Endstation Allgäu (Allgäu-Niederrhein-Krimis 2) - eBook-Ausgabe
Kriminalroman
„Küsters versteht es, den Leser auf falsche Fährten zu locken, und baut überraschende Wendungen ein.“ - Allgäuer Zeitung
Endstation Allgäu (Allgäu-Niederrhein-Krimis 2) — Inhalt
Als der Kemptener Kommissar Carsten Jakisch von seinem grantigen Vorgesetzten dazu verdonnert wird, ungelöste Fälle aufzuarbeiten, stößt er auf eine alte Vermisstensache. Vor Jahren ist im Werdensteiner Moos eine Frau verschwunden, Spuren führen an den Niederrhein. Jakisch bittet die Mönchengladbacher Kollegen um Hilfe, schließlich gilt es auch noch die allesentscheidende Frage nach dem einzig wahren Schweinebraten zu klären: Kartoffelklöße oder Semmelknödel?
Leseprobe zu „Endstation Allgäu (Allgäu-Niederrhein-Krimis 2)“
Sie öffnete die Tür und betrat eine Welt, in der ihr einziger Bewohner geduldig auf ihren Tod wartete. Was sie nicht ahnte: Er hasste bereits jetzt den Augenblick, in dem sie von ihm gehen würde.
I.
Der Ärmel bewegte sich. Zunächst war es nur ein Züngeln. Zug um Zug schob sich die Kreuzotter unter der Wolle hervor. Sie verharrte einen Augenblick, als spürte sie einen Rest Wärme. Dann glitt sie in gleichförmigen Wellenbewegungen davon und verschwand zwischen flachen Torfmoosen und dichtem Wollgras. Zurück blieb eine feine Spur im taufeuchten Untergrund. [...]
Sie öffnete die Tür und betrat eine Welt, in der ihr einziger Bewohner geduldig auf ihren Tod wartete. Was sie nicht ahnte: Er hasste bereits jetzt den Augenblick, in dem sie von ihm gehen würde.
I.
Der Ärmel bewegte sich. Zunächst war es nur ein Züngeln. Zug um Zug schob sich die Kreuzotter unter der Wolle hervor. Sie verharrte einen Augenblick, als spürte sie einen Rest Wärme. Dann glitt sie in gleichförmigen Wellenbewegungen davon und verschwand zwischen flachen Torfmoosen und dichtem Wollgras. Zurück blieb eine feine Spur im taufeuchten Untergrund. Hoch über ihr segelte ein Bussard. Lautlos stürzte sich der Greif dem Erdboden entgegen, fing sich alsbald, kreiste, gewann wieder an Höhe, und sein Tanz über dem Werdensteiner Moos begann aufs Neue. Einem der größten Hochmoore im Oberallgäu, das wie ein riesiger Schwamm in der Landschaft liegt. Im Zentrum können sich die sensiblen Bereiche ungestört entwickeln. Vor gut dreißig Jahren waren die Gräben für die Entwässerung wieder zugeschüttet worden. Seither steigt das Wasser und sterben die Gehölze. Ihr Tod schafft Raum für anderes. Dort, wo kein Wasser hinkommt, gedeihen Faulbaum und Birke. Nur auf vorgezeichneten Wegen dürfen sich Besucher durch das Reservat bewegen.
Ein schlüpfriger Pfad führte zu der Stelle. Pullover, Bluse, Hose, Unterwäsche und Schuhe. Den Bussard störte das sorgfältig zusammengelegte Bündel nicht. Er zog weiter aufmerksam seine Kreise.
Ein blauer Himmel. Über den plötzlich Wolkenfetzen jagten. Es wurde kalt. Eine Schar Krähen stob kreischend in die Höhe.
II.
„Was willst du, meine Liebe?“ Justus Liebig musterte sie von oben bis unten und schickte ein spöttisches „Karriere machen?“ hinterher.
Katharina war mal wieder spät dran. Wie immer hatte sie keinen Parkplatz gefunden. Laut fluchend war sie durch den Platzregen zur Redaktion gelaufen. Nun saß sie im Büro des Chefredakteurs. Ihre nackten Füße steckten in nassen Ballerinas, und ihre Haare waren eine einzige Katastrophe. Sie verkniff sich eine Antwort. Sie wollte möglichst schnell raus aus ihren Schuhen und raus aus der Redaktion.
„Wenn du vorankommen willst, sei wenigstens pünktlich. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.“ Liebig hob die Hand, als erwarte er Widerspruch. „Und bring mir eine Story, die deine Oma berührt. Keine C-Promis, nix über aufgespritzte Lippen. Obwohl“, er grinste anzüglich, „na ja – nee, schon gut, brauchst gar nicht so pikiert zu tun. Ich will das echte Leben. Die Leser haben genug von Irak, Syrien oder Ukraine. Bring mir den“, er warf sich mit übertriebener Geste in eine Denkerpose, „ja, bring mir den echten Menschen. Die besten Geschichten liegen vor deiner Haustür. Du musst nur zugreifen.“ Liebig sah ihr direkt in die Augen. „Als ob du das nicht wüsstest, meine Liebe.“ Der Redaktionsleiter wippte auf seinem Drehstuhl vor und zurück und spielte dabei mit seinem Kugelschreiber. Seine Augen wanderten ungeniert über ihr feuchtes Sommerkleid. Dann warf er eine Büroklammer Richtung Terminplaner, der an der Wand gegenüber hing. „Und beeil dich. Ich habe noch jede Menge Platz.“
Blablabla. Liebig war ein dickes, trotziges Kind. Katharina bekam Kopfschmerzen. Sie hätte seine Unverschämtheiten parieren können, doch sie beschloss, weiterhin zu schweigen. Stattdessen schoss ihr der Gedanke an den Trockner ihrer gehbehinderten Nachbarin durch den Kopf. Sie hatte vergessen, ihn auszuschalten! Na prima! Vor zwei Jahren wäre fast das Haus abgefackelt, weil das Ding im Keller einen Kurzschluss gehabt hatte. Sie hatte damals der alten Dame versprochen, ihr regelmäßig mit dem Trockner zu helfen. Liebigs überfallartiger Anruf hatte sie völlig aus dem Konzept gebracht.
„Was ist?“ Liebig deutete ihren erschrockenen Blick als Reaktion auf seine Forderung.
„Ich muss dann mal wieder.“ Katharina griff nach ihrer Tasche und stand auf. In ihren Schuhen schmatzte es hörbar.
Liebig hob mit gespieltem Erstaunen eine Augenbraue. „Willst du nicht wissen, warum ich dich herbestellt habe?“
Was denn noch?
Der Chefredakteur grinste. „Setz dich ruhig wieder.“
Sie zögerte. In ihrer Phantasie loderten bereits die Flammen. Sie musste die Redaktion augenblicklich verlassen! Liebig! Der Fettsack wollte mal wieder sein Lieblingsspiel spielen: Ich bin dein Chef! Katharina zog ungeduldig Luft durch die Nase.
„Du bist jung und gut – aber du musst noch eine Menge lernen. Bilde dir auf das Lob bloß nichts ein. Also: Ich finde deine Story über diesen Dings, diesen Arzt im Praktikum, gar nicht mal so schlecht. Hätte ich nicht gedacht, dass du daraus was stricken kannst. Wir setzen sie auf Seite eins der Sonntagsbeilage. Aber“, er hob den Zeigefinger, „nicht abheben, Frau Starjournalistin.“
Ole! Wenn Liebig wüsste! Sie war mit dem angehenden Dr. med. Ole Olsen zum Abendessen verabredet. Wenn nicht noch ein Notfall dazwischenkam.
„War’s das?“ Katharina klang ungehaltener als gewollt. Aber es geschahen noch Zeichen und Wunder: Liebig war tatsächlich zufrieden! Andererseits, sie hatte schließlich alles gegeben. Bei dem Gedanken an Oles Hintern lächelte sie.
„Dein überhebliches Grinsen kannst du dir sparen.“ Liebig drehte sich mit seinem Stuhl schwungvoll zu seinem Bildschirm hin. Für Katharina das untrügliche Zeichen dafür, dass die Besprechung beendet war.
„Mein Mentor hat immer gesagt, die besten Storys schreibst du nur, wenn du sie auch selbst erlebt hast. Nur so gibt’s den Pulitzerpreis. Merk dir das.“ Liebig starrte angestrengt auf seinen Bildschirm.
Eben, dachte Katharina.
Sie verließ Liebigs Büro auf Zehenspitzen. Sie wollte nicht, dass er das Schmatzen ihrer Ballerinas hörte. Sie würde einen Schnupfen bekommen. Welch ein Spätsommer.
Justus Liebig sah ihr hinterher. Warum nur lief sie wie auf Eiern? Ein Meter achtzig schwankendes Weib. Er grinste. Nicht die schlechteste Aussicht.
Der Chefredakteur der Rheinischen Allgemeinen Nachrichten warf einen Blick in seinen Kaffeebecher. Auf der Oberfläche hatte sich ein schillernder Film gebildet. Er trank dennoch einen Schluck. Er verzog das Gesicht. Kalt, der Kaffee. Und der Text über die Sitzung des Heimatvereins viel zu lang. Auch der Volontär musste noch viel lernen. Er speicherte den Text ab und schob sorgfältig die Papiere zusammen, die sich auf seinem Tisch angesammelt hatten. Eigentlich hasste er Unordnung, aber hier in der Redaktion entstand ständig neues Chaos.
Liebig hielt einen Augenblick inne und betrachtete versonnen den Terminplaner, der fast die gesamte Stirnwand seines Büros einnahm. Katharina! Das Mädchen würde er auch noch knacken. Die Kleine würde bald das beste Pferd in seinem Stall sein.
Er drehte sich um. „Kann jemand mal die Tür zumachen? Der Lärm ist ja nicht zu ertragen!“, brüllte Liebig ansatzlos Richtung Großraum. Die Kollegen verstummten und duckten sich hinter ihre Bildschirme. Schließlich stand die Praktikantin auf und schloss mit unsicherem Lächeln die Tür zu seinem Büro.
Liebig grinste. Es klappte doch immer wieder.
„Du, es geht heute Abend nicht. Wirklich nicht. Ich habe noch Termine.“ Katharina sah zum Küchenfenster hinaus, ohne seinem Redeschwall wirklich zuzuhören. „Ich weiß, was ich dir versprochen habe. Ja, wir sehen uns in letzter Zeit nicht mehr so oft. Das stimmt. Aber –“ Sie kam nicht weiter.
Ja, sie hatte Paul vernachlässigt. Aber ihre gemeinsame Zeit war ohnehin abgelaufen. Sie hatte das Gefühl zwar schon länger gehabt, jedoch ganz intensiv seit dem Wochenende, an dem sie zu seinen Eltern gefahren waren. Nette Menschen, aber auch nervig. Was allerdings weitaus schlimmer gewesen war: Paul war, kaum dass er die Türschwelle passiert hatte, zum Muttersöhnchen mutiert. Paul hatte alles getan, um die vollkommene Aufmerksamkeit seiner Mutter zu bekommen. Mama hier, Mama da. Ein Chamäleon war dagegen ein armseliger Amateur. Unglaublich, was aus einem Mann werden kann, wenn er auf seine Mutter trifft!
Sie hatte es Paul schon auf der Rückfahrt sagen wollen. Aber er hatte ihr die ganze Zeit über von seiner glücklichen Kindheit in Celle vorgeschwärmt. Am Ende hatte sie nur noch nach Hause gewollt.
„Paul. Paul, hör mir bitte mal einen Augenblick zu!“ Eine Katastrophe! Er wollte nicht zuhören, aber er wollte noch viel weniger verstehen. Sie musste es ihm sagen! Nicht am Telefon. Sie würde es Paul ins Gesicht sagen müssen.
Katharina hielt den Hörer ein Stück vom Ohr weg und schloss eine Abmachung mit sich selbst: Ich treffe mich mit ihm. Und ja, jetzt am Telefon bin ich nett zu ihm. Ich reserviere noch heute bei seinem Lieblingsgriechen, und dort werde ich endlich reinen Tisch machen.
Das war sie ihm schuldig. Und auch sich selbst. Da war schließlich Ole. Mit Ole konnte noch einiges passieren. Und dazu brauchte sie klare Verhältnisse.
Katharina lehnte sich an den Küchentisch. Sie brauchte jetzt Halt. „Paul? Hör zu, ich habe eine gute Idee. Was hältst du von einem Abendessen im Zorbas?“
Gut. Er hatte zugesagt. Erleichtert legte sie auf und öffnete einen Fensterflügel. Dicke Tropfen trommelten auf das Blätterdach der Bäume und auf das Blech der parkenden Autos. Katharina atmete die klare Luft tief ein. Sie ließ das Fenster geöffnet.
Eine Stunde und eine Kanne Tee später hatte sie Simone am Telefon.
„Ich hab nicht viel Zeit. Ich muss los. Recherche, weißt du. Paul hat mich aufgehalten.“ Katharina biss sich auf die Lippen. Die kleine Notlüge war nicht zu vermeiden gewesen. Simone würde sie sonst totquatschen, aber sie wollte jetzt keinen Small Talk. Sie wollte einfach nur ihre Ruhe.
„Wie geht’s dem Guten?“ Simones Stimme verrutschte einen Tick ins Kindliche und verriet, was sie über Paul dachte.
„Er nervt.“ Katharina hatte dummerweise zu spät daran gedacht, dass „Paul“ für Simone das Schlüsselwort war. Ihre Freundin hatte eine Menge Meinung zu Paul.
„Du bist auch nicht viel anders, wenn du verliebt bist, meine Liebe.“ Simone verpackte ihren Vorwurf in ein Kichern. „Bei dem Hintern sollte dir seine Nerverei egal sein. Der Rest ergibt sich.“
Das sagte ausgerechnet Simone! Die nach spätestens drei Wochen merkte, dass auch Männer nicht immer nur ins Bett wollten und, außer ihren Kumpels, fast alles vergaßen: Socken, Verabredungen, Geburtstage. Und am Ende sogar den Spaß am aktuellen Betthupferl.
„Hör zu, ich muss jetzt wirklich los. Ich melde mich bei dir.“ Katharina wollte auflegen.
„Wir sollten mal wieder einen Mädelsabend machen. Mit viel Ratschen und viel Wein.“ Simone klang ehrlich enttäuscht.
„Viel Wein ist immer gut“, versuchte Katharina, versöhnlicher zu klingen, und verabschiedete sich.
Typisch Simone. Ein bisschen mehr als „er nervt“ hatte sie wohl doch erwartet, dachte Katharina amüsiert. Wie sie Simone kannte, hatte sie garantiert die Chancen ausloten wollen, Paul unter Umständen für eine Zeit übernehmen zu können.
Sie wählte Oles Nummer, aber sie stieß lediglich auf seine Mailbox. Dann fiel es ihr wieder ein: Ole hatte Bereitschaft. Trotzdem war sie enttäuscht.
Katharina brühte sich einen frischen Tee auf und schloss das Fenster. Unter ihr hasteten die Passanten durch den Regen. Es würde bald Herbst werden. Dabei hatte der Sommer in diesem Jahr seinen Namen kaum verdient.
Sie schlürfte vorsichtig ihr heißes Getränk. Bring mir den echten Menschen: Der Satz ging ihr nicht aus dem Kopf. Was wusste Liebig schon? Er redigierte Texte, saß in Ausschuss- und Ratssitzungen und traf bei Terminen immer die gleichen aufgeblasenen Wichtigtuer.
Und ausgerechnet Liebig tat jetzt so, als wisse er, was das richtige Leben ist und wer die „echten“ Menschen sind. Sie verzog verächtlich das Gesicht. Liebig – ein am wahren Leben Gescheiterter.
Wie auf ein Stichwort schrillte das Telefon. Liebig. Er habe „die Wahnsinnsidee“. Müde stellte sie den Teebecher ab.
„Mach was über die Schülerszene. Was treiben die Kids nach der Schule? In welchen Kneipen hängen sie ab? Zu meiner Zeit war es das St. Michele. Total verräuchert. Mann, was war da immer los! Schach spielen, saugute Musik. Wir haben mehr als einmal Mathe geschwänzt.“
„Kids? Du meinst Oberstufenschüler. Was soll das bringen?“ Ihr ging Liebigs aufdringliche Euphorie auf den Wecker.
„Eine Milieu- und Szenestudie. Klapper die Kneipen und Cafés ab. Frag nach ihren Träumen. Ihrer Mode, Musik und dem ganzen Zeug. Twitter, Facebook. Geh auf ihre Konzerte.“
„Twitter? Facebook? Woher kennst du solche Fremdworte?“
Er lachte angestrengt. „Du weißt, was ich will. Die Kids sind unsere Leser von morgen.“
„Liebig?“ Hätte er ihr das nicht schon in der Redaktion sagen können?
„Ja, meine Liebe?“
„Hat dir das unser Verleger eingeblasen?“
Justus Liebig blieb unbeeindruckt. „Eine Serie.“ Das mit dem Blasen würde er auch noch mit ihr klären. Später. „Acht Geschichten. Mindestens.“
„Mensch, Liebig.“ Katharina hatte vor Augen, wie er mit schwitzigen Händen imaginäre Schlagzeilen in die Luft schrieb.
„Ich zähl auf dich, meine Liebe. Du wirst noch ganz groß rauskommen. Das verspreche ich dir.“
Noch bevor sie etwas sagen konnte, hatte Liebig aufgelegt.
III.
Heinz-Jürgen Schrievers sah sich zufrieden um und rieb sich die Hände. Auf den Metallschränken stapelten sich keine Akten mehr, von seinem Schreibtisch war die Arbeitsplatte wieder zu sehen, die Kaffeemaschine blitzeblank, das längst überfällige Umtopfen seines geliebten Bogenhanfs endlich erledigt. Derart aufgeräumt hatte sein Archiv lange nicht mehr ausgesehen. Die Ruhe der vergangenen Wochen hatte ihn auf die Idee gebracht, mal wieder klar Schiff zu machen.
Das deutlich sichtbare Ergebnis seiner Mühen war aber nur der halbe Grund für seine gute Laune. Die weitaus wichtigere Hälfte lieferten die dick belegten Leberwurstbrote, die seine Gertrud ihm eingepackt hatte und die er sich nun bei einer frischen Tasse Kaffee und der Begutachtung des neuen Posters an der Wand neben der Bürotür zu gönnen gedachte.
Schrievers setzte sich und goss sich ein. Genüsslich kauend betrachtete er das Objekt seiner Begierde. Das Poster zeigte einen Traktor von 1956. Einen Schlüter. Genau so einen würde er sich zulegen. Gertrud hatte endlich grünes Licht gegeben. Gertrud! Ohnehin die beste aller Archivarehefrauen! Schrievers lächelte. Sie hatte ihm über Wochen geduldig zugehört, wenn er wieder mal von dem Traktor geschwärmt hatte.
Er war zufällig im Internet auf das Bild des Treckers gestoßen. Seither hatte es ihn nicht mehr losgelassen. Er erinnerte sich wieder genau an das satte Geräusch des Motors. Und an den Geruch. Auf dem Hof seiner Eltern war genau dieses Modell ein paar Jahre im Einsatz gewesen. An einem Morgen war er wach geworden, hatte seine Gertrud in den Arm genommen und von dem Schlüter und seiner Idee erzählt. Er hatte gewusst, dass sie ihn nicht für verrückt halten würde.
Schrievers rieb sich erneut die Hände und nahm das zweite Brot aus der Frühstücksdose. Er würde sich gründlich umsehen. Irgendwo in Deutschland wartete sein Schlüter Baujahr 1956 auf ihn. Er musste den Trecker nur noch finden. Sein Blick fiel auf die wichtigste Fachzeitschrift für Schlepperfreunde, die auf einem Aktenstapel auf ihn wartete. Auf dem Titelbild prangte ein alter Lanz. Der Archivar seufzte voller Vorfreude auf den restlichen Vormittag. Vielleicht hatte er ja Glück und wurde gleich fündig. Zustand und Preis spielten keine große Rolle, schließlich war sein Bruder Horst Landmaschinentechniker. Wie gesagt, es gab nur noch dieses eine kleine Problem: Wo stand ein Schlüter zum Verkauf?
Schrievers wischte ein paar Krümel von der Strickjacke. Warum war er nicht schon eher auf den Gedanken gekommen? Der Trecker würde die Attraktion in seinem Dorf werden. Fröhlich pfeifend griff der Archivar der Mönchengladbacher Polizei zu dem Heft und strich andächtig über das glänzende Deckblatt.
Er hatte gerade das Inhaltsverzeichnis aufgeschlagen, als sein Telefon klingelte.
„Schrievers?“, meldete er sich ungehalten. Der Anruf kam nun wirklich zum völlig falschen Zeitpunkt.
„Carsten Jakisch.“
Seine Laune verbesserte sich schlagartig. „Junge. Lange nix gehört. Bist du noch bei, wie heißt er doch gleich, Mayr?“
„Schon. Ihr wisst ja, wie er ist. Er kann mich halt nicht leiden. Ein echter Allgäuer Schädel.“
„Klingt nicht gut.“ Schrievers erinnerte sich noch genau an Jakischs Gesicht, wenn er von seinem Vorgesetzten sprach. Robert Mayr war ein selbstgefälliger Grantler ersten Grades. Ein Kriminalhauptkommissar, den seine Verlobte Martina und deren Käse mehr zu interessieren schienen als die Aufklärung der Verbrechen im Oberallgäu. Er stellte sich Mayr als Älpler mit Gamshut vor, dessen Horizont nicht weiter reichte als zum nächsten Gipfel und zum Aschermittwochstreffen der CSU.
„Mayr kann vielleicht nix dafür“, versuchte der Archivar, dem jungen Kollegen aus Kempten Mut zu machen, „das liegt sicher an den Genen. Allgäuer werden in Lederhosen geboren und sind zwanghaft Anhänger schroffer Felsen und ebenso schroffer Lebensart.“ Bei dem Gedanken musste er lachen. „Nichts für ungut, ich wollte jetzt nicht auch noch Salz in deine Wunden reiben. Kann ich was für dich tun, außer mit dir über die Herzlichkeiten deines Volksstamms zu jammern?“
„Hallo, ich bin nur ein halber Allgäuer“, begehrte Jakisch auf. „Opa und Oma kommen aus Schwalmtal –“
Schrievers fiel ihm ins Wort. „Stimmt. Hätte ich fast vergessen. Gertrud hat sie vor einiger Zeit auf dem Friedhof getroffen. Sie sehen noch recht fit aus, hat sie mir erzählt.“ Er räusperte sich. „Du musst doch hin und her gerissen sein. Halb Niederrheiner und halb Allgäuer – geht das überhaupt?“
„Ja, ja, hack du auch noch auf mir rum.“ Jakisch klang bekümmert, und seine Stimme bekam diesen knödeligen Tonfall, den sie immer dann annahm, wenn er aufgeregt war.
„Entschuldige. Was kann ich für dich tun?“ Schrievers hatte vergessen, dass Pumuckl, oder Knödel, wie sie den knubbeligen Kollegen mit den roten Haaren während der Zeit genannt hatten, in der er sie bei der Aufklärung der Morde um den Unternehmer Ernst Büschgens unterstützt hatte, schnell beleidigt war. Sein Chef in Kempten hatte ihn hoch ins „Rheinland“ geschickt, wie Mayr so stur wie falsch den Niederrhein bezeichnete, da einige der Taten in und um Moosbach passiert waren, die Spuren aber deutlich nordwärts gezeigt hatten. Schrievers war damals den Eindruck nicht losgeworden, dass Mayr Jakisch aus den Augen hatte haben wollen. Wie auch immer, Jakisch hatte sein Mitgefühl. Der junge Kommissar ging im Allgäu durch eine harte Schule.
„Du kannst mir in der Tat helfen.“ Jakischs Stimme klang wieder normal. „Mayr lässt mich gerade alte Vermisstenfälle bearbeiten.“ Er machte eine kurze Pause. „Wenn du mich fragst, eine Strafaktion.“ Er stockte erneut. „Na ja. Er hat nicht ganz unrecht. Ich habe halt ein paarmal verschlafen. Und, na ja, außerdem habe ich zwei Asservate verschludert.“
Schrievers wollte etwas sagen, hielt sich aber zurück. Jakisch war schon gestraft genug.
„Jedenfalls, bei der Durchsicht der Akten habe ich eine Sache gefunden, die auch für euch interessant sein könnte.“
Jakisch berichtete Schrievers von einer Frau, die vor sechs Jahren im Werdensteiner Moos, einem großen Hochmoor zwischen Kempten und Immenstadt, spurlos verschwunden war. Ein Förster hatte mitten in dem Naturreservat Kleidung gefunden. Sorgsam gefaltet.
„Trotz Großfahndung hat sich lediglich eine Frau gemeldet, die die Kleidungsstücke auf einem Zeitungsfoto erkannt hat. Sie erinnerte sich daran, der Unbekannten auf dem Parkplatz eines Discounters in Immenstadt begegnet zu sein. Allerdings hat sie die Frau nur vage beschrieben. Es habe an jenem Tag wie aus Eimern gegossen. Außerdem sei sie sehr aufgeregt gewesen, weil die Unbekannte beim Rangieren ihren neuen Opel Corsa leicht berührt hatte. Den Wagentyp der seltsamen Frau hat sie sich nicht gemerkt, wohl aber die Anfangsbuchstaben des Kennzeichens: MG.“
Schrievers nickte nachdenklich. „Das ist in der Tat dünn. Ein Auto mit dem Kennzeichen MG. Farbe?“
„Dunkel, steht hier.“
Der Archivar strich seine Notizen durch. „Ein dunkles Auto, ein Kleiderbündel. Das ist wenig, Knödel.“
„Ich weiß. Ich hatte gehofft, in deinem Kopf würde etwas klingeln, wenn ich dir von der Frau im Moor erzähle. Ihr habt ja auch nicht immer alle Vermisstensachen auf dem Schirm. Die Kollegen haben damals auch in NRW nachgefragt. Ohne Erfolg. Also haben sie die Ermittlungen eingestellt. Kann auch sein, dass sich damals jemand einen Scherz erlaubt hat und den Förster aufschrecken wollte.“
„Bei mir klingelt im Augenblick nichts. Aber versprochen, ich schau mal in mein Archiv. Vor sechs Jahren, sagst du?“
„Ja. Ich habe auch schon die BKA-Datei durchforstet. Negativ. Aber möglicherweise habe ich ja etwas übersehen. Und: Nenn mich nicht immer Knödel.“
„Wie gesagt, Knödel, ich kümmere mich darum.“ Schrievers überkam ein Geistesblitz. „Sag mal, lieber Carsten, du kennst nicht zufällig einen Bauern, der seinen alten Schlüter-Schlepper verkaufen will? Im Allgäu müssten noch einige von der Sorte rumstehen. Ich suche einen mit Baujahr ’56.“
Jakisch verneinte. Aber er versprach, sich umzuhören.
Nachdem Carsten „Pumuckl“ Jakisch sich „mit den besten Wünschen an Frank und Ecki“ verabschiedet hatte, stand der Archivar auf und schüttete den mittlerweile kalt gewordenen Kaffee in den Ausguss. Dabei warf er einen Blick auf die Uhr. Herrje. Fast Mittag. Die Kantine hatte schon geöffnet. Die Treckerzeitung würde warten müssen.
„Küsters versteht es, den Leser auf falsche Fährten zu locken, und baut überraschende Wendungen ein.“
»Sprachlich geschliffen und pointiert formuliert, lebt „Endstation Allgäu“ von den vielen bunten zwischenmenschlichen Leiden, Leidenschaften und Freuden, die Menschen in ihrem Alltag zusetzen oder ihn beleben.«
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