Mühle anhält und den Motor ausschaltet. Die Zufahrt ist zu­geparkt mit Autos, und sie schlängeln sich hindurch zur Haus-
tür.

„ Komm, Liebes, wir gehen rein. Wir sprechen morgen darüber. “ Als er die Tür aufmacht, werden sie von einem Schwall warmer Luft begrüßt, der Musik und Gelächter mit sich trägt. Das Haus ist voller Menschen, bunte Lichterketten funkeln, an den alten Holzbalken baumelt Lametta. Grace hängt ihr Cape an die Haken in der Diele und zieht sich die Gummistiefel aus.

„ Danke, Dad. “ Sie drückt ihn fest. Sie fragt sich, ob seine neuerdings leicht gebeugten Schultern von den zurückliegenden Er­eignissen herrühren oder von den niedrigen Decken in der Alten Mühle. Der Stern auf dem Weihnachtsbaum neigt sich auf einen Balken zu und blickt auf sein glänzendes Lametta hinab wie eine Frau, die ihr neues Kleid bewundert. „ Gutes neues Jahr, Dad. “

„ Wo wart ihr denn ? “ Grace’ Mutter bahnt sich einen Weg durch die Menge der Gäste, sie hat ein Silbertablett mit Häppchen in den Händen. Der weite Ärmel ihres Kleids bleibt am Weihnachtsbaum hängen. „ O Gott, sieh dir nur mal an, wie er nadelt, Ted. “ Als ihre Mutter die Nadeln mit einem Fuß, der in einer goldenen Sandale steckt, wegschiebt, duftet es nach frischer Tanne. Priscilla Manners’ fuchsienroter Lippenstift hat genau den gleichen Farbton wie ihr Chiffonkaftan, und das Licht des Kaminfeuers und der Champagner haben ihr die Wangen ge­wärmt. » Ihr habt den Trinkspruch und das Feuerwerk verpasst. Ich musste Ben bitten, mir zu helfen. Der hat vielleicht ge­schaut ! «

„ Frohes neues Jahr, Liebling “, sagt Ted und küsst sie auf die Wange.

„ Du bist ja völlig durchgefroren “, sagt Priscilla zu Grace. „ Was denkst du dir eigentlich dabei, einfach so abzuhauen ? “ Jemand legt eine andere Musik auf, unterbricht Perry Comos Magic Moment, die Nadel springt und kratzt über die Schallplatte. „ Wer hat die Musik gewechselt ? Dieses Jahr will ich eine entspannte, kultivierte Atmosphäre, nicht diesen Disco-Quatsch. “ Cilla reckt den Kopf und versucht, durch das Gedränge hindurch zum Plattenspieler zu sehen. Die ersten Takte von „ Stayin’ alive “ pulsieren durch den Raum.

„ Reg dich nicht auf, Cilla “, sagt Ted. „ Alle amüsieren sich. “

„ Eine tolle Party, Edward “, sagt ein Mann, als er sich an ihnen vorbeidrückt. Er reckt den Arm zur Decke, im Takt der Musik. „ Cilla ist immer die allerbeste Gastgeberin. “ Die andere Hand hat er ihr an die Taille gelegt.

Sie errötet und kichert. „ Findest du ? Das ist wirklich sehr nett. Hast du die Mini-Quiches schon probiert ? “

Grace betrachtet ihre Mutter, spürt die Verzweiflung in ihrer Frage : Findest du ? Das alles hat sie kein bisschen verändert. Sie möchte beweisen, dass sie in Exford immer noch den Ton angibt.

„ Ich musste das im Alleingang schaffen “, sagt Cilla, sobald der Mann weitergegangen ist. Sie lässt den Blick über die Festgäste schweifen. „ Ted, der Pfarrer braucht Nachschub. “

„ Natürlich, Liebes. “ Er greift nach einer Flasche.

„ Und Mrs Miller wollte einen Portwein mit Zitrone. “

Ted hebt die Augenbrauen, als er Grace ein Glas reicht. » Ich mache ihr einen leichten. Ich glaube, sie hat unseren Babycham-Vorrat schon leer getrunken. Für dich etwas Blubberwasser, ­Liebes ? «

„ Gerne, danke. “

„ In diesem Jahr ist es kein echter Schampus, aber das merkt man überhaupt nicht. “ Er wickelt eine Serviette um das Etikett und geht.

Grace greift nach unten, als ein alter Lurcher sie mit seiner an­gegrauten Schnauze an der anderen Hand stupst. Gedankenverloren streichelt sie seine knochige Flanke. „ Hallo, Jagger. Warst du brav ? “

„ Wann ist er das jemals ? “, murmelt Cilla. » Ich habe ihn er­wischt, da steckte er mit dem Kopf im Servierwagen und hat sich an den Blätterteigpasteten gütlich getan. « Der Hund sieht sie finster an und trabt davon. Er klettert auf ein smaragdgrünes Sofa, dreht sich einmal, zweimal im Kreis und rollt sich dann vor dem Feuer zusammen. Sein Blick scheint ihr zu sagen : Pass bloß auf. Mich vor den ganzen Leuten zu schimpfen.

„ Das ist ja wirklich ein bezaubernder Hund, Cilla, ist das deiner ? “, fragt eine Frau und nimmt sich einen Käsespieß von dem Tablett.

„ Jagger, o nein. Er gehört meiner Tochter, dieses ungezogene Tier. “ Cilla gibt Grace einen raschen Kuss. Die blonden Haare ihrer Mutter fühlen sich an der Wange an wie Zuckerwatte und riechen nach Elnett-Haarspray.

„ Es tut mir leid, dass ich die Glockenschläge verpasst habe, Mum. “

„ Nicht so schlimm “, flüstert Cilla. „ Es gibt immer ein nächstes Jahr. “ Die Züge ihrer Mutter werden einen Augenblick weich. „ Ich weiß, es ist schwer für dich, das erste Weihnachten ohne Sam. “ Sie macht sich an Grace’ Haaren zu schaffen, schiebt ihr eine Strähne hinter das Ohr. „ Lass nie zu, dass sie dich sehen, wenn es dir schlecht geht. “ Sie schaut sich schnell um, um zu prüfen, wer sie beobachtet, wer über sie redet.

„ Sie ? Mum, es ist mir egal, was die Leute denken … “

Cilla macht einen Schmollmund. „ Harry ist endlich im Bett. Ich habe Ben dabei erwischt, wie er ihr einen Eierlikör gegeben hat, und da dachte ich mir, es wird Zeit, dass sie hochgeht. Wenn man vom Teufel spricht “, sagt sie hinter vorgehaltener Hand.

„ Ah, da bist du ja, Grace. “ Ben drängt sich durch die Menge. Er bemerkt Cillas gekränkten Gesichtsausdruck, als sie davongeht, legt er Grace den Arm um die Schultern und drückt sie kurz an sich. „ Nimm das nicht so wichtig. Deine Mutter könnte Jeanne d’Arc noch etwas über Märtyrer beibringen “, flüstert er ihr ins Ohr. „ Sind wir bereit ? “ Ben streicht sich die grauen Locken glatt und marschiert Richtung Wintergarten. How deep is your love setzt ein. „ Wie passend. Ein gutes Zeichen, oder ? “ Er blickt, Zustimmung suchend, Grace an. „ Seit der Landung in der Normandie war ich nicht mehr so nervös. “ Er richtet sich die Krawatte und strafft die Schultern. „ Margot ! “, ruft er, drängt sich zwischen den Tanzenden hindurch und fegt mithilfe seines Gehstocks noch die letzten zur Seite, die ihm im Weg sind. Grace’ Großmutter tanzt inmitten der Menge, sie bewegt sich geschmeidig und anmutig. Margot hat violette, klare Augen, eine Farbe, die Grace gerne von ihr geerbt hätte. Als sie sich umwendet, glänzen die sanften Wellen ihrer grauen Haare, getönt von den Juwelenfarben der pulsierenden Scheinwerfer. Ihr Kleid hat genau die gleiche Farbe wie ihre Augen. Am Kragen trägt sie eine Brosche, der Flügel aus Diamanten funkelt in den Lichtern der Spiegelkugel, die sich über ihnen dreht.

„ Ich hoffe sehr, du machst jetzt keinen Kniefall, Ben, denn du kommst nie mehr wieder hoch. “ Sie erhebt die Stimme über die Musik. Ihr Akzent klingt immer noch nach Paris, sanft wie der Schnee, der draußen auf die dunklen Felder fällt.

„ Woher wusstest du das ? “, fragt er.

„ Wie lange sind wir befreundet ? “ Sie neigt den Kopf.

„ Margot, ich liebe dich schon länger, als ich denken kann. “

„ Dieses Jahr werden es zwanzig Jahre. “

„ Und das muss gefeiert werden. “ Er hebt ihre Hand an die Lippen und küsst sie. „ Wir haben vielleicht keine weiteren zwanzig Jahre vor uns … “

„ Da sprichst du wohl für dich ? “ Margots volles Lachen ist an­steckend.

„ Aber ich hoffe, dass du die Jahre, die uns noch bleiben, als meine Frau verbringst. “ Die Stille zwischen ihnen dehnt sich wie eine zu straff gespannte Geigensaite. Grace sieht Panik in den Augen ihrer Großmutter aufblitzen. Ben beugt sich zu Margot, drückt die Stirn an ihre. „ Ich weiß, dass du nie heiraten wolltest “, sagt er ruhig. „ Aber nach diesem Jahr, nach Sam … “ Er hält inne. „ Da wird einem doch klar, dass man jeden Augenblick, jede Chance auf Glück ergreifen muss. “

„ Schatz “, erwidert Margot, die ihre Fassung wiedergefunden hat, » du weißt doch, wie man sagt. Wenn ein Mann seine Ge­liebte heiratet, schafft er eine freie Stelle. «

» Ich verspreche dir, meine Wanderjahre sind vorüber. Ich hätte dich schon vor Jahren geheiratet, wenn Polly nicht so krank ge­wesen wäre. Ich hätte mich nie von ihr scheiden lassen können, aber jetzt, wo sie nicht mehr ist … «

„ Du warst ein guter Ehemann “, sagt sie leise. „ Wenn auch nutzlos und untreu. “

„ Ich werde ein guter Ehemann sein. Ein besserer Ehemann. Heirate mich … “

„ Ben, danke … “

„ Ich schwöre “ – er erhebt die Stimme – „ heirate mich, und ich verbringe den Rest meines Lebens damit, dich zur glücklichsten Frau der Erde zu machen. “ Die anderen klatschen Beifall. Grace sieht einen Blick in den Augen ihrer Großmutter, den sie erkennt – die Wildheit eines Geschöpfs, das in der Falle sitzt und bereit ist, zu kämpfen oder zu fliehen.

„ Na los, Margot ! “, ruft jemand von den Gästen. „ Wenn du ihn nicht heiratest, nehme ich ihn ! “

Margot sieht Ben an. „ Ich kann es nicht. Ich liebe dich über alles, Ben, aber heiraten werde ich dich nicht. “

Er senkt den Blick. „ Na ja, man kann es ja keinem Mann vorwerfen, dass er es versucht hat. “ Er tätschelt ihr die Hand. „ Du denkst aber noch mal darüber nach ? “ Er wirft einen Blick auf die erwartungsvollen Gesichter um sie herum, dann winkt er Grace. „ Wir feiern trotzdem groß in diesem Jahr, ja ? Um unseren Jahrestag zu begehen ? “

„ Wir haben außerdem unseren sechzigsten Geburtstag in dem Jahr. Warum nicht ? “, sagt Margot.

Ben wirft die Arme hoch. „ Und ihr seid alle eingeladen ! “ Unter dem Jubel der Gäste küsst Ben sie zärtlich. Er wartet, bis sich alle abgewendet haben. Grace sieht die Enttäuschung in seiner Miene, aber er fasst sich, als sie zu ihnen geht. „ Also, ich habe mit Grace etwas ausgeheckt. Ich dachte, das könnte ein Verlobungsring sein … “

„ Ach, Ben. Du bist immer viel zu voreilig. “

„ Ich habe natürlich keinen gekauft. Ich habe Grace gefragt, ob sie ihn entwerfen würde. “ Er drückt Margot die Hand. » Zwanzig Jahre Freundschaft, und … na ja, das verdient etwas Beson­deres. «

„ Was für eine wunderschöne Idee. “

Grace nimmt die kleine Holzschatulle aus der Tasche und legt Margot den Granat auf die Handfläche. „ Seltsamerweise könnte ich den idealen Stein dafür haben. “

„ Wie … ? “

„ Keine Sorge, er gehört mir “, erklärt Grace. „ Oder gehörte. “

„ Wunderschön “, sagt Margot. „ Ein Symbol der Treue. “ Sie wirft Ben einen kurzen Blick zu und deutet ein Lächeln an.

„ Findest du wirklich ? “, sagt er. „ Grace hat erst einen Amethyst vorgeschlagen, um die Farbe deiner Augen zu betonen. Ich dachte, wir könnten alle nach Hatton Garden fahren und den Stein zusammen aussuchen. “

„ Nein, der hier ist perfekt. “

„ Ben hat mit einem seiner Mieter im Antik-Zentrum gesprochen “, sagt Grace. „ Ich darf seine Schmuckwerkstatt benutzen. Sie liegt genau neben deinem ehemaligen Stand. “

„ Wo das Glasatelier war ? Lustig. Ich bin mir sicher, dass er wunderschön wird. “ Margot hält den Stein vor das Kaminfeuer, sodass er rot aufleuchtet. „ Ich kann mir nichts Besseres für meinen Ring vorstellen als meinen Geburtsstein. “ Sie sieht zu, wie Ben zu Night fever davontanzt. Als sie sicher ist, dass er mit alten Freunden beschäftigt ist, beugt sie sich zu Grace vor und flüstert : „ Zum Glück ist das vorbei. Ich hatte das schreckliche Gefühl, dass er mir heute Abend einen Antrag macht. Aber erzähl, wo hast du ihn her ? “

„ Den Granat ? Den habe ich auch aus Jaipur mitgebracht, als ich mit Sam auf Reisen war “, sagt sie leise. „ Als wir das Haus renoviert haben, haben wir sie als Glücksbringer in den Kamin eingesetzt, weißt du noch ? Zwölf Geburtssteine, einen für jeden Monat. “ Bei dem Gedanken daran, dass jemand sie genommen hat, dreht sich ihr vor Angst der Magen um. Sie öffnet die Schatulle noch einmal und streicht mit den Fingern über die leeren Mulden. Das ist erst der Anfang, oder ?, wird ihr klar. Warum sonst sollte mir jemand die Schatulle mit nur einem Stein schicken ? Kalte Angst steigt in ihr auf, und sie bekommt eine Gänsehaut im Nacken, als sie an die Monate denkt, die vor ihr liegen. Was wollen die ? Geld ? Rache ? Sie beißt sich auf die Lippe, denkt an den Zettel. Mich ?

„ Grace ? “ Margot setzt sich in einen samtenen Ohrensessel und legt besorgt den Kopf schief.

„ Sam hat immer von den Sachen erzählt, die sie eingemauert in Kaminen gefunden haben, wenn sie Häuser renovierten – Kinderschuhe, Strohpuppen, alle möglichen kleinen Talismane. “ Grace unterdrückt ihre Gedanken und nimmt den Granat wieder, den sie sicher in der Schatulle verstaut. „ Ich dachte, zwölf Steine würden uns Glück bringen oder uns schützen. “

„ Wie auf dem Brustschild des Hohepriesters ? “

„ Damals fand ich es romantisch. “

Margot nimmt Grace’ Hand. „ Du hast dir schon damals Sorgen gemacht ? “

„ Natürlich. Aber du weißt genauso gut wie ich, dass Sam die Alte Pfarrei sein ganzes Leben lang geliebt hat. Jedes Mal, wenn wir dort vorbeigefahren sind, hat er mir erzählt, dass das sein Traumhaus war, als er in einem Wohnblock aufgewachsen ist. Ich wusste, es würde eine Herausforderung werden, aber ich konnte seinen Traum nicht zerstören. “

„ Bauunternehmer wissen nie, wann sie aufhören sollen “, sagt Margot. „ Sieh dir nur Ben an. Er hat mehrmals ein Vermögen gemacht und wieder verloren. In letzter Zeit gab es eher Verluste als Gewinne. Wenigstens hat er noch den Antiquitätenmarkt. “ In ihrer Stimme liegt eine gewisse Mattigkeit. „ Sam hat mich an ihn erinnert. Sie sind beide Herzensbrecher und Abenteurer, jagen immer dem nächsten Traum nach, denken, ihr Glück wird nie zu Ende sein. “

Der nächste Song setzt ein : More than a woman. Grace denkt daran, wie sie im letzten Jahr bei einer Disco-Veranstaltung in der Dorfhalle mit Sam getanzt hat. Er trug einen makellosen weißen Dreiteiler. Als sie nach Hause gelaufen waren, hatte sich jemand aus dem Auto gelehnt und gerufen : „ Für wen hältst du dich eigentlich ? Für Tony Manero ? “ Ein Herzensbrecher, ein Abenteurer. War er das ? Oder wollte er, dass ihn alle dafür hielten ? Grace be­trachtet die Schatulle. „ Glück ? Mit den Steinen hat es jedenfalls bei uns nicht funktioniert. “

„ Es gibt immer noch die Brosche, Kleines. “ Margot fährt mit dem Zeigefinger über den Rand des Diamantflügels an ihrem Schlüsselbein. » Dieser reizende Mensch in der Antiques Road­show hat gesagt … «

„ Aber das ist alles, was du noch von deiner Mutter hast. “

„ Sie gehört dir, wenn du sie brauchst. “ Margot sieht sich suchend nach Cilla um. „ Eigentlich können wir es doch auch jetzt gleich machen. Gibst du mir mal meine Tasche ? “ Grace beugt sich vor und reicht ihr eine weiche schwarze Tasche aus Leder. Margot nimmt ein abgestoßenes blaues Schmucketui von Bouchet et Fils heraus. Es fällt ihr vom Schoß auf den Boden. „ Ach je, wie ungeschickt, wärst du so nett ? “

„ Warum hast du das Etui dabei ? “ Grace bückt sich und hebt es auf. „ Gogo, hast du das die ganze Zeit schon geplant ? Das darfst du nicht. “

„ Es ist nur fair. “ Margot nimmt Grace das Etui ab. „ Du machst einen Ring für mich, und ich schenke dir etwas, das sowieso eines Tages dir gehören wird. Ich weiß, dass meine Tochter sich ärgern wird, dass ich sie dir gebe statt ihr, aber Priscilla würde sie nur an Fest- und Feiertagen herausholen, um beim Women’s Institute Eindruck zu schinden. “

„ Gogo, du bist fürchterlich. “

„ Wir sind genau gleich, du und ich. “ Margot hebt Grace’ Kinn und blickt sie an. „ Hab Geduld. Du hast in den letzten Monaten zu viel durchgemacht, aber wir sind Überlebenskünstler. Du kommst wieder auf die Füße, Schatz. Erinnerst du dich an das, was ich immer sage ? “

„ Fall sieben Mal hin, steh acht Mal auf. “ Grace’ Lächeln zittert, als sie sie ansieht ; sie unterdrückt Tränen und hat einen Kloß im Hals. „ Wie denn, Gogo ? Wie ? Wenn ich morgens aufwache, vergesse ich manchmal, was passiert ist, und dann ist plötzlich alles wieder da, und ich kann kaum aufstehen. Wie soll ich jemals wieder auf die Füße kommen ? “

„ Du hast Harry, für die du kämpfen musst. “

Grace runzelt die Stirn. „ Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen. Ich wusste, dass Sams Firma uns, und auch mein Geschäft, ruiniert. Was bin ich für eine Mutter ? “

„ Eine verdammt gute, und lass dir bloß von niemandem etwas anderes einreden. “ Margot wirft einen kurzen Blick auf Cillas Rücken und richtet dann ihre ruhigen violetten Augen wieder auf Grace. „ Du hast etwas riskiert. Manchmal im Leben gewinnt man. Manchmal lernt man. Und man bewegt sich weiter. Immer. Beweg dich immer weiter, Liebes. “

„ Ich weiß nicht, wovon wir leben sollen. Wir können nicht für immer bei Mum und Dad wohnen. Ich habe alles verloren – Sam, das Haus, mein Geschäft. Ich habe … “ Grace verzerrt vor Schmerz das Gesicht, sie kann den Satz nicht beenden. „ Ich kann nicht einmal arbeiten. Die Bank hat meine ganze Werkstattausrüstung und die Bestände beschlagnahmt. “ Sie holt tief Luft und zwingt sich zu einem Lächeln. » Die Geburtssteine waren die letzten Edelsteine, die ich noch hatte, und sogar die hat irgend­jemand genommen. «

„ Wenn ich gewusst hätte, dass er das Haus und deinen Laden als Sicherheit einsetzt … “

„ Gogo, fang nicht an. Ich bin schuld. Ich wusste, welches Risiko ich eingehe, und es gibt Leute, die schlimmer dran sind als wir. “ Wen ?, denkt sie. Wen kennen wir, der schlimmer dran ist als wir ? Sie blickt auf ihre Hand hinunter. Mach niemals halbe Sachen, Grace, hat Sam immer gesagt. Wenn du schon verlierst, kannst du auch gleich alles verlieren. „ Unterbrich mich, bitte. “ Sie blickt zu ihrer Großmutter auf, die Augen strahlen. „ Ich kann Selbstmitleid nicht ausstehen. “ Sie steht auf und streicht sich das Seidenkleid glatt. Der Stoff wellt sich unter ihren Fingerspitzen wie Wasser.

„ Mit der Brosche kannst du von vorn anfangen. “ Margot macht sie ab und legt sie in das Etui. „ Verkauf sie. Ich will dir helfen. “

„ Ich weiß, Gogo. Aber ich will es selbst schaffen. “

„ Gut so. Ich habe es dir ja gesagt, als du darauf bestanden hast zu heiraten : Leg dein Schicksal niemals in die Hände eines anderen Menschen. “

„ Du hast mir gesagt, ich soll keinem Mann vertrauen. “

„ Habe ich das ? “ Margots Augen schimmern, als sie nach einer Sobranie Black Russian greift. Grace nimmt ein Tischfeuerzeug aus Onyx vom Kaminsims und gibt ihr Feuer. Margot macht es sich wieder im Sessel bequem und atmet aus. „ Das läuft auf dasselbe hinaus. Du hättest auf mich hören sollen. Sei dein eigener Kapitän, Grace. Sam ist tot. Die einfache Wahrheit ist, dass du dir und Harriet ein neues Leben schaffen musst. “

Grace zuckt zusammen. Ihre Großmutter ist sehr direkt, und Grace kann ihren festen Blick nicht erwidern. Sie rückt den Diamantflügel in dem Schmucketui gerade und fährt mit dem Finger um den leeren Samthalbmond auf der anderen Seite. „ Da sieht man, wo das Diadem gewesen wäre … “

„ Grace “, beharrt Margot.

„ Wo wohl der Rest davon hingekommen ist ? “

„ Ich habe keine Ahnung. “ Margots Miene wird weicher.

„ Das waren wirklich kluge Entwürfe. “ Grace tastet das Samt­etui ab, entdeckt in der Mitte ein Fach. „ Diademe waren für Fest- und Feiertage, aber wenn es aus Einzelteilen bestand, konnten die Frauen sie als Brosche oder als Halskette tragen … “ Sie verstummt. „ Das ist das Fach, in dem all die Verbindungsstücke aufbewahrt wurden. “ Sie drückt es auf. „ Das ist natürlich alles weg “, sagt sie. „ Was ist das ? “ Sie bemerkt ein Stückchen vergilbtes Papier, das unter dem Futter herausragt, und zieht das brüchige, zusammengefaltete Viereck heraus.

„ Meine Güte “, sagt Margot und beugt sich vor. „ War das die ganze Zeit über da drinnen ? Es muss verrutscht sein, als mir das Etui heruntergefallen ist. Was steht denn drauf ? “

„ Es ist die Originalquittung. “ Grace hält es ins Licht. „ Die Tinte ist verblasst, aber ich glaube, das Datum ist 1915. Bouchet et Fils haben sie auf Stratton, Wittering Manor, West Sussex ausgestellt … Das liegt nur ein paar Meilen von hier. “ Grace sieht Margot an. „ Und woher kenne ich den Namen ? “


2

Fraser Stratton lag in seinem Arbeitszimmer auf dem Boden, die Füße an die Wand gestützt. Die Knöchel waren überkreuzt, die weiten Beine seiner ockerfarbenen Cordhose hingen lose herunter und gaben den Blick auf glatte, sonnengebräunte Schienbeine und lila Socken über dem Rand seiner Lobb-Hilo-Wildlederboots frei. Den rechten Fuß bewegte er im Takt zur Musik aus dem schwarzen Kopfhörer, den er über seine bis zum Kragen reichenden grauen Haare geklemmt hatte. Sein weißer Pelzmantel lag ausgebreitet um ihn wie ein Kaminvorleger. Neben ihm schlief eine Afghanische Windhündin mit platinblondem Fell, die dunkle Schnauze ruhte auf seinem Bauch. Um sie herum verteilt lagen zig Manuskriptseiten, vollgeschrieben mit spinnenartiger Schrift. Manche davon wurden von der Luft hochgewirbelt, die durch die alten Flügelfenster hereinwehte. Sie klapperten im Wind, und Schnee flog dagegen. Fraser wandte den Kopf. Er suchte nach dem Bleistift, den er einen Augenblick zuvor voller Abscheu weggeworfen hatte. Der Schein des Kaminfeuers funkelte auf den Granatclips an seinen Ohrläppchen.

„ Wertvoller als Juwelen “, sagte er zu sich selbst. „ Nein, das stimmt nicht. “ Er griff nach dem abgelegten Blatt und strich die letzte Zeile. Was sagt das aus ? Kein Edelstein ist wertvoller als diese Frau ? Dieser Junge ?, schrieb er und schloss die Augen.

„ Fraser “, sagte Jack. „ Herr im Himmel, was ist passiert ? “ Er packte Fraser an den Schultern und schob ihn hoch. Der Stecker wurde aus der Stereoanlage gezogen, und 20th Century Boy von T. Rex schallte durch den Raum.

„ Nichts, mein lieber Junge. Ich habe nur gerade meine Yogaübungen gemacht, da hat mein Kreuz protestiert. “ Fraser lachte. Er setzte den Kopfhörer ab und warf ihn auf einen schwankenden Stapel aus Papier und Büchern auf dem nächsten Tisch. Er fuhr sich durch die Haare.

„ Ich dachte, du hättest einen Herzinfarkt. “

„ Noch nicht. “ Fraser ließ ein silbernes Etui aufschnappen und zündete sich eine schwarze Zigarette an. „ Rückenübungen “, sagte er und inhalierte tief. Er breitete die Arme weit aus, schritt mit schwingendem Mantel durch den Raum und streckte den Rücken im Takt der Musik in beide Richtungen. » Ich weiß, ich bin fürchterlich rückständig, aber dieser Bolan ist einfach groß­artig «, rief er über die laute Musik hinweg.

„ Ja, er ist vor ein paar Jahren gestorben, aber ich werde mich nach Kräften bemühen, dich auf den neuesten Stand zu bringen, ganz wie du es wolltest. “

„ Wunderbar ! “ Fraser wirbelte herum und lächelte Jack an, der am Schreibtisch lehnte und eine Schneiderpuppe in der Ecke des alten Chesterfield-Sofas betrachtete. Sie trug die Uniform der 9th Lancers. „ Ah, ich sehe, du hast Daddy bereits kennengelernt. “

„ Darf ich es wagen, zu fragen ? “ Jack beugte sich über den Plattenspieler und drehte die Musik um einige Stufen leiser.

„ Keine Sorge. Ich bin nicht komplett durchgedreht. “ Fraser nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und warf die Haare zurück, während er eine blaue Rauchwolke zur Decke blies. „ Ich wende Stanislawskis Prinzipien auf meine Memoiren an. “ Jack sah ihn verständnislos an. „ Methode “, sagte er, ging hinüber und legte der Puppe den Arm um die Schultern, während er es sich auf dem Sofa bequem machte. » Ich versuche, mit den Toten zu kommunizieren, um so viel wie möglich von dieser Ge­schichte herauszubekommen. «

„ Und du … ? “ Jack deutete auf Frasers Aufzug.

Er berührte die Granatclips an seinen Ohren. Die Steine funkelten, schimmerten im Licht der Lampe rot. „ Ich versuche, meine Mutter zu sein. “

„ Mann, wenn wir in den Staaten wären, hätten sie dich in null Komma nichts auf dem Sofa eines Seelenklempners. “

„ Ich will ja nicht sie sein, ich versuche nur, sie heraufzubeschwören, mir vorzustellen, wie es für sie war, als mein Vater mit einem Granatenschock, einem Beutel Schmuck – und einem neugeborenen Baby nach Hause zurückkehrte. “

„ Ich verstehe immer noch nicht, warum du unbedingt diese Memoiren schreiben willst. Warum ? “

„ Warum nicht ? “ Fraser zuckte die Schultern. „ Ich bin im Ruhestand, lieber Junge, und ich habe viel zu viel Zeit. Wenn nicht jetzt, wann dann ? “

Jack lächelte. „ Du bist sicher, dass es nichts mit der Prophezeiung zu tun hat ? “

„ Unsinn. “ Fraser sah ihn finster an.

„ Wo war noch mal diese alte Betrügerin … “

„ Sie war eine angesehene weise Frau. “

„ In Moskau ? “

„ In Leningrad. Ihre Aussage, dass ich nicht über das Ende des Jahres hinaus leben werde, ist gelinde gesagt motivierend. “

Jack verschränkte die Arme. „ Okay “, erwiderte er gedehnt. „ Du brauchst Hilfe. “

„ Ich habe dir doch gesagt, ich komme bestens klar. “

» Ich meine nicht den Seelenklempner. Ich meine, dass du eine Sekretärin brauchst. Kommt eine von heute Nachmittag in­frage ? «

„ Hoffnungslos, allesamt. Würden keinen Vormittag bei mir überstehen. “ Fraser balancierte einen Schiffsaschenbecher aus Messing auf dem Knie und klopfte die Asche seiner Zigarette ab.

„ Ich habe gerade die Letzte auf der Straße getroffen. Sie wartet in der Küche. “

„ Ach ja ? Ich kann jetzt nicht noch ein Bewerbungsgespräch führen. “

„ Vertrau mir. Diese wirst du … interessant finden. “ Jack legte den Kopf schief. „ Ich kann aber auch jederzeit Ellen bitten, hier drinnen aufzuräumen. “

„ Wage es bloß nicht “, sagte Fraser und riss die Augen auf. „ Ich gehe hier nach einem präzisen System vor. Ich würde niemals etwas wiederfinden. “ Er kniff amüsiert die Augen zusammen, als Jack sich langsam im Zimmer umsah. Jede horizontale Oberfläche war mit Aktenmappen aus Pappe, Zeitungsausschnitten und Auktionskatalogen sowie vollgeschriebenen Notizzetteln be­deckt. Fraser hatte auch die Bibliothek requiriert, und durch eine Doppeltür erstreckten sich zwei Reihen Tapetentische in die Dunkelheit zwischen den stattlichen Reihen goldbedruckter Lederbände, die in den Zedernregalen standen, wie randalierende Eindringlinge. „ Ich weiß schon, es sieht vielleicht nicht danach aus. “

„ Wie du meinst, Frase. “ Jack streckte sich müde.

„ Ich hoffe, dein Tag war produktiver als meiner ? “

„ Ich gehe noch mal raus und sehe nach den Zäunen, bevor es dunkel wird. “

„ Sind die Pferde unverletzt ? “

„ Ja, sie sind nicht bis zur Straße gekommen. Cy glaubt, wir müssen sie im Frühjahr alle ersetzen. “

„ Die Pferde oder die Zäune ? “

„ Wahrscheinlich beides. “ Jack sah auf die Uhr. „ Soll ich sie denn nun reinschicken ? “

„ Wie heißt sie ? “

„ Grace. “ Etwas in Jacks Stimme ließ Fraser aufblicken.

„ Sie gefällt dir ? “

„ Du wirst schon sehen. “

„ Reitest du hin ? “

„ Nein, zu vereist. Ich laufe. “

„ Pass auf, die Wege sind die reinste Eisbahn. “

„ Ich weiß. “ Jack dachte an Grace und lächelte.

„ Was ist so lustig ? “

„ Nichts. Ich muss nur ein Auto zum Haus abschleppen. “

„ Kannst du das nicht Cy oder einen der Jungs machen lassen ? Du arbeitest zu viel, Jack. “

„ Na, irgendwer muss es ja tun. “ Um seine Augen bildeten sich Fältchen, als er lächelte.

„ Das ist das Geheimnis, Familienangehörige einzustellen. Besser als Sklavenarbeit. Niemand würde so hart für das Gut arbeiten, wie wir es tun. “

Jacks Lächeln verschwand. „ Hast du noch genug Holz für das Feuer, oder soll ich Cy noch welches bringen lassen, bevor er heimfährt ? “

„ Hm ? “ Fraser griff nach einem Stift und Papier und schrieb etwas auf. » Entschuldige. Ein Gedächtnis wie ein Sieb. Sobald mir etwas einfällt, muss ich es aufschreiben, sonst fliegt der Ge­danke davon. « Er lächelte zu Jack hoch. „ Holz, hast du gesagt. Nein, es reicht. Ich mache es mir gleich gemütlich, sobald ich mit diesem Mädchen gesprochen habe. Ein gutes Buch und ein Teller Suppe. Vielleicht ein kleiner Scotch … “

„ Frase, du weißt, was der Arzt gesagt hat. “

„ Ach, zum Teufel mit dem Arzt. Er ist ungefähr zwölf Jahre alt, was weiß der schon ? “

„ Okay. Wir sehen uns morgen früh. “ Er drückte Fraser die Schulter, und Fraser griff nach seiner Hand.

„ Jack ? “

„ Ja. “

„ Du bist in Ordnung, oder ? Du siehst ziemlich müde aus, mein lieber Junge. Du weißt, wenn dich irgendetwas bedrückt … “

„ Aber sicher. Mir geht es gut. Ich habe nur viel im Kopf, um das Anwesen auf Vordermann zu bringen, und – na ja, du weißt schon. “ Er hielt inne. „ Frase, tu mir einen Gefallen. “

„ Ja ? “

„ Nimm das Mädchen nicht zu hart ran. Sie wirkt ziemlich selbstsicher, aber irgendetwas hat sie. “

„ Du hast eine Schwäche für verwundete Geschöpfe, stimmt’s ? Genau wie ich. “ Fraser tippte sich an den Nasenflügel. „ Verstanden. Okay, schick sie rein. “ Fraser zwang sich, vom Sofa aufzustehen, und schnippte mit den Fingern. „ Komm, Biba. “ Die Afghanin kam herbeigelaufen und setzte sich neben den Schreibtisch. „ Hunde sind viel einfacher zu verstehen als Menschen, nicht wahr, meine Liebe ? “ Sie hob eine Pfote und legte sie ihm in die Hand.

„ Ich lasse euch beide allein, in Ordnung ? “

„ Ja, geh nur. Wir kommen klar. “ Er sah zu, wie Jack durch das Arbeitszimmer tappte, die Schritte geräuschlos wegen der dicken grauen Wollsocken. „ Kein Juwel ist mir so wertvoll wie dieser Junge “, sagte Fraser leise zu dem Hund, sobald Jack weg war. Er lächelte, verfangen in einem Kaleidoskop von Erinnerungen. Hoffentlich habe es ich es richtig gemacht mit ihm. Jack hatte immer die Verpflichtung durch das Gut. Er hätte die Erkundung der Welt nicht so schnell aufgeben sollen. Er braucht mehr Leidenschaft in seinem Leben. Fraser seufzte. Andererseits, das hat mir auch nicht sonderlich viel genutzt. „ Er ist kein Kind mehr “, sagte er, hob die Schnauze der Hundedame und sah ihr in die Augen. „ Wo sind die Jahre hin, Biba ? Wo sind sie hin ? “ Er blickte auf, als es an der Tür klopfte. „ Ah, Ellen. “

„ Ich bringe nur eine Kanne Pfefferminztee. “

„ Tee ? “, sagte Fraser. „ Und Kuchen auch ? Na, da werden ja alle Register gezogen. Sie mögen dieses Mädchen also auch ? “

„ Sie trocknet sich gerade in der Küche ab. “

„ Sie trocknet sich ab ? “

„ Offenbar haben Jack und sie ein bisschen im Schnee gespielt. “ Ellen verbarg ein Lächeln, als sie sich um den Sofatisch herum zu schaffen machte und aufräumte. „ Jetzt benehmen Sie sich. Sie brauchen wirklich Hilfe bei dem ganzen Zeug hier. “ Sie deutete auf die Blätter, die wie Konfetti rund um das Sofa verstreut lagen.

„ Können Sie nicht das Bewerbungsgespräch führen ? Sie können den Charakter von jungen Frauen viel besser beurteilen als ich. “

„ Nein. “ Ellen verschränkte die Arme vor der Brust. » Ich habe sechs bestens qualifizierte und bezaubernde junge Damen ge­funden, und Sie haben sie alle verscheucht. «

„ Ich war nicht sonderlich nett zu ihnen, stimmt’s ? “ Frasers Mund zuckte. „ Wie hieß die Letzte noch mal ? Tipper ? Tippet ? “ Fraser marschierte mit der Erhabenheit eines Klippers, der mit voller Kraft voraus segelt, durch den Raum. „ Man kann nicht von mir verlangen, so zu arbeiten “, sagte er mit Falsettstimme. „ Was Sie da von mir erwarten, für dieses, dieses Buch von Ihnen … “

„ Wir haben alle vorgewarnt, dass Sie ein bisschen exzentrisch sein können “, sagte Ellen. „ Schwierig, wollte ich damit sagen “, fügte sie leise hinzu.

„ Schwierig ? Schwierig ? “ Fraser zog einen blauen Tuareg-Schal vom Sofa und schlang ihn sich um die Schultern. „ › Mr Stratton braucht eine Heilige, keine Sekretärin. Man sollte von keiner Sekretärin verlangen, sich zu … sich zu … verkleiden. ‹ “

„ Sechs. Sechs Sekretärinnen in ebenso vielen Monaten. “ Ellen holte tief Luft. „ Ich weiß nicht, was Sie diesen Mädchen antun. Da haben Sie bestimmt eine Art Rekord aufgestellt. Soll ich die Anzeige in The Lady noch einmal schalten, für den Fall, dass es wieder nicht klappt ? “

Grace stellte sich vor einen Spiegel in der Garderobe und wischte sich die verschmierte Wimperntusche unter dem Auge weg. Ihre Wangen waren noch rosig und kalt, aber sie konnte vor dem gusseisernen Herd in der warmen, gelben Küche ein wenig trocknen. Sie war sich immer noch nicht sicher, was sie zu Mr Stratton sagen sollte. Sie nahm die Diamantbrosche aus der Tasche, schlug das Samttuch zurück und hielt sie ins Licht, sodass die Steine funkelten. Danke, Mum. Sie lächelte, als sie daran dachte, wie überrascht Cilla war, als Grace ausnahmsweise einmal ihrem Rat gefolgt war, sich auf eine der Stellenanzeigen zu bewerben, die sie in The Lady angekreuzt hatte. Ich glaube, sie hat mir fast die Brosche verziehen.

Sie schaltete das Licht in der Garderobe aus und ging durch das Haus, in dessen Mitte eine quadratische, holzverkleidete Halle lag. Nach der Lage der Perserteppiche zu urteilen, waren die breiten, alten Dielen darunter ziemlich verzogen. Wie in einem Museum, dachte sie und schlang die Arme um sich. Und eiskalt. Eine Treppe mit einem fadenscheinigen roten Läufer führte hinauf zu einem Absatz im ersten Stock, von einem Wandelgang mit weißen Bogen blickte man hinunter auf die unbenutzten Sofas und Sessel, die um den großen Marmorkamin herumstanden. Grace fuhr mit den Fingerspitzen über ein Tigerfell, das über der Lehne eines durchgesessenen roten Samtsofas hing, und betrachtete die Ahnenporträts an den Wänden, die Sofatische, auf denen verblichene Fotografien lagen, und die blau-weißen chinesischen Vasen. Ein Flügel mit einem verschossenen spanischen Tuch darüber stand ungespielt in der Ecke. In einem Korridor ging eine Tür auf.

„ Hallo, meine Liebe “, sagte Ellen und steckte den Kopf durch die Küchentür. Ihre rosigen Wangen wurden von kastanienbraunen Locken umrahmt, die aus einem Knoten am Hinterkopf entwischt waren. Um die blauen Augen hatte sie tiefe Lachfältchen, und Grace hatte den Eindruck, dass sie permanent lächelte. Wie ein kleiner goldener Buddha, dachte Grace. Warme Luft und der Duft von frisch gewaschener Wäsche kam mit ihr von der Küche, als die grün bespannte Tür aufging. » Ich habe Sie ge­sucht. «

„ Ich bin nur rasch in die Garderobe, um mich ein wenig herzurichten. Ich hoffe, das war in Ordnung. “

„ Natürlich. Sind Sie jetzt bereit für Mr Stratton ? “ Ellen mühte sich mit einem großen Bettlaken ab, und Grace kam zu ihr, um ihr beim Zusammenlegen zu helfen.

„ Ja. Sind Sie schon lange hier, Ellen ? “

„ Danke, Liebes. Zu zweit geht es immer einfacher. “ Sie sah Grace mit einem anerkennenden Nicken an und drückte sich das zusammengelegte Laken an ihren rundlichen Bauch. „ Ich arbeite schon mehr Jahre hier auf dem Anwesen, als ich zählen möchte, schon seit Jack ein kleiner Junge war. “

„ Wie ist er so ? Mr Stratton, meine ich ? “

„ Er fällt richtig aus dem Rahmen, das kann ich Ihnen sagen. Die Strattons sind eine alte Familie, von irgendwo weiter im Norden. Der Großvater war ein Sir, und es sieht ganz so aus, als würde Fraser ebenfalls in den Ritterstand erhoben. “

„ Wirklich ? “

„ Er war Diplomat. “ Ellen beugte sich zu Grace vor und senkte die Stimme. „ Ansehen würde man es ihm ja meistens nicht. Den Großteil seines Lebens hat er in Übersee verbracht, eine glänzende Karriere und alles ein bisschen geheim, nach dem wenigen, was ich weiß. Er ist gerade in den Ruhestand gegangen, und wenn Sie mich fragen, hat er einfach zu viel Zeit. “

„ Gibt es eine Mrs Stratton ? “

„ Nein, meine Liebe, er hat nie geheiratet, deshalb gibt es auch keine Enkelkinder, die ihn auf Trab halten. Wirklich schade. So wie er mit Jack umgegangen ist, hätte er einen wunderbaren Vater abgegeben. “ Ellen warf Grace einen kurzen Blick zu. „ Jack Booth, der Mann, der Sie hergefahren hat ? Er ist Frasers Patensohn. “ Die alte Messinguhr, die auf dem Kaminsims tickte, schlug, und Ellen sah auf die Uhr. „ So, ich zeige Ihnen, wo es hingeht. “ Sie drückte die Küchentür auf und warf das Bettlaken in einen Korb. „ Sie sehen immer noch halb erfroren aus. “

„ Ist es immer so kalt hier drinnen ? “

„ Das Haus ist alt, man gewöhnt sich dran. Möchten Sie vielleicht eine Suppe ? “ Als in der Küche das gedämpfte Klingeln einer Messingglocke erklang, nickte Ellen in Richtung der Halle. „ Er wartet. “ Sie ging voran durch das Haus und klopfte an die Tür des Arbeitszimmers.

„ Kommen Sie. “

Grace blieb stehen, als Ellen die Tür zu einem prachtvollen Raum mit roten Wänden aufstieß. Bücher stapelten sich auf Tischen, die voll mit Bernstein, Ammoniten, Tiffany-Lampen waren. Arabische Kalligrafien und russische Ikonen in feinen, vergoldeten Gesso-Rahmen zierten die Wände. Es war, als würde man vor eine schwarz-weiße Bühne in Technicolor treten. Vor dem Kaminfeuer flankierten zwei dralle gelbe Sofas mit Gobelinkissen einen runden Messingtisch, auf dem marokkanische Teegläser standen, deren Farben leuchteten wie Edelsteine. Eine Kanne Pfefferminztee dampfte zufrieden vor sich hin. Über dem Marmorkamin lehnte sich eine filigrane Nackte zurück, der Rücken geschmeidig und elegant, die Haare hochgesteckt, das Ge­sicht nicht sichtbar. Im Gegensatz zum Rest des Hauses, das scheintot wirkte, hatte dieser Raum ein schlagendes Herz. Die Kelims auf dem Boden, das Feuer im Kamin – alles vermittelte eine Authentizität, die etwas tief in ihrem Inneren anrührte. Sie hatte das Gefühl, an genau dem richtigen Ort zu sein, im richtigen Moment. Und da war er, Mr Stratton, wie sie vermutete, ein grauer Kopf, der über der Lehne des ledernen Schreibtischsessels gerade noch sichtbar war, gebräunte Hände mit langen Fingern, die eine Zeitung hielten, von ihr abgewandt. Ein rosa Seidenkleid lag auf dem Sofa. Interessant. Ein Casanova oder ein Transvestit, dachte sie, und ein Lächeln zuckte über ihre Lippen.

„ Eine junge Dame ist da, Fraser “, sagte Ellen.

„ Name ? “, fragte er.

„ Grace. Grace Manners “, antwortete sie und verwendete ihren Mädchennamen. „ Es freut mich, Sie kennenzulernen. “ Sie wartete darauf, dass er sich zu ihr umwandte, aber er las weiter Zeitung.

„ Ha. Manners wie Manieren ! Das ist ja schon mal ein guter Anfang. “ Er blätterte um.

„ Es tut mir leid, wenn ich unterbrechen muss, Fraser “, sagte Ellen. „ Der Milchmann kommt jeden Moment, und ich war noch nicht in der Stadt, um das Haushaltsgeld abzuheben. Haben Sie vielleicht ein Pfund fünfzig ? “

Er klopfte seine Taschen ab. „ Nein, meine Brieftasche ist oben. Sie – Grace Manners. “ Er fuhr mit der Hand durch die Luft. » Geben Sie Ellen ein Pfund fünfzig, und ich zahle es Ihnen zu­rück. «

„ Das kann ich nicht. “

„ Wie meinen Sie das – können Sie nicht oder wollen Sie nicht ? “

„ Ich meine “, sagte sie und grub in den Taschen nach ein paar Münzen, „ ich habe keine eins fünfzig. “

Ellen bemerkte den Stolz und die Gekränktheit in ihrer Stimme. „ Machen Sie sich keine Umstände. Ich treibe das Geld bestimmt auf, sonst muss er eben nächste Woche noch einmal kommen. “ An ihren zorn- und schamroten Wangen erkannte Ellen, dass Grace kurz davor war, wieder zu gehen. „ Na los “, sagte sie leise und führte sie hinein. „ Bieten Sie ihm die Stirn. Viel Glück. “ Ellen schloss die Tür hinter ihr.

„ Na, dann kommen Sie rein, wenn Sie … “ Fraser hielt inne. „ Welches Parfum tragen Sie ? “

„ Opium. Warum ? “

„ Eine Freundin von mir benutzt das auch. “ Er legte den Kopf zurück an die Lehne. „ Haben Sie einen Lebenslauf dabei, Referenzen ? “

„ Nein. “ Wenn er so arrogant und unhöflich war, sich nicht umzudrehen und normal mit ihr zu reden, konnte sie dieses Spiel ebenfalls spielen. „ In der Anzeige stand nicht, dass Sie einen brauchen. “ Sie zögerte. „ Ich habe … ich meine, ich war noch nie bei einem Bewerbungsgespräch. “

„ Ach herrje. “

Sie fügte schnell hinzu : „ Ich habe immer für mich gearbeitet. Ich hatte einen eigenen Laden. “

„ Können Sie wenigstens tippen ? “ Er hatte sie immer noch nicht angesehen. „ Herrgott, sind Sie da, weil sie diese Stelle wollen oder nicht ? Na los, beeindrucken Sie mich mit Ihren Stenografiekenntnissen oder so. “ Frasers Arm hing schlaff über die Armlehne des Sessels. „ Mein Gott, diese endlose Schar von Mädchen in Twinsets und Perlen, die hier durchzieht, ich habe es satt. Ich habe es wirklich satt. “

„ Ich habe schon von solchen Bewerbungsgesprächen gehört “, sagte Grace. Sie ging zur Schreibmaschine, ohne ihn anzusehen, nahm ein leeres Blatt Papier aus dem Mahagonifach und spannte es in die Maschine ein. „ Was soll ich tun ? Die Zeitung anzünden, um einen Eindruck zu hinterlassen ? “ War das ein Lachen ? Einen Augenblick lang starrte sie das leere Blatt an. Dann schrieb sie : Grace Manners, 29, Mutter, Goldschmiedin, Grundkenntnisse im Maschineschreiben, viel gesunder Menschenverstand. Sie reichte es ihm.

„ Meine Güte, wie sehen Ihre Fingernägel denn aus ? “, sagte er. „ Wenigstens zeigt mir das, dass Sie hart arbeiten. “

„ Ich komme direkt aus der Werkstatt. “ Ihr fiel der Siegelring an Frasers kleinem Finger auf, als er das Blatt entgegennahm, ein Aquamarin, der klar und hell funkelte. Fraser drehte sich langsam zu ihr herum. Sie bemerkte, dass es genau seine Augenfarbe war. Er hatte einen dicht bestickten himmelblauen Gehrock mit goldenen Tressen angezogen und trug Fellstiefel über seiner gelben Cordhose.

„ Wir passen zueinander. “ Er deutete von ihrem Lammfellmantel zu seinen Füßen. „ Ob Sie wohl ein Wolf im Schafspelz sind, Miss Manners ? “

„ Eine schöne Jacke. “ Sie hielt seinem Blick stand.

„ Aus meiner Sergeant-Pepper-Phase. “ Er legte das Blatt neben eine Ausgabe gesammelter Gedichte von T. S. Eliot und betrachtete sie von Kopf bis Fuß. „ Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen ? “

„ Nein danke. Es ist recht kühl. “

„ Daran gewöhnen Sie sich. “

„ Das hat Ellen auch gesagt. “

„ Tja “, sagte Fraser und streckte die Beine aus, „ da hat sie recht, wie bei den meisten anderen Dingen auch. Normalerweise ist es nicht so kalt “, lenkte er ein. „ Es ist der schlimmste Winter seit der großen Kälte von 1962 “, fügte er mit einem breiten ländlichen Akzent hinzu. „ Oder war es 61 ? Das haben sie zumindest neulich im Pub behauptet. “ Grace runzelte die Stirn, als sie versuchte, sich vorzustellen, wie sich Fraser in seiner Brokatjacke und den Lammfellstiefeln in der Bar unter die Einheimischen mischte. „ Nun, Jack hatte recht. Sie sind in der Tat ein Fortschritt. “ Er warf einen Blick auf ihren Lebenslauf. „ Das haben Sie ja schnell hingekriegt. Viel schneller als die anderen Mädchen, und mir gefällt es, dass Sie Eier haben. “ Fraser warf das Blatt auf den Stapel.

„ Unschönes Wort. “

„ Stimmt. “ Frasers Lachen überraschte sie. „ Was, zum Teufel, machen Sie hier ? “

„ Ich suche Arbeit. “

„ Aber Sie sind Goldschmiedin ? “

» Ja. Schwere Zeiten, da muss man auf andere Fähigkeiten zu­rückgreifen, Sie wissen ja, wie das ist. « Oder auch nicht.

„ Meine Liebe, wie Konfuzius sagte, besteht unser größter Triumph nicht darin, nie zu fallen, sondern darin, jedes Mal wieder aufzustehen, wenn wir fallen. “ Mit den Fingern bildete er eine Pyramide. „ Und wie halten Sie es mit Verkleidungen ? “

„ Wie bitte ? “

„ Na mit Kostümen. Ich versuche, mich zu stimulieren … “

„ Ach ja ? “ Sie hob eine Augenbraue.

„ Nicht so. Ich schreibe meine Memoiren. Ich habe den Dachboden durchwühlt, um meine Vorfahren wieder zum Leben zu erwecken. “ Er zeigte auf die Kavallerieuniform, den abgelegten Pelzmantel und das Kleid.

„ Na ja, in der Schule habe ich den Theaterpreis gewonnen. “

„ Hervorragend. “ Fraser musterte sie. „ Ich mag gar nicht daran denken, wie viele junge Frauen ich schon empfangen habe, die allesamt Standard waren. Ich fühle mich wie der gute alte Prufrock “ – er tippte auf den Gedichtband – „ völlig ratlos, was Frauen betrifft. Aber ich merke, dass Ellen Sie mag. “ Und Jack, dachte er. „ Hätten Sie gerne ein köstliches Glas Tee ? “ Er zeigte auf das Tablett. „ Würden Sie, oder soll ich ? “

Grace goss zwei Gläser ein – ein kühl-blaues für ihn und ein dunkelrotes für sich. „ Zucker ? “

„ Ja, sechs. “ Fraser nahm das Glas entgegen und spitzte die Lippen, um den Dampf wegzublasen. Er ließ unentwegt den Blick auf ihr ruhen. „ Danke. Nun, Miss Manners, wir beide wissen, dass Sie keine Sekretärin sind, erzählen Sie mir doch, warum Sie wirklich hier sind. “

Kate Lord Brown

Über Kate Lord Brown

Biografie

Kate Lord Brown wuchs in der englischen Grafschaft Devon auf. Nach ihrem Studium am Courtauld Institute of Art war sie zunächst als internationale Kunstberaterin tätig. Später zog sie mit ihrer Familie nach Valencia und widmete sich dort dem Schreiben. „Das Haus der Tänzerin“, ihr erster auf Deutsch...

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„Leichte Lektüre für kalte Wintertage.“

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