Eisiges Land Eisiges Land - eBook-Ausgabe
Roman
— Der preisgekrönte norwegische Wikinger-Roman„Vor allem aber ist es der feinsinnige, atmosphärische, gelegentlich fast poetische Sprachstil, der Kvævens empfehlenswerten Roman zu einer besonderen Lektüre macht“ - Saale-Zeitung
Eisiges Land — Inhalt
Der preisgekrönte Roman aus Norwegen – kraftvoll, mitreißend, authentisch!
Grönland, 1293: Der junge Wikinger Arnar Vilhjalmsson darf an seiner ersten Walrossjagd teilnehmen. Doch an Bord trifft er auf den gefürchteten Stammesanführer Himin-Gorm und seinen Sohn Hûnvarg, die ihn trotz erfolgreicher Jagd fortan ihre Missgunst spüren lassen. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege, immer wieder muss Arnar kämpfen: gegen die strengen Verbote der verschiedenen Stämme, aber auch gegen die karge, unerbittliche Landschaft, gegen die Götter und nicht zuletzt auch um das Herz einer Frau.
Atmosphärisch erzählt und historisch fundiert
Bekannt ist vielen die Erzählung von Erich dem Roten, der in Norwegen und auf Island kontinuierlich für Ärger sorgte, bis er nach Grönland verbannt wurde. 984 n. Chr. läutete er dort die Wikingerzeit ein. Zwischen 984 n. Chr. und einem unbekannten Jahr im 15. Jahrhundert lebten die Wikinger in zwei Siedlungen an der Westküste. Obwohl sie eine blühende Gesellschaft aufbauten, die über 400 Jahre lang Bestand hatte, bleibt ihr Verschwinden eines von Grönlands großen Geheimnissen.
Tore Kvæven, geboren in Sirdal (Südnorwegen), arbeitet als Lehrer. Nebenbei ist er auch Schafzüchter und hütet eine Herde von 230 Schafen. Für „Eisiges Land“ wurde er mit allen wichtigen norwegischen Literaturpreisen ausgezeichnet.
„Großartiger Erzählstil: packend, anschaulich und unvorhersehbar.“ Adresseavisen
„Außergewöhnlich und hervorragend geschrieben.“ VG
„Stil, Inhalt und Sprachen sind absolut fesselnd.“ Fædrelandsvennen
Leseprobe zu „Eisiges Land“
Teil 1
Der Junge und das Walross
Vestribyggd, Grönland, im Jahr 1293
Wie ein flüchtiger Geist durchschneidet das Walross die Unterströmungen des Fjords. Ein Schatten, der an den stockdunklen Felswänden des Fjordgrundes vorbeifegt.
Doch was es hier unten sucht, wovon es schon früher so oft umschlossen wurde, ist nicht mehr da.
Stärker und stärker giert seine brennende Lunge nach Luft, doch noch immer haben sie sich nicht gelöst, die langen Holzpfähle, die sich in seinem Körper festgebissen haben. Das Walross glaubte, dass sie abfallen müssten, wenn es erst [...]
Teil 1
Der Junge und das Walross
Vestribyggd, Grönland, im Jahr 1293
Wie ein flüchtiger Geist durchschneidet das Walross die Unterströmungen des Fjords. Ein Schatten, der an den stockdunklen Felswänden des Fjordgrundes vorbeifegt.
Doch was es hier unten sucht, wovon es schon früher so oft umschlossen wurde, ist nicht mehr da.
Stärker und stärker giert seine brennende Lunge nach Luft, doch noch immer haben sie sich nicht gelöst, die langen Holzpfähle, die sich in seinem Körper festgebissen haben. Das Walross glaubte, dass sie abfallen müssten, wenn es erst einmal tief genug gekommen wäre, aber es scheint, als bissen sie sich noch trotziger in Fleisch und Speck, als hätten sie ihr Urteil längst gesprochen. Die weit aufgerissenen blassblauen Augen des Tiers suchen nach dem Schutz des ruhigen Wassers, doch die Furcht treibt es immer weiter.
*
Es sind fünf Jäger, die im selben Takt rudern. Mit jedem Schlag, bei dem sie sich zu dem Mann auf der nächsten Ruderbank vorbeugen, spürt der Zehnriemer ihre Kräfte durch sich hindurchströmen. Und kraftvoll spaltet er die Wellen. Das Wasser braust um seinen Bug. Einst war er das schönste Boot der Westsiedlung.
Ein Junge rudert auf der dritten Bank. Ein blonder Jüngling mit langen Armen und mit Händen, denen es vorläufig noch mangelt an der Breite und Schwere, über die die Pranken der erwachsenen Männer verfügen. Doch rudern kann er. Er rudert, dass die Pinnen nur so knirschen. Lange, geschmeidige Züge. Und wo die Ruderblätter sich drehen und aus dem Wasser lösen, tanzen die Wirbel so wild im grünen Glanz des Fjords wie jene, die aus den Ruderschlägen der Erwachsenen geboren werden. Der Junge spürt die Arme brennen, als wären sie stark wie Svarðreip.
Er ist fünfzehn Jahre alt, es ist seine erste Walrossjagd.
Sein Antlitz ist makellos und glatt, fast wie bei einem jungen Mädchen. Als ob das Land, das ihn nährt, noch keinen Schaden an ihm angerichtet hätte. Als ob es damit noch warten wollte. Ein junger Jäger aus einem Bergdorf der Westsiedlung. Hin und wieder wirft er einen Blick über die Schulter, aber das Walross ist noch nicht zu sehen.
Ein in die Zukunft gerichtetes Lächeln liegt im Auge des Jungen. Er denkt an alles, was noch vor ihm liegt. Dies ist nur der Beginn des Lebens. Er glaubt, dass die Walrossjagd ihn eines Tages durch den Strom der Geschichte an die Gestade von Norðsetr führen wird.
Doch das Boot, das er rudert, ist wie ein grauweißes Gespenst, wie ein Knochengerüst. Sein hölzerner Rumpf, einst so sorgfältig geölt und poliert, dass sich das Licht darin spiegelte, ist ausgemergelt und grau. Verwüstet durch den Lauf der Zeit. Die Kraft, die sich einst in diesem Schiffsrumpf fand, ist nur noch eine ferne Erinnerung.
Und selten, nur äußerst selten, wird die Zukunft so, wie der Mensch sie sich vorstellt.
*
Aus der Dunkelheit steigt es ans Licht. Für einen kurzen Moment katapultiert sich sein mächtiger Körper in die Luft. Ein Berg aus Fleisch und Speck. Das Fell an Schultern und Rücken ist rot und entstellt von Narben und Geschwüren.
Es schraubt sich durch die Luft, die langen Zähne und die borstigen Schnurrhaare ragen einen Augenblick zum Himmel empor, solange es frische Luft in sich hineinsaugt. Dann stürzt es hinab, durchbricht donnernd die Oberfläche, während die schaumige Gischt des Wassers in die Höhe spritzt. Sein blinzelndes Auge bestätigt die lauernde Furcht. Sie haben darauf gewartet, dass es wieder auftaucht. Kein Ausweg in Sicht. In diesem Moment scheint sich alles zu verändern. Denn sogar die Luft, die es atmet, und das Wasser, in dem es schwimmt, sind erfüllt vom Gestank dieser Raubtiere, und das Walross kann ihnen nicht mehr entkommen.
Der hämmernde Schmerz in ihm, die Angst, die es mitleidlos jagte und zu einem Flüchtling werden ließ in dieser Welt, die es kennt – sie sind verschwunden. Zurück bleibt nur unbändige Wut.
Das Walross und der Junge, ihre Blicke treffen zum ersten Mal aufeinander, als das Tier abrupt die Richtung ändert und auf das Boot zusteuert. Die Männer am Dollbord weichen zurück, weil sie wissen, dass es nicht aufzuhalten ist. Nur der Junge weiß es nicht.
Am Morgen zuvor …
Am Morgen zuvor war ein Mann auf einem Pferd zum Hof von Himin-Gorm auf Åsastad gekommen. Es war ein junger Mann gewesen, sein Gesicht war rot, sein Pferd ein schlanker Fuchs mit Blesse und hellen Fesseln. Vier kläffende Hunde waren hinzugekommen und hatten nach den Fesseln geschnappt, das Pferd war, auf dem Hofplatz kreisend, umhergestampft, und der Reiter war unsicher gewesen, ob er absteigen oder sitzen bleiben sollte.
Eine schwere, grauschwarze Holztür hatte sich geöffnet, und der Häuptling aller Berghöfe der Westsiedlung war herausgetreten, hatte sich auf die Steinplatte unter den Dachvorsprung gestellt und die Hunde mit einem kurzen Pfiff zur Ordnung gerufen. Nach nur einem Augenblick waren sie verschwunden.
In seiner groben Vadmalhose hatte er dagestanden, ein breiter, kräftiger Kerl, in sechster Generation ein Nachfahre des alten Himin-Gorm, welcher einst während des Things auf dem Thingstein gestanden und allen, die dem neuen Gott und den neuen Bräuchen gefolgt waren, zugerufen hatte, dass ihr Verrat nicht vergessen werden würde. Von diesem Tag an sollten sie sich fernhalten von den Höfen, über die er herrschte, oder er würde sie totschlagen lassen.
Über zweihundert Jahre waren die Beziehungen zwischen den Sippen auf den Berghöfen und denen auf den Fjordhöfen kühl geblieben. Gleichwohl waren sie sich häufig begegnet. Hier und da hatte es Vermählungen gegeben, mitunter waren sie gemeinsam auf Jagd oder auf Fahrt gen Westen gegangen, auch auf Feldzüge gegen die Skrälinger, doch allzeit hatte es Misstrauen gegeben, übertragen wie eine Erbschaft vom Vater auf den Sohn. Keine Generation war ohne Mord oder Streit zwischen einer Sippe und der anderen ausgekommen, und immer war Blut geflossen.
Himin-Gorm hob eine Augenbraue und sagte: „Es ist so lange her, seit ich zuletzt einen Fjordmann hier oben gesehen habe, dass ich schon hoffte, sie seien ausgestorben.“
Der Mann auf dem Pferd war zu nervös, als dass er über Himin-Gorms Worte hätte lachen können, und erwiderte steif: „Ich komme mit einer Botschaft vom Gesetzesverkünder, von Hafgrim am Svartfjord.“
Himin-Gorm nickte. Als er etwas entgegnete, klang es, als spräche er nur zu sich selbst: „Grönlands Unheil verschwindet nur selten aus eigener Kraft.“
Zwei Frauen traten aus einer anderen Tür des breiten Hauses. Der Mann auf dem Pferd hörte weitere Stimmen aus dem Inneren und fühlte sich unbehaglich. Doch er sagte, was ihm zu verkünden aufgetragen war: „Es sind Walrosse in die Fjorde gekommen.“
Walrosse. Geschöpfe des Wohlstands. Verheißungen von Zähnen aus Elfenbein, von Fleisch und Schiffstrossen, von gleißendem Lampenöl im Herbst und im Winter. Keine anderen Tiere konnten Reichtum versprechen wie die Walrosse. Einst hatte es hier unvorstellbare Mengen von ihnen gegeben, in Herden, die die Strände und Schären wie lebendig hatten wirken lassen. Und die Männer der Landnahme, die Ersten, die das Land urbar gemacht hatten und sesshaft geworden waren, hatten gewusst, wie die Walrosse gejagt werden mussten. Sie waren reich damit geworden. Die prächtigsten Höfe des Nordens hatten sie hier oben erschaffen. Große Häuser aus groben Holzblöcken und Steinen. Und gute Schiffe hatten sie gebaut, solche wie in Austmannaland. Aber so, wie sich die Walrossherden vor vierhundert Jahren von Island abgewandt hatten, waren sie auch aus den Fjorddörfern auf Grönland verschwunden, und nicht lange nach der Landnahme waren sie auch in den Fjorden der Bergdörfer nicht mehr zu sehen gewesen.
Himin-Gorm nickte. Zweihundertfünfzig Jahre alt war der Gesetzestext der Westsiedlung, in dem es hieß, dass alle Höfe alarmiert werden sollten, wenn Walrosse in die Fjorde kämen. Alle hatten das gleiche Recht, an der Jagd teilzunehmen. „Wie viele Tiere habt ihr gesehen?“
»An die dreißig. Hafgrims Sohn Hûnvarg hat sie zuerst in die Fjorde kommen sehen. Jetzt sind sie in Botnsvik. Morgen in der Frühe, am Odinstag, werden die Jäger hinausrudern.«
Himin-Gorm erwiderte den Blick des anderen. Er wartete eine Weile, als wollte er sich einen Spaß daraus machen. Schließlich nickte er und sagte: „Wir kommen.“
Kurze Zeit später brach ein halbes Dutzend Reiter von Himin-Gorms Hof auf. Sie sollten alle zwölf Familien in den Bergen aufsuchen, damit sich Männer für die Walrossjagd am folgenden Tag bereit machen konnten.
In jener Nacht war Arnar mit der Axt in der Hand geritten. Er hätte sie am Sattel festbinden oder sich über die Schulter hängen können, aber im Takt mit dem Trab des Pferdes hatte die Axt so gut in seiner Faust gelegen, und wo der Wetzstein das leicht gebogene Axtblatt geschärft hatte, hatte Arnar immer wieder den Stahl aufblitzen gesehen, als handelte es sich um Tau oder Frost.
Von Dyradal waren er und Sel-Floke nach Norden geritten, durch einsames und karges Gebirge. Der Himmel hatte sich hoch über ihnen geöffnet, und der Weg durch die weiten Ebenen zum Vassfelldragsdal war ihnen freundlich gewesen. Ein Weg wie geschaffen für zwei junge Männer, die durch die Spätsommernacht ritten und von all dem träumten, was sie erwartete und was noch kommen sollte.
Arnar war erst fünf gewesen, als in den Fjorden der Westsiedlung zuletzt Walrosse gejagt worden waren. Er konnte sich an die Kadaver am Strand erinnern. Wahlrosszähne, die Löcher in den Kies gebohrt hatten, und ein so abscheulicher Gestank, dass er sich beinahe übergeben hätte. Er dachte zurück an Ölgruben und blutige Speckstreifen, an brennendes Treibholz und Torfinseln. Und er erinnerte sich an das gelbe, klare Öl, das aus dem Speck der Tiere herausgeflossen kam, und an den Widerschein der Flammen in den Augen der Umstehenden. Ohne Unterlass war das Öl geflossen.
So manches Mal waren Sel-Floke und er nebeneinander durch die Nacht geritten. Sie hatten Gedanken geteilt, Scherze gemacht und Pläne geschmiedet, hatten gesprochen über die Jagd, über Mädchen, über alles und nichts. Ihre Freundschaft war eng. Die vier Jahre, die sie voneinander trennten, schienen ohne Bedeutung.
Am Tag zuvor war ein Reiter zum Hof von Vilhjalm Rågsson in Dyradal gekommen. Vilhjalm und Arnar hatten vor dem flachen Haus gestanden, wo die vier Menschen und ihre Tiere unter demselben Dach lebten. Die Botschaft des Mannes hatte gelautet, dass sie zwei Männer zur Jagd abstellen müssten, einer der beiden solle der Knecht Sel-Floke sein.
Während der Bote wieder davongeritten war, hatte Arnar sich zu seinem Vater umgedreht und gefragt: „Kann ich auch mitgehen, Vater?“
Vilhjalm, der ein überaus freundliches Gemüt besaß, hatte seinen Sohn angelächelt und gedacht, dass er womöglich noch nicht reif genug war, um auf Walrossjagd zu gehen. Gleichwohl war ihm bewusst, dass die Zeiten sich änderten und dass die Walrosse, die einst so zahlreich gewesen waren, nun immer seltener auftauchten, und dass die Boote, die sie selbst besaßen, Jahr für Jahr nur immer mehr zerfielen. Niemand konnte wissen, ob dies nicht die letzte Walrossjagd in der Westsiedlung sein würde, und Vilhjalm hatte dem Jungen die Hand in den Nacken gelegt und gesagt: „Ja. Von diesem Hof werden du und Sel-Floke an der Jagd teilnehmen.“
Auch wenn er sich häufig in Tagträumen verlor und die ausstehende Arbeit vergaß und obwohl er sich mitunter widerspenstig und ungestüm aufführte, war Arnar doch ein guter Sohn, hatte Vilhjalm im Stillen gedacht, als Arnar über den Hof gerannt und im Haus verschwunden war. Und dann hatte er gedacht, dass das Leben seinem Sohn schon noch die eine oder andere Schramme zufügen und seinem Trotz Einhalt gebieten würde. Auch der eine oder andere Traum würde noch zu Asche zerrieben werden. Doch auf lange Sicht, nach einigen Jahren, würde sich alles zum Guten wenden, und er käme zur Ruhe.
So hatte Vilhjalm Rågssohn gedacht, während er die Konturen der unbekannten Zukunft zu erahnen geglaubt hatte, wo Licht und Schatten im Gleichgewicht schwebten und doch nichts so war, wie es den Anschein hatte. Dann war er ins Haus gegangen, um den beiden jungen Männern dabei zu helfen, alles Nötige für die Jagd auf dem Fjord herauszusuchen.
Am frühen Morgen erreichten Arnar und Sel-Floke die südlichen Gestade des Agnafjords. Sie ritten im Wind einen steinigen Strand entlang, der zu einer Sammelstelle führte, wo Pferde, Boote und Menschen bereits zusammengekommen waren. Menschen der Westsiedlung. Menschen des streitbaren Landes. Die sich geweigert hatten nachzugeben. Die sich noch immer festbissen. Bauersleute und Jäger. Nachkommen derer, die einst das Land in Besitz genommen hatten. Söhne unzähliger Stammesfehden. Diejenigen, die noch da waren.
Arnar und Sel-Floke ritten zu den Männern, begrüßten ein paar bekannte Gesichter, schwangen sich von den Pferden und gaben sie denen, die sich um die Tiere kümmern würden. Um sie herum wurden letzte Vorbereitungen getroffen, die Ausrüstung für die Jagd wurde schon auf die Boote geladen. Einige Männer hatten sich bereits auf die Ruderbänke gesetzt, die ersten Boote legten ab. Himin-Gorms Boote lagen einen Steinwurf von den anderen entfernt. Seine Männer waren bereit, die Ruder steckten in den Pinnen.
Den beiden Jungen wurde an Bord geholfen. Freundliche Begrüßungen und lächelnde Gesichter hießen sie willkommen. Sie standen im größten der drei Boote von den Odinshöfen, noch immer mit Seilen und Waffen in den Händen. Und Himin-Gorm stand vor ihnen. Er trat näher, griff mit der Hand in Sel-Flokes Nacken, schüttelte ihn freundschaftlich und sagte: „Sel-Floke! Du sollst wissen, weshalb ich dich dabeihaben wollte.“
Sel-Floke packte Himin-Gorms ledernen Gürtel, erwehrte sich der scheinbar rohen Behandlung, und schlagfertig wie immer erwiderte er: „Weil du wenigstens einen Mann brauchst, der weiß, wie man eine Harpune wirft?“
Viele der Männer im Boot lachten. Sel-Floke war lediglich ein Knecht, und dennoch wagte er, dem Häuptling der Berghöfe offen gegenüberzutreten und Scherze zu machen.
Himin-Gorm sagte: „Ich habe dich im Frühjahr gesehen, in Sandnes, als du den Wettstreit der Knechte im Speerwurf gewonnen hast. Damals habe ich deinen Wurf gesehen. Deshalb bist du hier, und deshalb sollst du am Bug stehen und die Harpune bereithalten.“
Elf Boote lagen auf dem Fjord. Jedes der schlanken Gefährte glich einem Kriegsschiff, angesichts der struppigen Kämpfer auf den Ruderbänken und ihrer zahlreichen Jagdwaffen: Äxte, Hakapiks, Bögen, Speere und Harpunen, die vom Bug herunterhingen oder auf den Ruderbänken lagen.
Begrüßungen wurden von einem Boot zum anderen gerufen. Hier und da durchbrach ein lautes Gespräch die Morgenstille. Doch zwischen den drei Booten, die Himin-Gorm befahl, und denen der Fjordhöfe herrschte Stille. Denn hier gab es nicht viele Freundschaften, welche die Grenzen überschritten, die einst von den Anhängern Christi und denen der alten Götter gezogen worden waren.
Arnar nahm neugierige Blicke von den Mannschaften der anderen Boote wahr. Viele nutzten die Gelegenheit, um Himin-Gorm in Augenschein zu nehmen, dieses Ungetüm von einem Mann, von dem so viel gesagt wurde. Himin-Gorm hatte den Blick von den anderen Booten abgewandt und starrte auf den Fjord hinaus, als wäre er mit anderen Gedanken beschäftigt. Er trug eine graue, offene Jacke aus dem Fell der Ringelrobbe. Der Wurfspieß, die Harpune in seiner Hand, hatte einen hölzernen Schaft in der Länge eines erwachsenen Mannes, mit einer Spitze aus graublauem, poliertem Eisen. Die beiden Widerhaken maßen dreieinhalb Zoll. Durch ein Loch im Eisen war ein geflochtenes Tau aus Tierhaut geführt und dann daran befestigt worden. Drang die Harpune tief genug in den Körper ein und waren genügend Männer zur Stelle, konnte ein Walross mit diesem Tau eingeholt werden.
Himin-Gorms Brüder, Steinulfur und Burfell, ruderten ebenfalls in diesem Boot. Burfell war ein schlanker, langgliedriger Mann, der nur selten etwas sagte und noch seltener lächelte, doch als fleißiger Arbeiter galt, der am liebsten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang beschäftigt war. Der andere Bruder, Steinulfur, war wie Himin-Gorm gebaut, mit Stiernacken und weitem Brust- und Bauchumfang. Er war sanfter und redseliger als seine Brüder.
Steinulfur warf einen Blick auf die zuletzt hinzugekommenen Boote und schüttelte missmutig den Kopf. „Eine Schande, so etwas aufs Wasser zu setzen.“
Die Boote waren mit Robbenhaut und zurechtgehauenen Stücken aus Treibgut notdürftig geflickt worden. Viele der Schiffsplanken waren derart morsch, dass eine harte Welle sie leicht hätte zerbrechen können.
Steinulfur spürte Verdruss angesichts des Verfalls, dem diese Boote ausgesetzt waren. Und gleichzeitig wusste er, dass auch das Boot, in dem er selbst saß, schon seit Längerem kein schöner Anblick mehr war. Bald schon musste es wohl auch mit Robbenhaut und Walbarten geflickt werden, falls Himin-Gorm sich nicht dazu durchringen könnte, etwas Holz vom See herbeischaffen zu lassen und das Boot damit zu reparieren.
Vor etwa einem Jahrhundert hatte es zehn oder zwölf mächtige Familien in diesen Siedlungen gegeben. Sie hatten über seetüchtige Schiffe verfügt, die bis nach Vinland oder Island fahren konnten. Auch die Kirche und so mancher Handelsmann waren mit ihren stattlichen Booten hier hinauf in den Norden gekommen. Von diesem arktischen Außenposten waren kostbare Waren versandt und auf den Märkten der Welt feilgeboten worden: Eisbärfelle, Svarðreip, lebende Eisbärjunge, Walrosszähne, Narwalhörner und weiße Jagdfalken. Die grönländischen Gerfalken. Es hatte so gute Jahre gegeben, dass es schien, der Reichtum werde die Siedlungen für alle Zeiten beglücken. Doch wie die Silbermünzen aus Paris nach Ragnar Lodbroks Verwüstungen im Lande der Franken und wie die Goldschätze Haralds des Harten nach seiner Rückkehr aus Miklagard war alles im Sande versickert, und nach und nach hatte der Wohlstand sich verflüchtigt. Die Höfe waren verarmt, die Boote waren untergegangen oder von Eis und Schnee zerstört oder an Land gezogen und dort verlassen worden, bis nur noch klägliche Reste im Wind zerstoben.
Die letzte Fahrt nach Vinland hatte vor fast vierzig Jahren stattgefunden. Nun war in der Westsiedlung kaum noch eine Sippe übrig, die dorthin hätte segeln können. Abgesehen von Himin-Gorm gab es nur Hafgrim am Svartfjord sowie ein paar andere mächtige Männer, die hier in der Westsiedlung halbwegs brauchbare Boote unterhielten.
Es war kein Signal gegeben worden, dass die kleine Flotte sich in Bewegung setzen sollte. Es gab keinen Anführer, auf den man sich hätte einigen können. Doch sobald das letzte Gefährt vom Strand abgelegt hatte, fuhren die Boote den Fjord hinunter, und bald schon schnitten die Ruderblätter ins Wasser. Starke Rücken spannten sich, um die Ruderblätter erst ins kalte Wasser zu tauchen und sie danach wieder hervorzuziehen. Kräuselnde und gurgelnde Wirbel folgten dem Kielwasser der Boote.
Und diese Männer konnten rudern. Sogar die Boote, die an Land noch ganz elendig gewirkt hatten, konnten sich Respekt verschaffen, während sie deutliche Spuren in den Fjord zeichneten. Drei Zehnriemer, zwei Achtriemer, vier Boote mit sechs und zwei oder drei kleine Boote mit jeweils zwei Ruderern. Alle hinterließen grün schimmerndes Kielwasser im Schatten der Felswände.
Arnar dachte, dass ihr Boot an diesem Tag wohl kaum vom Meeresgott gestoppt werden könnte. Denn er wusste, dass Steinulfur und Burfell über gewaltige Körperkräfte verfügten. Er spürte ihre Ruderzüge durch den Rumpf des Boots dringen. Und auch die anderen beiden Männer, Vermund und Gunnar, waren gute Ruderer, auch wenn sie es nicht mit Himin-Gorms Brüdern aufnehmen konnten. Arnar selbst würde zeigen, dass auch er sich den Platz auf der Ruderbank verdient hatte. Von diesem Tag an und bei allen Walrossjagden, die noch kommen würden.
Sie überholten einen Spitzgatter aus Hornfjord. Das obere Dollbord des Boots war grau und gesprungen, und Arnar sah, dass zwei der Männer an Bord erbärmlich gekleidet waren. Himin-Gorms Boot ließ den Spitzgatter zurück, und schon zeichneten sich neue Fahrzeuge vor ihnen ab. Deren Ruderer taten so, als hätten sie das herannahende Boot vom Odinshof gar nicht bemerkt.
Die Jagdgesellschaft wurde von einem weiteren Zehnriemer angeführt, einem langen, schlanken Fahrzeug, in dessen Vordersteven alte Runen eingeritzt waren. Gerudert wurde es von fünf Männern aus der Hafgrim-Sippe am Svartfjord, und Hafgrim, der Gesetzesverkünder, stand selbst am Heck. Schon bald schnitten die beiden Boote nebeneinanderliegend durchs Wasser. Knapp fünf Faden lagen zwischen ihnen, und durch das rhythmische Klatschen der Wellen konnte Arnar die Atemzüge der anderen hören. Zwei gleich lange Boote, die in gleichem Tempo dahinflogen, während die Wellen ihren Bug umspielten.
Ohne ein Wort darüber zu verlieren, wussten die Männer in beiden Booten sofort, dass hier ein Wettkampf begonnen hatte, und mit jedem Ruderschlag streckten sie die Schultern noch ein Stückchen weiter vor.
Himin-Gorms dunkle Gestalt ragte stolz am Achtersteven auf. Die Ruderer spürten seine Autorität, wussten aber auch, dass er bereitwillig einen Finger opfern würde, um die Hafgrim-Sippe im Wettkampf zu besiegen.
Plötzlich sah einer der Hafgriminge zu ihnen herüber. Ein Mann mit breitem Gesicht, dessen geschlossener Mund wie eine schwarze Narbe wirkte, die sich von einer Wange zur anderen zog. Arnar erwiderte seinen Blick. Der Mann war kaum älter als achtzehn oder zwanzig, aber dennoch riesig wie ein Troll. Die Sehnen an seinem dicken Hals glichen Tauen. Arnar machte keine Anstalten, den Blick abzuwenden, woraufhin der andere erst grinste und dann ins Wasser spuckte. Es war ein von Spott gefärbtes Grinsen, und beide wussten unmittelbar, dass von diesem Tag an Feindschaft zwischen ihnen herrschte.
Schonungslos trieben die beiden Mannschaften einander an, befeuert vom Hass, der seit so vielen Jahren zwischen ihren Stämmen herrschte. Doch keines der Boote konnte den Sieg davontragen, ehe Botnsvik im Nordosten vor ihnen auftauchte. Da mussten sowohl Himin-Gorm als auch Hafgrim ihren Männern Einhalt gebieten, damit die Walrosse nicht vorzeitig aufgescheucht würden. Schon kurz darauf schaukelten die Boote geduldig im Takt der sanften Wellen.
Nachdem die übrigen Gefährte eingetroffen waren, wurden vier Boote durch Seile miteinander verbunden, sodass sie nebeneinander über dem flachen Zufluss nach Botnsvik lagen. Darunter wurden Netze und Gatter ins Wasser gelassen, um die Tiere am Entkommen zu hindern.
Daraufhin ruderten die übrigen Boote in die Bucht und umschifften die Landzunge, die ihnen die Sicht versperrte. Noch konnte niemand mit Sicherheit sagen, ob sich die Tiere weiterhin in der Bucht befanden oder fortgezogen waren. Gespannte Stille breitete sich unter den Männern aus. Doch als Arnar schließlich Himin-Gorms lächelnde Miene sah, drehte er sich halbwegs um und konnte hinter Sel-Flokes gebeugtem Rücken einen Blick auf den fernen Strand werfen. Da sah er die Walrosse. Sie lagen drei oder vier Faden oberhalb der Wasserlinie. Es waren etwa zwanzig bis dreißig riesige Tiere. Reglos lagen sie da, als hätte der Tod sie schon ereilt.
Vorsichtig ruderten die Männer näher heran, achteten darauf, die Ruderzüge so lautlos wie möglich auszuführen. Wenn sie den Strand erreichen könnten, ohne von den Walrossen bemerkt zu werden, wäre der Fang gesichert. Die schweren Tiere wählten stets den kürzesten Weg ins Meer, und wenn sie zwischen die Boote gerieten, könnten die Männer ihnen aus kurzer Entfernung die Harpunen in den Rücken stoßen.
Sieben schlanke Fahrzeuge ordneten sich zu einer geschlossenen Formation an, bereit zum Angriff.
Eines der Tiere am Strand hob plötzlich den Kopf. Die langen Stoßzähne waren gut sichtbar. Lag hier nicht ein furchtbarer Gestank in der Luft? Als sich die flache Walrossschnauze zum Fjord hindrehte und sah, was auf sie zurollte, gab das Tier ein heiseres Grunzen von sich, hievte sich halbwegs herum und humpelte eilig zum Meer. Weitere Walrosse hoben nun den Kopf, und jäh erwachte die gewaltige Masse aus Fleisch und Speck zum Leben. Graurote Nacken und breite Rücken, die sich schnell zum Wasser schleppten, mit platschenden Flossen über Stein und Fels. Wie von Panik ergriffen, wälzten sich die Tiere grunzend und stöhnend auf die Wellen zu. Jedes davon so schwer wie zehn oder zwölf Männer.
Sel-Floke brüllte los, um die übrigen Tiere in Schach zu halten, aber schon waren die Walrosse in der Gischt und ließen sich wohl nicht mehr zurückscheuchen. Sie erreichten die Wellen, tauchten unter und waren mit einem Mal wie verwandelt. Alles, was zuvor schwer und behäbig gewirkt hatte, war nun verschwunden, und die Tiere verwandelten sich in schimmernde, geschmeidige Schatten, die schnell in die Tiefe schossen – und in die Freiheit. Nach wenigen Augenblicken war es zu spät, sie mit den Waffen erreichen zu können. Steinulfur hob ein Ruderblatt aus dem Wasser und manövrierte das Boot mit dem anderen Ruder in die entgegengesetzte Richtung. Mehrere andere schlossen sich ihm an, das Boot begann zu schaukeln.
Sel-Floke brüllte: „Bei Helheim und Muspelheim! Jetzt zeigt, dass ihr rudern könnt!“
Auch die anderen Boote wendeten nacheinander und folgten Steinulfur. Eine Weile ruderten sie gegen den Wind. Sel-Floke spähte über den Fjord hinaus, aufmerksam wie ein Wiesel mit der Schnauze im Wind. Mehrmals schimpfte er, die Männer ruderten zu langsam. Himin-Gorms Augen wurden schmaler angesichts des vom Wasser reflektierten Lichts.
Als einige Walrosse schließlich die Wasseroberfläche durchbrachen, hob Himin-Gorm die Harpune am ausgestreckten Arm in die Höhe. Die Waffe zitterte in seiner Hand, während er die Speerspitze auf eines der Tiere richtete, die den Kopf aus dem Wasser hoben und nach Luft schnappten.
Steinulfur lenkte das Boot in die Richtung des ausgestreckten Wurfspießes. Er saß achtern, und es war sein Takt, dem die anderen folgten. Während er das Boot drehte, sah er, wie sich Himin-Gorms Speerspitze langsam dem Bug näherte. Mit aller Kraft, die ihm zur Verfügung stand, legte er sich in die Riemen.
Sie verfolgten die Walrosse, bis die Tiere am Ende der Bucht auf flacheren Grund stießen und voller Verwirrung umkehrten. Abermals schossen sie in die Tiefe, suchten nach einem anderen Ausweg. Sie teilten sich auf, schwammen nicht länger in einer geschlossenen Formation.
Das nächste Walross, das nach Luft schnappte, hatte denselben Kurs wie die Boote eingeschlagen. Himin-Gorm deutete mit dem Wurfspieß in Richtung des Ungetüms, und Sel-Floke brüllte: „Dort … dort … Rudert, dass die Riemen heulen!“
Das Walross war erneut unter Wasser, ehe die Männer auch nur zwei Züge gerudert hatten, doch noch immer durchschnitten ihre Boote die Wasseroberfläche und folgten seinem Kurs. Die Richtung, in die Himin-Gorms Harpune wies, zeigte an, wohin das Walross flüchtete, und das an der Speerspitze tanzende Tau aus geflochtener Tierhaut ließ erkennen, dass die Jagd in vollem Gange war. Sel-Flokes Flüche und Verwünschungen erschollen ununterbrochen. Ehe die Waffen zum Einsatz gebracht werden konnten, war es die wichtigste Aufgabe dieses am Bug stehenden Mannes, die Tiere zu verunsichern und zu erschrecken, sodass sie untertauchten, ohne genügend Luft in die Lunge gesogen zu haben. Auch von anderen Booten erklangen die Rufe der Bugleute, ein jeder auf seine besondere Weise: manche heulend wie ein Wolf, andere fluchend und johlend. Doch keiner von ihnen konnte sich mit Sel-Floke messen. Er brüllte ohne Unterlass, ob das Walross nun über oder unter Wasser war, seine Flüche und Beschimpfungen wurden von den Felswänden zurückgeworfen, die den Fjord umsäumten.
So durchschnitten sie die innerste Bucht des Agnafjords, kreuz und quer, bis Arme und Hände schmerzten und sie schon glaubten, nichts mehr ausrichten zu können. Als das Walross jedoch zum fünften Mal heraufschoss, um Luft zu holen, und gleich danach wieder verschwand, war es näher am Boot als je zuvor. Einen halben Pfeilschuss vom Bug entfernt.
Steinulfurs keuchende Atemzüge waren deutlich zu hören, und Sel-Floke rief: „Wenn ich nicht wüsste, dass du es bist, Steinulfur, würde ich glauben, dass wir schon ein Walross an Bord haben!“
Steinulfur war völlig außer Atem und konnte nichts erwidern. In diesem Moment tauchte das Walross abermals aus den Wellen hervor, als hätte die Tiefe es in einem Anfall von Wut wieder ausgespuckt. Wie eine Aura schwebte die Gischt um seinen Schädel, und die langen, gelbweißen Zähne durchpflügten zornig das Wasser. Sein Maul war weit aufgerissen, sein Atem klang hohl und scheppernd. Doch wieder schlugen die Wogen über seinem Kopf zusammen, und es verschwand. Fast schien es, als hätte es einen Augenblick zu lange gezögert.
Himin-Gorm beugte sich mit dem Wurfspeer in die Richtung, die das Walross eingeschlagen hatte. Plötzlich fiel ein Schatten über sein Gesicht. Genau auf ihrem Kurs lag Hafgrims Boot. Quer im Weg und mit den Rudern im Wasser. Am Heck waren zwei Männer damit beschäftigt, ein totes Walross an Schwimmblasen aus aufgeblasenen Schafsmägen festzumachen. Die Männer auf den Ruderbänken lachten, als ob jemand gerade einen Scherz über das Bergvolk von den Odinshöfen gerissen hätte.
Mit harten Ruderschlägen hielten Burfell und die anderen das Boot auf Kurs. Sel-Floke brüllte den Männern in Hafgrims Zehnriemer zu: „Macht, dass ihr fortkommt!“
Kein einziger von Hafgrims Leuten machte Anstalten, zum Ruder zu greifen. Einer von ihnen schüttelte den Kopf und rief: „Fahrt doch außen herum!“
Doch für Himin-Gorm stand die Richtung fest, sein Boot war schon wieder in Fahrt gekommen, und mit jedem Ruderschlag erhöhte sich das Tempo.
In dem anderen Boot hob Hafgrim der Schwarze Hafgrimsson die Faust und rief: „Fahrt außen herum! Wir machen ein Walross fest!“
Sel-Floke grölte zurück: „Schafft das Boot aus dem Weg oder fahrt zur Hölle!“
Arnar drehte sich um und sah die grimmigen Gesichter der Hafgriminge. Die Eisenspitzen der Harpunen im Vorder- und Achtersteven glänzten.
Und wieder brüllte Hafgrim Hafgrimsson: „Fahrt außen herum, ihr Bergziegen!“
Da lächelte Himin-Gorm und deutete mit dem Wurfspeer nach vorn, in die Mitte eines der Fünfriemer aus der Hafgrim-Sippe. Steinulfur kannte dieses Lächeln von früher und schüttelte den Kopf, während er sich gegen Ruderbank und Dielen stemmte, die Zähne zusammenbiss und abermals die Ruder anzog.
Auch Arnar legte alle Kraft in die Riemen, denn falls diese beiden Boote zusammenstießen, zersplitterten und untergingen und falls das Walross zurückkäme, um sich als rächendes Ungetüm aufzuführen, während die Männer im Meer strampelten und nach Wrackteilen suchten, um sich daran festzuhalten, sollte hinterher niemand sagen können, dass er sich vor Angst in die Hose gemacht hatte.
Noch einmal ertönten Rufe von einem Boot zum anderen, doch der Zusammenstoß war jetzt unausweichlich. Hafgrims Männer auf den mittleren Ruderbänken ließen die Ruder los und sprangen beiseite. Einer von ihnen stolperte über das Dollbord und fiel rückwärts ins Wasser.
Da schlug der uralte Kiel aus Markländer Eichenholz mit einem lauten Knall in die Reling des quer liegenden Boots. Der hohe, gewölbte Bug hob sich aus dem Wasser, die geschnitzten Köpfe am Vordersteven donnerten mittschiffs in Hafgrims Boot. Die klinkergebauten Streben und der Kiel von Himin-Gorms Zehnriemer brüllten und heulten, als Ruderpflöcke und Dollbordplanken des anderen Boots nachgaben und vom Gewicht zersplittert wurden. Als der Zehnriemer schließlich zum Stehen kam, überragte er seinen Gegner wie ein Adler seine Beute.
Mit den Händen auf dem Dollbord lehnte sich Sel-Floke über den Bug, um zu beobachten, wie die Backbordseite des Hafgrim-Boots tief unter die Oberfläche gedrückt wurde, grüne Wellen über die Duchten schäumten und kaltes Wasser um die Knöchel und Beine der Männer aufstieg. Himin-Gorm kam vom Heck herbeigerannt, stieg auf die Bänke seines Boots und legte das ganze Gewicht in seine Schritte, um das Hafgrim-Gefährt unter ihm zu zerstören. „Drückt sie hinunter! Stoßt sie ins Meer!“, brüllte er.
Arnar allerdings entging nicht die Furcht, die nun von Hafgrims Männern Besitz ergriffen hatte, denn nicht einer von ihnen konnte schwimmen, und die Angst davor, von der Tiefe verschluckt zu werden, spiegelte sich in ihren Gesichtern wider.
Der riesige junge Mann, der Arnar während des Wettruderns so feindlich angestarrt hatte, warf sich hinunter und langte nach dem Mann, der zuvor über die Reling gefallen war. Nachdem er ihn an den Kleidern gepackt und herausgezogen hatte, warf er ihn zurück ins Boot, so leicht, als handelte es sich bei dem Mann um ein Kind, als hätte sein Körper keinerlei Gewicht. Immer schneller strömte das Wasser nun über die Reling. Deutlich war einer von Hafgrims Männern zu hören, als er voller Furcht nach Jesus Christus rief, doch Hafgrim stemmte sich gegen das Boot von Himin-Gorm und brüllte: „Schiebt die Teufel von uns herunter!“
Hafgrims Boot rollte sich unter dem Gewicht des anderen kaum merklich nach Backbord, und dem Beispiel ihres Anführers folgend, sprangen Hafgrims Männer von beiden Seiten herbei. Sie drückten sich gegen Kiel und Rumpf, von denen sie zermalmt zu werden drohten, derweil Himin-Gorm wie ein zorniger Gott am Tag des Jüngsten Gerichts über ihnen aufragte und brüllte: „Versinkt doch in Rans dunkelste Tiefen!“
Schon stand der Hafgrim-Sippe das Wasser bis zu den Waden. Wenn es erst auf einer Höhe mit dem Meeresspiegel stünde, würde ihr Boot einfach versinken und sie alle zappelnd in den Wellen zurücklassen.
Plötzlich gab es eine Bewegung. Der Rumpf von Himin-Gorms Boot hatte sich verschoben, nur zwei oder drei Zoll, doch genug für Hafgrim, um wieder Hoffnung zu schöpfen. Mit dem nächsten Kraftakt hörten sie das Dollbord kreischen, und ganz langsam glitt der eisenharte Eichenkiel wieder dahin zurück, wo er hergekommen war. Da hob einer von Hafgrims Leuten ein Ruder und schwang es in Richtung Himin-Gorm – in der Absicht, ihn zu treffen, ehe sich der Abstand zwischen den Booten wieder vergrößerte. Doch Himin-Gorm packte das Ruder und riss es an sich, um es gleich darauf wie einen Speer dem Mann entgegenzuschleudern. Das Ruder traf ihn an der Brust, er brüllte und fiel zwischen den Ruderduchten rückwärts ins Wasser.
Im nächsten Moment waren die Fahrzeuge wieder frei, und der Rumpf des Hafgrim-Boots schwankte wie ein sturzbetrunkener Mann von einer Seite zur anderen. Mit Kellen und Holzeimern und bloßen Händen begannen Hafgrims Männer, das Wasser vorsichtig aus dem Boot zu schöpfen.
Sel-Floke rief: „Dieses Mal habt ihr noch Glück gehabt, ihr Kaulquappen, dieses Mal hattet ihr Glück! Doch beim nächsten Mal landet ihr auf dem Meeresgrund. Nächstes Mal, ihr Kaulquappen, werdet ihr zu Fischfutter!“
Hafgrim Hafgrimsson griff nach einer Harpune im Achtersteven hinter sich, und auch der riesige Kerl warf die Schöpfkelle zur Seite und packte einen Wurfspieß. Himin-Gorm und Sel-Floke hielten die Harpunen schon in den Händen, Burfell schnappte sich einen Speer, und Arnar beugte sich vor und zog eine Axt unter der Ruderbank hervor.
So standen sie einander gegenüber, die Erzfeinde. Wie schon viele Male zuvor, als sie sich mit Waffen in den Händen auf dem Blutanger begegnet waren, der Walstatt, auf der so viele Familien der Westsiedlung ihr Ende gefunden hatten. Angetrieben von einem Hass, der sich von Vorurteilen nährte, aus starkem Willen erwuchs und von Sippen angefacht wurde, die nicht vergessen wollten. Es war ein alter Hass, doch gewaltig und glühend wie ehedem.
Die Harpune in Hafgrims Hand zitterte. „Ihr teuflischen Heiden! Glaubt ja nicht, dies wäre das Ende!“
Doch der Wind trieb die beiden Fahrzeuge auseinander, führte das eine fort und ließ das andere zurück.
Das Walross durchquerte eine Welt aus grünschwarzem Seetang und Muscheln und Weichtieren, ein sanft wogender Urwald, dunkel wie die Nacht. Vorbei an Meerespflanzen, die sich nach ihm streckten und von Zeiten flüsterten, die für immer verloren waren.
Das Gebrüll der Kreaturen von oben hallte noch in seinen Ohren, und noch immer spürte es ihr heftiges Klatschen gegen die Wasseroberfläche. Diese rhythmischen Geräusche der Jagd. Und mit jedem Schlag, zu dem es mit seinen mächtigen Flossen ausholte, mit jeder Drehung seines Körpers spürte es, wie sich eine unheilvolle Sehnsucht in seiner Brust vertiefte.
Als es wieder aus der Dunkelheit heraufstieg, aus der Welt, die es freigegeben hatte, als es wieder hinaufstrebte, da wirkte das glitzernde Licht wie eine wundersame, funkelnde Morgendämmerung.
Es hatte sich den Kreaturen gezeigt, hatte ihnen seinen Körper präsentiert, und sie hatten zwei Wurfspieße tief in seinen Leib gerammt. Die Entfernung hatte nicht mehr als drei Faden betragen, und die Männer hatten gegrölt, als sie ihre Jagdwaffen in das Walross getrieben hatten. Die eisernen Spitzen hatten Haut und Speck durchdrungen und sich tief ins Fleisch gebohrt.
Einen Augenblick schien es, als habe das Walross die Harpunen gar nicht bemerkt, doch dann hatte sich die See rot gefärbt, und es hatte die Flossen bewegt und sich auf die Seite gerollt und war wieder eingetaucht. Jetzt sahen die Männer es unter den Wellen hindurchgleiten, während ihre Harpunenschäfte die Wasseroberfläche durchpflügten. Wie Masten eines Schiffs, das auf den Untergang zusteuerte.
Dann waren die Schäfte verschwunden. Zurück blieben nur der walartige Gestank und die immer dünner werdenden Striemen dunklen Bluts, wo das Walross zuletzt im dunklen Meer gesehen worden war.
Doch dieses Mal folgten ihm Taue in die Tiefe – Taue, die an Harpunen hingen. Braunschwarze, bärenstarke Taue aus der Haut der Kegelrobbe, unzerstörbar wie Knochen und an den Eisenringen der Harpunen befestigt. Knoten um Knoten führten die Taue vom Dollbord in die Tiefe hinunter, und Himin-Gorm und Sel-Floke beugten sich vor und richteten die Schwimmblasen. Drei Blasen an jedem Tau. Längliche graurote Schafsmägen, aufgeblasen und an den Tauen befestigt.
Für einen kurzen Augenblick lagen sie reglos im Wasser, als wüssten sie nicht, wozu sie gut waren und was sie sollten. Dann bewegten sie sich plötzlich und trieben schwankend vom Boot weg. Als das Walross abtauchte, wurde eine Schwimmblase nach der anderen in die Tiefe gerissen und verschwand. Noch immer musste das Walross mit den mächtigen Stoßzähnen über große Kräfte verfügen.
Die See war jetzt aufgewühlter als zuvor. Die Wellen schlugen gegen den Rumpf und ließen das Boot schwanken und zittern, während der Wind über die dunklen Felswände jagte, die den Fjord umsäumten.
Die Männer an den Rudern keuchten und stöhnten. Und über ihnen ragte Himin-Gorm auf, der seinen Falkenblick in die Tiefe richtete.
Plötzlich lockerte sich die Spannung im Tau, und kurz danach waren die Schwimmblasen wieder an der Oberfläche. Die Männer auf den Bänken holten die Ruder ein und griffen nach den Waffen. Himin-Gorm und Sel-Floke zogen kräftig am Tau, woraufhin es sich wieder straffte und das Boot in Richtung des auftauchenden Walrosses lenkte. Der Bug senkte sich vom Gewicht der nach vorn drängenden Männer flach ins Wasser. Die Wellen schlugen gegen die Planken, und die Gischt spritzte allen ins Gesicht.
Das Walross brach in einer Schaumkaskade durch die Oberfläche. Als es sich drehte, um fortzuschwimmen, wurden zwei Pfeile in es hineingebohrt, die wie starre Stacheln aus dem Speck herausragten. Auch die Seile, die an diesen Pfeilen hingen, strafften sich, und vier Männer fingen an, das Walross zu sich heranzuziehen.
Das Walross kämpfte dagegen an. Einer der Pfeile brach, die Holzschäfte der Harpunen bebten, doch das Tier konnte nicht entkommen. Plötzlich war sie verschwunden, die Furcht, die seine Flucht kontrolliert hatte. Sie war nicht mehr da, und das Walross wandte sich um, raste den Männern voller Wut entgegen, während seine Atemzüge einem keuchenden Stöhnen ähnelten. Steinulfur und Gunnar griffen nach langen Speeren und hielten sie vor sich, wie Lanzen auf einer Brüstung. Das Walross warf sich gegen die spitzen Speere und drängte die beiden Männer zurück, als wären sie Stroh im Wind. Die langen Zähne schienen jeden Augenblick zustoßen zu wollen. Die Schnurrhaare glänzten, die Augen waren wie im Wahnsinn verdreht.
In diesem Moment trafen sie aufeinander, die Blicke des Jungen und die des Walrosses.
Sieben Männer standen an der Reling und mühten sich mit dem Tier in den Wellen ab. Schon glaubten sie, dass es an der Zeit war, die letzten Töne der Jagdmelodie anzustimmen.
Dann aber, als die Gischt um den Schädel des Tiers brauste, glänzend wie Perlen aus Gold, und einige Männer von den rohen Kräften des Walrosses zurückgedrängt wurden, da spürten auch Gunnar und Vermund den Mut schwinden, und sie wichen zurück, um von den Stoßzähnen nicht zerhackt zu werden.
Doch Himin-Gorm wich nicht zurück. Denn der Zorn, der in ihm tobte, der Zorn, den er allen lebenden Wesen entgegenbrachte, die es wagten, sich seiner Macht in den Weg zu stellen, ob Tier oder Mensch, war unbändig und nicht zu löschen, und kraft dieses Zorns stellte er sich dem Tier aus dem Meer entgegen.
Und Arnar verharrte an Ort und Stelle, während um ihn herum die Speere brachen wie morsche Knochen und die Töne des Walrosses und das Getöse aus dem Meer immer lauter wurden. Aber das Leben selbst schien in ihm zu singen. Darum war er hierhergekommen.
Eine weitere Welle stürzte auf das Boot zu, und das Schicksal und die Mächte, die über alle Lebewesen herrschen, hielten für einen Augenblick die Zeit zurück, als wollten sie über den Ausgang der bevorstehenden Begegnung reflektieren. Da stand Arnar direkt im Ansturm des Tiers. Und als der Moment der Stille vorüber war und der einem Schlachtfeld aus Narben und verheilten Wunden gleichende Kopf des Walrosses, umgeben von Wassertropfen, die wie Regenbogen funkelten, auf ihn zuschoss, da schwang er seine Axt in einem langen, schimmernden Bogen in die Höhe.
Wo zwei Narben einander kreuzten und ein grobes Muster in den Schädel des Tiers gezeichnet hatten, ließ Arnar das Axtblatt hinuntersausen. Die Klinge schnitt durch Fell und Knochen und rammte sich tief in den Walrossschädel hinein.
Das Tier trieb seitlich auf das Dollbord zu und warf sich dann abrupt nach hinten, zurück ins Meer. Umgehend kamen weitere Waffen zum Einsatz. Äxte und Speere trafen das Walross, während sich der Todeskampf in seinem Körper fortsetzte. Doch die Kräfte, die es angetrieben hatten, waren versiegt, und die Wellen, die über es hinwegrollten, hatten schon begonnen, das Blut aus seinen Wunden zu waschen.
Nach der Jagd, als Himin-Gorms Männer mit drei Walrossen im Schlepptau auf das südliche Ufer des Agnafjords zusteuerten, drehte sich Steinulfur zu Arnar um und sagte: „Dieser Schlag heute, Arnar, den wird niemand so schnell vergessen.“
Und Arnar entgegnete: „Dazu war gar nicht viel nötig. Nur dass ich fest auf den Füßen stand, als das Walross kam.“
Da starrte Vermund zu Arnar hinüber, um herauszufinden, ob Spott in seinen Worten lag, aber davon ließ sich nichts entdecken. Nur ein offenes Lächeln, das nichts anderes als Gutmütigkeit ausstrahlte, sowie die Gewissheit, dass sich ihm eines Tages alle noch ungelösten Rätsel offenbaren würden.
Als jedoch Himin-Gorm am Achtersteven das Wort ergriff, hatte Vermund keine Zweifel mehr, dass bei einem anderen trotz allem Spott zu finden war. „Tatsächlich, das Wichtigste ist es wohl, fest auf den Füßen zu stehen, wenn das Walross kommt. Mehr erfordert es gar nicht, und dennoch ist diese Fähigkeit nicht allen gegeben.“
„Eisiges Land“ spielt im Grönland des 13. Jahrhunderts und handelt von einer von Wikingern gegründete Siedlung. Wikinger selbst werden oft als brutale und furchtlose Krieger dargestellt, die die Meere durchstreifen und die Küsten plündern – die Menschen aus dieser Wikingersiedlung in Ihrem Buch entsprechen gar nicht dieser Vorstellung. Werden Wikinger in Norwegen anders wahrgenommen?
Auch die Norwegerinnen und Norweger stellen sich die Menschen der Wikingerzeit als einen rauen und hartgesottenen Haufen vor, der auf Segeln, Kämpfen und Plündern aus war: Eben unsere berühmten, brutalen und exotischen Vorfahren. Manche von uns werden sich zwar an die Isländersagas aus Schulzeiten erinnern, in denen die wir ihnen als normale, atmende Personen begegnet sind, aber die Sitten und Werte sind uns immer fremd geblieben.
Weitaus differenzierter ist da die Sicht der Historikerinnen und Historiker und von historisch interessierten Norweger:innen. Einerseits ist klar, dass die Brutalität und die damaligen Werte nichts sind, worauf man stolz sein sollte, andererseits ist es faszinierend, was in der Wikingerzeit geleistet wurde, und zwar nicht nur bei kämpferischen Auseinandersetzungen. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren die Wikinger die ersten Menschen auf der Erde, die insgesamt vier Kontinente gesehen haben – außer ihrem eigenen auch Afrika, Asien und Nordamerika. Dazu kommt noch die Gesetzgebung, die Dichtkunst, die Holz- und Eisenverarbeitung, die Gründung neuer Gesellschaften und neuer selbstverwalteter Nationen (Island und Grönland) und den Aufbau Norwegens selbst.
Mein Roman spielt zwar mehr als zweihundert Jahre nach ihrer Blütezeit, dennoch ist die Verbindung zu den Werten und der Lebensweise, die die Wikinger mitbrachten, als sie Grönland um das Jahr 980 nach Christus erstmals besiedelten, immer noch sehr stark.
Es ist nur wenig über die Besiedlung Grönlands durch die Wikinger bekannt, noch weniger sogar über den Untergang der Wikingersiedlungen. Dennoch beschreiben Sie ihr Alltagsleben so detailliert. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Meine Hauptinformationsquelle waren Bücher über die nordische Kultur Grönlands: allen voran das der US-amerikanischen Historikerin Kirsten A. Seavers „The Frozen Echo“ und „The Last Vikings“. Zusätzlich habe ich eine Reise nach Grönland unternommen und war in den Bergen und entlang der Fjorde wandern, die im Roman eine Rolle spielen. Ich denke, mein persönlicher Hintergrund war auch sehr hilfreich: Ich bin auf einem kleinen Bergbauernhof in Norwegen aufgewachsen, habe einiges an Jagderfahrungen und habe einen Winter auf Island verbracht.
Weshalb haben Sie gerade diesen Zeitpunkt und Schauplatz gewählt, besteht dazu eine besondere Verbindung?
In meinem ersten Roman stammt meine Hauptfigur aus Grönland. Bei der Arbeit an diesem Roman habe ich viel über die nordische Geschichte Grönlands gelernt. Das Wachstum und der Niedergang einer Kultur am Rande der Welt. Ich wollte eine Geschichte schreiben, die am Wendepunkt dieser Ereignisse spielt.
Die Geschichte spielt vor dem Hintergrund des Verschwindens eines Volkes. Im Mittelpunkt steht jedoch der junge Arnar, der trotz allem entschlossen ist, zu kämpfen und in dieser unwirtlichen Landschaft zu überleben. Können Sie etwas näher auf Arnars Motive eingehen?
Diesen Kontrast wollte ich in den Roman einfließen lassen. Harte Zeiten – ein schleichender Pessimismus – eine ganze Kultur, die sich selbst immer näher am Abgrund sieht, und gleichzeitig das Licht in den Augen eines jungen Menschen, die Unschuld und der Glaube von jemandem, der die Szene als Neuling betritt und trotz aller Widrigkeiten die Schönheit, eine große Zukunft und großartige Möglichkeiten sieht.
Arnar ist sowohl ein Träumer als auch ein Mensch der Tat. Er träumt von einer großen Zukunft. Einige seiner Ziele sind in greifbarer Nähe, andere sind vielleicht noch weiter entfernt. Es fehlt ihm jedoch an Realitätssinn, er ist nicht ganz in der Lage zu begreifen oder zu akzeptieren, dass die Kräfte, die um ihn herum im Spiel sind, der Kirche, der Familie, des Gesetzes, des Landes, stärker sind als seine eigenen. Wenn er das wüsste, wenn er es verstehen und akzeptieren würde, wäre sein Weg einfacher gewesen. Er realisiert auch erst spät, dass seine Handlungen nicht sein, sondern auch das Leben derer, die er liebt, beeinflusst.
Gibt es etwas, das Ihre Leser:innen aus dem Roman mitnehmen sollen?
In den Isländersagas hat man oft das Gefühl, dass eine bestimmte Wendung, ein gesprochenes Wort oder eine erhobene Axt, eine Reihe anderer Ereignisse nach sich zieht. Dass es sich ausbreitet wie Wellen im Wasser. Die Person oder die Personen, die in der Mitte der Geschichte stehen, sind in der Lage, den Lauf der Dinge zu verändern, manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten, aber nichts kann mehr aufgehalten werden.
Ich würde also sagen, ich möchte, dass die Leser dies mitnehmen. Auch wenn sie es wahrscheinlich schon wussten.
„Der Roman von Tore Kvæven bietet ebenfalls dichte, mitreißend erzählte Geschichten, aber darüber hinaus noch mehr. Er beschreibt die Kraft und Wut junger Männer, die keine eigenen Verluste scheuend sich in Kämpfe verstricken, in denen man durchaus die Nachrichten aus unserer Zeit wiedererkennt.“
„Vor allem aber ist es der feinsinnige, atmosphärische, gelegentlich fast poetische Sprachstil, der Kvævens empfehlenswerten Roman zu einer besonderen Lektüre macht“
„Außergewöhnlich und hervorragend geschrieben. “
„Stil, Inhalt und Sprache sind absolut fesselnd.“
„Großartiger Erzählstil: packend, anschaulich und unvorhersehbar.“
In dieses Buch wurde ich sofort hineingezogen. Bereits die erste Szene machte mich sprachlos: Dieser Junge, dessen Hände noch nicht so gross sind wie die der Männer, und dessen Gesicht fast so schön ist wie das eines Mädchens, «als ob das Land, das ihn nährt, noch keinen Schaden an ihm angerichtet hätte„, wird einem alten, stark beschädigten Walross in einer spannenden Jagd gegenübergestellt. Eine unvergessliche Eröffnung. Nur sehr selten gelingt es einem Autor, aus der Perspektive eines Tieres zu schreiben, ohne es zu vermenschlichen oder den Leser zu Tode zu langweilen (ausser Aitmatov – und nun eben Tore Kvaeven – fällt mir gerade niemand ein). Nicht nur die Tiere, auch die Boote, die Werkzeuge, die Waffen, die Landschaft sind beseelt, ja sogar das Schicksal, das die Berge hinunterkriecht und an den Türen kratzt, wenn der Sommer kurz und die Jagd schlecht war! Die Menschen sind ein Teil davon, eng verflochten mit allem anderen Lebendigen. Dies beschreibt die heidnisch-animistische Psyche sehr anschaulich. Normalerweise wirkt es blutleer oder künstlich, wenn Schriftsteller so etwas versuchen, aber hier ist es rundum gelungen. Man spürt, dass da jemand schreibt, der selbst Landwirtschaft betreibt, jagt, fischt und dem Land eng verbunden ist. Es wirkt natürlich und absolut überzeugend. Die Grönland-Siedlung steht im Niedergang. Arnar und seine Schicksalsgenossen wissen es nur noch nicht. Der Leser aber taucht ab in die tiefe Melancholie der Vorahnung: die Boote, die langsam zerfallen. Drei schlimme Winter in Folge. Arnars Mutter, die schon längst gestorben ist, und die Jungen, die nicht so recht wissen, ob die Götter eigentlich noch zugegen sind. Eindeutig, es wird kälter, und eine Ära geht dem Ende zu. Praktisch auf jeder Seite fand ich einen überwältigend schönen Satz, ein unvergessliches Bild, eine verblüffend präzise Beobachtung oder Metapher. Wenn die Seegöttin nicht gewesen wäre, die…, dann wäre ich wütend geworden über ... (aber das darf ich leider nicht verraten!). Ein hungriger Bär sorgte dafür, dass mir zum ersten Mal seit vielen Jahren beim Lesen das Herz bis in den Hals hinauf pochte. Und für eine grosse Trauer wurde ich mit einem Bild von Menschen an Feuern entschädigt, das zu den allerschönsten Passagen gehört, die ich in der Literatur überhaupt kenne. Bisher habe ich noch in jedem historischen Roman wenigstens einen Recherche-Fehler gefunden. Tomaten im antiken Griechenland, Aprikosen im Aztekenreich, eine Armbanduhr, bevor sie erfunden wurde, diese Art von Fehler. Nicht die geringste Flapsigkeit in diesem Buch. Ich bin beeindruckt von dem detaillierten Wissen des Autors über die Grönland-Siedlung und die damalige Zeit. Wir bekommen farbige, dreidimensionale Schilderungen, vom Alltagsleben, den Werkzeugen, der Arbeit, über Flora, Fauna, Topographie und Klima, bis hin zum politischen System, zur Rechtsprechung und zu der Spannung zwischen alter und neuer Religion. Sogar die Symbolik ändert sich, je nachdem, ob wir uns gerade im Kopf eines Heiden oder eines Christen befinden. Und nie hat man dabei das Gefühl, ein trockenes Sachbuch zu lesen, sondern dass man hautnah am Leben auf Grönland teilnimmt und ganz nebenbei jede Menge lernt (ich hatte beispielsweise keine Ahnung, woher man im baumlosen Grönland das Holz bekam, und wie man es für den späteren Gebrauch konservierte). Vor allem aber ist “Eisiges Land„ auch ein berührendes Buch. Zarte Gefühle verschiedenster Art (junge Liebende, alte Liebende, Vater und Sohn, Mutter und Tochter, Freundschaften, Menschen und Tiere, Menschen und Orte, sogar Blumen) stehen in starkem Kontrast zu der ungeheuren Härte dieses Landes und jener Zeit, sowie zu der Tatsache, wie wenig ein Leben damals wert war, ob es sich nun um einen Menschen, ein Schaf oder einen Hund handelte. Dass der Autor niemals Partei ergreift, ist ein ganz besonderes Verdienst. Nicht zwischen Mensch und Natur, nicht zwischen verschiedenen Völkern, nicht zwischen den Geschlechtern. Nicht eine Unze Moralin, kein erhobener Zeigefinger, keine Predigt. Kein Klimawandel (ah, hurra!), und schon gar keine Geschichtsverzerrung, um noch irgendeine zeitgeistige Agenda unterzubringen. DANKE! Das ist ja mittlerweile so selten, dass man sehr vorsichtig wird mit zeitgenössischen Autoren und im Zweifel lieber verzichtet. Tore Kvaeven ist ein begnadeter Erzähler und definitiv auch ein Dichter. Er hat nicht nur ein hochspannendes Seemannsgarn abgeliefert, das spätestens ab der Hälfte gar in einen atemlosen Page-Turner umschlägt, sondern auch ein höchst poetisches, sensibles Buch. So dass man sich beim “page-turnen» dauernd am Riemen reissen muss, langsamer zu lesen, um die wunderbaren Bilder nicht zu verpassen. Er hat es gewagt, seine Seele blosszulegen, so zumindest habe ich es empfunden. Wer tut das in der zynischen Post-Postmoderne noch? Mutig, zart und roh. Wild und auf fast altmodische Art zivilisiert (was ich sehr schätze). Karg und überreich. Dieses Buch bekommt einen Ehrenplatz in meinem Regal! Übersetzung: die Übersetzugen von Gabriele Haefs sind mir schon früher aufgefallen, sie sind von konstant hoher Qualität. Da ich keine der skandinavischen Sprachen beherrsche, kann ich es nicht nachprüfen, aber ich habe immer den Eindruck, dass sie das Einzigartige in der Stimme eines Autors und die Atmosphäre eines Buches 1 zu 1 ins Deutsche hinüberbringt. Sehr gelungene Übersetzung von Andreas Brunstermann und Gabriele Haefs auch hier. Ausstattung: für dieses Buch hätte ich mir unbedingt Karten gewünscht. Und allenfalls einen kurzen historischen Abriss über die Grönlandsiedlung.
REZENSION – Allzu oft greifen Leser zu Neuerscheinungen bereits bekannter Schriftsteller in der trügerischen Hoffnung, damit nicht enttäuscht werden zu können. Doch nur selten kann ein solches Buch wirklich überraschen, kennt man doch schon frühere Werke des Autors. Deshalb empfehle ich oft und immer wieder gern, hin und wieder den Roman eines noch völlig unbekannten Autors zu wählen und sich von dessen Inhalt und Sprache einfach mal überraschen zu lassen. Eine solche literarische Überraschung ist zweifellos der aus mehreren Gründen faszinierende, im November im Piper-Verlag veröffentlichte Roman „Eisiges Land“ des norwegischen Schriftstellers Tore Kvæven (54), hauptberuflich Schafzüchter und ehemals Dorflehrer. Sein bereits 2018 in Norwegen erschienener Wikinger-Roman wurde meines Erachtens völlig zu Recht mit allen wichtigen norwegischen Literaturpreisen, vor allem dem renommierten Brageprisen, ausgezeichnet. Allein schon Ort und Zeit der Handlung faszinierten mich, zumal sich Kvæven damit von gängigen historischen Romanen auf dem deutschen Buchmarkt abgrenzt: Der Norweger versetzt seine Leser ins mittelalterliche Grönland der 1290er Jahre. Es ist jene Zeit, in der sich der Niedergang der Wikinger schon abzeichnet und im düster klingenden Originaltitel des Romans „Når landet mørknar“ – auf Deutsch etwa „Wenn das Land dunkler wird“ – besser zum Ausdruck kommt. Es ist eine Zeit des Umbruchs: Wir lesen vom jungen Christentum auf Grönland im Widerstreit mit dem heidnischen Götterglauben, von Kämpfen zwischen Grönländern und eindringenden Inuit, zwischen Kavdlunaken und Skrälingern. Nach der Landnahme Grönlands durch Erik den Roten im Jahr 985 hatten es die Grönländer trotz des schwierigen Lebensumfelds durch regen Seehandel mit Norwegen und sogar Vinland, dem späteren Amerika, zu wirtschaftlicher Blüte gebracht, was die Siedler des ausgehenden 13. Jahrhunderts allerdings nur noch aus überlieferten Erzählungen wissen. Denn längst ist dieser Schiffsverkehr abgebrochen. Es gab kein Baumaterial für eigenen Schiffbau, weshalb man ohne jeglichen Handelskontakt nur noch von dem leben konnte, was Grönland, seine karge Landschaft und das Meer hergaben. In Kvævens Roman lernen wir den jungen Wikinger Arnar Vilhjalmsson kennen, Sohn eines Bergbauern, der an seiner ersten Walrossjagd teilnehmen darf. In den nächsten Jahren widersetzt sich der junge Wikinger auf dem Weg zum erfolgreichen Hofbesitzer nicht nur den Geboten seines Stammesführers und bricht mit den tradierten Gesetzen der Wikinger, sondern geht zudem ein Liebesverhältnis mit der jungen Eir ein, die bereits einem anderen versprochen ist. Deshalb kommt es unweigerlich zum Kampf zwischen beiden auf dem Blutanger, wo schon immer Stammesfehden blutig ausgetragen wurden. Doch es ist nicht allein die Handlung das Wesentliche und Spannende am Roman, zumal dieser ohnehin erst im zweiten Teil wirklich an Dramatik gewinnt. Das eigentlich Faszinierende ist die anschauliche und in Einzelheiten gehende Schilderung der Lebensumstände und des gewöhnlichen Alltags der Siedler zu jener Zeit in Grönland. Der Autor lässt uns am Walfang und an Walrossjagden der Fjordbewohner ebenso wie am Landleben der Schaf- und Viehzüchter in den Bergen teilnehmen. Wir erfahren, wie die Häuser und Hütten gebaut wurden, wie die Wikinger darin gelebt und wie sie ihre Werkzeuge, Arbeitsgeräte und Waffen gebaut haben. Es ist faszinierend, wie der Autor es schafft, eine Vielzahl eigentlich trockener Sachinformationen so geschickt in die Handlung einzubauen, ohne der Handlung die Spannung zu nehmen, sondern dadurch eher lebendiger werden zu lassen. Vor allem aber ist es der feinsinnige, atmosphärische, gelegentlich fast poetische Sprachstil, der Kvævens empfehlenswerten Roman zu einer besonderen Lektüre macht, wobei selbstverständlich dessen wirklich gelungene Übertragung ins Deutsche der erfahrenen Übersetzerin Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann zu verdanken ist. Nach „Eisiges Land“ kann man deshalb nur hoffen, dass der Piper Verlag auch Kvævens bereits 2011 veröffentlichtes Debüt „Hard er mitt lands lov“ (Hart ist das Gesetz meines Landes) ihr zur Übersetzung gibt, der zu Beginn der Besiedlung Grönlands im Jahr 1010 spielt, also 300 Jahre früher zur Zeit des Wikingers und Amerika-Entdeckers Leif Eriksson.
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