Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück - eBook-Ausgabe
Warum wir uns vor dem Tod nicht fürchten müssen
„Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück ist ein höchst inspirierendes Buch.“ - Huffington Post
Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück — Inhalt
Die großen Fragen des Lebens beantwortet aus der Sicht eines Zen-Meisters
Warum wir uns vor dem Tod nicht fürchten müssen
Viele Menschen fürchten sich vor dem Sterben, vor Krankheit, Alter und Tod. Der in Japan praktizierende Zen-Meister Muho kann diese Ängste gut nachvollziehen: Der frühe Tod seiner Mutter, den er als siebenjähriges Kind erlebte, hat ihn zutiefst geprägt. In Deutschland geboren und aufgewachsen, führte ihn dieses einschneidende Erlebnis Jahre später zum Zen und schließlich nach Japan. Inzwischen leitet er das tief in den japanischen Bergen gelegene Zen-Kloster Antaiji. Kaum jemand versteht es daher besser, die westliche und die östliche Sicht auf die zentralen Aspekte unseres Lebens zu verbinden: Während sich die meisten Menschen im Westen um ihre Zukunft sorgen und festzuhalten versuchen, was sie an Beziehungen, Erinnerungen und Werten besitzen, konzentriert man sich im Zen ganz auf den gegenwärtigen Moment. Die Kunst des Loslassens beginnt demnach nicht erst am Ende des Lebens, sondern jetzt – wenn wir uns auf diesen Augenblick einlassen.
„Es geht um die einzige Frage, die zählt: Bin ich wirklich einverstanden mit dem Leben, wie ich es heute lebe?“
Leseprobe zu „Ein Regentropfen kehrt ins Meer zurück“
Ein neuer Blick auf einen alten Berg
Seltsam, dass sich keiner mit seinem eigenen Leben beschäftigt.
Das Einzige, was die Leute verstehen in dieser Welt, ist das, was sie
„nützlich“ nennen. Und wohin hat uns das gebracht? Nirgendwohin.
Sawaki Kodo
Das Leben hat mich auf einen besonderen Weg geschickt. Obwohl
ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, kam ich früh
schon mit der Kultur des Zen in Berührung. Heute leite ich das
tief in den japanischen Bergen gelegene Zen-Kloster Antaiji. Vielleicht
können meine Erfahrungen, die ich bei der buddhistischen
Übung [...]
Ein neuer Blick auf einen alten Berg
Seltsam, dass sich keiner mit seinem eigenen Leben beschäftigt.
Das Einzige, was die Leute verstehen in dieser Welt, ist das, was sie
„nützlich“ nennen. Und wohin hat uns das gebracht? Nirgendwohin.
Sawaki Kodo
Das Leben hat mich auf einen besonderen Weg geschickt. Obwohl
ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, kam ich früh
schon mit der Kultur des Zen in Berührung. Heute leite ich das
tief in den japanischen Bergen gelegene Zen-Kloster Antaiji. Vielleicht
können meine Erfahrungen, die ich bei der buddhistischen
Übung gesammelt habe, auch für die Menschen im Westen hilfreich
sein. Vielleicht können auch sie von der Weisheit des Zen
etwas lernen für den eigenen, ebenso besonderen Lebensweg,
den am Ende jeder für sich allein gehen muss.
Als Zen-Meister wird mir immer wieder die Frage gestellt: Wie
soll man sein Leben führen? Das Wort „Lebensführung“ ist im
Deutschen sehr populär. Aber kann man das Leben wirklich führen,
so wie einen Hund an der Leine? Im Leben können wir nicht
immer die Zügel in der Hand behalten. Spätestens wenn es ans
Sterben geht, liegt nichts mehr in unserer Macht. Aber auch
davor gibt es immer wieder Situationen, in denen wir zwar die
Hauptrolle spielen, doch nach einem Drehbuch agieren, das wir
nicht kennen, und auch die Regie müssen wir jemand anderem
überlassen. Dann führen nicht wir das Leben, sondern das Leben
führt uns. Es schickt uns auf einen Weg, von dem wir nicht
sagen können, wohin er verlaufen wird. Wir sollten lernen, uns
dem Leben ganz zu überlassen. Dazu gehört auch, dass wir den
Fragen, die es uns aufgibt, nicht ausweichen.
Jeder lebt das Leben auf seine eigene Weise, und ich glaube auch,
dass niemand das Recht hat, die Lebensweise eines anderen als
verfehlt zu bezeichnen. Es geht nicht ums Vergleichen, um richtig
oder falsch. Es geht darum, sich eine einzige Frage zu stellen:
Bin ich wirklich einverstanden mit dem Leben, wie ich es heute
lebe? Manch einer, der die Gegenwart mit den Träumen seiner
Jugend vergleicht, wird vielleicht enttäuscht sein, weil er sich
alles ganz anders ausgemalt hat. Bunter. Aufregender. Wird er
morgen seinen Träumen näher kommen? Wohl kaum. Es sei denn,
er beginnt bereits heute damit, sich ganz auf sein Leben und auch
auf sein Sterben einzulassen. Dann wird er aufbrechen zu einem
Leben, das genauso jenseits aller Vergleiche liegt wie der Tod.
Niemand wird uns am Ende fragen, ob wir sterben wollen. Daher
müssen wir uns schon im Leben auf den Tod vorbereiten. Nur
wer seinen Frieden mit dem Leben geschlossen hat, wird ihn auch
im Sterben finden. Angst vor dem Tod hat vielleicht ohnehin nur
der, der das Leben noch nicht ganz in seine Arme geschlossen hat.
Seit 2002 stehe ich dem Kloster Antaiji als Abt vor. Wenn man
mich hier besuchen will, nimmt man zunächst den Zug und
fährt aus einer der Großstädte bis ans japanische Meer. An der
Küste gibt es einen kleinen Bahnhof, von dort geht es weiter mit
dem Bus, zwanzig Kilometer ins Landesinnere, bis man schließlich
an einer einsamen Haltestelle abgesetzt wird. Doch erst
nach einer weiteren Stunde Fußmarsch ist man am Ziel, und
auch das nur, wenn man zwischendurch nicht in die falsche
Richtung abbiegt oder auf einen der im Wald hausenden Kragenbären
trifft.
Zwar besteht die Möglichkeit, die ganze Strecke mit dem Auto
zurückzulegen, allerdings empfiehlt es sich, auch dabei aufzupassen.
Immer wieder kommt es vor, dass ein Besucher, der sich
im Kloster angekündigt hat, nach Anbruch der Dunkelheit noch
nicht angekommen ist, weil er sich auf die Stimme seines Navigationsgeräts
verlassen hat, die ihn freundlich, aber bestimmt
in ein Tal weiter im Süden gelotst hat. Ein Ort, fern jeder Behausung.
Aus der Asphaltstraße wird nach und nach ein Forstweg,
und der endet schließlich an einem stillen Bach. Erfolgt dann
der Griff zum Handy, ist es bereits zu spät. So tief wie das Tal
ist auch das Funkloch, in das sich der Gast verirrt hat. Von alldem
werden die Software-Spezialisten in Tokio vermutlich nie
etwas erfahren. Keiner von ihnen wird jemals einen Fuß in diese
Berge setzen, um sich vor Ort ein Bild fürs nötige Update des
Navigationssystems zu machen.
Auch für das Leben gibt es meist keinen zuverlässigen Lotsen.
Wer sich deshalb auf seine ganz eigene Reise machen will,
braucht einen guten Orientierungssinn. Er muss wissen, in welche
Richtung er gehen möchte. Doch selbst wenn er geglaubt
hat, beim Aufbruch das Ziel ganz klar vor sich zu sehen, kann
es passieren, dass er sich eines Tages mitten im Dschungel wiederfindet,
ohne zu wissen, woher er gekommen ist und welcher
Weg wieder aus der Irre führt. Womöglich war es sogar der in
nere Kompass, dem er bis dahin blind gefolgt ist, der ihn genarrt
hat. Dann kann es sich lohnen, einmal einen Blick auf eine neue,
andere Landkarte zu werfen.
Dieses Buch möchte so eine Karte des Lebens und des Sterbens
sein. Doch was auf alle Karten zutrifft, gilt natürlich auch für
diese: Sie zeigt nur ein Abbild, nicht die Landschaft des Lebens
selbst, und oft sind die Orte auf ihr auch noch verzerrt dargestellt.
Man muss den Maßstab der Karte kennen, man muss wissen,
wo Norden ist und wo Süden, und man muss sich im Klaren
darüber sein, dass eine Karte schnell veraltet. Dort, wo einmal
eine Straße war, befindet sich heute vielleicht nichts als unwegsames
Land. Wo es einmal eine Brücke gab, kann jetzt nur noch
ein reißender Fluss sein. Keine Karte ist besser oder genauer als
das Orientierungsvermögen dessen, der sie in die Hand nimmt.
Und auch der beste Kartograph ist nur ein irrender Mensch.
Wie jeder vermag auch ich nur eine Karte meines eigenen Lebens
zu zeichnen. Sie, der Leser, gehen durch eine ganz andere
Landschaft. Nicht nur befinden wir uns in unterschiedlichen Abschnitten
des Lebens, wir können uns nicht einmal sicher sein,
ob es derselbe Berg ist, den wir besteigen wollen. Und selbst
wenn – sieht der Berg nicht ganz fremd aus, wenn man ihn aus
einer anderen Perspektive betrachtet?
Manchmal kann es eine gute Idee sein, eine Karte mit einer
zweiten zu vergleichen. Was der eine Kartograph vergessen hat,
findet sich vielleicht bei einem anderen. Aber wenn wir nicht
achtgeben, werden wir das ganze Leben mit dem Studium von
Karten zubringen. Wer seine Zeit dafür einsetzt, spirituelle Ratgeber
zu lesen, ohne sich jemals einen Schritt aus dem Haus des
eigenen Lebens zu trauen, wird sich immer nur vergeblich danach
sehnen, bis zur Spitze des fernen Berges zu gelangen, von
der er doch schon so lange träumt.
Deshalb möchte ich Sie warnen: Trauen Sie mir nicht zu sehr!
Sawaki Kodo, der von 1880 bis 1965 gelebt hat und einige Zeit so
wie ich heute Abt im Kloster Antaiji gewesen ist, sagte einmal:
„Zen ist die größte Lüge aller Zeiten!“ Aus dem Mund eines Zen-
Meisters klingt der Satz lustig, doch er war nicht als Scherz gemeint.
Wenn man die Weisheit des Zen, wenn man die Wahrheit,
das Leben und die Liebe in Worte zu fassen versucht, dann verschwindet
die Wirklichkeit, und es bleiben nichts als Worte zurück.
Bloße Abbilder des Wirklichen.
So ist es auch mit diesem Buch. Bestenfalls kann es eine Landkarte
des Lebens sein, wie ich es heute vor mir sehe. Was Sie
daraus machen, liegt an Ihnen. Und das gilt für jeden Ratgeber.
Niemand außer dem Leben selbst kann Sie an die Hand nehmen,
wenn es um Ihren eigenen Weg geht.
Die Hälfte des Lebens
Geburt, Krankheit, Alter, Tod –
vertrödel sie nicht, deine kurze Zeit hier!
Sawaki Kodo
Jeder Mensch stirbt. Selbst ein Kind weiß das schon, doch so
mancher scheint es auch im hohen Alter noch nicht akzeptieren
zu können.
Wir machen uns Sorgen um das, was nach dem Tod kommen
könnte, und vergessen dabei, das Leben zu leben, solange wir
es haben. Gibt es ein Leben nach dem Tod? Wer kann das wissen?
Aber wenn es so weit ist, werden wir es schon herausfinden.
Früher oder später werden wir alle in den Besitz der Antwort
kommen. Wir können also gespannt sein!
Die beste Nachricht für das Hier und Jetzt aber lautet: Es gibt
ein Leben vor dem Tod.
Selbst wenn es, wie viele Buddhisten glauben, ein Leben nach
dem Tod geben sollte, dann wäre ja auch das nur ein weiteres
Leben vor dem Tod. Und wenn es ein Leben nach dem Tod gibt,
dann muss es auch einen Tod nach dem nächsten Leben geben.
Wenn wir daher die Tage dieses Lebens damit verbringen, über
ein Leben nach dem Tod zu phantasieren, von dem wir noch nicht
einmal sicher sein können, ob wir es erleben werden, werden wir
dann nicht auch das nächste Leben (falls es das tatsächlich geben
sollte) vergeuden mit Tagträumereien über das übernächste
Leben? Es ist so wie mit einem, der nie etwas zustande bringt,
weil er sich ständig sagt: „Noch ist nicht aller Tage Abend. Wenn
ich auch heute nicht mehr alles schaffe – morgen ist auch noch
ein Tag. Und wenn es in diesem Leben nicht mehr passieren
sollte, dann warte ich eben auf das nächste.“
Wir kennen es alle aus eigener Erfahrung: Wenn aus morgen
heute wird, verschiebt man das ungelebte Leben einfach um einen
weiteren Tag in die Zukunft. Und immer so weiter.
Doch der einzige Tag, den ich wirklich leben kann, ist der heutige.
Da hilft mir auch kein nächstes oder übernächstes Leben.
Das Leben, das ich heute nicht lebe, wird ewig ungelebt bleiben.
Das Leben, das ich in diesem Augenblick lebe, ist das einzige
Leben. Es gibt allein das Jetzt. Nur wenn ich diesen Tag so
lebe, als wäre er mein letzter, werde ich auch den nächsten zu
leben wissen.
Und doch, der Tod ist immer da. Ich sterbe, Sie sterben, jeder
stirbt. Und das nicht irgendwann, sondern bereits jetzt, in diesem
Moment.
Ob wir es wollen oder nicht, das Sterben hat bereits begonnen,
und es existiert kein einziger Augenblick, der uns nicht mit dem
Tod konfrontieren würde.
Wie wir über den Tod nachdenken, spiegelt oft die Einstellung
wider, die wir gegenüber dem Leben einnehmen. Wie schön
könnte doch alles sein, sagen manche, gäbe es nur das Altern
nicht, die Krankheit, den Tod. Die Medien machen es uns leicht,
ans ewige Leben zu glauben. Jeder Tag verspricht eine neue
Erfahrung, jedes Erlebnis wird zum aufregenden Event, und
wer sich richtig ernährt, wer joggt und natürlich nicht raucht
oder trinkt, wird für immer jung bleiben.
Doch je mehr ein Mensch das Leben bejaht, desto mehr wird er
sich vor dem Tod fürchten. Unsere Tage sind gezählt, auch wenn
viele versuchen, das Unabwendbare so lange zu ignorieren wie
nur möglich. „Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Ich möchte
nur nicht dabei sein, wenn’s passiert.“ Wahrscheinlich wird es
nicht einmal Woody Allen gelingen, damit durchzukommen.
Im Alltag ist der Tod oft unsichtbar. Wir verbannen ihn auf die
Intensivstationen der Krankenhäuser oder in die Zimmer der
Pflegeheime, die wir an den Rand der Städte bauen. In den Nachrichten
erreicht uns das Sterben im Sekundentakt: Hundert Tote
in China, zwanzig in der Türkei, drei oder vier auf der Autobahn.
Unfälle, Attentate, Naturkatastrophen. Die Toten füllen die täglichen
Schlagzeilen, aber das betrifft uns nicht. Die anderen sterben,
nicht wir. Damit können wir leben.
Anders verhält es sich, wenn ein uns naher Mensch stirbt. Sein
Tod geht unter die Haut. Wir fühlen uns, als klaffte ein Loch in
unserer Brust. Mit der geliebten Person stirbt auch ein Stück von
uns. Wir werden nie mehr dieselben sein wie vorher. Wir beginnen,
über unser eigenes Leben zu reflektieren, und auf einmal
kommt es uns vor, als hätten wir das größte Stück des Weges
bereits zurückgelegt. Der eigene Tod rückt in den Blick und wir
werden uns unserer Sterblichkeit bewusst. Was immer so weit
weg schien, ist auf einmal ganz nah gerückt.
„Bis sie vierzig sind, halten viele das Sterben für eine schlechte
Angewohnheit alter Leute, die sie selbst nichts angeht“, schrieb
der Psychiater Oswald Bumke zu Weihnachten 1943 in einem
Brief an seinen Sohn, der im Krieg kämpfte. Während ich diese
Sätze schreibe, bin ich siebenundvierzig Jahre alt. Die Hälfte des
Lebens? Letztlich bleiben die Jahre unbegreiflich in ihrem Vergehen.
Als ich am Abend vor meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag
zurückblickte auf die vergangenen zwölf Monate, konnte
ich kaum glauben, wie sehr sich die Welt verändert hatte. Im
Herbst war die Berliner Mauer gefallen, die Wiedervereinigung
stand vor der Tür. Und auch ich befand mich an einem Wendepunkt
in meinem Leben, denn im Frühjahr würde ich zum Studium
nach Kyoto fahren. Überall gab es so viel zu erleben, so
viel zu lernen. Auf jede Enttäuschung folgte eine neue Liebe.
Ganze Horizonte öffneten sich. Jedes Jahr war ein zusätzliches,
ein geschenktes Jahr. Ein Jahr mehr. Nichts schien unmöglich.
Was konnte man nicht in einem Jahr alles an Erfahrungen sammeln!
Warum nicht einfach auf einem Schiff anheuern und um
die Welt fahren?
Irgendwann ändert sich diese Perspektive. Spätestens dann, wenn
man zum ersten Mal ans eigene Ende denkt. Dann ist ein Jahr
nicht länger ein Jahr mehr, sondern ein Jahr weniger. Dann nimmt
man das Schwinden der Möglichkeiten wahr. Was ich vor zehn
Jahren noch konnte, kann ich nun nicht mehr. „Noch nie war ich
so alt wie heute“, denkt man. Die Gedanken gehen zurück in die
Vergangenheit, in die Jugend, die verloren scheint, oder eilen voraus
in die Zukunft, in der man noch älter sein wird.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass mir beim Lesen plötzlich
die Buchstaben seltsam verschwommen erschienen. Stimmte
da etwas mit dem Buchdruck nicht, oder war es zu dunkel im
Zimmer? Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass ich mir von
nun an beim Lesen besser eine Brille aufsetzen sollte – etwas,
was ich bis dahin tatsächlich nur für eine schlechte Angewohnheit
alter Leute gehalten hatte.
Das war nur der Anfang. Hexenschuss, steife Schultern, Gelenkschmerzen
und all die anderen Wehwehchen, über die ich Onkel
und Tanten bei Familientreffen so oft hatte klagen hören, durfte
ich nun am eigenen Leib erfahren. Als ich vor einigen Monaten
mit Nierensteinen ins Krankenhaus eingeliefert wurde, glaubte
ich für ein paar Stunden sogar, mein Ende sei gekommen. Zum
Leidwesen meiner Frau war ich am nächsten Tag wieder ganz
der Alte.
Doch es hört nicht auf. An die Telefonnummern alter Studienfreunde
kann ich mich zwar problemlos erinnern, aber neue
Namen behalte ich nur noch schwer. Wenn mich jemand auf der
Straße grüßt, mit dem ich vor zwei Monaten ein angeregtes Gespräch
geführt habe, weiß ich manchmal nicht, wer vor mir steht.
Natürlich bringt auch ab vierzig noch jeder Tag neue Erfahrungen.
Aber zumindest ein wenig gleicht das Gehirn dann einer
Computer-Festplatte, die die Grenze ihrer Speicherfähigkeit
erreicht hat. Für jede neue Information muss eine alte gelöscht
werden, die Software läuft nicht mehr so schnell wie früher, und
jeder Versuch eines Updates kann zum Absturz des Systems
führen.
Dann fühlt man sich bisweilen, als sei man in der zweiten Halbzeit
eines Fußballspiels angelangt. Das Spiel ist längst entschieden,
es gibt nichts mehr zu gewinnen. Die erste und bessere
Hälfte des Lebens ist vorüber. Jeder weitere Tag bringt einen dem
Schlusspfiff näher. Eine beängstigende Vorstellung. Noch beunruhigender
wird sie, wenn man auf einmal feststellt, dass ein
Jahr nicht mehr so lang zu sein scheint wie früher. Natürlich
hat es immer noch seine 365 Tage. Aber seltsamerweise fühlt
es sich sehr viel kürzer an.
Jeder kennt das Phänomen, dass sich der Weg ans Ziel einer Reise
länger anfühlt als der Weg zurück. Nach einem Ausflug zum
Berggipfel erinnern wir uns deutlicher an den Aufstieg als an die
Rückkehr ins Tal. Ich glaube, das liegt daran, weil wir auf dem
Hinweg mehr und anders wahrnehmen. Alles ist neu, und daher
sind unsere Sinne geschärft. Wir wollen uns keine Einzelheit
entgehen lassen.
Auf dem Weg zurück hinterlassen die Dinge einen schwächeren
Eindruck, denn wir kennen sie bereits. Statt einer Premiere haben
wir es nur noch mit einer Wiederholung zu tun, die nicht
mehr unsere volle Aufmerksamkeit genießt.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Älterwerden. Allmählich
lernt man, seine Erfahrungen in Schubladen einzuordnen. Hübsch
beschriftete Fächer, in denen jeder Eindruck seinen Platz findet.
Wir bekommen Routine im Umgang mit der Welt, was uns im
Alltag zwar entlastet, doch dem Leben auch seinen Zauber nimmt.
Wenn sich die verschiedenen Schubladen langsam gefüllt haben,
dann dauert es nicht mehr lange, bis wir ganze Tage abhaken,
als seien sie nie passiert: „Heute nichts Besonderes“. Aufstehen,
Zähne putzen, zur Arbeit gehen, und abends das Gleiche im Fernsehen
wie immer … Das sind die Tage „auf dem Rückweg“ des
Lebens. Man erlebt sie nicht mehr. Man verlebt sie bloß. Kein
Wunder, wenn ein Jahr dann zu etwas Flüchtigem zusammenschrumpft,
das kaum Erinnerungen hinterlässt.
Das Dahinschwinden der Zeit gibt uns das Gefühl, alt zu sein.
Aber müssten wir nicht viel eher sagen: „Ich werde nie wieder
so jung sein wie heute“? Und versuchen, noch einmal neugierig
wie ein Kind zu sein?
Als Kind denkt man noch nicht an den Rückweg. Jeder einzelne
Tag bringt etwas Neues. Die Welt ist immer anders, immer aufregend,
und alles Bekannte noch unbekannt. Als Kind konnte
ich stundenlang Ameisen bei ihrer Arbeit beobachten. Mein
Staunen über das Ziehen der Wolken kannte kein Ende. Die Zeit
lief langsam, manchmal unerträglich langsam. Wie weit schien
Weihnachten noch entfernt, wenn erst ein paar Türchen des Adventskalenders
geöffnet waren! Es half gar nichts, wenn mich die
Mutter Mitte des Monats zu trösten versuchte: „Jetzt musst du
nur noch zehn Mal schlafen, dann kommt der Weihnachtsmann!“
Zehn Tage und zehn Nächte, das war eine Ewigkeit.
Und was hat sich nur die Tante beim Familientreffen gedacht? „Du
bist so schnell gewachsen, das kann ich ja gar nicht glauben.
Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du doch noch so klein!“
Schnell? Es war doch ein ganzes, unendlich langes Jahr seit der
letzten Begegnung vergangen!
Kinder wollen nicht warten. Eine Vertröstung auf den nächsten
Tag ergibt für sie keinen Sinn. Sie kennen kein „Morgen“, nur
ein „Heute“. Nur die Gegenwart zählt. Wie recht sie damit haben!
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