Eklipse Eklipse - eBook-Ausgabe
Roman
Eklipse ist ein feiner Unterhaltungsroman, handwerklich erstklassig ausgearbeitete Science-Fiction. - phantastisch-lesen
Eklipse — Inhalt
Nach langer Reise kehrt das Raumschiff Eklipse zur Erde zurück. Dort findet die Crew eine völlig veränderte Welt vor, von der fast alle Menschen verschwunden sind. Außerdem stellt sich heraus, dass sich ein blinder Passagier an Bord befand: ein Spike, die gefährlichste bekannte Lebensform der Galaxis, die die Biosphäre eines ganzen Planeten innerhalb weniger Tage infizieren kann. So muss die Crew der Eklipse nicht nur das Geheimnis lüften, was mit den Menschen auf der Erde geschehen ist. Sie muss auch zu einer unmöglichen Mission aufbrechen und das Spike vernichten, bevor es Gelegenheit bekommt, seine Saat auszubringen ... Das mitreißende Science-Fiction-Epos von Andreas Brandhorst!
Leseprobe zu „Eklipse“
Prolog
Rebecca
Rebecca hörte, wie sich die Tür öffnete, aber sie sah nicht auf.
„Du liest wieder“, erklang eine sanfte Stimme. „Du liest und liest.“
Ein Windstoß warf Regentropfen gegen das nahe Fenster. Es prasselte kurz, dann folgte ein Rauschen. Rebecca ließ das Buch sinken und blickte nach draußen. Ein grauer Regenschleier lag über grauem Land. Die Berge im Norden waren nicht mehr zu sehen.
„Es regnet hier nicht oft“, sagte sie. Vielleicht hatten es ihr die Steine zugeflüstert.
„Nur zwei- oder dreimal im Jahr“, erwiderte Claire. »Wir brauchen den Regen [...]
Prolog
Rebecca
Rebecca hörte, wie sich die Tür öffnete, aber sie sah nicht auf.
„Du liest wieder“, erklang eine sanfte Stimme. „Du liest und liest.“
Ein Windstoß warf Regentropfen gegen das nahe Fenster. Es prasselte kurz, dann folgte ein Rauschen. Rebecca ließ das Buch sinken und blickte nach draußen. Ein grauer Regenschleier lag über grauem Land. Die Berge im Norden waren nicht mehr zu sehen.
„Es regnet hier nicht oft“, sagte sie. Vielleicht hatten es ihr die Steine zugeflüstert.
„Nur zwei- oder dreimal im Jahr“, erwiderte Claire. „Wir brauchen den Regen nicht, wir haben den Brunnen. Aber die anderen werden sehr dankbar für ihn sein.“
„Sie fangen ihn in Behältern auf, nicht wahr?“, fragte Rebecca.
Claire trat näher. Ein Leben harter Arbeit hatte sie vorzeitig altern lassen. Sie war noch nicht ganz sechzig, doch Falten zerfurchten ihr Gesicht, und ihr drahtiges Haar hatte Glanz und Farbe verloren.
„Du bist nicht von hier, und trotzdem weißt du davon.“
„Ja. Ich habe darüber gelesen.“ Rebecca legte das Buch auf den kleinen Tisch. Es stammte aus einem gut gefüllten Bücherschrank.
„Du liest viel.“
„Ja.“
Claire deutete zum Schrank an der Wand. Das auf dem Tisch liegende Buch hatte eine kleine Lücke darin hinterlassen. „Du liest viel. Und schnell. Ich kenne niemanden, der so schnell liest wie du.“
Rebecca nickte und blickte erneut nach draußen. Es wehte kein Wind mehr, der Regen fiel glatt und gerade. Ein Reiter kam aus den grauen Schlieren jenseits der Koppeln und Zäune, eine Gestalt wie aus dem Nichts.
„Und all die Sprachen!“ Claire stand direkt vor dem Schrank und strich mit dünnen Fingern über die Buchrücken. „Wie viele sind es?“
„Siebenundneunzig Bücher in sechs Sprachen“, antwortete Rebecca sofort.
„Wie viele Sprachen sprichst du?“, fragte Claire. „Wie viele kannst du lesen?“
„Alle“, sagte Rebecca geistesabwesend. Sie beobachtete, wie der Reiter im Regen abstieg und sein Pferd zur Koppel führte. „Kostas ist aus der Stadt zurück.“
Die Stadt lag am Fuß der Berge, die man an einem Tag erreichen konnte, wenn man schnell ging. Einige Hundert Menschen lebten dort bei den Tunneln der alten Verkehrsstation. Früher waren Städte viel größer gewesen, hatte Rebecca gelesen, mit Tausenden und sogar Millionen von Menschen – eine unglaubliche Zahl.
„Er hat den Regen mitgebracht.“ Claire lächelte. „Er kommt also mit guten Nachrichten. Wasser für uns alle!“
Er kam nicht mit guten Nachrichten, das spürte Rebecca. Vielleicht hatten ihr auch das die Steine geflüstert. Sie stand auf, nahm das Buch und stellte es in den Schrank. Ihre Zeit hier ging zu Ende. Sie ließ den Blick durchs Zimmer wandern, wie um Abschied zu nehmen.
Claire deutete auf die Decke. „Hast du hier geschlafen?“
„Ein bisschen. Ein oder zwei Stunden.“
„Das ist nicht viel.“ Claire wirkte ein wenig hilflos. Sie redete gern, sie war nicht um Worte verlegen, aber oft gebrauchte sie die falschen. Claire benutzte beim Sprechen eine Art Code, den Rebecca inzwischen entschlüsselt hatte. Was sie wirklich hatte sagen wollen, war: Bitte, bleib hier, geh nicht fort.
„Ich brauche nicht viel Schlaf, das weißt du.“
„Du könntest mir erklären, worum es in den Büchern geht“, sagte Claire schnell. „Du könntest mir beibringen, besser zu lesen.“
Die Bücher hatten verstaubt und seit vielen Jahren unberührt in diesem Schrank gestanden, als Claire und Kostas vor mehr als vier Jahrzehnten hergekommen waren und sich auf der herrenlosen kleinen Farm niedergelassen hatten. Ihre Tochter Annabel, deren Grab sich hinter dem Haus befand, hatte die Bücher gehütet und gepflegt, obwohl sie ihren Inhalt ebenso schwer entziffern konnte wie Mutter Claire.
Draußen stapfte Kostas durch den Regen, den Kopf hoch erhoben, und näherte sich dem Haus. Rebecca fühlte den Beutel in ihrer Hosentasche, die kleinen Steine darin schienen schwerer zu werden.
Schritte polterten auf der hölzernen Diele des Farmhauses. Kostas erschien in der Tür, ohne den Regenmantel, Haar und Gesicht nass. Auch er war früh alt geworden, aber er hielt sich gerade, trotz der Jahre voller Mühsal, die seinen Rücken krümmen wollten.
„Es regnet“, sagte er. „Es bedeutet, dass wir heute und morgen kein Wasser aus dem Brunnen pumpen müssen. Rebecca …“
„Wie war’s in der Stadt?“, fragte Claire schnell. Sie schlang die Arme um sich selbst, als wäre ihr plötzlich kalt geworden.
Kostas wechselte einen kurzen Blick mit seiner Frau. „Rebecca …“
„Ja?“
„Jemand hat nach dir gefragt. Jemand sucht dich.“
Rebecca seufzte. „Früher oder später musste es so kommen. Marcus hat die Suche nicht aufgegeben.“
„Aber, aber …“, begann Claire.
„Ich packe besser meine Sachen.“ Es würde nicht lange dauern. Rebeccas Habseligkeiten ließen sich schnell in einem Rucksack verstauen.
„Du kannst hierbleiben, Kind“, brummte Kostas. „Das weißt du.“
So nannte er sie oft, Kind. Obwohl sie mit ihren fünfzehn Jahren längst kein Kind mehr war. Schon mit zwölf war sie kein Kind mehr gewesen, dazu hatte sie zu viel gesehen und erlebt.
„Wir könnten dir mehr Bücher beschaffen“, sagte Claire hastig und meinte erneut: Bitte, bleib!
„Rebecca …“ Kostas kam einen Schritt näher. Seine Stiefel hinterließen kleine Pfützen auf dem Holzboden. „Seit Annabel … Ich meine …“
„Du bist etwa so alt wie sie, als sie … von uns ging.“ Claires Augen glänzten feucht. „Mit dir sind wir wieder eine richtige Familie.“
„Ein Mädchen in deinem Alter hat es schwer in der Welt dort draußen“, sagte Kostas ernst.
„Ich weiß.“ Rebecca griff nach ihrem Rucksack. „Es lässt sich leider nicht ändern.“
„Dieser Marcus …“, brummte Kostas. „Wir könnten mit ihm reden. Oder mit den Leuten, die in seinem Auftrag nach dir suchen. Du bist ein gutes Kind. Du kannst nichts Schlimmes angestellt haben.“
„Marcus und seine Leute würden sich anhören, was ihr zu sagen habt“, sagte Rebecca, „und euch dann töten. Sie töten alle, die mir helfen. Es ist besser, sie erfahren nichts von euch.“
Sie sah zum Bücherschrank. Zwei Bücher hatten ihr besonders gut gefallen: Geschichte der Welt von R. Quintex – ein Buch, das sie bereits gekannt hatte und in dem sie immer wieder gern las – und Alice im Wunderland von Lewis Carroll, der lange vor dem Bruch gelebt hatte. Sie überlegte, ob sie Claire und Kostas um die beiden Bücher bitten sollte, ließ es dann aber bleiben. Ihr Rucksack war auch so schon schwer genug.
„Willst du immerzu fliehen, Kind?“, fragte Kostas. „Du kannst doch nicht dein ganzes Leben auf der Flucht verbringen!“
„Man darf sich nichts vormachen.“ Rebecca schwang sich den Rucksack auf den Rücken. „Irgendwann wird Marcus mich finden. Aber das dauert noch ein paar Jahre, wenn ich vorsichtig genug bin, und vielleicht habe ich bis dahin gelernt, wie man mit ihm fertigwird.“ Sie ging zur Tür.
„Warte, warte!“ Claire schlüpfte an ihr vorbei. „Ich packe dir schnell etwas zu essen ein. Ein wenig Proviant für den Weg.“
Fünf Minuten später standen sie draußen. Es regnete nicht mehr, der durstige Boden saugte die Feuchtigkeit auf, und die wenigen Pfützen schrumpften schnell. Rebecca umarmte erst Kostas und dann Claire, die Tränen in den Augen hatte.
„Kehr bald zurück, Annabel“, sagte sie. „Kehr bald zurück.“
Rebecca bemerkte die stumme Bitte in Kostas’ Miene. Sie schüttelte den Kopf.
„Nein“, erwiderte sie. „Man darf sich nichts vormachen. Ich bin Rebecca und muss meinen Weg gehen.“
Abends klarte es auf, und die Nacht präsentierte einen wolkenlosen Himmel. Rebecca hatte ihr Lager zwischen einigen Felsen aufgeschlagen, ein gutes Stück von der Stadt entfernt, in deren Ruinen sich einzelne Lichter zeigten. Auf ein Lagerfeuer hatte sie verzichtet – der Schein der Flammen hätte in dunkler Nacht weit gereicht. Mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt und die Stadt durch die Lücke zwischen zwei anderen im Blick aß sie von dem Brot, das Claire ihr mitgegeben hatte, und trank Wasser aus ihrer Feldflasche. Die Tunnelöffnungen der alten Verkehrsstation hätte sie früh am nächsten Morgen mit Leichtigkeit erreichen können, aber Rebeccas Ziel war nicht einer der wenigen noch fahrenden Züge, die fast alle der Kontrolle durch Marcus unterlagen, sondern ein verborgener kleiner Bogen, der sich in einem Felsental zwei Tagesmärsche entfernt befand und von dem die Verfolger bestimmt nichts wussten. Das war die Gelegenheit, Marcus erneut zu entkommen, für einige Wochen oder sogar Monate, bis seine Späher, die sich überall herumtrieben, sie erneut fanden.
Sie öffnete den Rucksack und holte ein kleines Kästchen hervor, das aus einem anderen Leben stammte. Während der vier Wochen bei Claire und Kostas hatte sie es nur ein einziges Mal in der Hand gehalten, was bedeutete, dass es nur noch wenig Energie hatte – die Solarzellen auf der einen Seite mussten genug Sonnenlicht aufnehmen, um die Batterie aufzuladen. Sie vergewisserte sich, dass die Lautstärke niedrig eingestellt war, bevor sie die Einschalttaste drückte.
Leise Musik ertönte. Es war eine traurige kleine Melodie, geeignet für eine traurige kleine Geschichte.
Das kleine Musikkästchen stammte von Rebeccas Mutter.
Sie lauschte der Musik mit geschlossenen Augen, und als sich die letzten Töne in der Stille der Nacht verloren, steckte sie das Kästchen in den Rucksack zurück.
Ein Kribbeln im Nacken veranlasste Rebecca, den Beutel aus der Hosentasche zu ziehen und ihm die Steine zu entnehmen. Warm lagen sie in ihrer Hand, einige klein und rund, andere spitz und kantig. Sie sprachen zu ihr, mit Stimmen noch leiser als die der Geister in Stein und Stahl.
„Was?“, fragte sie, nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte. „Was?“
Sie lauschte einige Sekunden, hob dann den Kopf und blickte zu den Sternen empor. Viele von ihnen funkelten, und als Kind hatte Rebecca dabei oft an blinzelnde Augen gedacht. Sie hielt nach Bewegung Ausschau, nach einem Schatten vielleicht, der das Licht der Sterne verdunkelte, oder nach einem neuen Stern, der heller als die anderen seine Bahn am dunklen Himmel zog. Doch nichts regte sich am Firmament, alles erschien statisch und unveränderlich, obwohl Rebecca aus den Büchern wusste, dass dieser Eindruck täuschte.
„Reisende sollen unterwegs sein?“, fragte sie leise. „Von außerhalb der Erde? Wo sind sie? Wann treffen sie ein?“
Als sie keine Antwort erhielt, gab sie die Steine in den Beutel, steckte ihn in die Hosentasche, legte sich hin, schloss die Augen und war kurze Zeit später eingeschlafen.
Drei Probleme
1 Samantha
„Hörst du mich, Samantha?“, fragte jemand. „Eigentlich solltest du mich jetzt hören können.“
Samantha spuckte klebrigen Schleim, der Leben bedeutete. Sie hatte geschlafen, erinnerte sie sich, so tief, dass der Schlaf dem Tode nahekam. Sie war fast tot gewesen, während das Schiff, die Eklipse, durch Raum und Zeit gepflügt war und Lichtjahr um Lichtjahr zurückgelegt hatte.
„Ja, ich höre dich. Kiss, nicht wahr?“ Sie spuckte erneut, hustete und versuchte, die Benommenheit von sich abzuschütteln. Ein Bot wusch und reinigte sie.
„Wen hast du erwartet?“, fragte das Kybernetische Interface-Semisubstrat, der allgegenwärtige Intellekt des Schiffes.
„Oh, ich weiß nicht.“ Samantha war noch immer nicht ganz wach; ihre Gedanken erreichten die Zunge ohne einen Filter. „Vielleicht … Swift?“ Es wäre schön gewesen, von seinen Händen geweckt und gewaschen zu werden, nicht von denen eines diensteifrigen Bots.
„Wir haben ein Problem, Samantha“, sagte Kiss. „Eigentlich sind es sogar drei.“
„Bedeutet das, wir haben unser Ziel noch nicht erreicht? Wir sind noch nicht zurück?“ Es war ein schneller Gedanke, unberührt von der Trägheit des Schlafs, und er verwandelte sich in schnelle Worte.
„Nein, Samantha.“ Der Intellekt sprach ruhig, wie eine fürsorgliche Mutter, die versuchte, einem Kind etwas begreiflich zu machen. „Wir sind zurück. Wir haben die Erde fast erreicht.“
Fast, dachte Samantha.
Sie hustete erneut und setzte sich in der Hibernationskapsel auf. Warme Luft strömte ihr über die kalte Haut.
„Ich werde allmählich zu alt hierfür“, sagte sie leise.
„Du bist in den besten Jahren, Samantha. Mach dir keine Sorgen.“
„Früher waren das Erwachen und der Transitschleim nicht so unangenehm. Dies ist das … fünfte Mal während dieser Reise, nicht wahr?“
„Das sechste Mal, Samantha. Du kommst das sechste Mal aus Schlaf und Schleim. Wir haben vierhundertneunzehn Lichtjahre zurückgelegt, in vierundzwanzig Jahren. Du hast sechsmal geschlafen.“
Die Benommenheit löste sich jetzt schnell auf, doch die erhoffte Frische in Leib und Seele stellte sich nicht ein. Müde verließ Samantha die Kapsel und blickte dabei auf den Schleim hinab, das transparente Gel, in dem sie während der langen Reise gelegen und das ihre Lunge gefüllt hatte.
„Bist du bereit, Samantha?“, fragte Kiss.
„Ist es sehr dringend? Oder kann es noch einen Moment warten?“
Der Intellekt schwieg.
Auf dem nahen Tisch der Hibernationskabine lag Kleidung bereit. Keine Uniform – nur Swift, Archivar und nominelles Oberhaupt der Mission, hatte jemals eine getragen –, sondern eine weite Hose mit vielen Taschen und ein Hemd, das ebenfalls zu groß erschien. Samantha ließ einige Sekunden verstreichen. Alles wartete: der Bot hinter ihr mit seinen langen Armen und Reinigungsmodulen, der schweigende Intellekt und vielleicht auch sie selbst. Es war ein seltener Moment vollkommener Freiheit, unbelastet von Sorgen, die nie einen Weg zu Worten oder Gesten finden durften, beschwert nur von Müdigkeit.
Schließlich atmete sie tief durch und wurde wieder zur Koordinatorin der Eklipse, zu der Person, die immer, immer und überall, die Ruhe bewahrte, ein Fels in der Brandung, damit sie alle wichtigen Entscheidungen treffen konnte.
„Also gut“, sagte sie und griff nach der Kleidung. „Ich bin ganz Ohr, Kiss.“
„Ich nenne die drei Probleme in der Reihenfolge meiner Bewertung“, sagte der Intellekt. „Das mit der geringsten Bedeutung zuerst, einverstanden?“
„Ja.“
„Nummer eins: Es gibt eine Anomalie in Frachtsektion Neunzehn. Meine dortigen Sensoren sind gestört, aber die Bots melden eine Beeinträchtigung der strukturellen Integrität.“
„Ein Leck?“
„Es kam zu einem Druckabfall. Mehr weiß ich derzeit nicht. Und offenbar wurden einige der Frachtbehälter beschädigt.“
„Das wird Lorenti gar nicht gefallen“, sagte Samantha und strich über die Haftverschlüsse der Hose. „Er mag es überhaupt nicht, wenn etwas seine Ordnung stört.“
„Er kümmert sich bereits darum.“
Samantha hob den Kopf. „Er ist schon wach und im Einsatz?“
„Alle Mitglieder deiner Crew sind wach und im Einsatz: Lorenti, Rufus M, Grayland, der gerade mit mir spricht, und die Innanawitt, die ihr ›Kralle‹ nennt. Bei dir hat das Erwachen länger gedauert als bei den anderen.“
Samantha streifte das Hemd über. Sie war noch immer müde, aber das spielte keine Rolle mehr. Die Crew – die Eklipse – brauchte sie. „Was ist mit den beiden anderen Problemen?“
„Nummer zwei: Swift geht es schlecht. Er liegt schwer verletzt in der Hibernation.“
Samanthas Hände blieben in Bewegung, aber sie fühlte sich von plötzlicher Kälte gestreift. „Was ist passiert?“
„Das ist Teil des Problems, Samantha“, antwortete der Intellekt. „Ich weiß es nicht. Die betreffenden Daten sind aus meinem Gedächtnis verschwunden. Für die Löschung scheint Swift verantwortlich zu sein; zumindest trägt der Vorgang seine Signatur. Ich habe die Medo-Bots angewiesen, eine genaue Untersuchung vorzunehmen, und ihre Diagnose lautet: Außerhalb der Hibernation kann Swift ohne Behandlung höchstens eine Stunde überleben.“
„Was ist mit seinen Aufzeichnungen?“, fragte Samantha, die Koordinatorin. „Haben wir Zugriff?“
„Grayland versucht das gerade herauszufinden“, sagte der Intellekt. „Ich helfe ihm dabei.“
„Swift ist der Archivar. Ein Verlust seiner Daten würde den Erfolg unserer Mission gefährden.“ Samantha zögerte kurz. „Wenn das nicht einmal das größte Problem ist … Was ist Nummer drei?“
„Ich habe versucht, mit der Erde Kontakt aufzunehmen, aber sie antwortet nicht.“
2
Sie saßen im Besprechungszimmer neben den Kommandostationen des Nukleus, Herz und Hirn der Eklipse. Über dem Situationstisch zwischen ihnen zeigte der Intellekt eine holografische Darstellung des Sonnensystems: Sol, umgeben von den Planeten, unter ihnen die Erde. Das Schiff näherte sich von oberhalb der Ekliptik, in einem Winkel von etwa dreißig Grad, und die Entfernung betrug noch sieben Lichtstunden. Es war nicht mehr ins Transitfeld gehüllt, aber das Direkt blieb aktiv, denn das Herunterfahren des Antriebs dauerte Tage, das Hochfahren manchmal noch länger, und Kralle hatte angesichts der besonderen Umstände entschieden, alles in Bereitschaft zu lassen.
„Geht es euch gut?“, fragte Samantha ruhig.
Alle nickten, Lorenti mit einem leisen, fast mürrischen Brummen. Der große, dürre Grayland, Intellektor des Schiffes, saß Samantha gegenüber, sein bleiches Gesicht halb hinter dem holografischen Jupiter und seinen Monden verborgen. Neben ihm beugte sich Rufus M über die wissenschaftlichen Kontrollen, die ihm sein Teil des Situationstisches präsentierte, und rief mit langen, dünnen Fingern Daten ab. Die katzenartige Innanawitt, von allen „Kralle“ genannt, saß weit rechts, mit möglichst großem Abstand zu Lorenti. In ihren großen Augen spiegelten sich Uranus und Neptun.
„Beginnen wir mit unseren Ressourcen“, sagte Rufus M. „Samantha?“
„Ja, in Ordnung.“ Ressourcen, dachte sie. Das sind wir für ihn. Wir und alles andere.
Die Hände des multiplen Wissenschaftlers blieben in Bewegung und strichen über die Kontrollen seines Teils des Tisches. „Ich bestätigte die Diagnose des Intellekts. Swift ist schwer verletzt. Seine Beine sind gebrochen, der linke Fuß ist zerquetscht, es gibt ein ausgeprägtes Thorax- und außerdem ein Schädel-Hirn-Trauma. Es tut mir leid, Samantha.“ Er sprach in einem sachlichen, kühlen Ton, auch bei den letzten Worten.
„Wie ist es dazu gekommen?“, fragte Samantha. „Was ist die Ursache?“
„Unbekannt.“
„Wir könnten ihn fragen“, schlug Kralle vor. „Wir könnten ihn wecken und fragen und anschließend wieder in die Hibernation schicken.“
„Das könnten wir“, erwiderte Rufus M. „Aber es würde mit ziemlicher Sicherheit seinen Tod bedeuten. Wir müssten den Schleim aus seiner beschädigten Lunge holen und sie anschließend neu füllen. Das wäre eine erhebliche Belastung. Und angesichts des Schädel-Hirn-Traumas bezweifle ich, dass wir vernünftige Antworten auf unsere Fragen bekämen.“
„Kann man ihm auf der Erde helfen?“, fragte Samantha.
„Ja. Das Institut dürfte dazu imstande sein, und auch nicht assoziierte medizinische Zentren verfügen über die notwendige Technik.“ Rufus M, ein Multipler von Urake, dritte der Siebzehn Kolonien, hob den Blick von seinen Kontrollen und Anzeigen. „Aber …“
„Gleich, Rufus“, unterbrach ihn Samantha. „Dazu kommen wir gleich. Was ist mit den Mitgliedern der anderen Crew?“
Außer Swift, dem Oberhaupt der Mission, befanden sich fünf weitere Personen in der Hibernation, mit Emmerson als Koordinator. Während der fünfzig Jahre des Hin- und Rückflugs hatten sie abwechselnd geschlafen und gewacht.
„Bei Emmerson habe ich einige Hautabschürfungen festgestellt, im Gesicht und an den Beinen“, sagte Rufus M. „Die anderen sind intakt.“
Intakt, dachte Samantha.
„Was ist mit Swifts Daten?“, fragte Kralle, wieder mit einem leisen Zischen in der Stimme. „Sind sie ebenfalls intakt? Haben wir Zugriff?“
Samantha blickte durch das Hologramm über dem Tisch. „Grayland?“
„Nein“, sagte der blasse Mann, der seine Zeit am liebsten im Interfacezimmer verbrachte. „Nein, die Daten sind nicht intakt, und nein, wir haben keinen Zugriff.“
„Was genau bedeutet das?“, fragte Samantha.
„Ja, ein paar Details wären hilfreich“, brummte Lorenti.
„Swifts Missionslog ist beschädigt, und sein persönliches Logbuch wurde bis auf einen Eintrag gelöscht. Er lautet: ›Bringt mich zur Erde und hütet euch vor …‹“
Sie warteten.
„Das ist alles“, sagte Grayland. „Die Integrität des Missionslogs lässt sich nicht wiederherstellen, und uns fehlt der Schlüssel für die Decodierung.“ Er seufzte und sah Samantha an. „Kann ich gehen? Ich will die Datensondierungen fortsetzen.“
„Du möchtest zurück zu deiner Kiss“, sagte Lorenti.
Samantha warf ihm einen tadelnden Blick zu und wandte sich dann wieder an den Intellektor. „Bleib noch kurz. Ich möchte, dass jeder hier weiß, was Stand der Dinge ist. Für den Fall, dass Entscheidungen getroffen werden müssen.“
„Ja, Sam.“ Grayland seufzte erneut.
„Hab ich das richtig verstanden?“ Lorenti strich sich über den Bart, der ebenso dunkel war wie sein struppiges Haar und die tief in den Höhlen liegenden Augen. „Swifts Aufzeichnungen sind beschädigt und nicht zugänglich? Was ist, wenn er stirbt, ohne uns den Zugangscode nennen zu können?“
Für einige Sekunden herrschte Schweigen. Zu hören waren nur das Summen der Bordsysteme, das immer noch aktive Direkt, das sich anhörte wie das Grollen eines fernen Gewitters, und ein leises Knistern, verursacht von Rufus’ Fingern in den virtuellen wissenschaftlichen Kontrollen.
„Ich habe nie verstanden, warum das Institut so etwas zulässt“, brummte Lorenti. „Die persönliche Verschlüsselung des Missionslogs, meine ich. Verrückt! Und wenn der Archivar einem Unfall zum Opfer fällt? Wir alle wissen, wie schnell etwas passieren kann. Wieso den Verlust aller Daten riskieren? Wir haben fünfzig Jahre in diese Mission investiert, und jetzt …“
„Es liegt im Ermessensspielraum des Missionsleiters“, sagte Samantha ruhig. „Er entscheidet, was mit den gesammelten Daten geschieht, bis wir sie zur Erde bringen. Swift hat es offenbar für notwendig gehalten, die Daten zu verschlüsseln.“
„Ja, und jetzt haben wir die Bescherung!“, maulte Lorenti. „Es könnte uns um die Früchte unserer Arbeit bringen …“
„Die Fracht ist intakt.“ Samantha benutzte das Wort ebenfalls, wie ihr selbst auffiel. „Abgesehen von der Anomalie in Sektion Neunzehn. Was hat es damit auf sich?“
„Ich habe es mir angesehen“, antwortete Lorenti. „Besser gesagt, ich habe einen flüchtigen Blick darauf geworfen, mehr Zeit hatte ich bisher noch nicht. Ein Behälter ist geplatzt.“
„Eine Explosion?“
„Nein. Er ist nicht explodiert. Etwas hat die Wand des Behälters von innen durchstoßen und anschließend auch den Rumpf von Sektion Neunzehn. Meine Bots sind dabei, die Inventarlisten zu überprüfen und alles aufzuräumen. Die Hüllenintegrität ist bereits wiederhergestellt.“
Samantha glaubte, nicht recht gehört zu haben. „Etwas hat einen Frachtbehälter aufgebrochen, von innen, und hat dann das Schiff verlassen?“
„Ja“, bestätigte Lorenti. „Wenn wir hier fertig sind, sehe ich mir alles ganz genau an. Ich bin sicher, dass sich der eine oder andere Hinweis finden lässt.“
Samantha betrachtete das Hologramm, den blinkenden blauen Punkt, der die Eklipse über dem Sol-System repräsentierte. Sieben Lichtstunden Entfernung. Es würde noch etwa einen Tag dauern, bis sie die Erde erreichten. „Grayland, ich möchte, dass du die Datenlogs überprüfst. Kiss hat mir gesagt, dass seine Sensoren in Frachtsektion Neunzehn zum Zeitpunkt des Geschehens dort ausgefallen waren, aber vielleicht gibt es andere Aufzeichnungen, die uns Aufschluss darüber geben können, was aus dem Frachtbehälter gekommen ist und dann die Eklipse verlassen hat.“
„Ja, Sam.“
Rufus zog die Hände von den wissenschaftlichen Kontrollen zurück, und das leise Knistern hörte auf. „Du hast eben von einem Unfall gesprochen, Lorenti. Nur um sicherzugehen, dass ihr dies richtig versteht: Was mit Swift geschehen ist, war kein Unfall. Jemand – etwas – hat ihn verletzt. Vermutlich bei einem Kampf.“
„Glaubst du an einen Zusammenhang mit dem, was in Frachtsektion Neunzehn passiert ist?“
„Was ich glaube, spielt keine Rolle, Sam. Wir haben es mit zwei Anomalien an Bord zu tun, zu denen es mehr oder weniger zeitgleich gekommen ist. Der Schluss liegt nahe, dass da eine Verbindung besteht.“
„Es gibt noch eine dritte Anomalie, und der Intellekt hält sie für die größte von allen“, wandte Samantha ein.
„Die Erde“, sagte Rufus.
„Ja. Kiss hat versucht, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, aber sie antwortet nicht.“
„Was soll das heißen, sie antwortet nicht?“ Lorenti deutete ins Hologramm. „Wir sind aus dem Transit und nur noch sieben Lichtstunden entfernt.“
„Die Erde antwortet nicht“, wiederholte Samantha und sah in die Runde. „Ich habe in der vergangenen Stunde selbst mehrmals versucht, Kontakt herzustellen, unter anderem mit dem ITI-Prioritätscode. Niemand reagiert auf unsere Signale, auch das Institut nicht.“
Ein verhaltenes, unaufdringliches Ping erklang.
„Es gibt Neuigkeiten“, sagte der Intellekt. „Ich habe meine Fernsensoren auf die Erde gerichtet. Sie hat sich verändert.“
Eklipse ist ein feiner Unterhaltungsroman, handwerklich erstklassig ausgearbeitete Science-Fiction.
„temporeich und packend“
„Eklipse erzählt eine komplexe Geschichte aus verschiedensten Perspektiven und endet mit einem grandiosen, völlig unerwarteten Finale.“
„temporeich und packend“
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