Erdbeercreme-Momente (Die Kochschule 1) Erdbeercreme-Momente (Die Kochschule 1) - eBook-Ausgabe
Roman
— Nostalgische Saga rund um die Schülerinnen einer Kochschule in den 1950ernErdbeercreme-Momente (Die Kochschule 1) — Inhalt
Töchter aus gutem Hause werden in Ediths Kochschule zu perfekten Hausfrauen ausgebildet
1955: Nachdem ihr Mann im Krieg gefallen ist, bleibt Edith und ihrer Tochter Inga nur noch die idyllisch gelegene Villa. Edith eröffnet dort eine Kochschule, die sie mit strenger Disziplin führt. Die junge Anita wird von ihrer Mutter an die Schule geschickt, um neben dem Erlernen des Kochens auf das Eheleben vorbereitet zu werden. Das Leben an der Schule empfindet sie jedoch als einengend. Abwechslung bietet Kochlehrer Arno, mit dem sie die Leidenschaft zum Kochen teilt. Eine zarte Beziehung entsteht …
Erster Band der mitreißenden Saga „Die Kochschule“.
Leseprobe zu „Erdbeercreme-Momente (Die Kochschule 1)“
Kapitel 1
Ich kann nicht glauben, dass du mir das wirklich antust.« Anita Kronberg hatte bis zum Schluss versucht, ihre Mutter umzustimmen, aber diese war bei ihrem Entschluss geblieben und lenkte den Wagen nun durch den Torbogen einer imposanten Villa. „Edith Waltz’ Koch- und Hauswirtschaftsschule für junge Damen.“
„Du wirst bald merken, es ist nur zu deinem eigenen Besten“, entgegnete Martha Kronberg. „Mit dem Müßiggang ist von nun an Schluss.“ Ihre Mutter parkte den Wagen und stellte den Motor ab. »Du wirst dich sicher rasch einleben und mir später für [...]
Kapitel 1
Ich kann nicht glauben, dass du mir das wirklich antust.« Anita Kronberg hatte bis zum Schluss versucht, ihre Mutter umzustimmen, aber diese war bei ihrem Entschluss geblieben und lenkte den Wagen nun durch den Torbogen einer imposanten Villa. „Edith Waltz’ Koch- und Hauswirtschaftsschule für junge Damen.“
„Du wirst bald merken, es ist nur zu deinem eigenen Besten“, entgegnete Martha Kronberg. „Mit dem Müßiggang ist von nun an Schluss.“ Ihre Mutter parkte den Wagen und stellte den Motor ab. „Du wirst dich sicher rasch einleben und mir später für die Entscheidung dankbar sein.“
Anita und ihre Mutter waren nicht die einzigen Neuankömmlinge, aus vier weiteren Wagen stiegen junge Frauen, alle in Begleitung ihrer Familien. Koffer und Taschen wurden aus dem Kofferraum gehoben, und aus den Gesichtern der jungen Frauen sprach aufgeregte Erwartung. Anita öffnete die Wagentür und sah sich um. Sie stand mitten in einem weitläufigen Hof mit einer Auffahrt, die im Halbrund um einen Brunnen angelegt war. Die Villa selbst war großzügig angelegt, cremegelb und elegant mit einem säulenbestandenen Eingang. Es gab malerische Dach- und Giebelformationen, hübsche Gauben, Erker und im Erdgeschoss eine Auslucht, durch deren Fenster sie Bücherregale sehen konnte – vermutlich die Bibliothek. Unter anderen Umständen hätte Anita es hier sehr hübsch gefunden.
Ihre Mutter öffnete den Kofferraum und hievte den Koffer heraus, während Anita danebenstand und zusah. Sie war viel zu wütend, als dass sie ihre Hilfe hätte anbieten wollen – schließlich war es der Wunsch der Mutter gewesen, dass sie hierherkam, nicht ihrer. Sie trat einen Schritt zurück. Im nächsten Moment hörte sie ein wildes Hupen und sprang erschrocken zur Seite. Ein knallroter VW-Käfer bremste schlitternd, sodass der Kies aufstob. Die Fahrerin tippte sich an die Stirn und fuhr wieder an, um den Wagen schwungvoll in der Remise zu parken.
„Was war das denn?“ Anitas Mutter starrte dem Wagen hinterher, dem nun eine junge Frau entstieg, an der alles provinziell wirkte, von dem altbackenen Zopf, zu dem sie ihr blondes Haar geflochten hatte, bis hin zu der Kleidung mit dem zu langen Rock und der biederen Bluse. Die Frau öffnete den Kofferraum, hob einen Koffer hinaus, stellte ihn vor sich hin und schien etwas in ihrer Handtasche zu suchen.
Anita wandte sich ab und sah ihre Mutter an. „Dann bis demnächst.“ Sie griff nach ihrem eigenen Koffer.
„Ich dachte, ich begleite dich noch hinein.“
„Nicht nötig.“ Abrupt drehte sie sich weg und machte sich auf den Weg die Einfahrt hinauf. Vor ihr hatte sich nun auch die blonde Frau auf den Weg zum Haus gemacht, wobei sie auf dem Kies mit ihren flachen Schuhen sicherer und zügiger vorankam als Anita in ihren schicken Pumps mit den hohen Absätzen.
Zwei weitere junge Frauen kamen die Auffahrt entlang, beide in Begleitung. Anita knickte einmal um und fing sich gerade noch, allerdings hatte sie jetzt ein Steinchen im Schuh. Sie stellte den Koffer ab, balancierte einbeinig, während sie den Pumps auszog und umkippte. Der junge Mann an der Seite einer der beiden Frauen sah sie an und erhaschte einen Blick auf ihren Oberschenkel. Rasch strich sie ihr grünes Sommerkleid glatt, nahm den Koffer wieder in die Hand und ging weiter.
Die zweiflügelige schwere Holztür stand weit offen, und sie wurden von einer Frau begrüßt, die Anita auf höchstens Mitte zwanzig schätzte, adrett gekleidet in ein taubenblaues Blusenkleid mit Schürze. Von den Schürzen hatte Anita auch mehrere im Gepäck, denn diese gehörten zur Pflichtausstattung, ebenso wie einheitliche Kleider. Man wolle, so die Betreiberin der Schule, keinen Neid oder Putzsucht unter den Schülerinnen befeuern.
„Herzlich willkommen“, sagte die junge Frau an der Tür. „Ich bin Elisabeth Weilershof, Schülerin im dritten Jahr. Bitte finden Sie sich im Foyer ein, dort wird die Zimmerzuteilung mitgeteilt, später wird Frau Waltz Sie persönlich begrüßen. Auf der Anrichte stehen Erfrischungen bereit.“ Sie lächelte, was alle – außer Anita – erwiderten. Diese zwang sich im nächsten Moment zumindest zu einem freundlichen Nicken, denn diese junge Frau konnte ja nichts dafür, dass Anitas Mutter sie hierherverbannt hatte.
Seufzend betrat sie das Foyer mit dem glänzenden Marmorboden, der hohen Decke, die sich in einer Glaskuppel wölbte, den Kristallleuchtern an den Wänden und der wundervoll geschwungenen Treppe, die in eine Galerie auslief. Was für aufregende Sommerpartys man hier unter anderen Voraussetzungen feiern könnte, dachte Anita. Sie selbst würde an diesem herrlichen Augusttag nichts lieber tun, als auf der Terrasse zu liegen, sich zu sonnen, ein kaltes Getränk neben sich, während sie mit ihren engen Freundinnen den Abend plante. Die Unternehmungen wurden zwar seltener, und auch der Freundeskreis, der dafür zur Verfügung stand, kleiner, denn nach und nach heirateten ihre Freundinnen. Aber nach wie vor war eine Handvoll von ihnen übrig, die noch nicht den Richtigen gefunden oder einfach Eltern hatten, die modernere Ansichten hegten und in dieser Hinsicht gelassener waren. Anita hatte sich selbst für eine dieser unabhängigen, modernen Frauen gehalten, die ihr Leben genossen und erst in den Hafen der Ehe einliefen, wenn sie sich selbst bereit dazu fühlten.
„Wenn du dieses Leben finanzieren kannst, dann nur zu“, hatte ihre Mutter gesagt. „Andernfalls ist mit diesem Lotterleben jetzt Schluss.“
Acht Auszubildende nahm die Schule jedes Jahr neu auf, las Anita auf dem Informationsblatt, das ihr eine junge Frau in die Hand gedrückt hatte und das sie nur studierte, weil sie gerade nichts Besseres mit sich anzufangen wusste. Sie ging zu der Anrichte, wo ihr eine weitere Frau mit einem Strahlen ein Glas Limonade anbot. Anita konnte sich geradezu bildlich vorstellen, wie man die künftigen Absolventinnen angewiesen hatte, mit einem Lächeln dazustehen, lieb und herzlich zu sein. So erwartete man es von einer Frau.
Sie nippte kurz an ihrer Limonade, die überraschend gut schmeckte – andererseits wäre es wohl auch ein schlechtes Aushängeschild für eine Restaurant- und Hauswirtschaftsschule, wenn sie an etwas so Simplem wie Limonade bereits scheiterte. Anita ging weiter zu der nächsten jungen Frau, die an einem Tisch stand, vor sich mehrere Zettel, und die sie mit einem freundlichen „Guten Tag“ begrüßte.
„Erfahre ich von Ihnen, auf welches Zimmer ich komme?“, fragte Anita.
„Ganz recht. Ihr Name?“
„Anita Kronberg.“
Die Frau sah auf ihre Liste, und kurz erwachte in Anita der wahnwitzige Wunsch, die Anmeldung sei verloren gegangen und ihr Name gar nicht auf der Liste. Wie bedauerlich, da muss uns ein Irrtum unterlaufen sein. Leider haben wir auch keine weiteren Plätze mehr frei.
„Ah, da.“ Die Frau zog einen Zettel hervor. „Die Zimmernummer und ein Wegweiser, wie Sie dorthin kommen. Anfangs kann es passieren, dass man sich ab und an verläuft.“
Anita bedankte sich und machte Platz für die nächste Schülerin. Sie stellte sich ein wenig abseits, trank ihre Limonade und sah sich den Wegweiser an. Die Zimmer lagen unter dem Dach, vermutlich ehemalige Gesindekammern. Im Sommer war es dort sicher brüllend heiß, während man sich im Winter Frostbeulen holte. Ihr Zimmer hatte die Nummer zwei. Hoffentlich war sie wenigstens allein, das wäre ja wohl das Mindeste, bedachte man, wie teuer die Schule war. Wehmütig dachte sie an ihr Zimmer zu Hause, das als einziges sogar einen eigenen Balkon hatte. Früher hatte es ihrem Bruder gehört, aber nachdem er im Krieg gefallen war, hatte ihre Mutter entschieden, dass sie dort einquartiert werden sollte, aus Angst, in ihrem Schmerz und ihrer Trauer den Raum in ein Museum zu verwandeln. Der Vater war nur wenig später gestorben, und so waren Anita und ihre beiden Schwestern allein mit der Mutter zurückgeblieben. Da diese das Vermögen in die Ehe gebracht hatte, ging es ihnen nicht schlecht, gemessen mit anderen Familien sogar vergleichsweise gut, selbst während der kargen Nachkriegsjahre. Sie waren ein eingeschworener Frauenhaushalt gewesen mit Anita als verwöhntem Nesthäkchen. Umso schlimmer, dass sie nun einfach fortgeschickt wurde. Es fühlte sich an wie ein Verrat. Selbst die Schwestern waren einer Meinung mit der Mutter.
„Mama hat in den letzten Jahren genug durchgemacht“, hatte ihre älteste Schwester Annelis gesagt. „Da muss sie nicht auch noch andauernd dem Prinzesschen die Nase pudern.“
Eine Frau um die vierzig trat auf den rechten Treppenflügel und blieb auf dem Absatz stehen, wo sich die beiden Flügel nach unten zu einer Treppe vereinten. Sie trug ein dunkelgraues Kostüm mit Samtrevers, das braune Haar war modern frisiert und onduliert. Im Foyer wurde es still, und die Gesichter richteten sich zur Treppe. Anita unterdrückte ein Gähnen und seufzte verhalten.
Es folgte eine kurze Ansprache, in der sich Edith Waltz vorstellte und ein wenig zur Geschichte ihrer Koch- und Restaurantschule erzählte, die sie in der Zeit nach dem Krieg gegründet hatte, um jungen Frauen eine Perspektive zu bieten, und die es schon innerhalb von zwei Jahren über Köln hinaus zu Bekanntheit gebracht hatte. Begonnen hatten sie mit vier Schülerinnen, und nun, zehn Jahre nach Kriegsende, hatten sie die Kapazitäten für vierundzwanzig Schülerinnen in drei Jahrgängen.
„Wir unterscheiden uns von anderen Hauswirtschaftsschulen vor allem insofern, als dass unsere Absolventinnen nach ihrem Abschluss sowohl eine perfekte Haushaltsführung erlernt haben als auch fähig sind, in Restaurantbetrieben der Eltern oder des Ehemannes mitzuarbeiten.“
Weiter erzählte sie, dass sie jedes Jahr deutlich mehr Anfragen hätte als freie Plätze und die Auswahl nach strengen Kriterien erfolgte. Da spielte wohl vor allem das Vermögen der Eltern eine Rolle, mutmaßte Anita.
„Am Ende jedes Jahres stehen die Abschlussarbeiten an“, fuhr Edith Waltz fort. „Und wer nicht besteht, hat die Möglichkeit, die Arbeit nach den Ferien zu wiederholen. Fällt die Schülerin dann ein weiteres Mal durch, ist ihre Lehrzeit an diesem Institut beendet, dann besitzt sie ganz offensichtlich nicht den nötigen Ehrgeiz.“
Bot sich da ganz unverhofft eine willkommene Möglichkeit, der Schule nach einem Jahr zu entkommen? Anita stellte sich vor, wie ihre Mutter reagierte, wenn sie die Prüfung zweimal hintereinander nicht bestand. Vermutlich wäre sie außer sich, und wer konnte schon wissen, was sie sich als Nächstes einfallen ließ?
„Die Angehören verabschieden sich nun bitte. Fräulein Sandler“, sie winkte eine junge Frau zu sich, die lächelnd zu ihr trat, „wird den jungen Damen den Weg in die Quartiere weisen. Dort können Sie sich frisch machen und Ihre Koffer auspacken. Danach folgt ein Rundgang durch die Schule sowie eine Einweisung, und die jungen Damen bekommen eine Mappe, in der Stundenpläne, der Tagesablauf, weitere Informationen sowie die Hausordnung enthalten sind. Lesen Sie alles bitte sorgfältig durch.“ Edith Waltz legte die Hände zusammen, eine wohlwollende Geste, und nickte. „Bis dahin, meine Damen.“
Unvermittelt setzte wieder das Gewirr der Stimmen ein, als sich die Frauen von ihren Familienmitgliedern verabschiedeten. Anita griff nach ihrem Koffer und ging zur Treppe, aber besagtes Fräulein Sandler bedeutete ihr mit einer Geste, daran vorbeizugehen.
„Schülerinnen benutzen die Treppe im hinteren Bereich des Hauses. Diese hier ist den Lehrern sowie Besuchern vorbehalten.“
Es dauerte noch ein paar Minuten, ehe sich alle Frauen von ihren Angehörigen verabschiedet hatten, dann schlossen sie sich Fräulein Sandler an, die sie durch das Foyer führte, dann durch eine Tür in einen Korridor, der deutlich schlichter war als die Art, in der sich das Haus bisher präsentiert hatte. Der Dienstbotenkorridor, genau wie Anita vermutet hatte. Von hier aus ging es eine Treppe hinauf, vorbei an der Beletage und dem zweiten Stockwerk bis ins dritte Obergeschoss. Fräulein Sandler ging ihnen voran.
„Die Nummern befinden sich an den Türen, Sie teilen sich immer zu zweit ein Zimmer. Ich zeigen Ihnen noch die Waschräume.“
Davon gab es zwei, die jeweils von sechs Zimmern, also zwölf Frauen genutzt wurden. Eine Tür teilte den Korridor, vermutlich in den ehemaligen Bereich der männlichen und weiblichen Dienstboten.
„Nun dürfen Sie gerne Ihre Zimmer aufsuchen.“
Anita drehte sich um und stellte fest, dass sie unmittelbar vor ihrem Raum stand. Sie öffnete die Tür, trat ein und ging zielsicher auf das Bett zu ihrer Linken zu, noch ehe sie das Zimmer in Augenschein nahm. Sie stellte den Koffer davor und sah sich um. Der Raum war schlicht, aber nicht so schlimm wie befürchtet. Ehe Anita jedoch dazu kam, ihren Eindruck zu vervollständigen, betrat ihre Mitbewohnerin den Raum, hielt inne und starrte sie an mit einer Miene, als sei sie diejenige, für die diese Zusammenstellung eine Zumutung war.
Helga Langens erster Gedanke beim Betreten des Zimmers war, dass nur noch das Bett neben der Tür frei war. Der zweite, dass ihre Zimmergenossin ausgerechnet dieses Modepüppchen sein würde, das ihr vorhin fast vors Auto gelaufen wäre und sie dann auch noch angestarrt hatte, als sei das Helgas Schuld. Resigniert stellte sie den Koffer neben das Bett und sah sich um. Das Zimmer hatte Holzdielen, auf die das Sonnenlicht einen sanften Honigschimmer malte. Außerdem gab es einen Schreibtisch unter dem Fenster, zwei Schränke, zwei kleine Kommoden sowie ein Waschbecken – Letzteres an der rechten Wand, sodass Helga nicht nur neben der Tür schlafen würde, sondern auch noch das Waschbecken in der Nähe hatte. Des Weiteren stand ein Schreibtisch an der rechten Wand. Der Kachelofen – so angelegt, dass durch eine Klappe zwei nebeneinanderliegende Räume geheizt werden konnten – schien nicht mehr genutzt zu werden, denn es gab ein modernes Heizsystem. Ein Glück für Fräulein Modepüppchen, denn der wäre auf ihrer Seite gewesen. Dafür würde sie jetzt vermutlich jeden Morgen das Waschbecken ewig in Beschlag nehmen, denn der einzige Spiegel war darüber angebracht. Helga seufzte vernehmlich.
„Ich bin Helga Langen“, sagte sie so freundlich wie möglich, denn schließlich mussten sie ja am Ende irgendwie miteinander auskommen.
„Anita Kronberg.“
Helga öffnete die Schnallen ihres Koffers, klappte ihn auf und begann, die Kleidung in Schrank und Kommode zu räumen. Ihre Eltern betrieben eine Gastwirtschaft, die Helga irgendwann übernehmen sollte, sodass sie trotz ihrer eingeschränkten Mittel das Schulgeld aufbrachten. Einerseits war Helga froh über den Abstand und die Aussicht auf eine gewisse Unabhängigkeit, auch wenn sie nur dem Umstand diente, wieder in eine Abhängigkeit zu geraten, indem sie den vorgefertigten Weg ging, den ihre Eltern für sie vorgesehen hatten. Ausgerechnet sie, Helga, die zum Kochen weder Lust noch Talent besaß und der die Bewirtung von Gästen ein Graus war, sollte eine Gastwirtschaft führen. Sie hatte einmal ihren Eltern gegenüber erwähnt, sie würde viel lieber Bücher schreiben, woraufhin ihr Vater geradezu außer sich geraten war.
Zu Helgas Bedauern war selbst die Mutter – obwohl durchaus künstlerisch veranlagt, mit einer Liebe zu Büchern und der Malerei – nicht für diese Pläne zu begeistern. Und sie war es auch, die dafür sorgte, dass Helga in der Schule von Edith Waltz aufgenommen wurde, was sich angesichts der vielen Anfragen als großer Glücksfall herausstellte.
Nachdem sie alles ausgepackt hatte, setzte Helga sich aufs Bett, um die Mappe, die man ihr zur Begrüßung ausgehändigt hatte, aufzuklappen. Gleich zuoberst lag ein Blatt mit Anweisungen für den Tag der Ankunft. Sie musste sich umkleiden und sich dann pünktlich um elf Uhr unten im Foyer einfinden. Bis dahin war es noch eine gute halbe Stunde. Rasch kleidete Helga sich um und verließ das Zimmer, um zur Toilette zu gehen. Der Waschraum war sauber und bestand aus einerReihe von acht Waschbecken sowie vier Toilettenkabinen und zwei Duschnischen. Wenn Helga also ein wenig Privatsphäre wünschte, musste sie morgens die Erste sein.
Als sie in das Zimmer zurückkehrte, hatte sich auch Anita Kronberg umgekleidet und stand nun vor dem Spiegel, um den Lippenstift nachzuziehen und die Wimpern ihrer Rehaugen zu tuschen. Die Kleidung hatte sie achtlos aufs Bett geworfen. Helga verdrehte die Augen und klapperte demonstrativ mit der Schranktür, als sie ihr eigenes Kleid aufhängte. Ihre Zimmernachbarin ignorierte sie, zupfte an ihrem glänzenden dunklen Haar, das modisch auf Kinnlänge geschnitten war, steckte eine Spange hinein und besah sich von allen Seiten.
Als sie den Spiegel freigab, sah Helga hinein, aber aus ihrem blonden Zopf hatte sich kein Haar gelöst. Kurz überlegte sie, sich einen Pferdeschwanz zu binden, aber ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie in fünf Minuten unten sein musste. Anita Kronberg war bereits auf dem Weg zur Tür, und Helga folgte ihr. Auf dem Korridor trafen sie auf drei Frauen, die gerade ihre Zimmer verließen, lächelnd und miteinander plaudernd. Offenbar hatten sie die Zeit genutzt, sich miteinander bekannt zu machen.
Gemeinsam gingen sie zur Tür, die ins Treppenhaus führte. Sie traten aus dem ehemaligen Dienstbotenbereich in die rückwärtige Halle, in der es eine weitere herrschaftliche Treppe gab, die vermutlich ebenfalls nicht von den Schülerinnen genutzt werden durfte. Noch bevor sie im Foyer waren, hörte Helga die Uhr elf schlagen.
Edith Waltz stand mit Fräulein Sandler im Eingangsbereich und erwartete sie zusammen mit drei der Neuankömmlinge, die offenbar schon früher ihre Zimmer verlassen hatten. „Da sind Sie ja, meine Damen. Da dies der Tag Ihrer Anreise ist und Sie sich im Haus erst zurechtfinden müssen, sehe ich Ihnen die Verspätung nach. Künftig gilt jedoch strikte Pünktlichkeit. Spätestens beim Glockenschlag haben Sie sich an den vereinbarten Orten einzufinden. Gleiches gilt für den Unterricht. Wer unentschuldigt zu spät im Speisesaal erscheint, für den fällt die Mahlzeit aus.“
Helga bemerkte, dass Anita Kronberg die Augen verdrehte. Gespannt sah sie zu Edith Waltz, doch sie schien nichts bemerkt zu haben.
„Ich überlasse Sie nun Fräulein Sandler, die Sie im Haus herumführen wird.“
Edith Waltz verabschiedete sich mit einem knappen Nicken und ging zur Treppe, während sich Fräulein Sandler lächelnd zu ihnen umwandte.
„Wir beginnen mit dem Erdgeschoss. Wenn Sie mir bitte folgen wollen?“
Das Haus war prachtvoll, das musste Helga zugeben. Eine solche Villa wie diese hatte sie noch nie betreten. Es gab einen großen Salon, der durch zwei Flügeltüren vom Speisesaal getrennt war. Zu Feierlichkeiten wurden die Türen geöffnet, andernfalls war es den Schülerinnen nur bei Familienbesuch gestattet, den Salon zu betreten. Die Bibliothek war groß und gemütlich mit zwei Sitzecken, Leselampen und einem Kamin. Zu Helgas Freude durften sie diesen Raum jederzeit aufsuchen, denn Edith Waltz schätzte es sehr, wenn ihre Schützlinge ihre Freizeit lesend verbrachten. Bildung gehörte für sie zwingend zu den Qualitäten einer guten Ehefrau dazu, erklärte Fräulein Sandler.
Weiter ging es zu einem kleineren Salon, den Edith Waltz privat nutzte und in dem ein halbwüchsiges blondes Mädchen auf einem Stuhl herumlümmelte, ein Buch in der Hand. Helga schätzte sie auf fünfzehn Jahre. Sie blickte auf und musterte die Frauen, wirkte dabei jedoch wenig interessiert.
„Inga Waltz“, stellte Fräulein Sandler sie vor. „Die Tochter von Frau Waltz.“
Sie grüßten, und das junge Mädchen grüßte mit gelangweilt wirkender Miene zurück, ehe sie sich wieder ihrem Buch widmete. Helga konnte das verstehen, sie hätte es auch nicht erfreulich gefunden, wenn jemand eine ganze Horde Frauen durch ihr Wohnzimmer geführt hätte, während sie gerade las und ihre Ruhe wollte.
„Ein Paradebeispiel an guter Erziehung“, murmelte Anita Kronberg, und Helga musste grinsen. Zwei weitere Frauen kicherten leise, während auch auf Fräulein Sandlers Gesicht kurz ein Lächeln aufblitzte.
„So hätte ich mich mal aufführen müssen“, flüsterte eine der Frauen, die überpünktlich im Foyer gestanden hatten. „Da hätte es aber etwas gesetzt.“
Sie gingen weiter, durften einen Blick in Edith Waltz’ privates Esszimmer werfen, das genutzt wurde, wenn sie Besuch hatte und dessen Betreten ihnen ebenfalls strikt untersagt war. Die hintere Halle mit der breiten Treppe führte hinaus in den Garten. Das hier war ein Teil des Hauses, der gerne für Gartenfeiern genutzt wurde.
„Es ist Ihnen erlaubt, den Garten in Ihrer Freizeit aufzusuchen. Nur der Rosengarten wird ausschließlich von Frau Waltz privat genutzt.“
Durch die Tür zum Dienstbotenkorridor führte Fräulein Sandler sie an der Treppe vorbei, über die sie zu ihren Quartieren gelangten, und weiter den Flur entlang. Sie gelangten an eine große Küche, in der emsige Betriebsamkeit herrschte.
„Das hier ist die Hauptküche“, erklärte sie. „Hier wird gerade das Mittagessen zubereitet.“
Junge Frauen standen in der Küche, einige beschäftigt mit der Zubereitung des Essens, andere standen neben einem älteren Mann, der gerade etwas erklärte.
„Das Lehrpersonal stellt Frau Waltz Ihnen im Speisesaal vor, jetzt gerade sind alle beschäftigt.“
Sie kamen in eine angrenzende kleine Küche. „Dies hier nennen wir die kalte Küche. Hier wird Fleisch zubereitet und andere Speisen, die bei der Verarbeitung eine kühle Umgebung brauchen. Der letzte Raum ist die Patisserie und Kaffeeküche, hier werden die Süßspeisen zubereitet. Früher einmal befanden sich hier die Gesindekammern von Mägden und weiterem niederem Personal. Im Krieg und kurz darauf hat Frau Waltz hier Obdachlose untergebracht, danach wurden Umbaumaßnahmen eingeleitet. Zu Beginn gab es nur die Hauptküche, aber als die Schule sich vergrößerte, wollte Frau Waltz den Anforderungen der modernen Betriebsführung eines großen Restaurants gerecht werden.“
Weiter ging es in die Vorratsräume, dann folgte ein kurzer Blick in den Gewölbekeller, in dem Flaschen in hohen Regalen lagerten, der ansonsten aber ungenutzt blieb. In der Beletage waren die Lehrer in den ehemaligen Schlafzimmern untergebracht, und es gab auch zwei Wohnzimmer, ursprünglich für die Gäste des Hauses gedacht, die nun den Lehrern und Lehrerinnen vorbehalten waren – ein Damen- und ein Herrensalon. Hier lagen auch die privaten Räume von Edith und Inga Waltz.
„Wenn man von hier aus in die Quartiere der Schülerinnen gelangen möchte, muss man durch diese Tür dort in den ehemaligen Dienstbotenbereich. Der Durchgang ist allerdings nur für den äußersten Notfall gedacht, also wenn es brennt oder dergleichen. Früher wurde er von den Dienstboten genutzt. In der zweiten Etage haben sich die Gästezimmer befunden, die heute als Unterrichtsräume genutzt werden. Dorthin gehen die Schülerinnen auch ausschließlich über das ehemalige Dienstbotentreppenhaus. Nur heute machen wir eine Ausnahme und nutzen die Haupttreppe.“
Die freien Räume waren verschlossen, in den anderen fand Unterricht statt, sodass sie in keinen hineinsehen konnten. Auch hier gab es einen Aufenthaltsraum, in dem gerade zwei junge Frauen standen, rauchten und ihr Gespräch unterbrachen, als Fräulein Sandler die Tür öffnete. „Lasst euch nicht stören“, sagte sie, nun nicht mehr in diesem Lehrerinnenton, sondern kameradschaftlich.
„Die Haushälterin werden Sie noch kennenlernen, Frau Schmitz ist sozusagen die gute Seele des Hauses, und sollte etwas nicht funktionieren in den Zimmern, wenden Sie sich bitte ausschließlich an sie, und behelligen Sie Frau Waltz nicht damit. Ihr Zimmer liegt ebenfalls oben, ganz am Ende des Korridors. Außerdem gibt es zwei Küchenhilfen, die kommen jeden Tag stundenweise, auch am Wochenende.“
Helga war froh, als sie die Führung hinter sich hatten, so etwas fand sie immer furchtbar ermüdend.
„Sie dürfen sich gerne in den Garten zurückziehen, bis der Gong schlägt, danach begeben Sie sich bitte umgehend in den Speisesaal. Die freien Stunden stehen zu Ihrer eigenen Verfügung, Sie können auch in die Stadt fahren, wenn die Zeit es Ihnen erlaubt. Allerdings wird Wert darauf gelegt, dass Sie in der Woche um neun Uhr wieder hier sind, um zehn wird abgeschlossen. Wer sich zweimal verspätet, wird der Schule verwiesen. Am Wochenende können die Damen, die hierbleiben, nach Belieben ausgehen, aber auch da wird die Schule pünktlich um elf Uhr verschlossen. Ach ja, und eines noch. Es sollte nicht extra erwähnt werden, aber ein moralisch einwandfreies Benehmen wird vorausgesetzt. Keine Männergeschichten. Frau Waltz legt viel Wert auf den guten Ruf des Hauses.“
Damit waren sie entlassen.
Anita gefiel der Garten, und die Aussicht auf eine halbe Stunde im Freien – ihnen wurden zudem kalte Getränke auf einem Tischchen bereitgestellt – löste ihre Stimmung ein wenig. Nun war sie schon einmal hier, und so ungern sie gekommen war, blieb ihr nun nichts anderes übrig, als sich zu arrangieren. Der üppig blühende Garten fiel von der Veranda her sanft ab und war in der Art einer Parkanlage gestaltet. Es gab einen Springbrunnen aus weißem Marmor, Rosenspaliere, einen Pavillon, sorgsam geharkte Wege, Blumenrabatten, Nischen mit Statuen und Sitzbänken. Die jungen Frauen stellten sich einander vor und gingen gleich zu einem weniger förmlichen Umgang über. Die Hübsche mit dem schulterlangen dunklen Haar war Henriette Korbach, während Tanja Holsteins rote Haare und Sommersprossen ihr ein keckes Aussehen verliehen. Marlene Reber war blond und hochgewachsen, Linda Webknecht hatte kastanienfarbene Locken. Katharina Feldt war ebenfalls blond, hatte ein interessantes Gesicht mit Stupsnase und sinnlichem Mund, und Antonia Van Geels aparte Gesichtszüge wurden von kurzem dunklem Haar eingerahmt.
Im Großen und Ganzen waren sie alle sehr nett, wobei sich bei Henriette und Antonia schon abzeichnete, dass sie die Strebsamsten und Überpünktlichsten von ihnen sein würden. Linda hatte gerade eine Verlobung gelöst und wollte sich ausbilden lassen, ehe sie eine erneute Verbindung einging. Marlene und Katharina wollten zur Vorzeigehausfrau werden, und Tanja hatte sich gerade mit dem Erben eines Restaurants verlobt. Helga erzählte, dass ihre Eltern eine Wirtschaft betrieben, und ihre ganze Haltung zeigte so wenig Begeisterung sowohl für den elterlichen Betrieb als auch für das Kochen an sich, dass die übrigen Frauen sie nur verständnislos anblickten. Natürlich war Anita auch nicht freiwillig hier, aber das wusste sie zu kaschieren, denn wenn man so offensiv damit umging, dass man das, was die anderen als erstrebenswert erachteten, nur lästig fand, durfte man sich nicht wundern, wenn man keine Freundinnen fand. Und immerhin kochte Anita gern und liebte das Zubereiten von Süßspeisen.
Zwischen den jungen Frauen und Helga bildete sich eine unsichtbare Kluft, denn es war offensichtlich, dass sie einer Gesellschaftsschicht angehörte, die sich von ihrer unterschied. Alles an ihr wirkte bäuerlich und provinziell, da machte es keinen Unterschied, dass ihre Eltern das Schulgeld aufbringen konnten. Im Alltag wären sie sich vermutlich kaum über den Weg gelaufen.
Ob Helga dies auch wahrnahm, wusste Anita nicht, vielleicht war sie nicht empfänglich für feine Stimmungen. Helga hielt ein Glas in der Hand und beteiligte sich nicht an dem Gespräch, nickte nur hin und wieder, während Anita ab und zu einen Kommentar beisteuerte. Abgesehen von Helga, die aus einem Dorf irgendwo im Bergischen kam, waren die jungen Frauen alle aus der Gegend. Anita selbst lebte in Bonn, während Henriette und Katharina aus Koblenz, Tanja aus Dortmund, Antonia aus Königswinter, Marlene und Linda aus Aachen kamen. Von ihnen kannte Anita Köln am besten und wusste, wo man sich amüsieren konnte.
Als der Gong schlug, gingen sie zurück ins Haus. Im Speisesaal war jetzt eingedeckt worden. Das Servieren übernahmen die jungen Frauen des zweiten Jahrgangs, das war laut Plan Teil ihrer Ausbildung. Es waren immer zwei für einen Tisch zuständig, hatte Fräulein Sandler erklärt. Anita fragte sich, ob sie die Mädchen aus den anderen Jahrgängen tatsächlich alle mit „Fräulein“ ansprechen mussten. Das wäre doch irgendwie albern, so sehr unterschieden sie sich hinsichtlich ihres Alters ja nun nicht. Möglicherweise hatte Frau Waltz nur während des Empfangs und der Führung auf diese Formalität Wert gelegt.
Es gab eine feste Sitzordnung, und auf dem Tisch der neuen Auszubildenden zeigte ein Kärtchen jeder ihren Platz an. Anita saß am Rand, links neben sich Tanja, ihr gegenüber Henriette. Die anderen beiden Tische waren mittlerweile ebenfalls besetzt, und die Frauen des dritten Jahrgangs sahen zu ihnen hinüber, nickten freundlich, während die des zweiten Jahrgangs bereits neben den Servierwagen standen. Edith Waltz betrat zusammen mit der Lehrerschaft den Speisesaal. Sie nahmen vorne Aufstellung und wurden der Reihe nach vorgestellt.
Anitas Blick glitt an ihnen vorüber und blieb schließlich an einem von ihnen hängen – der Einzige, dessen Namen sie sich merkte. Arno Hesse. Himmel, sah der gut aus. Sie musterte ihn eingehender, aber er erwiderte ihren Blick nicht. Von seinem dunklen Haar, das er zwar zurückgekämmt hatte, fielen ihm einige widerspenstige Strähnen in die Stirn, was Anita geradezu verwegen fand. Er hatte blaue Augen und lächelte jungenhaft. Anita fiel auf, dass sie nicht die Einzige war, die ihn anstarrte, und so richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Edith Waltz. Es gab drei Köche – einer davon Arno Hesse – und zwei Köchinnen, eine Bäckerin und Konditorin, eine Lehrerin für Hauswirtschaft und keinen einzigen Lehrer für Buchhaltung. Mathematik und wirtschaftliches Rechnen war offenbar für eine Frau nicht so wichtig, auch nicht, wenn sie einen Restaurantbetreiber heiratete.
Anita nahm Platz, und das Essen wurde serviert, Kalbsgulasch mit Kartoffeln mit Rapunzeln als Beilage und als Nachtisch Pudding mit Karamellguss. Als Anita aufblickte, bemerkte sie, dass Arno Hesse zu ihrem Tisch hinübersah. Er fing ihren Blick auf, zwinkerte ihr zu, und zu ihrem Ärger errötete Anita, was wiederum Henriette nicht entging.
„Ist dir warm?“
„Ja“, antwortete Anita.
„Mir setzt die Sommerhitze auch immer sehr zu“, sagte Marlene.
„Wann ist noch mal die Kaffeestunde?“, wollte Katharina wissen.
„Hast du schon wieder Hunger?“, spöttelte Henriette.
„Nein, aber ich hätte so gern einen Kaffee.“
„Oh“, entgegnete Marlene, „den bräuchte ich jetzt auch.“
„Laut Plan, den wir für heute bekommen haben“, erklärte Henriette, „finden wir uns um drei Uhr zu Kaffee und Kuchen ein.“
„Die Kaffeestunde“, sagte Edith Waltz nun laut und vernehmlich, „findet aufgrund des schönen Wetters heute im Garten statt. Bei der Gelegenheit können Sie unsere Neuankömmlinge besser kennenlernen.“
Die jungen Damen der anderen Tische sahen zu ihnen hinüber, und im nächsten Moment ertönte ein Gong, woraufhin sich alle erhoben. Die Zeit bis zum Nachmittagskaffee hatten sie zu ihrer freien Verfügung, und so standen sie zunächst vor dem Speisesaal, während sich die übrigen Frauen in Grüppchen zerstreuten. Anita warf einen verstohlenen Blick zur Tür, durch die nun auch die Lehrer hinaustraten. Arno Hesse war vertieft in ein Gespräch mit einem Kollegen, sah nur kurz auf, nickte den jungen Frauen zu und ging dann weiter.
Anita sah ihm nach, dann wandte sie sich Henriette zu, die gerade vorschlug, die Zeit bis zum Kaffee mit einem Spaziergang zu verbringen. „Ab morgen werden wir dafür wohl keine Muße mehr finden. Die freien Stunden zu unserer Verfügung sind nicht allzu üppig bemessen.“
Anita hatte sich den Stundenplan noch nicht angesehen, aber als nun auch Antonia wissend nickte, war ihr klar, dass die beiden sich offenbar umgehend mit den Abläufen vertraut gemacht hatten.
„Frühstück ist um sieben Uhr morgens“, erklärte Henriette, und Anita starrte sie entsetzt an. Um diese Uhrzeit war sie normalerweise noch nicht einmal wach.
„Das ist eine Stunde später als bei uns“, sagte Helga. „Um sieben Uhr servieren wir bereits in der Wirtschaft das Frühstück, also gibt es das Frühstück zu Hause schon um sechs. Wer zu spät kommt, bekommt nichts mehr.“
„So ähnlich wird das hier auch sein“, erwiderte Marlene.
„Um acht Uhr ist die erste Unterrichtsstunde“, fuhr Antonia fort.
Sie schlossen sich Henriettes Vorschlag eines gemeinsamen Spaziergangs an, und Anita stellte fest, dass die anderen jungen Frauen gar nicht so übel waren wie befürchtet. Sie unterhielt sich mit Marlene und Henriette, während sowohl Antonia und Linda als auch Tanja und Katharina jeweils in ein Gespräch vertieft waren. Nur Helga folgte ihnen schweigend.
Kapitel 2
Es war tatsächlich schlimmer, als Anita befürchtet hatte. Die Tage waren angefüllt von langen Unterrichtsstunden und harter Arbeit. Stundenlang standen sie in der Küche, wo ihnen die Grundlagen des modernen Kochens nähergebracht wurden. Danach ging es in die Unterrichtsräume für den theoretischen Unterricht, wo sie anhand des Schulkochbuchs die Theorie lernten, beginnend bei dem Thema „Wie muss eine vorschriftsmäßige Kocherflamme aussehen?“. Weitere Punkte im Lehrplan waren die Organisation eines gut geführten Hauses sowie eine sparsame Wirtschaftlichkeit. Anita war ungern zur Schule gegangen, hätte am liebsten nur die Volksschule gemacht, sich dann aber von ihrer Mutter überreden lassen, noch ein Jahr dranzuhängen, um den Realschulabschluss zu haben. Und nun saß sie hier und musste nicht nur erneut die Schulbank drücken, sondern sich auch mit solch profanen Dingen auseinandersetzen wie dem korrekten Befüllen einer Waschmaschine. Glücklicherweise blieb es da bei der Theorie, denn die anfallende Wäsche in der Schule wurde von einer Wäscherin erledigt, die einmal in der Woche für die große Wäsche kam. Die Schülerinnen waren nur für ihre eigene Garderobe zuständig und dafür, ihre Zimmer sauber und in Ordnung zu halten.
Eine wahre Qual war es, morgens um sechs aufzustehen. Während Anita immer wieder auf ihren schrillenden Wecker schlug, war Helga schon längst auf den Beinen und im Bad verschwunden. Vermutlich machte sie es richtig, denn sobald Anita dort schlaftrunken auftauchte, waren die Waschbecken belegt. Sie teilten sich den Waschraum mit sechs weiteren Frauen aus dem zweiten Jahrgang, die mit ihnen auf demselben Korridor wohnten. Die Duschzeiten waren festgelegt, da immer nur zwei von ihnen morgens gleichzeitig duschen konnten. In den wenigen Minuten musste es dann sehr schnell gehen. Und obwohl sich Anita nicht für besonders verklemmt gehalten hatte, fand sie es überaus unangenehm, zur Toilette zu gehen, wenn sie dabei die Stimmen von acht Frauen am Waschbecken hörte und wusste, dass die Toiletten rechts und links ebenfalls belegt waren. Das sollte sie drei Jahre lang aushalten?
Zu Anitas Bedauern war nicht der attraktive Arno Hesse ihr Lehrkoch in der Hauptküche, sondern ein Mann um die sechzig, Raymund Keller, der zwar sehr nett, aber überaus streng war. Die erste Unterrichtsstunde hatte damit begonnen, dass er ihnen zeigte, wie eine vorschriftsmäßig brennende Kochflamme aussehen musste.
„Damit kein Ruß an den Töpfen zurückbleibt, ist es wichtig, dass die Flamme richtig brennt“, hatte er erklärt. „Wir unterscheiden bei der Verbrennung zwischen zwei Flammen, der Leuchtflamme und der entleuchteten Flamme. Ein Kocherbrenner arbeitet mit der entleuchteten Flamme.“
Anita kam zugute, dass sie gern kochte, daher brachte sie diese Stunden praktischer Arbeit in der Küche gut hinter sich. Für Helga war es sicherlich weniger erfreulich, denn es war zu offensichtlich, dass sie keinerlei Geschick mitbrachte. Erklärter Liebling ihres Lehrers war Henriette, die in jedem Fach brillierte, dicht gefolgt von der schlagfertigen Antonia. Marlenes Bemühungen, in allen Fächern vorne dabei zu sein, hatten etwas Verbissenes. Tanja hingegen war immer gut gelaunt, ob ihr etwas gelang oder nicht – sie erschien schon in den frühen Morgenstunden in bester Stimmung beim Frühstück. Zu Katharina und Linda hatte Anita keinen richtigen Draht, da beide eher still und zurückhaltend waren. Und Helga, das Landei, wurde zwar von allen freundlich behandelt, aber sie stand dennoch außen vor.
Genau in diesem Moment stieß Helga beim Abmessen von Milch gegen den Topf, in dem bereits eine Soße garte, die gerade eine Schülerin vom zweiten Jahrgang aufgesetzt hatte, und ihr schwappte ein ganzer Schwall Milch hinein. Raymund Keller fuhr sie so heftig an, dass nicht nur Helga zusammenzuckte. Die junge Frau, die die Soße zubereitet hatte, schmeckte sie ab und versuchte, sie durch die Zugabe von anderen Zutaten zu retten und den Geschmack wieder ins richtige Lot zu bringen.
„Vorbildlich“, lobte Herr Keller daraufhin.
Obwohl Helga immer so stoisch wirkte, als prallte alles an ihr ab, bemerkte Anita doch, dass sie ein paarmal blinzelte. Marlene übernahm das Abmessen, damit Helga sich die Hände waschen und die Milch von der Kochstelle tupfen konnte, von der aus sich schon ein beißender Geruch ausbreitete.
„Das kann doch mal passieren“, sagte Tanja, als sie auf dem Weg in den zweiten Stock waren. Sie zwirbelte dabei eine Strähne ihres roten Haars. „Ich meine, da muss man doch nicht so aus der Haut fahren.“
„Ich habe mich vielleicht erschrocken“, fügte Marlene hinzu. „Der stand direkt neben mir, und da brüllt er so los.“
„Hoffentlich passiert mir das nicht“, entgegnete Katharina. „Ich würde im Boden versinken.“
„Ich auch“, kam es von Linda.
Als sie den Unterrichtsraum betraten, saß dort Arno Hesse halb auf dem Lehrerpult und blätterte in einem Buch, das er zuschlug, als sie eintraten. „Guten Morgen, die Damen. Ich vertrete heute Frau Englert.“
Sie nahmen Platz, und Anita spürte, wie ihr das Herz schneller ging. Bisher hatte sie ihn nur beim Essen, im Vorbeigehen oder von Weitem in der Küche gesehen. Dass ihre Reaktion auf ihn sie womöglich wirken ließ wie einen Backfisch, war ihr klar.
Er saß immer noch halb auf dem Pult und sah sie der Reihe nach an. „Wir befassen uns mit der Ökonomie, dazu gehört zunächst das planvolle Wirtschaften in der Küche. Womit beginnen Sie?“
Anita wollte so gerne, dass er sie ansah, wollte, dass sein Blick auf ihren Lippen lag, wenn sie antwortete. Aber da sie sich mit dem Lehrbuch nicht befasst hatte, schwieg sie. Und so war es Henriette, die antwortete.
„Man unterscheidet dabei, ob für einen Haushalt geplant wird oder für einen Wirtschaftsbetrieb. Ich antworte jetzt für den Haushalt.“
Ein kleines Lächeln spielte um Arno Hesses Lippen, als er nickte. Anita wandte sich um, fragte sich, ob Henriette ihm gefiel. Sie sah gut aus mit ihrem kastanienbraunen Haar und den blauen Augen, und sie war klug. Das zog sicher viele Männer an. Vermutlich mehr als eine Frau, die lustlos dasaß und zu faul gewesen war, in ihr Buch zu schauen. Aber es ödete sie einfach so furchtbar an. Und so hörte sie zu, als Henriette erklärte, wie man zunächst für eine Woche im Voraus einen Küchenzettel aufstellte unter Berücksichtigung des Gesamteinkommens und des Alters, der Arbeit und der Lebensweise der Familie. Ein körperlich hart arbeitender Mann benötigte andere Nährstoffe als einer, der den ganzen Tag im Büro saß.
„Zudem muss darauf geachtet werden, dass die Nahrung vollwertig ist“, erklärte Henriette. „Es müssen alle Nährstoffe enthalten sein, damit der Körper durch die festen Mahlzeiten gesund und leistungsfähig bleibt.“
Anita ließ ihre Worte an sich vorbeirauschen und überflog das Kapitel in ihrem Buch, um sich nicht zu blamieren, wenn Herr Hesse sie nun aufrief. Er jedoch wandte sich mit der nächsten Frage an Helga, die antwortete, dass auch die Marktlage eine wichtige Rolle spiele und man bevorzugt Lebensmittel kaufen solle, die reichlich vorhanden und daher günstig seien. Daher biete es sich an, sich bei Obst und Gemüse an saisonale Ware zu halten. „Lebensmittel, die der Jahreszeit entsprechen, sind günstig und vollwertig.“
Auch den Verwendungszweck von Lebensmitteln musste man beim Einkauf im Auge behalten, um nicht zu riskieren, dass etwas verdarb und man es entsorgen musste. Das reichhaltige Angebot von Obst und Gemüse sollte man zur Zeit der Reife ausnutzen und sich somit Vorräte für knappere Zeiten schaffen.
„Wir beobachten seit einigen Jahren“, erklärte Arno Hesse, „genauer gesagt seit dem Ende der entbehrungsreichen Zeit, wie eine regelrechte Fresswelle über das Land schwappt. Nach Jahren mit Steckrüben und Rindenbrot muss einen das nicht unbedingt wundern. Und es ist ja auch schön, dass die Menschen wieder Freude am Essen und in der Küche haben. Allerdings ist diese Bewegung auch mit Vorsicht zu genießen, denn es gibt viele Speisen, die gut schmecken, aber nur geringen Nährwert haben. Füllt man seine Küche auf diese Weise, bleibt nicht nur der gesundheitliche Nutzen über kurz oder lang auf der Strecke, sondern auch der ökonomische. Denn anstatt fester, nahrhafter Speisen isst man Dinge, die durch ihre Zusammensetzung nur kurzzeitig sättigen. Man muss also bald wieder essen.“
Es folgte eine Stunde, in der es um die Zusammensetzung von Lebensmitteln ging, danach mussten sie wieder in die Küche zur praktischen Arbeit, dieses Mal standen Süßspeisen auf dem Plan. Das war eigentlich gar nicht so übel, auch wenn Anita die Lehrerin, Fräulein Mohnschau, nicht mochte. Sie war groß, sehr schlank und hatte eine Art an sich, als sei sie fortwährend unzufrieden. In ihrem Unterricht lernten sie zunächst die Grundlagen. Obwohl jede von ihnen schon zu Hause gebacken hatte, war ihnen das genaue Abwiegen erneut gezeigt worden, ebenso hatte Frau Mohnschau erklärt, dass Teige ausschließlich in Ton-, Steingut- und Porzellanschüsseln hergestellt werden sollten. Keinesfalls durfte man Aluminiumschalen oder Emailleschüsseln verwenden. Emaille konnte splittern, und Aluminium verfärbte sich.
An diesem Tag bereiteten sie einen simplen Rührteig zu für einen Kaffeekuchen, der am Nachmittag gereicht werden sollte. Die halbe Stunde bei Kaffee und Kuchen war auch an den Folgetagen die einzige Zeit, die Anita wirklich genoss. Sie konnte einfach dasitzen, mit einem Stück Gebäck und einer Tasse Kaffee, und sich vorstellen, sie sei zu Hause und dies ein ganz normaler Tag. Leider zerschlug der Gong diesen Tagtraum immer sehr schnell, und es ging weiter im Programm bis in den frühen Abend. Erst nach dem Abendessen um sechs Uhr, wenn alles abgeräumt war, hatten sie frei, und dann war Anita immer viel zu müde, als dass sie noch etwas anderes tun wollte, als zu lesen und zeitig ins Bett zu gehen. Natürlich konnte Edith Waltz da leicht sagen, die jungen Damen hätten die freien Stunden zur eigenen Verfügung – sie wusste vermutlich, dass sie alle viel zu erschöpft waren, als dass sie noch etwas hätten unternehmen wollen.
Das erste Jahr ging es ganz und gar um die Hauswirtschaftsausbildung. Im darauffolgenden Jahr um die Feinheiten der guten Küche, im dritten erlernten sie dann die Zubereitung feiner Gourmetküche sowie komplizierter Backwaren. Sie konnten Tische für jede Gelegenheit eindecken, Bankette leiten oder selbst geben, sie waren ausgebildet, in jeder Gesellschaftsschicht als Hausfrau zu brillieren oder in der Gastronomie zu arbeiten und – im besten Fall – ihren Ehemann dabei zu unterstützen. Helga würde das hier irgendwie durchstehen. Ihr Plan sah es jedoch keineswegs vor, in irgendeiner Art von Restaurant oder Gastwirtschaft zu arbeiten, und sie wollte auch nicht als Hausfrau stundenlang in der Küche stehen. Sie wollte einen gut situierten Mann finden, der sich eine Köchin leisten konnte und der es ihr ermöglichte, zu schreiben und ein Leben in künstlerischer Hingabe zu führen. Als Gegenleistung würde sie ihm zwei oder drei Kinder schenken.
Den Abstand zu ihrer Familie hatte sie durch den Besuch der Schule nur vergrößert – auch wenn ihre Eltern sich das ein wenig anders vorstellten. Ihr Sohn, ihr Goldjunge, war im Krieg gefallen, und so musste die zweite Wahl ran – Helga. Sie würde alles erben, einen Mann heiraten, der im besten Fall ebenfalls Gastwirt war, und mit ihm die Wirtschaft weiterführen. Diese Ausbildung würde ihr den nötigen Schliff verleihen. So die Vorstellung ihrer Eltern. Für Helga bot diese Ausbildung jedoch vor allem die Möglichkeit, eine Ansammlung von jungen Frauen aus wohlhabenden Familien kennenzulernen, die sicher ebenso wohlhabende Brüder hatten oder zumindest Cousins. Jetzt musste Helga nur ausloten, wo es sich lohnen könnte, die Angel auszuwerfen.
Bei Anita brauchte sie es nicht zu versuchen, die machte kein Hehl daraus, dass sie sie nicht mochte – was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Neben ihr kam man sich unweigerlich blass und unscheinbar vor. Sie war gar nicht so viel kleiner als Helga, die schon selbst nicht gerade ein Riese war, aber sie hatte eine grazile Art, sich zu bewegen, dass sich jeder andere daneben wie ein Trampel fühlen musste. Am sympathischsten war ihr Henriette, aber die mochte jeder. Bei Tisch saß Helga zwischen ihr und Marlene, gegenüber von Tanja.
Obwohl die Frauen alle einigermaßen freundlich zu ihr waren, spürte Helga, dass sie im Grunde genommen eine Außenseiterin war. Die Freundlichkeit war oberflächlich, und selbst wenn sie ihr zuhörten, schien das eher aus Höflichkeit denn aus echtem Interesse heraus zu geschehen. Sie kam aus anderen Kreisen, und ihr fehlte das, was man landläufig den richtigen Stallgeruch nannte. Helga konnte ganz ohne jede Eitelkeit behaupten, dass sie nicht weniger hübsch aussah als die anderen Frauen, sie hatte eine schlanke Figur, weil sie im Haus immer schon hatte mitarbeiten müssen und so ständig in Bewegung war. Sie waren einheitlich gekleidet, und Helga verzichtete inzwischen auf ihren üblichen, praktischen Zopf, sondern steckte sich das Haar mit Spangen zurück oder band sich einen Pferdeschwanz. Aber die fein nuancierten Unterschiede zwischen ihnen konnte sie damit offenbar nicht überwinden.
Immerhin hatten sie keine offensichtliche Häme oder Schadenfreude gezeigt, als Helga von ihrem Kochlehrer angeschnauzt worden war – bei der Erinnerung daran, wie alle zu ihr geschaut hatte, stieg ihr sofort die Hitze ins Gesicht –, und sie hatte ohnehin keine Zeit, sich darüber zu bekümmern, dass die anderen sich zu ersten losen Freundschaften fanden, während sie allein dazwischenstand. Die Arbeit in der Küche bildete den Schwerpunkt, aber im ersten Jahr standen zudem sämtliche Aufgaben in einem gut geführten Haushalt auf dem Programm. Der Stundenplan umfasste Backen, Kochen sowie Einmachen und Nahrungsmittellehre, außerdem hauswirtschaftliche Buchführung und Gesundheitslehre. Darüber hinaus gab es Kurse zur Säuglingspflege, Kranken- und Erziehungslehre, diese machten allerdings nur jeweils eine Schulstunde pro Woche aus und waren ausschließlich dem Umstand geschuldet, dass dies nach allgemeiner Auffassung zu einer hauswirtschaftlichen Ausbildung dazugehörte, damit die jungen Damen imstande waren, ihren Pflichten als Ehefrauen in vollem Umfang gerecht zu werden.
Als endlich das erste Wochenende kam, atmeten die jungen Frauen erleichtert auf und freuten sich auf die Tage bei ihren Familien, wobei nur Marlene, Linda, Antonia und Tanja fuhren, denn Henriette und Katharina befanden, dass die Fahrt bis Koblenz mit dem Zug zu lange dauerte und sich das für die kurze Zeit kaum lohnte.
„Viel länger als bis Dortmund fährt man da auch nicht“, sagte Tanja.
„Mir reicht die Zugfahrt alle zwei Wochen“, beschied ihr Henriette, und Katharina stimmte ihr zu.
Anita, die bis Bonn nur einen kurzen Weg hatte, blieb ebenfalls, begründete dies aber nicht weiter. Und auch Helga hatte nur wenig Lust auf einen Besuch zu Hause, wo sie sich ohnehin nur allerlei kritischen Fragen zu stellen hätte.
Da sie das Wochenende zur freien Verfügung hatten, beschloss Helga, einen Ausflug in die Stadt zu unternehmen. Sie überlegte, ob sie die anderen fragen sollte, ob sie mitkamen, entschied sich dann jedoch dagegen. Beim Frühstück hatte keine der jungen Frauen Interesse gezeigt, als sie es erwähnt hatte, und anbiedern wollte sie sich nicht. Als sie kurz darauf sah, wie Anita, Henriette und Katharina sich zu Fuß auf den Weg machten – vermutlich zu dem Café in der Nähe, sah sie sich bestätigt. Ein kleiner Stich durchfuhr sie, dass sie nicht gefragt worden war, aber dann schalt sie diesen Impuls kindisch. Anita mochte sie nicht besonders – was auf Gegenseitigkeit beruhte –, warum sollte sie dann Zeit mit ihr verbringen wollen? Und dass sie sich mit Henriette sehr gut verstand, hatte sich von Anfang an abgezeichnet.
Helga rauchte eine Zigarette auf dem Hof, dann stieg sie in ihren Wagen und fuhr davon.
„Wo will sie hin?“, fragte Katharina, als Helgas Käfer an ihnen vorbeirauschte.
„In die Stadt“, antwortete Henriette.
„Sie hätte ja mal fragen können, ob wir mitwollen“, sagte Katharina.
„Sie hat beim Frühstück gesagt, sie fährt. Du hättest ja etwas sagen können.“ Henriette zog ihre Zigaretten hervor und bot den anderen beiden eine an, wobei Katharina jedoch verneinte mit dem Argument, dass Männer es oft nicht mochten, wenn Frauen rauchten.
Anita ließ sich Feuer geben und sah dem Käfer nach, der gerade um die Ecke bog. Sie legte keinen großen Wert darauf, mit Helga in die Stadt zu fahren. Was konnte da schon Interessantes passieren? Ihr reichte es, dass sie sich ein Zimmer teilen mussten, da hatte sie keinen Bedarf, auch noch ihre freie Zeit mit ihr zu verbringen. Wenn sie mitbekam, wie die anderen sich in ihren Zimmern bereits anfreundeten und Gespräche führten, lachten, dann überkam sie ein Anflug von Neid. Als wäre sie nicht schon genug damit gestraft, dass man sie hierher abgeschoben hatte. Wurde die Zimmeraufteilung wohl die gesamten drei Jahre aufrechterhalten?
Die Schule war wirklich wunderschön gelegen, außerhalb der trubeligen Stadt, umgeben von Pferdekoppeln, Wiesen und waldigem Gebiet. Die Villa selbst war vor vielen Jahren als prunkvoller Stammsitz einer Adelsfamilie erbaut worden und durchaus hübsch anzusehen mit dem verwinkelten Schieferdach, dem Turmaufsatz und den Sprossenfenstern. Für einen Urlaub hier wäre Anita durchaus zu haben gewesen, aber sie war nun einmal ein Stadtkind und brauchte Leben um sich herum.
Das Café war zu Fuß eine halbe Stunde von der Schule entfernt und wurde von Ausflüglern, die es in die Natur außerhalb der Stadt zog, frequentiert. Aber auch einige Lehrer schienen hier einzukehren, wie Anita feststellte. Sie sah Raymund Keller mit einer jungen Frau an einem Tisch sitzen.
„Ist das seine junge Geliebte?“, mutmaßte Katharina.
„Wohl eher seine Tochter.“ Henriette ließ sich an einem Tisch nieder und hielt das Gesicht in die Sonne.
Sie trugen an diesem Tag anstelle der taubenblauen Einheitstracht hübsche Sommerkleider mit bauschigen, schwingenden Röcken. Es tat so gut, endlich wieder ein modisches Kleid zu tragen, und Anita wusste, dass das Rot hervorragend mit ihrem dunklen Haar harmonierte. Um die Taille war das Kleid mit einem weißen Band abgesetzt, und es hatte breite Träger, die bis über die Schultern reichten. Ein wenig kokett schlug sie ein Bein über das andere, zündete sich eine weitere Zigarette an und bemerkte den ein oder anderen bewundernden Männerblick in ihre Richtung.
Langsam atmete sie den Rauch durch leicht geöffnete Lippen aus und sah sich um. Eigentlich war ihr das hier schon fast zu viel Idylle. Zwar liebte sie es, im heimischen Garten mit einem kalten Getränk in der Sonne zu liegen, aber wenn ihr danach war, sich ins städtische Leben zu stürzen, musste sie nur aus dem Tor hinaustreten. Wieder wallte die Wut auf ihre Mutter und ihre Schwestern, die diese in ihrem Tun unterstützten, in ihr auf. Mit welchem Recht entschieden sie einfach über sie? Leider hatte Anita keinerlei Alternative. Natürlich könnte sie irgendwo eine Ausbildung machen, das hatte ihre Mutter ihr mehrfach vorgeschlagen, aber weder reizte es sie, Sekretärin zu werden, noch Krankenschwester. Anita fragte sich, ob ihre Mutter wohl enttäuscht darüber war, dass sie über das Wochenende in der Schule blieb. Am Telefon hatte sie sich nichts anmerken lassen, aber vielleicht ging sie auch einfach davon aus, Anita würde es hier so gut gefallen, dass sie lieber bei ihren neuen Freundinnen blieb. Der Gedanke behagte Anita zwar nicht, denn dann würde ihre Mutter sich in ihrer Entscheidung bestätigt fühlen, aber daran konnte sie nun nichts mehr ändern.
Eine Kellnerin in adrettem blauem Kleid mit weißer Schürze trat zu ihnen und nahm die Bestellung auf. Sie entschieden sich für Kaffee und Apfelkuchen, Anita hatte eigentlich keinen rechten Appetit, wollte den anderen aber nicht beim Essen zusehen.
„Ach, ist das herrlich“, sagte Katharina und lehnte sich entspannt zurück. „Ich war noch nie für längere Zeit von zu Hause fort. Endlich auf eigenen Beinen stehen.“
„Um von hier aus direkt in die Fesseln der Ehe zu geraten“, entgegnete Anita.
Katharina zuckte mit den Schultern. „Kommt darauf an. Wenn es eine gute Ehe ist, dann ist man da freier als bei den Eltern. Ich hätte mein eigenes Haus, meine Küche, wo ich schalten und walten kann, wie es mir beliebt.“
„Na ja …“ Henriette zog den Aschenbecher in die Mitte und drückte den Zigarettenstummel aus, „anstelle deiner Eltern nimmst du dann die Weisungen von deinem Ehemann entgegen.“
„Das ist doch überhaupt nicht dasselbe.“
„Kann …“ Henriette unterbrach sich, weil die Kellnerin erschien. Sie wartete, bis die junge Frau alles vor ihnen abgestellt hatte, und fuhr dann fort: „Kann deine Mutter ohne Erlaubnis deines Vaters ein Konto eröffnen? Kann sie ohne seine Erlaubnis arbeiten gehen? Einen Führerschein machen? Was also darf sie mehr als du?“
Katharina wirkte verstimmt. „Wenn es eine gute Ehe ist, dann wird der Mann ohne viel Aufhebens die Dinge erlauben. Arbeiten gehen möchte ich ohnehin nicht, einen Führerschein habe ich bereits, und ein eigenes Konto brauche ich nicht, da er für das Einkommen sorgen wird. Im Gegenzug halte ich das Haus in Ordnung.“
Nicht, dass Anita einer Ehe gegenüber vollkommen abgeneigt war, sie sah durchaus die Vorteile einer solchen. Aber vorher wollte sie das Leben genießen – zumindest war das der Plan gewesen. Jetzt saß sie hier, musste zur Schule gehen, und auf einmal erschien ihr eine Ehe gar nicht mehr so unattraktiv. Dann wiederum dachte sie daran, wie es wäre, tagtäglich einen Ehemann zu umsorgen, zu putzen, zu kochen, Kinder zu kriegen und sich auch um die zu kümmern – da war es womöglich doch besser, zur Schule zu gehen. Sie seufzte.
Als sie an ihrem Kaffee nippte, bemerkte sie einen Mann, der gerade aus einem weißen Ford Taunus stieg, und sie verschluckte sich, hustete, bis ihr die Tränen kamen.
„Alles in Ordnung, die Damen?“, fragte Arno Hesse, als er an ihrem Tisch vorbeikam, wo sich Anita gerade ein Taschentuch vor den Mund hielt und hineinhustete. Sie nickte nur, während Henriette ihr auf den Rücken klopfte und Katharina ihm ein Lächeln schenkte.
„Geht es wieder?“, fragte sie, als Arno Hesse im Café verschwunden war.
„Ja“, krächzte Anita und wischte sich die Tränen ab. Im Taschentuch erkannte sie schwarze Schlieren, was bedeutete, ihr Augen-Make-up war verschmiert.
„Vielleicht schaust du besser mal in den Spiegel“, kam es auch sogleich hilfreich von Katharina.
Anita erhob sich und ging ins Café, wo sie – ohne nach rechts oder links zu schauen – rasch die Toilettenräumlichkeiten aufsuchte. Ein Blick in den Spiegel offenbarte das Ausmaß der Bescherung.
„Du lieber Himmel“, murmelte sie und wischte sich die zerlaufene Mascara aus dem Gesicht. Sie durchsuchte ihr Handtäschchen nach ihrer Schminke, tuschte sich die Wimpern, legte einen Hauch Lidschatten auf und ein wenig Khol, um ihre Augen zu betonen. Obwohl ihr Lippenstift noch einwandfrei war – die neuen kussechten Farben waren einfach famos –, zog sie sie noch einmal kirschrot nach. Dann ließ sie ihr Handtäschchen zuschnappen, warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel und verließ den Raum.
Als sie durch das Café ging, bemerkte sie Arno Hesse, der sich zu zwei jungen Männern und einer Frau an den Tisch gesetzt hatte. Er sah auf, und Anita widerstand dem Impuls, rasch den Kopf zu senken, sondern warf ihm einen beinahe kecken Blick zurück, woraufhin er ihr zuzwinkerte. Jetzt wurde sie doch rot und lief eilig hinaus. Ihr Kaffee war jetzt natürlich schon kalt, und Henriette winkte die Kellnerin heran, um einen neuen zu bestellen.
„Er gefällt dir, nicht wahr?“, fragte Katharina. „Dieser hübsche junge Lehrer?“
„Wem gefällt der nicht?“, entgegnete Anita.
„Angeblich schwärmt die halbe Schule für ihn.“
„Nur die halbe?“
„Also, mein Typ ist er nicht“, sagte Henriette.
„Wer ist denn dein Typ?“
Henriette krauste die Stirn, dann nickte sie leicht zu einem Tisch, an dem eine Familie saß. „So wie dieser Familienvater zum Beispiel.“
Er war blond, hochgewachsen, und die Brille gab ihm einen leicht intellektuellen Anstrich. Offenbar bemerkte seine Frau, dass Katharina und Anita zu ihm hinüberblickten, denn sie feuerte einen giftigen Blick in ihre Richtung ab und legte dem Mann die Hand auf den Arm, als wollte sie ihre Besitzansprüche geltend machen. So als würde er augenblicklich aufspringen und seine Familie gegen eine der beiden jungen Frauen eintauschen.
„Zu brav“, stellte Anita fest.
„Ach, so übel ist der nicht“, meinte Katharina.
Der Kaffee wurde gebracht, und die Kellnerin räumte die leeren Kuchenteller und Tassen ab. Anita gab ein wenig Sahne in den Kaffee und nahm einen Schluck. Das tat so gut, sie könnte den ganzen Tag hier sitzen, die Sonne genießen, die Leute beobachten und dabei plaudern. Etwas bequemere Stühle wären nicht schlecht, diese Kaffeehausstühle waren zwar hübsch anzusehen, aber ungeeignet, um längere Zeit darauf zu sitzen. Wäre das Anitas Café, hätte sie bequeme Korbsessel aufgestellt und dem Ganzen etwas mehr Flair verliehen.
Als sie ihren Kaffee ausgetrunken hatten und zahlten, trat Arno Hesse vor die Tür, und sofort stellte Anita sich vor, wie er sie fragte, ob sie auch auf dem Weg zur Schule waren und ob er sich anschließen dürfe. Er nickte ihnen jedoch nur zu und zog seine Zigaretten hervor, um sich eine anzustecken. Wieder trafen sich ihre Blicke.
„Kommst du?“ Henriette hängte sich die Tasche über die Schulter.
Mit einem Anflug von Bedauern folgte Anita ihr. Sie machten einen Spaziergang und kehrten in die Schule zurück, die still und friedlich in der Augustsonne dalag. Nur wenige Schülerinnen waren geblieben, und diese waren entweder ausgegangen oder saßen im Garten.
Henriette holte ein Buch aus dem Zimmer und setzte sich ebenfalls hinaus, während Katharina sagte, sie wolle einen Brief an eine Freundin schreiben, sodass Anita auf einmal allein dastand und nichts Rechtes mit sich anzufangen wusste. Sie machte einen Spaziergang durch den Garten, dann einen Abstecher in die Bibliothek, wobei ihr gerade eigentlich nicht der Sinn nach Lesen stand, ihr war nur so furchtbar langweilig.
Eine der Lehrerinnen – Anita hatte den Namen vergessen – war ebenfalls hier und ging die Titel durch. Nachdem sie höflich gegrüßt hatte, sah sich Anita die Buchreihen an und konnte schnell feststellen, was uninteressant für sie war. Die Bücher waren nach Themen geordnet, das machte es leicht. Schließlich entschied sie sich kurzerhand für einen Krimi und verließ die Bibliothek wieder.
Die einzigen Getränke, die rund um die Uhr zur freien Verfügung stand, waren Wasser und Tee. Mit einem Glas Wasser in der Hand verließ Anita die leere Küche und wäre fast in Helga gelaufen, die in diesem Moment eintrat.
„Himmel, pass doch auf“, sagte sie und wischte das Buch rasch an ihrem Kleid ab, ehe das übergeschwappte Wasser das Papier durchweichte.
„Pass doch selbst auf“, schnappte Helga und ging zur Kaffeemaschine.
Das war ja ein kurzer Ausflug in die Stadt gewesen. Hätte Anita ein eigenes Auto, wäre sie vermutlich den ganzen Tag geblieben, vielleicht wären sogar ihre Bonner Freundinnen gekommen. Allerdings konnte sie auch keine größeren Einkaufstouren unternehmen, da ihre Mutter ihr die finanziellen Mittel auf das Notwendigste zusammengestrichen hatte. Sie bekam ein Taschengeld, mehr nicht. Ob die anderen auch so eingeschränkt wurden? Wie furchtbar demütigend das wäre, wenn nur sie, Anita, so kleingehalten würde.
Während ihre Freundinnen sie um dieses herrliche große Haus mit dem weitläufigen Garten beneideten, fand Inga Waltz es unglaublich ermüdend. Viel lieber hätte sie in einer Wohnung mitten in Köln gelebt, wo Leben um sie herum war und sie ohne lange Fahrtzeiten Freundinnen besuchen konnte. Sie lud nur ungern jemanden ein, denn hier fühlte sie sich beständig unter Beobachtung, nicht nur durch ihre Mutter, sondern auch durch die ganzen Lehrerinnen und Lehrer sowie die Schülerinnen, die allesamt hier waren, um brave Hausfrauen zu werden. Sie lebte nicht in einem feudalen Herrenhaus, sondern in einer Schule – und welche Fünfzehnjährige wollte das schon?
Ihre Mutter hatte bereits den Plan gefasst, dass ihre Tochter hier ausgebildet werden sollte, aber obwohl Inga durchaus gern kochte, war sie schon allein aus dem Grund dagegen, weil dieser Vorschlag von ihrer Mutter kam, die sie für die Biederkeit in Person hielt. So wollte sie keinesfalls werden. Viel lieber würde sie nach der zehnten Klasse das Abitur machen, wogegen ihre Mutter ständig Einwände erhob, denn sie vertrat die Meinung, dass eine Frau das Abitur allenfalls brauchte, wenn sie Lehrerin werden wollte. Alle anderen Berufe, die ein Studium benötigten, waren in ihren Augen eine reine Männerdomäne, während es der Frau zukam, das Haus in Ordnung zu halten, die Kinder zu erziehen und gute Speisen auf den Tisch zu bringen. Das war so absolut vorsintflutlich, dass Inga immerzu darüber in Streit mit ihr geriet.
„Wie passt denn das damit zusammen“, hatte Inga zuletzt gefragt, „dass die Frauen hier zu Köchinnen ausgebildet werden und in Restaurants arbeiten können?“
„Ich spreche mich nicht gegen eine Berufstätigkeit von Frauen aus, sondern sage, dass sie ihre Möglichkeiten ausschöpfen sollen. Eine Frau sollte ihren Mann im Gasthof- und Restaurantgewerbe unterstützen. Und sie kann, sollte sie ihren Gemahl überleben, die Wirtschaft auch allein weiterführen. Aber sage mir einmal, was eine Ärztin nun besser macht als ein Arzt?“
„Wenn ihr Mann stirbt, kann sie die Praxis weiterführen“, schlug Inga vor. „Oder sie kann sich auf Frauenheilkunde und Geburtshilfe spezialisieren.“
„Was du immer redest. Für die Geburtshilfe gibt es Hebammen, und Männer sind für den Arztberuf einfach besser geeignet, sie sind überlegter und rationaler.“
Inga könnte die Wände hochgehen, wenn sie ihre Mutter so reden hörte. Nicht, dass sie selbst ein Medizinstudium anstrebte, aber allein aus dem Grund, ihrer Mutter eins auszuwischen, hätte sie es gerne getan. Eigentlich wusste sie nicht, ob sie überhaupt studieren wollte, aber das konnte man ja nie wissen, da war es ja nicht schlecht, Abitur zu haben. Zudem wäre sie andernfalls nächstes Jahr mit der Schule fertig und müsste in eine Ausbildung gehen. Das jedoch wollte sie keinesfalls, dann lieber drei weitere Jahre die Schulbank drücken.
Als sie an diesem Nachmittag das Haus verließ und in den Hof trat, sah sie eine der Neuen unter der Ulme stehen und rauchen. Sie war wirklich hübsch und hatte ganz offensichtlich Klasse, aber das waren so manche, und trotzdem strebten sie nun das Dasein als Hausfrau oder Hilfskraft ihres Ehemannes an, als hätte das Leben sonst nichts zu bieten. Inga wusste noch nicht, was sie wollte, aber was sie nicht wollte, war ihr bereits jetzt klar – sie würde nicht auf Gedeih und Verderb von jemandem abhängig sein.
Langsam schlenderte Inga über den Hof und beschleunigte ihre Schritte erst, als sie durch das Portal auf die Allee getreten war. Die Hausaufgaben hatte sie beendet, ihre Pflichten im Haushalt mehr schlecht als recht erledigt, der Nachmittag gehörte ihr. Um sich der ständigen Beobachtung zu entziehen, verbrachte sie die freie Zeit gerne draußen, außer Sichtweite des Hauses. Zwar tobte hier nun wahrlich nicht gerade das Leben, aber sie entzog sich dem Zugriff ihrer Mutter. Manchmal nahm sie den Bus und fuhr einige Stationen weiter, um eine Freundin zu besuchen. An diesem Tag jedoch hatte sie andere Pläne.
Josh hieß der Junge, den sie bei einem ihrer seltenen Freizeitausflüge nach Köln über eine Freundin kennengelernt hatte. Er würde in diesem Sommer sein Abitur machen und fuhr Motorrad. Sie hatten sich auf Anhieb blendend verstanden, und er war nicht so albern wie die Jungen in Ingas Alter. Von ihm hatte sie nicht einmal ihren engsten Freundinnen erzählt, denn die hätten gleich eine heimliche Verliebtheit vermutet, dabei verband Inga mit ihm vielmehr eine Freundschaft. Ob sie auch ein klein wenig in ihn verliebt war, wusste sie nicht, das spielte derzeit auch keine Rolle für sie. Er verstand sie, und das taten nun einmal die wenigsten.
Einmal hatte sie sich ihrer Mutter gegenüber verplappert, als sie eine amüsante Anekdote erzählt hatte und versehentlich endete mit „und dann hat Josh erzählt …“. Ihre Mutter hatte sofort eingehakt. „Wer ist Josh? Ist das die Kurzform von Joshua? Ist er etwa Jude? Woher kennst du ihn? Seit wann triffst du dich mit irgendwelchen Jungs?“
Inga hatte erzählt, dass sie ihn über eine Freundin kannte und sie gelegentlich alle zusammen etwas unternahmen. Damit hatte sich ihre Mutter zufriedengegeben, aber Inga nahm sich vor, künftig vorsichtiger zu sein.
Sie ging bis zum Waldsaum und sah ihn dort bereits sitzen und an einem Stück Holz herumschnitzen. Ob Josh nur eine Abkürzung war, hatte sie ihn nie gefragt, es spielte schlicht keine Rolle für sie. Josh Heinthal, so hatte er sich vorgestellt. Als sie auf ihn zutrat, blickte er auf und lächelte. Eine Strähne seines dunklen Haars fiel ihm in die Stirn, und Inga dachte, dass ihr dieses Bild auch Jahre später in Erinnerung bleiben würde.
„Na, du“, begrüßte er sie. „Den Argusaugen der Mutter entkommen?“
„Ja, zum Glück.“ Sie ließ sich neben ihm nieder und beobachtete die Handbewegungen, mit denen er dem Stück Holz Konturen gab. „Was wird das?“
„Warten wir es ab.“ Er zwinkerte ihr zu. „Das Holz verrät es mir vorab nicht.“
Er hatte schöne Hände, fand sie. Ob sie doch ein bisschen verliebt in ihn war? Woran merkte man das eigentlich?
„Ich möchte so gerne mal in Köln ausgehen“, sagte Inga.
„Wir können nach Köln fahren, wenn du möchtest.“
„Heute geht es nicht, dann bin ich zu spät zu Hause, und die Wochenenden verplant meine Mutter immer.“ Seufzend gab sich Inga einen Moment lang ihrem Elend hin. „Ich könnte ihr sagen, dass ich eine Freundin besuche, aber ich traue ihr noch zu, dass sie da anruft. Und wenn dann herauskommt, dass ich nicht da bin …“ Sie führte den Satz nicht zu Ende.
„Eine verzwickte Situation“, gestand er.
„Du hast es gut, du kannst kommen und gehen, wie du magst. Bestimmt kannst du abends sogar tanzen, wenn dir danach ist.“
„Das stimmt.“
Wieder seufzte Inga, dieses Mal sehnsuchtsvoll. „Ich würde zu gerne abends ausgehen.“
„Ich befürchte, in die Tanzlokale lassen sie dich in deinem Alter gar nicht rein.“
„Ich könnte mich älter schminken.“
Jetzt schmunzelte er und schnitzte weiter.
„Könnten wir es nicht einmal versuchen?“
Er blickte auf. „Du meinst, ich soll dich abends abholen? Aber das merkt deine Mutter doch sofort.“
„Nein, wenn ich zu Bett gegangen bin, schaut sie nicht mehr nach mir. Damit hat sie aufgehört, als ich zehn war. Ich könnte mich hinausschleichen, sie würde es gar nicht bemerken. Und du holst mich dann ein Stück vom Haus entfernt ab.“
Er wirkte skeptisch, krauste kaum merklich die Stirn. „Ich weiß nicht, ob das nicht doch zu riskant ist.“
„Ach, bitte, Josh. Auch, wenn wir nicht tanzen gehen, ich möchte so gerne in die Stadt.“
Eine Weile schwieg er, dann nickte er schließlich. „Also gut.“
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