Ein Traum von Schönheit (Bedeutende Frauen, die die Welt verändern 4) Ein Traum von Schönheit (Bedeutende Frauen, die die Welt verändern 4) - eBook-Ausgabe
Estée Lauder – Sie schuf ein Imperium und wurde zur Legende
— Historischer Roman„Faszinierend“ - Südhessen Wochenblatt
Ein Traum von Schönheit (Bedeutende Frauen, die die Welt verändern 4) — Inhalt
Dramatisch, farbenfroh und voller Eleganz: Das Leben der Schönheitslegende Estée Lauder
New York, 1928: Die junge Esty darf im Schuppen ihres Onkels beim Mischen von Salben helfen. Sie experimentiert mit Düften und Ölen und kreiert ihre eigene Creme, die sie am Strand von Long Island an einem Klapptisch verkauft: Es wird ihr erster Erfolg. Esty nennt sich fortan Estée, zieht von Queens nach Manhattan und ergattert schließlich einen der begehrten Stände im Edelkaufhaus Saks. Mit originellen Ideen und unendlich viel Arbeit erobert das Mädchen aus Queens New York im Sturm. Aber der Erfolg hat einen hohen Preis. Er könnte sie die Liebe ihres Lebens kosten …
Historischer Hintergrund:
„Mit Parfüm ist es wie mit der Liebe. Ein bisschen ist nie genug.“ ESTÉE LAUDER
Estée Lauder war ein Marketing-Genie und ihrer Zeit voraus: Sie verteilte kostenlose Proben ihrer Produkte in Schönheitssalons, Hotellobbys oder in der U-Bahn. Doch ihre Ehe zerbrach an der vielen Arbeit. Nach einer Scheidung versöhnte das Paar sich jedoch wieder, heiratete 1942 ein zweites Mal, und Estée und ihr Mann starteten als Lebens- und Geschäftspartner durch. Das Time-Magazine kürte Estée Lauder zu den 20 größten Geschäftsgenies des 20. Jahrhunderts.
Entdecken Sie den wunderschönen neuen Roman von Laura Baldini, deren SPIEGEL-Bestseller „Lehrerin einer neuen Zeit“ die Leserinnen begeistert hat!
Bedeutende Frauen, die die Welt verändern
Mit den historischen Romanen unserer Reihe »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern" entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten! Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autor:innen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen.
Weitere Bände der Reihe:
- Laura Baldini, Lehrerin einer neuen Zeit (Maria Montessori)
- Romy Seidel, Die Tochter meines Vaters (Anna Freud)
- Petra Hucke, Die Architektin von New York (Emily Warren Roebling)
- Laura Baldini, Ein Traum von Schönheit (Estée Lauder)
- Lea Kampe, Der Engel von Warschau (Irena Sendler)
- Eva-Maria Bast, Die aufgehende Sonne von Paris (Mata Hari)
- Eva-Maria Bast, Die vergessene Prinzessin (Alice von Battenberg)
- Yvonne Winkler, Ärztin einer neuen Ära (Hermine Heusler-Edenhuizen)
- Agnes Imhof, Die geniale Rebellin (Ada Lovelace)
- Lea Kampe, Die Löwin von Kenia (Karen Blixen)
- Eva Grübl, Botschafterin des Friedens (Bertha von Suttner)
- Laura Baldini, Der strahlendste Stern von Hollywood (Katharine Hepburn)
- Eva-Maria Bast, Die Queen (Queen Elizabeth II.)
- Agnes Imhof, Die Pionierin im ewigen Eis (Josephine Peary)
- Ulrike Fuchs, Reporterin für eine bessere Welt (Nellie Bly)
- Anna-Luise Melle, Die Meisterin der Wachsfiguren (Marie Tussaud)
- Petra Hucke, Die Entdeckerin des Lebens (Rosalind Franklin)
- Jørn Precht, Die Heilerin vom Rhein (Hildegard von Bingen)
- Elisa Jakob, Die Mutter der Berggorillas (Dian Fossey)
- Yvonne Winkler, Kämpferin gegen den Krebs (Mildred Scheel)
- Lena Dietrich, Die Malerin der Frauen (Artemisia Gentileschi)
- Laura Baldini, Die Pädagogin der glücklichen Kinder (Emmi Pikler)
Leseprobe zu „Ein Traum von Schönheit (Bedeutende Frauen, die die Welt verändern 4)“
Manhattan, New York, Frühling 1941
Vor dem Eingang des Theaters standen lange Schlangen von Yellow Cabs und hupten. Der turmähnliche Bau ragte in die geschlossene Wolkendecke und konkurrierte mit den Hochhäusern ringsum. Menschen in eleganten Abendroben stiegen aus den Taxis und eilten durch den Nieselregen zum hell erleuchteten Portal. Über dem Eingang prangte in Leuchtschrift der geschwungene Namenszug: Paramount. Darunter war in einem gerahmten Schild die Adresse zu lesen: Broadway 1502.
Kaum hatten die Besucher das trockene Foyer betreten, drängten [...]
Manhattan, New York, Frühling 1941
Vor dem Eingang des Theaters standen lange Schlangen von Yellow Cabs und hupten. Der turmähnliche Bau ragte in die geschlossene Wolkendecke und konkurrierte mit den Hochhäusern ringsum. Menschen in eleganten Abendroben stiegen aus den Taxis und eilten durch den Nieselregen zum hell erleuchteten Portal. Über dem Eingang prangte in Leuchtschrift der geschwungene Namenszug: Paramount. Darunter war in einem gerahmten Schild die Adresse zu lesen: Broadway 1502.
Kaum hatten die Besucher das trockene Foyer betreten, drängten sie weiter zu den Garderoben, wo sie sich erneut anstellten – diesmal, um ihre Mäntel und Hüte abzugeben. In Pelz gehüllte Damen mit exquisiten Kopfbedeckungen auf perfekt gelegten Wasserwellen standen dicht gedrängt neben Herren in schwarzen Smokings.
Estée war zwischen zwei korpulenten Damen in der Warteschlange eingekeilt. Sie nahm Düfte von Dorothy Gray, Elizabeth Arden und Charles Revson wahr, die sich mit Schweiß, Alkohol und würzigem Tabak vermengten. In diese bunte Mischung, die einen glamourösen Abend versprach, stahl sich auch die Note ihres eigenen Parfums, das sie gestern in ihre Gesichtscreme gerührt hatte. Die ätherischen Öle stammten von unscheinbaren Pflanzen, die auf den grasbewachsenen Stränden von Coney Island wuchsen, zwischen Sanddünen und Schilf. Estée hatte sie letztes Wochenende gesammelt. Voller Wehmut dachte sie an den unbeschwerten Nachmittag zurück, und trotz der Hitze in der Warteschlange war es ihr, als könnte sie noch immer den kühlen Wind auf ihren erhitzten Wangen spüren. Er streichelte zärtlich ihre Haut, während sie die sanften Wellen des Atlantiks beobachtete, die unaufhörlich an den Strand rollten und …
„Wir sind an der Reihe, Honey.“ Charles’ Stimme holte sie aus ihren Tagträumen zurück. Er half ihr aus ihrem dünnen Mantel und übergab ihn der jungen Garderobiere, die ihm freundlich lächelnd das Nummernzettelchen reichte.
„Willst du ein Glas Champagner, bevor wir in den überheizten Publikumssaal gehen?“
Seitlich führte eine breite, mit rotem Teppich ausgelegte Treppe zu einer Bar, wo den Zuschauern vor der Vorstellung und während der Pausen Getränke und kleine Imbisse angeboten wurden.
„Ja, gerne.“ Estée mochte das edle Getränk, das man in langstieligen Gläsern servierte, deren Ränder so dünn waren, dass man Angst hatte, sie könnten zerbrechen, wenn man zu fest danach griff. Champagner war der Inbegriff von Luxus und Reichtum, und noch vor ein paar Jahren hätte sie alles gegeben, um sich ein Glas davon zu gönnen. Heute war der prickelnde Aperitif zur Selbstverständlichkeit für sie geworden. Jeder Abend, den sie nicht zu Hause verbrachte – und das waren in den letzten Monaten etliche gewesen –, hatte damit begonnen.
Charles und Estée gingen hinauf zur Bar.
„Warte hier“, sagte er und schob Estée zu einem der Tische an der Fensterfront. Von ihrem Platz aus konnte Estée die anderen Gäste beobachten. Die wichtigsten Menschen der New Yorker High Society waren gekommen – aus Kunst, Wirtschaft und Politik. Drüben in der Ecke plauderte Hedy Lamarr mit Clark Gable. Neben den Schauspielern erkannte Estée die Besitzer von Bonwit Teller, einem der nobelsten Kaufhäuser auf der Fifth Avenue. Das Gebäude war so außergewöhnlich, dass Menschen aus anderen Bundesstaaten eigens anreisten, um die Fassade zu bewundern: ein Kunstwerk aus Platin, Bronze und gehämmertem Aluminium. Estée nickte Walter Bonwit freundlich zu. Nächste Woche hatte sie mit dem Sohn des Kaufhausgründers einen Termin, bei dem sie ihm ihre neue Produktpalette vorführen durfte – eine einmalige Chance, die Charles ihr verschafft hatte. Estée sollte vor Glück strahlen, doch sie sah dem Treffen mit einem erschreckenden Gleichmut entgegen. Vielleicht lag es an der Gewissheit, dass sie das Spiel bereits gewonnen hatte. Walter Bonwit würde ihr einen Verkaufsstand gewähren, das hatte er Charles bereits versichert.
Estées Blick glitt weiter zum Bartresen. Auch dort hatte sich eine Schlange gebildet. Es waren ausschließlich Männer, die geduldig warteten. Nicht eine Frau war darunter, die einem Mann einen Drink spendierte. Männer, die sich von Frauen einladen ließen, wurden belächelt.
Charles würde es niemals dulden, dass Estée die Getränke bezahlte. Er hatte auch die sündhaft teuren Karten für den heutigen Abend besorgt. Eine ganz besondere Vorstellung erwartete sie, und schon nach wenigen Stunden war der Saal völlig ausverkauft gewesen. Benny Goodman und seine Band spielten, doch vor ihm trat ein junger, vielversprechender Sänger auf, dem man eine große Karriere vorhersagte. Frank Sinatra. Er hatte letztes Jahr mit Tommy Dorsey einen großen Erfolg gelandet. Estée mochte das Lied: „All or Nothing“. Im Moment hörte sie es jedoch nur selten, denn die melancholische Melodie versetzte sie in eine schwermütige Stimmung. Dann ertappte sie sich dabei, dass ihre Augen feucht wurden und sie in Erinnerungen schwelgte.
„Sind Sie Mrs Lauder?“ Eine junge Frau in einem schmal geschnittenen, knöchellangen Abendkleid trat auf sie zu. In ihrem Haar steckte eine goldene Feder, die ebenso aufgeregt wippte, wie ihre Besitzerin sprach. Estée konnte nicht anders, sie musste das auffällige Mode-Accessoire anschauen. Wer auch immer bei der Vorstellung hinter der Frau saß, würde den ganzen Abend bloß die Feder sehen.
„Ich habe Sie neulich bei Saks getroffen“, plapperte die Frau munter weiter. „Ihr Verkaufsstand ist großartig, einfach großartig.“
„Es freut mich, dass er Ihnen gefällt. Danke!“
„Natürlich sind die anderen Stände auch nicht zu verachten. Aber Ihrer ist etwas ganz Besonderes, und wissen Sie, warum?“ Sie sah Estée erwartungsvoll an und klimperte dabei mit ihren aufgeklebten Wimpern, die Estée ihr am liebsten von den Augenlidern gezupft hätte. Wie konnte die hübsche Frau sich selbst dermaßen verunstalten? Dabei war ihr Gesicht ebenmäßig und schmal, ihre Lippen wohlgeformt, und die Augen hatten einen außergewöhnlichen Grünton.
Ohne Estées Antwort abzuwarten, fuhr die Frau fort: „Sie stehen selbst an Ihrem Stand – das macht ihn so besonders. Jeder kann sehen, dass Ihre Produkte wirken. Sie sind das lebende Beispiel. Der Inbegriff von Schönheit.“
„Vielen Dank!“ Es war nicht das erste Mal, dass Estée Komplimente für ihr Aussehen erhielt.
„Außerdem sind Ihre Cremes für alle Frauen erschwinglich und nicht so schrecklich überteuert.“ Die Fremde senkte die Stimme: „Es ist doch furchtbar ungerecht, dass nur reiche Frauen sich Schönheit leisten können.“
„Ich stimme Ihnen vollkommen zu“, sagte Estée. „Jede Frau hat ein Recht darauf, der natürlichen Schönheit, die in ihr steckt, ein bisschen nachzuhelfen.“ Sie zwinkerte der Frau verschwörerisch zu.
Diese klatschte vor Begeisterung in die Hände. Sie trug lange schwarze Handschuhe, die ihr bis zu den Ellbogen reichten. Eine Spur zu vertraulich beugte sie sich zu Estée und räusperte sich verlegen: „Haben Sie vielleicht einen kleinen Ratschlag für mich? Ich will heute ganz besonders hübsch aussehen.“ Sie senkte die Stimme noch weiter. „Ich bin mit einem jungen Mann hier, den ich beeindrucken möchte.“
Estée zögerte. Sicherlich hatte die junge Frau Stunden vor dem Spiegel verbracht, um ihr Haar in die richtige Form zu bringen und sich zu schminken. Trotzdem wirkte sie nervös. Das Letzte, was sie jetzt brauchte, waren Ratschläge, die sie noch weiter verunsicherten.
„Sie sehen blendend aus“, meinte Estée.
„Wirklich?“ Allein dieses Kompliment führte dazu, dass die junge Frau sich aufrichtete und ihre Schultern straffte. „Könnten Sie mir nicht trotzdem noch den letzten Schliff verpassen? Ich habe gesehen, wie Sie Kundinnen bei Saks beraten.“
Estée zögerte. Der jungen Frau schien viel an ihrer Meinung zu liegen. „Wenn Sie wollen, kann ich kurz nachhelfen.“
„Vielen Dank!“ Erleichtert atmete die junge Frau aus.
„Aber es ist wirklich nur, um Sie zu beruhigen“, sagte Estée. „Denn Sie sehen bereits großartig aus.“ Sie stellte ihre Handtasche auf den Tisch, klappte sie auf und suchte nach ihrem Glow, einem hellrosa Gesichtspuder in einem kleinen Gläschen.
„Damit zaubert man auf jede Wange einen kleinen Schimmer.“ Estée schraubte das Gläschen auf und reichte es der jungen Frau.
Die fragte verlegen: „Würden Sie vielleicht …?“
Verstohlen warf sie einen Blick über ihre Schulter, dabei rutschte die Feder noch weiter in ihre Stirn, und die künstlichen Wimpern am linken Auge lösten sich.
„O nein!“ Verzweifelt griff sie in ihr Gesicht und zwinkerte hektisch. Kurz fürchtete Estée, sie würde zu weinen beginnen und damit ihren Lidstrich völlig zerstören.
„Alles ist gut“, beruhigte Estée sie. Sie legte ihre Hand auf den Unterarm der Fremden und drehte sie in den Schutz des Vorhangs, sodass niemand sie sehen konnte.
„Darf ich die Feder wegnehmen? Damit ich den Glow auftragen kann?“
„Ja, bitte. Tun Sie alles, was Sie können.“
Rasch nahm Estée die Feder aus dem Haar, zupfte die Wimpern vom anderen Augenlid und wischte mit einem Taschentuch die Kleberreste weg. Vorsichtig tupfte sie Glow auf die Wangen der jungen Frau und verstrich die Farbe mit ihren Fingerspitzen. Sie tat einen Schritt rückwärts. Was sie sah, stimmte sie zufrieden.
„Wollen Sie einen Blick wagen?“ Estée kramte einen kleinen Spiegel aus ihrer Handtasche und reichte ihn der Frau. Augenblicklich breitete sich ein Lächeln auf dem jungen Gesicht aus. „Sie sind ein Genie, Mrs Lauder. Ich sehe richtig hübsch aus.“
„Sie sind richtig hübsch“, korrigierte Estée. „Jede Frau ist hübsch. Sie muss es bloß herausfinden. Und die richtigen Produkte können dabei helfen.“
„Verkaufen Sie mir Ihr Puder?“
„Gerne.“ Estée lachte. „Morgen ab zehn bei Saks in der Fifth Avenue.“
„Ich werde da sein.“
Estée hielt die Frau zurück. „Sie sollten sich nicht nur an einem einzigen Abend schön fühlen, sondern an jedem Tag Ihres Lebens“, riet sie. „Und niemals für einen Mann, sondern stets für sich selbst.“
„Wie bitte?“
„Sie sind es wert, dass Sie auf sich achten. Und Sie werden sich mit jedem Tag besser fühlen. Vertrauen Sie mir.“
Die junge Frau zögerte, dann verabschiedete sie sich lächelnd. Mit erhobenem Kopf lief sie zurück zu ihrer männlichen Begleitung.
„Sag bloß, du hast eben eine deiner Kosmetikberatungen ge-
macht?“ Charles, der die Szene aus einigen Metern Entfernung beobachtet hatte, trat jetzt näher und reichte Estée den Champagner. Kleine Bläschen stiegen in dem schmalen Glas auf.
„Die Frau hat mich erkannt“, entschuldigte sich Estée. „Sie wollte einen kleinen Tipp von mir.“
„Es ist lobenswert, wie sehr du dich für deine Marke engagierst. Ich bewundere dich dafür“, sagte Charles. „Aber das Paramount-Theater ist kein geeigneter Ort für eine Schminkberatung.“
„Es gibt keinen unpassenden Ort“, erwiderte Estée. „Neulich habe ich zwei Töpfe meiner Creme im Aufzug verkauft.“
„Tatsächlich?“ Charles verdrehte die Augen. Dann setzte er sein Glas an die Lippen. In seinem maßgeschneiderten Anzug und dem feinen Hemd sah er sehr gut aus. Sein Haar war akkurat mit Wachs nach hinten gelegt, und keine einzige Strähne verirrte sich an die falsche Stelle. Seltsamerweise wünschte Estée, sie würde es tun. Auch sein modischer Schnurrbart war perfekt getrimmt. Ob er mit einem dieser Schnurrbartschoner schlief?
„Oh, dahinten stehen Mike und Benjamin Raven“, meinte Charles. „Ich muss kurz mit ihnen reden.“
„Nur zu“, sagte Estée. „Ich bin ein großes Mädchen, ich komme auch allein klar.“
„Es dauert nicht lange. Oder willst du mitkommen? Ich muss mit den beiden wegen einer Produktion im kommenden Herbst sprechen.“
Estée winkte ihn weg. „Nein, geh nur. Ich bleibe hier und beobachte die Menschen. Das kann sehr unterhaltsam sein.“
„Meinst du das ernst?“
„Ja, wirklich. Mach dir keine Gedanken. Hol mich, bevor die Vorstellung beginnt.“
Er schickte ihr eine Kusshand zu und marschierte zielstrebig durch den Raum. Die Art, wie er ging, verriet, dass das Leben es gut mit ihm gemeint hatte.
Charles Moskovitz war Manager bei Metro-Goldwyn-Mayer, einer der bekanntesten Filmproduktionsgesellschaften Amerikas. Der brüllende Löwe zu Beginn der Filme war jedem ein Begriff, der schon einmal ein Lichtspieltheater besucht hatte.
Estée nippte an ihrem Champagner und beobachtete die Blicke, die er auf sich zog. Sie stammten von Frauen wie von Männern. Die einen bewunderten und himmelten ihn an. Die anderen wünschten, er würde sich in Luft auflösen oder den Raum auf der Stelle wieder verlassen. Kurz haderte Estée mit sich. Hätte sie Charles begleiten sollen? Jede neue Bekanntschaft konnte von Wert sein. Neue Kontakte zu einflussreichen Menschen konnten ihrem Geschäft durchaus nützlich sein. Man brauchte viele gute Freunde, die einem weiterhalfen. Estée hatte sich in den letzten Jahren ein Netzwerk an Bekannten aufgebaut, die sie unterstützten. Aber heute war ihr nicht danach.
Estée hatte alles, wovon sie immer geträumt hatte, und war auf dem besten Weg, noch erfolgreicher zu werden. Mit Fleiß und Ausdauer konnte sie es zur absoluten Spitze schaffen. Dennoch wollte sich heute Abend das erwartete Glücksgefühl nicht so recht einstellen. Der Champagner schmeckte schal. Nicht einmal das Mischen der neuen Creme hatte ihre Laune heben können, dabei hatte es eine Zeit in ihrem Leben gegeben, in der sie sich nichts Schöneres hatte vorstellen können …
Queens, New York, Herbst 1922
Seit zwei Stunden saß Esty über ihrem Aufsatzheft, doch ohne nennenswerten Erfolg. Bis auf die Überschrift hatte sie noch nichts zu Papier gebracht. Anklagend leuchtete ihr die schnörkellose, blassblaue Handschrift vom blütenweißen Papier entgegen. Das Herbstlicht malte helle Flecken auf die Schreibtischplatte. Winzige Staubteilchen tanzten im Sonnenlicht. Statt ihr Referat über Harriet Beecher-Stowes Roman Onkel Toms Hütte zusammenzuschreiben, blätterte Esty lieber in der Zeitschrift ihrer Mutter. Die neueste Ausgabe des Woman’s Home Companion lag aufgeschlagen vor ihr. In dieser Ausgabe erfuhren die Leserinnen, mit welchen Wintermänteln sie beim Einkaufsbummel durch die Stadt eine gute Figur machen würden. Außerdem gab es Tipps für moderne Kurzhaarfrisuren, einen Artikel über Schauspielerinnen und Rezepte für üppige Kuchen zu Thanksgiving. Letztere übersprang Esty und blätterte stattdessen weiter zu den Modezeichnungen. Der dunkelrote Mantel war ein Traum. Leider war er mit Sicherheit sündhaft teuer. Nie im Leben würde sie ihre Eltern dazu überreden können, so ein wertvolles Stück zu kaufen.
Esty seufzte. Wenn sie erwachsen war, wollte sie so viel Geld verdienen, dass sie sich die schönsten Kleider in den edelsten Boutiquen von Manhattan kaufen konnte. Eines Tages würde sie am Broadway stehen und im Scheinwerferlicht das Publikum verzaubern. Sie würde in Stücken von Oscar Wilde und Floyd Dell spielen. Oder in einer Bühnenadaption von Onkel Toms Hütte mitwirken. Sie hatte das Buch gerne gelesen. Völlig problemlos würde sie morgen den Inhalt vor der Klasse wiedergeben, schließlich war sie eine begnadete Rednerin. Es war ihr unverständlich, warum Mr Stringer, der Lehrer für englische Literatur, darauf bestand, dass sie den Inhalt auch schriftlich zusammenfasste. Das war pure Zeitverschwendung. Lieber widmete sie sich weiter der Zeitschrift.
Esty schlug den Artikel mit den Schauspielerinnen auf. Mary Pickford lächelte ihr entgegen. Ihre Haut war porzellanweiß und makellos. Wie machte die Frau das nur? Esty hielt sich die Zeitschrift ganz nah ans Gesicht. Kein Zweifel, das Foto war echt. Die Schauspielerin war der Inbegriff von Schönheit.
Verträumt ließ Esty das Blatt sinken. Sie sah sich selbst in einem atemberaubend schönen Abendkleid auf der Bühne stehen. Immer wieder verbeugte sie sich vor einem begeisterten Publikum, das nicht aufhören wollte, ihr Applaus zu spenden. Esty konnte stundenlang ihren Träumen nachhängen.
Widerwillig schob sie die Zeitung zur Seite. Nun lag wieder ihr Schulheft vor ihr, doch sie konnte sich nicht dazu überwinden, etwas hineinzuschreiben. Stattdessen ließ sie ihren Blick durch den Garten schweifen. Ihr Schreibtisch stand in einer kleinen Dachbodennische. Von hier aus sah sie die Terrasse der Nachbarn und das wildromantische Grundstück, das ihr Vater vor Jahren gekauft hatte. Ein ehemaliger Friedhof, auf dem sie und ihre Schwester Renee unbeschwerte Kindheitstage zwischen Kirschlorbeer und Heckenrosen verbracht hatten. Jetzt im Herbst erinnerte die sanft hügelige Landschaft an ein farbintensives Gemälde. So als hätte ein übermütiger Künstler verschwenderisch in seine Palette gegriffen und die Farbtöne gekonnt aufeinander abgestimmt. Die Herbstastern blühten in einem satten Violett, das Laub spiegelte sämtliche Orange- und Gelbschattierungen, und auf den Sträuchern sorgten Hagebutten für kleine rote Farbakzente. Esty liebte jede Jahreszeit, aber den Herbst mochte sie ganz besonders. Die Luft war geschwängert von vollen, satten Aromen reifer Früchte. Man konnte meinen, die Natur wollte sichergehen, dass die Menschen ihre Vielfalt nicht über die kargen Wintermonate vergaßen. Mit einem letzten Aufbegehren präsentierte sie ihre gesamte Schönheit, bevor sie sich in den Winterschlaf zurückzog, um erst im Frühling wieder mit neuen, zarten Gerüchen die Menschen zu erfreuen.
Esty öffnete das weiß gestrichene Holzfenster vor ihrem Schreibtisch und atmete die spätsommerlich warme Luft ein. Am liebsten hätte sie ein leeres Marmeladenglas aus der Küche geholt, um die herrliche Geruchsmischung darin einzufangen. Am Vormittag hatte ihr Onkel John den Rasen mit einer Sense geschnitten. Wo mochte er jetzt sein? Ob er wieder im Schuppen eines seiner kleinen Experimente durchführte? Bei dieser Vorstellung hellte sich Estys Stimmung auf. Entschlossen schlug sie das Heft zu und schob es zur Seite.
Esther Mentzer stand darauf. Der Standesbeamte hatte den ungarischen Namen Esty nicht gekannt und deshalb kurzerhand eine amerikanische Esther in die Geburtsurkunde eingetragen, was Estys Familie nicht davon abhielt, sie so zu rufen, wie es ursprünglich geplant gewesen war.
Dem Referat konnte sie sich auch später widmen. Am Abend war immer noch Zeit dafür, und im schlimmsten Fall schrieb sie morgen beim Frühstück ein paar Sätze in ihr Heft. Jetzt wollte sie nach Onkel John sehen.
Gut gelaunt lief sie aus dem Zimmer, warf die Tür eine Spur zu laut ins Schloss und hüpfte voller Vorfreude die Treppen ins Erdgeschoss hinunter. Die letzten drei Stufen nahm sie mit einem Sprung. Gut, dass ihre Mutter sie nicht sah, sie würde ihre Tochter nur wieder wegen ihres Ungestüms schelten. Durch die Hintertür schlüpfte Esty in den Garten, lief an den Blumenbeeten vorbei, verweilte einen Moment bei den Duftnesseln und spätblühenden Rosen, um den betörenden Geruch einzuatmen. Dann ging sie weiter zum Schuppen. Das kleine, hellblau gestrichene Holzhäuschen befand sich in der hinteren Ecke des Gartens. Hier und dort blätterte die Farbe ab, und die Latten hätten einen frischen Anstrich gebraucht.
Esty klopfte, wartete das lang gezogene „Komm rein!“ ab und öffnete dann die Tür. Die rostigen Scharniere quietschten. Es dauerte einen Moment, bis Esty sich an das Halbdunkel des Schuppens gewöhnt hatte. Hier wurde sie mit völlig anderen Geruchsnoten konfrontiert. Sie schloss die Augen, um jede einzelne Nuance in sich aufzunehmen. Mandelöl mischte sich mit Patschuli und Bienenwachs. Sheabutter mit Avocadoöl. Die Wände des niedrigen Raums waren bis zur Decke mit Regalen vollgestellt, die über und über mit Gläsern, Töpfen und Dosen befüllt waren. Darin befanden sich getrocknete Pflanzen, diverse Flüssigkeiten und Pulver, und auf jedem Behälter klebte ein Namensschild. Esty liebte es, die Reihen abzugehen und all die exotisch klingenden Namen zu lesen, die sich wie Zungenbrecher anhörten.
In der Mitte des Raums stand Onkel John vor einem Holztisch, auf dem ein Destillationsapparat aufgebaut war.
„Was für eine nette Überraschung, Esty“, sagte er mit seinem harten deutsch-tschechischen Akzent, bei dem er jedes Wort dermaßen verzerrte, dass man genau hinhören musste, um zu erkennen, dass er Englisch sprach. Eigentlich mochte Esty nicht an die Herkunft ihrer Familie erinnert werden, doch sie verehrte ihren Onkel und sah ihm jeden Makel nach, so auch seine eigenwillige Aussprache.
„Bist du mit den Hausaufgaben schon fertig?“ Onkel John drehte sich zu ihr. In seiner Rechten schwenkte er einen Glaskolben, in dem eine dickflüssige Masse hin und her schwappte. Das Gebräu bestand aus zwei Schichten, die sich farblich voneinander unterschieden. Wie immer, wenn er in seinem „Labor“ arbeitete, trug er einen weißen Kittel.
In der alten Heimat, als er noch Johann Schotz hieß, war er Teilhaber einer kleinen Apotheke in Böhmen gewesen, von deren bescheidenen Einkünften weder er noch sein Geschäftspartner hatten leben können. Als die Kriegstrommeln gerührt wurden und ganz Europa in Flammen aufging, hatte Johann eine Entscheidung getroffen. Er war seiner Schwester nach Amerika gefolgt, bevor der österreichische Kaiser auch ihn an die Front rufen konnte, wo er mit Tausenden anderen Männern einen sinnlosen Tod gestorben wäre. Seither wohnte er gemeinsam mit Esty, ihrer Schwester Renee und deren Eltern unter einem Dach. Ihre sechs älteren Geschwister, Kinder aus der ersten Ehe ihrer Mutter, waren bereits von zu Hause ausgezogen.
Onkel John wartete auf Estys Antwort. Interessiert musterte er sie über den Rand seiner kleinen Metallbrille.
„Ich brauche eine Pause vom Schreiben“, erklärte Esty und verschwieg, dass ihre Heftseiten noch leer waren. Sie trat näher und bestaunte die Töpfe und Gläser auf dem Holztisch.
„Ich fühle mich geehrt, dass du deine Zeit mit mir verbringen willst.“ Onkel John lächelte verschmitzt. „Eine kleine Lektion eines alten Apothekers gefällig?“
„O ja, bitte!“ Letzte Woche hatte Onkel John ihr erklärt, wie man mithilfe eines Ölauszugs den Heilpflanzen wichtige Wirkstoffe entlockte, die man später für die Weiterverarbeitung von Heilsalben benötigte.
„Das Wichtigste ist die Hygiene“, sagte Onkel John mit gespielter Strenge.
„O ja, natürlich!“ Esty lief zum Spülbecken. Eine quadratische Seife lag auf einem abgeschlagenen Porzellanteller. Esty griff danach. Onkel John hatte die Seife selbst hergestellt. Sie roch nach Maiglöckchen und Lavendel. Esty befeuchtete ihre Hände mit Wasser und rieb sie anschließend mit Seife ein. Augenblicklich entstand herrlich weicher Schaum, der sich wie eine kuschelige Daunendecke um ihre Finger schmiegte. Esty ließ sich Zeit, seifte jeden Finger einzeln ein und schaute den luftigen Dufthäubchen nach, die sanft von ihren Fingern ins Waschbecken schwebten, um sich dort aufzulösen. Dann hob sie den Schaum zu ihrem Gesicht.
„Nicht, Esty!“
Erschrocken hielt sie mitten in der Bewegung inne.
Onkel John hob warnend den Zeigefinger. „Wasser und Seife verhalten sich wie Gift für die Haut in deinem Gesicht.“
Sofort ließ Esty die Hände sinken, wusch die letzten Schaumwölkchen ab und trocknete ihre Hände.
„Aber womit soll ich denn sonst mein Gesicht waschen?“
„Mit einem sanften Öl“, antwortete Onkel John. „Es nimmt die Schmutzrückstände des Tages auf und sorgt dafür, dass deine Poren nicht verstopfen.“
Esty war verwirrt. „Aber verstopft das Öl denn die Poren nicht viel mehr als Wasser?“
„Nein, es reinigt und nährt deine Haut.“
Esty war immer noch nicht überzeugt.
„Du brauchst Öl, um Öl zu beseitigen“, fuhr Onkel John fort. „Denk an einen Fettfleck in deinem Kleid. Willst du ihn beseitigen, musst du ein anderes Öl benutzen, zum Beispiel Terpentin.“
Nun begann Esty zu verstehen.
„Damit wir dieses Experiment nicht durchführen müssen, hol dir bitte einen Kittel.“
Er wies auf die Rückseite des Schuppens, wo ein weiterer Apothekermantel hing. Nur zu gerne lief Esty nach hinten. Sie fühlte sich jedes Mal unglaublich wichtig, wenn sie in das Kleidungsstück schlüpfte. Der Kittel reichte ihr bis zu den Knöcheln, und sie musste die Ärmel hochkrempeln.
„Was bereitest du heute zu?“ Aufgeregt beugte sich Esty über einen der Destillationskolben.
„Eine Creme“, antwortete Onkel John. „Anders als die Salbe, die wir letzte Woche gemischt haben, enthalten Cremes Wasser, weshalb sie einen Emulgator benötigen.“
Esty nahm das neue Wort wissbegierig in sich auf. „Emulgator“, wiederholte sie voller Ehrfurcht.
Onkel John schmunzelte. „Emulgatoren sorgen dafür, dass zwei Flüssigkeiten, die normalerweise nicht mischbar sind, sich vermengen.“
Esty wollte nicht einfältig erscheinen, deshalb fragte sie nicht nach, doch Onkel John erkannte auch so, dass es weiterer Erklärungen bedurfte.
„Nimm beispielsweise eine Salatmarinade“, sagte er. „Deine Mutter vermischt Essig, Öl und Zitronensaft. Während der Essig und der Zitronensaft auf den Boden absinken, bleibt das Öl an der Oberfläche.“
Esty hatte schon unzählige Male beobachtet, wie ihre Mutter die Marinade in einem verschließbaren Behälter schüttelte, um die Flüssigkeiten zu vermengen.
„Cremes sind Emulsionen aus Wasser und Fett. Sie ziehen rasch in die Haut ein und spenden Feuchtigkeit.“ Onkel John schwenkte seinen Kolben, und nun erkannte Esty, dass aus den zwei Flüssigkeiten eine einzige geworden war.
„Sieh her, Esty, das ist die Basis für eine Creme. Nun können wir der Masse zufügen, was immer wir wollen: Pflegestoffe, Duftöle, Medikamente …“
„Können wir eine Creme für Bella mischen?“
„Ist das deine italienische Freundin?“
Esty nickte. Isabella war ihre älteste und beste Freundin. Deren Eltern stammten aus dem Süden Italiens und waren vor Bellas Geburt in die Vereinigten Staaten eingewandert. Wenn Esty bei Bella zu Besuch war, bekam sie jedes Mal die wohlschmeckendste Pasta und die knusprigste Pizza serviert. Bella hatte wunderschönes, dichtes Haar mit glänzenden Locken. Als Kind hatte Esty sie um ihre hübsch gebräunte Haut beneidet, doch seit Bellas Körper weibliche Rundungen angenommen hatte, litt die Freundin unter Hautunreinheiten. Während ihr Kinn rot glänzte, waren die Wangen trocken und schuppig. Ihre Nase und ihre Stirn waren mit kleinen Pickeln übersät, die Bella aufdrückte, sobald sie zu groß wurden, was die Sache nur noch schlimmer machte. Esty, die mit einem reinen Teint gesegnet war, verstand Bellas Unzufriedenheit.
„Natürlich können wir deiner Freundin eine Creme mischen.“ Onkel John stellte den Kolben zur Seite. „Erst letzte Woche habe ich in einer Fachzeitschrift von einem Strauch gelesen, den es nur in der Neuen Welt gibt.“
„Neue Welt – wir sind doch in Amerika“, erinnerte Esty ihren Onkel.
„Meinetwegen“, murmelte er. „Der Strauch hat einen seltsamen Namen wie so vieles hier.“ Es war kein Geheimnis, dass Onkel John seiner alten Heimat nachtrauerte. Am liebsten hätte er das nächste Schiff bestiegen und wäre zurück nach Europa gefahren, doch er hatte seinen Besitz vollständig verkauft und alles hinter sich gelassen.
„Virginische Zaubernuss oder Hamamelis virginiana.“
Esty hatte die Namen noch nie zuvor gehört, sie klangen, als hätte Onkel John sie in einem dicken Märchenbuch aufgestöbert.
„Die Rinde des Strauchs wirkt zusammenziehend und entzündungshemmend.“ Er nahm seine Brille ab. „Kannst du dich erinnern, wie wir die Rinde in die Creme bekommen?“
„Ja, natürlich!“, rief Esty begeistert. „Wir machen einen Ölauszug.“
„Du bist eine kluge Schülerin“, lobte Onkel John.
„Mein Englischlehrer, Mr Stringer, sieht das leider anders.“
Onkel John machte eine wegwerfende Handbewegung und setzte die Brille wieder auf. „Vergiss den Lehrer.“ Dann zeigte er auf ein Glas im obersten Regalfach. „Hol uns lieber die Zaubernuss.“
Esty trat zum Regal und suchte nach einem Glas mit der Aufschrift „Hamamelis virginiana“. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an das Glas zu gelangen. Vorsichtig fischte sie es vom Regalbrett.
„Darf ich daran riechen?“
„Nur zu.“
Esty schraubte den Deckel ab und hielt die Nase ans Glas. Im nächsten Moment verzog sie das Gesicht und wich zurück. „Um Himmels willen!“
Onkel John lachte. „Was hast du denn erwartet? Wir haben aus der Rinde des Strauchs den Auszug gemacht. Nicht aus den Blüten.“
„Das kann Bella sich unmöglich ins Gesicht reiben“, sagte Esty entschieden. Sie malte sich aus, wie Onkel Johns Gemisch aus Wasser und Fett in Verbindung mit dem Rindenauszug riechen würde. Die Vorstellung war wenig erfreulich.
„Ganz egal, welchen Geruch die Creme zuerst hat“, erklärte Onkel John. „Du bestimmst den Endzustand, indem du die gewünschten Duftstoffe zufügst.“
„Du meinst, ich kann Rosen- und Zitronenwasser beimengen?“
„Selbstverständlich. Aber du solltest bedenken, dass jedes Duftwasser ebenfalls Wirkstoffe in sich trägt.“
„Du meinst, Rosenblätter haben eine heilende Wirkung?“
„Ja, natürlich. Sie sind entzündungshemmend und wundheilend. Weshalb sie sich für deine Creme gut eignen würden.“
Estys Blick wanderte über die Regalbretter. Mit einem Mal bekamen die lateinischen Namen eine neue Bedeutung: Rosa canina, Boswellia, Hippophae rhamnoides … Sie klangen nicht nur so eindrucksvoll wie Zutaten eines Zaubertranks, sie hatten offenbar auch eine magische Wirkung. Esty wollte sie alle kennenlernen und erfahren, wozu man sie verwendete.
„Heißt das, ich kann auch eine Creme für Maria mischen?“
„Wer ist Maria?“
„Bellas Freundin. Sie leidet unter rauen Lippen. An manchen Tagen sind sie so schuppig, dass die Haut aufplatzt und blutet. Danach bilden sich hässliche Krusten. Es sieht fürchterlich aus und tut mit Sicherheit weh.“
„Oh, die Ärmste“, sagte Onkel John mitfühlend. „Eine Lippenpflege herzustellen ist ein Kinderspiel.“
„Sarah hat kleine Pusteln an den Wangen, und ihre Augenlider sind immer gerötet.“
„Auch dagegen sollte man etwas unternehmen können“, meinte Onkel John.
Esty ging in Gedanken ihre Klassenkameradinnen durch. Es war erstaunlich. Jede klagte über einen mehr oder weniger störenden Makel. Egal, wie hübsch die Mädchen auch waren – rundum zufrieden schien keines zu sein. Dabei waren sie alle auf ihre ganz eigene Art schön. Bella hatte strahlende Augen, Maria ein ansteckendes Lachen und Sarah eine perfekt geschnittene Nase.
„Onkel John“, sagte Esty ernst und feierlich. „Würdest du mir beibringen, wie man eine wirklich gute Creme mischt? Ich will, dass all die Mädchen sehen lernen, wie hübsch sie in Wirklichkeit sind.“
„Du meinst, dass eine Creme das bewirken kann?“ Onkel John klang ein wenig belustigt.
Doch Esty ließ sich nicht beirren. „Ja, sie müssen bloß lernen, ihre Schönheit zu sehen. Wenn sie sich ein bisschen Zeit nehmen und sich mit einer herrlichen Creme etwas Gutes tun, dann wird das gelingen. Ganz sicher.“
„Na, wenn das so ist“, entgegnete er lächelnd, „zeige ich dir das natürlich gern. Wir sind übrigens schon mittendrin in der ersten Lektion.“
Estée Lauder wurde 1908 als neuntes Kind einer ungarisch-jüdischen Einwandererfamilie in Queens, einem Vorort von New York, geboren. Sie schuf aus einem „Wohnzimmerbetrieb“ ein weltumspannendes Wirtschaftsimperium. Im Jahr 2020 konnte sich das Unternehmen über einen Umsatz von rund 14,3 Milliarden US-Dollar freuen. Estée Lauder selbst zog sich 1996 aus dem Familienbetrieb zurück. Heute sind ihre Kinder und Enkel im Vorstand aktiv.
Ihre ersten Cremes mischte Estée, damals noch Esty, im Gartenschuppen ihres Onkels, später bereitete sie sie in ihrer eigenen Küche zu. Sie verkaufte ihre Produkte schier überall. Zuerst am Stand von Coney Island, daraufhin in den Lobbys großer Hotels, in Schönheitssalons und bei privaten Kaffeekränzchen. Schließlich bei Saks und in allen anderen großen Kaufhäusern der Vereinigten Staaten.
Die einzigartige Geschäftsfrau war außerdem die Erfinderin der „Gratispröbchen“ und hatte stets Kostproben ihrer Waren bei sich. Sie war Zeit ihres Lebens ein Verkaufsgenie und suchte beharrlich nach neuen Wegen, möglichst viele Frauen von der Qualität ihrer Produkte zu überzeugen. Mit ihrem unermüdlichen Einsatz, ihrem Charme und ihrer Hartnäckigkeit konnte sie im Laufe ihrer Karriere Frauen aus allen Gesellschaftsschichten an sich binden. Zu ihren Kundinnen zählten einfache Arbeiterinnen ebenso wie die Herzogin von Windsor oder die Fürstin von Monaco. Über ihren eigenen Erfolg sagte sie: „Ich habe nie an meinen Erfolg geglaubt, ich habe dafür gearbeitet.“
Mit Mut, Disziplin und Leidenschaft war sie maßgeblich an der Demokratisierung der Schönheit beteiligt. Estée Lauder war davon überzeugt, dass „es keine hässlichen Frauen gibt. Nur achtlose und solche, die nicht an sich glauben.“
Estée Lauder heiratete 1930 Joseph Lauter, von dem sie selbst sagte, dass er einer der ersten „Hausmänner“ Amerikas war. Er war auch derjenige, der sich um den gemeinsamen Sohn kümmerte.
An den Schwierigkeiten und Vorurteilen, auf die ein solches Familienmodell in den Dreißigerjahren in Amerika stieß, scheiterte die Ehe. Estée bezeichnete die Trennung von ihrem Mann als größten Fehler ihres Lebens, den sie aber wieder korrigieren konnte, indem sie ihn erneut heiratete und bis zu ihrem Tod mit ihm zusammenlebte.
Estée Lauder war unbeirrbar davon überzeugt, dass jede Frau Schönheit in sich selbst entdecken könne. Eines ihrer bekanntesten Zitate lautet folgerichtig: „Schönheit ist eine Haltung, es gibt kein Geheimnis.“
In diesem Buch wurde diese interessante Lebensgeschichte zu einem Groschenroman verarbeitet. Schade.
In der Buchreihe des PIPER Verlages „Bedeutende Frauen, die die Welt verändern“ erschien im September 2021 der Roman „Ein Traum von Schönheit - Estée Lauder“ von Beate Maly alias Laura Baldini. Der Name des amerikanischen Kosmetikimperiums Estée Lauder ist bekannt, doch wer war die Frau die ihren Namen als Marke kreierte? Das Einwandererkind Josephine Esther Mentzer verkörpert wie kaum eine andere Frau den amerikanischen Traum vom Aufstieg aus einfachsten Verhältnissen zur Chefin eines milliardenschweren Kosmetikkonzerns. Der Roman schildert nur die Zeit zwischen 1922 und 1941. Eine kurze Zeit, die eine Frau und ihre Produkte prägt. In jenen Jahren wurde der Grundstein für ihr erfolgreiches Unternehmen gelegt. Geschickt verknüpft Laura Baldini die Gegenwart des Jahres 1941 mit Estées Vergangenheit. Bei einem Theaterbesuch am Broadway erinnert sich die Protagonistin, die mittlerweile in der besseren Gesellschaft angekommen ist, an ihre Kindheit und die ersten Anfänge im Business. Schon früh wurde ihr Interesse an Cremes und Tinkturen durch ihren Onkel, einen Apotheker, der selbst Heilsalben herstellte, geweckt. Gemeinsam beginnen sie an speziellen Gesichts- und Körpercremes zu arbeiten. Neben der Hygiene sind qualitativ hochwertige natürlich Inhaltsstoffe von besonderer Bedeutung. Estée ist von ihren Produkten überzeugt und kann es potentiellen Kundinnen auch ausgezeichnet vermitteln. Schnell verkauft sie nicht nur auf der Straße, sondern bald auch in Hotels und einem Kosmetiksalon, wo sie die Anwendung ihrer Produkte demonstriert. Der erste große Erfolg kommt, als das Kaufhaus Saks Fith Avenue die Zustimmung gibt ihre Produkte auch dort zu verkaufen. Bald folgen amerikaweit andere Kaufhäuser. Dabei erweist sie eine Idee von Estée als absolut genial, die aus dem Geldmangel für ein Werbebudget resultiert. Sie verteilt kleine Gratisproben ihrer Produkte. Die visionäre Idee die Kundin mit dem Produkt in Kontakt zu bringen, wird später von allen anderen Wettbewerbern aufgegriffen. Doch der Preis den sie für den geschäftlichen Erfolg zahlt ist hoch. 1930 hat sie die Liebe ihres Lebens, den Stoff- und Kurzwarenhändler Joseph Lauter, geheiratet. 1933 kommt Sohn Leonhard zur Welt. Ihre Ehe zerbricht. Anschaulich beschreibt die Autorin die Zerrissenheit ihrer Protagonistin, die Frauen wie keine zweite versteht. Alle Frauen, egal welcher Klasse und Nationalität sie zugehören, haben das Recht auf Schönheit. Zu Hause unterstützt ihr Mann sie rückhaltlos. Er kümmert sich um Haushalt und Kind, aber zu wenig um sein Unternehmen, um das Familienleben zu sichern. Bevor Estée erkennt, wie modern und fortschrittlich ihre Ehe mit einem Mann auf Augenhöhe ist, muss sie erst schmerzliche Erfahrungen erleben, um das zu begreifen. Es ist Neid, der sich hinter Mitleid versteckt, mit dem sie konfrontiert wird, wenn sie allein Events besucht, weil ihr Mann sie wieder nicht nicht begleiten kann. Die innere Zerrissenheit und das Aushalten von Problemen und schwierigen Situationen verlangt Estée viel ab. Noch nicht zu spät erkennt sie, dass Joe und sie tatsächlich ein Dreamteam sind und gemeinsam ein Unternehmen aufbauen können. Die Grundlage dafür ist ihre Liebe, die auch in dunkler Zeit nie erlosch. Große Gefühle und viel Sachkenntnis zeichnen den Roman aus. Der Schreibstil von Laura Baldini ist flüssig und liest sich ausgezeichnet. Die Autorin erzählt mit einer ausdrucksstarken Sprache bildhaft von Menschen und ihren Schicksalen. Die Protagonisten sind authentisch und sehr differenziert beschrieben. Fazit: Laura Baldini hat ein wunderbares Buch über die Anfänge des Kosmetikimperiums der Estée Lauder geschrieben, welches fasziniert und verzaubert. Ein berührender und ergreifender Roman ist ihr gelungen, der mich begeistert hat. Gern würde ich mehr als 5 Sterne vergeben. Das Rezensionsexemplar wurde mir dankenswerter Weise von NetGalley zur Verfügung gestellt und hat meine Meinung in keiner Weise beeinflusst.
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