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Exit (Silo 3)Exit (Silo 3)

Exit (Silo 3) Exit (Silo 3) - eBook-Ausgabe

Hugh Howey
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Roman

— Die Buch-Trilogie zur Serie „Silo“ von Apple TV+!

„Hugh Howey hat ein packendes Meisterwerk geschaffen, intelligent, düster und dramatisch.“ - Wilhelmshavener Zeitung

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Exit (Silo 3) — Inhalt

Was würdest du tun, wenn du wüsstest, dass das Schicksal aller in deinen Händen liegt?

Band 3 der spektakulären „Silo“-Reihe

Juliette Nichols, die neue Herrin in Silo 18, bricht mit den jahrhundertealten Regeln der unterirdischen Gemeinschaft - und lässt den riesigen Bohrer demontieren, um ihn für einen neuen Zweck einzusetzen. Denn Juliette weiß, dass ihr Freund Lucas und die anderen sterben werden, wenn sie nicht sofort handelt. Doch sie weiß nicht, dass ihr die größte Überraschung noch bevorsteht ...

Spannende Science-Fiction und verstörende Gesellschaftsvision zugleich

Die Bücher der „Silo“-Reihe:

Band 1: Silo

Band 2: Level

Band 3: Exit

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 01.04.2016
Übersetzt von: Gaby Wurster
464 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-30921-9
Download Cover
€ 8,99 [D], € 8,99 [A]
Erschienen am 30.03.2015
Übersetzt von: Gaby Wurster
464 Seiten
EAN 978-3-492-96963-5
Download Cover
„In Exit laufen die verschiedenen Handlungsstränge der Geschichte zusammen und führen sie zu einem fulminanten Abschluss...Wer klaustropohobe Atmosphäre und Sci-Fi mag, die ohne technischen Fortschritt auskommt, der ist bei Hugh Howeys Trilogie bestens aufgehoben.“
agm Magazin

Leseprobe zu „Exit (Silo 3)“

1. Kapitel
Silo 18
In der Mechanik rieselte Staub von der Decke, freigesetzt von der Wucht der Bohrung. Die wulstigen Kabelstränge zitterten, die Rohre schepperten. Ein Stakkato aus Schlägen erfüllte die Luft im Generatorenraum, das Geräusch hallte von den Wänden wider und erinnerte an die Zeit, als die schlecht justierten Maschinen noch eine Gefahr für die Arbeiter gewesen waren.
Mitten in diesem Radau stand Juliette Nichols, sie hatte ihren Overall bis zur Taille heruntergezogen, die losen Ärmel um die Hüften gebunden, ihr Unterhemd war dreckig von Staub [...]

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1. Kapitel
Silo 18
In der Mechanik rieselte Staub von der Decke, freigesetzt von der Wucht der Bohrung. Die wulstigen Kabelstränge zitterten, die Rohre schepperten. Ein Stakkato aus Schlägen erfüllte die Luft im Generatorenraum, das Geräusch hallte von den Wänden wider und erinnerte an die Zeit, als die schlecht justierten Maschinen noch eine Gefahr für die Arbeiter gewesen waren.
Mitten in diesem Radau stand Juliette Nichols, sie hatte ihren Overall bis zur Taille heruntergezogen, die losen Ärmel um die Hüften gebunden, ihr Unterhemd war dreckig von Staub und Schweiß. Sie lehnte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf den Bohrhammer, ihre sehnigen Arme zitterten, während der schwere Schlagbolzen wieder und wieder in die Betonwand von Silo 18 rammte.
Juliette spürte die Vibrationen in ihren Zähnen. Jeder Knochen, jedes Gelenk in ihrem Körper bebte, ihre alten Wunden schmerzten, die Erinnerung an früher. Die Grubenarbeiter, die sonst die Maschine bedienten, sahen ihr wenig begeistert von der Seite aus zu. Juliette wandte den Blick von dem staubüberzogenen Beton ab und sah die Männer dastehen, die Arme vor der breiten Brust verschränkt, die Kiefer kantig zusammengepresst. Vielleicht waren sie wütend, weil Juliette sich ihre Maschine angeeignet hatte. Oder wegen der Tabuverletzung – dass sie an einer Stelle bohrte, wo das Bohren eigentlich verboten war.
Juliette schluckte Staub und Steinchen, die sich in ihrem Mund sammelten, und konzentrierte sich auf die einstürzende Wand. Es gab vielleicht noch einen anderen Grund für die Abneigung der Arbeiter – einen, den sie nicht ignorieren konnte: Gute Mechaniker und Grubenleute waren ihretwegen gestorben. Blutige Kämpfe waren ausgebrochen, nachdem sie die Reinigung verweigert hatte. Wie viele dieser Männer und Frauen, die ihr nun beim Graben zusahen, hatten einen geliebten Menschen verloren, den besten Freund, ein Familienmitglied? Wie viele gaben ihr die Schuld? Sicherlich war sie selbst nicht die Einzige, die sich Vorwürfe machte.
Der Bohrer bockte, Metall krachte auf Metall. Juliette hielt den Schlaghammer schräg, und im weißen Fleisch des Betons wurden noch weitere Stahlknochen freigelegt. Sie hatte bereits ein beträchtliches Loch in die Außenwand des Silos gerissen. Eine erste Reihe von Stahlstreben hing gezackt herunter, und an den Enden, wo Juliette den Schneidbrenner angesetzt hatte, waren sie weich wie Kerzenwachs. Dahinter war sie auf noch einen halben Meter Beton und eine weitere Reihe Stahlstäbe gestoßen. Die Silowände waren dicker, als sie gedacht hatte. Mit tauben Gliedern und angespannten Nerven schob Juliette die Maschine auf ihren Schienen weiter nach vorn, der keilförmige Schlagbolzen löste den Stein zwischen den Streben. Wenn sie das Schaubild nicht mit eigenen Augen gesehen hätte – wenn sie nicht sicher wüsste, dass es dort draußen noch andere Silos gab –, sie hätte längst aufgegeben. Ihre Arme vibrierten so sehr, dass ihre Hände nur noch verschwommene Flecken waren. Aber es war die Wand des verfluchten Silos, die sie angriff, sie arbeitete mit wilder Entschlossenheit, wollte sich endlich ganz nach draußen bohren.
Die Arbeiter traten verlegen von einem Fuß auf den anderen. Juliette konzentrierte sich auf den Streifen weißen Betons zwischen den Stahlstäben. Mit dem Stiefel trat sie auf den Steuerungshebel und stemmte sich gegen die Maschine, die sich abermals auf den verrosteten Schienen ein paar Zentimeter voranbewegte. Sie hätte schon längst eine Pause einlegen sollen. Der Staub saß ihr in der Kehle, sie musste unbedingt Wasser trinken, ihre Arme brauchten Erholung. Zu ihren Füßen und unten am Bohrhammer häufte sich der Schutt. Sie trat ein paar größere Stücke aus dem Weg und bohrte weiter.
Mayor Nichols fürchtete, dass sie die Arbeiter nicht noch einmal überreden könnte, sie weitermachen zu lassen, wenn sie eine Pause einlegte. Mayor hin oder her, Schichtleiterin hin oder her – sie hatte gesehen, wie Männer, die sie für furchtlos gehalten hatte, den Generatorenraum mit gerunzelter Stirn verließen. Sie schienen Angst zu haben, dass Juliette eine Art heiliges Siegel brechen und faule, todbringende Luft hereinlassen könnte. Sie war sich bewusst, wie die Leute sie anblickten: Sie wussten, dass sie draußen gewesen war, außerhalb des Silos – als wäre sie eine Art Geist. Manche gingen auf Distanz, als hätte sie ­irgendeine Krankheit.
Sie biss die Zähne zusammen – der Schmutz knirschte –, erneut trat sie auf den Führungshebel, und der Bohrhammer fuhr wieder ein paar Zentimeter weiter. Ein paar Zentimeter! Juliette verfluchte die Maschine und den Schmerz in ihren Handgelenken. Verflucht seien der Aufstand und ihre toten Freunde! Verflucht sei der Gedanke an Solo und die Kinder, die ganz allein waren – eine Endlosigkeit aus Stein entfernt! Und verflucht sei dieser blödsinnige Bürgermeisterinnenjob – die Leute sahen sie an, als müsste sie auf einmal alle Schichten auf allen Ebenen leiten, sie meinten, sie wüsste zum Henker noch mal, was sie tat, und man müsste ihr Gehorsam leisten, selbst wenn man sie fürchtete …
Der Bohrhammer machte einen größeren Satz nach vorn, der Schlagbolzen kreischte. Juliette rutschte mit ­einer Hand ab, die Maschine drehte hoch, als wollte sie jeden Moment explodieren. Die Arbeiter schraken auf wie Flöhe, ein paar eilten zu ihr. Juliette schlug auf den roten Aus-Knopf, der unter der weißen Staubschicht kaum zu sehen war. Das Gerät rumpelte und holperte, dann stand es still.
„Du bist durch! Du bist durch!“
Raph zog sie zurück, seine bleichen, von jahrelanger Grubenarbeit kräftigen Arme umschlangen ihre lahmen Glieder. Auch andere riefen ihr zu, dass sie es geschafft habe. Sie war durch! Der Bohrhammer hatte geklungen, als sei eine Kurbelwelle gebrochen – sie hatte das alar­mierende Schrillen einer schweren Maschine gehört, die ohne Reibung, ohne Widerstand gelaufen war. Juliette ließ die Steuerungsknöpfe los und sank in Raphs Arme. Wieder überkam sie die Verzweiflung beim Gedanken an ihre Freunde, die lebendig begraben waren in dieser Gruft, in diesem leeren Silo, und zu denen sie nicht gelangen konnte.
„Du bist durch – du musst weg da!“
Eine Hand, die nach Schmierfett und Plackerei roch, hielt ihr den Mund zu und schützte sie vor der Luft von außen. Juliette konnte nicht mehr atmen. Als sich die Staubwolke verzog, war vor ihr ein schwarzer Fleck aus leerem Raum zu sehen.
Da, zwischen zwei Stahlstreben, war ein dunkles Nichts. Ein Nichts zwischen den Gefängnisgittern, die den Silo in zwei Lagen vollständig umgaben, von der Mechanik bis ganz hinauf zur Spitze.
Sie war durch. Draußen. Juliette erhaschte einen Blick auf eine andere, eine ganz andere Außenwelt.
„Den Brenner“, murmelte sie. Sie zog Raphs schwielige Hand von ihrem Mund und wagte einen Atemzug. „Bring mir den Schneidbrenner und eine Taschenlampe.“



2. Kapitel
Silo 18
„Dieser Scheiß ist total verrostet.“
„Sieht aus, als wären das hydraulische Leitungen.“
„Die müssen ja tausend Jahre alt sein“, lispelte Fitz. Die Worte zischten durch die Zahnlücken des Mannes, der hier unten für die Schmierölversorgung zuständig war. Die Grubenarbeiter und Mechaniker, die während der Bohrung Distanz gehalten hatten, drängten sich nun hinter Juliette, während sie die Taschenlampe durch einen hartnäckigen Schleier aus pulverisiertem Stein in die Finsternis da­hinter hielt. Raph, dessen Haut weiß war wie der umherschwebende Staub, stand neben ihr. Die beiden zwängten sich in den konischen Krater, den Juliette in den etwa anderthalb Meter dicken Beton gerissen hatte. Der Albino machte große Augen, er blähte seine durchscheinenden Wangen auf und schürzte die blutleeren Lippen.
„Du kannst ruhig atmen, Raph“, sagte Juliette. „Hier hinten kommt einfach bloß ein weiterer Raum.“
Mit einem erleichterten Grunzen atmete er aus und bat die Leute hinter ihm, nicht zu drängeln. Juliette gab die Taschenlampe an Fitz weiter und trat von dem Loch zurück. Sie bahnte sich einen Weg durch die Menschenmenge, ihr Herz raste beim Anblick der Maschine auf der anderen Seite der Wand. Was sie gesehen hatte, bestätigten gleich darauf die anderen, die etwas sagten von Streben, Bolzen, Schläuchen, Stahlplatten mit Farbresten und Rostflecken – ein mechanisches Ungeheuer, das so weit hinauf und so weit nach rechts und links reichte, wie die schwachen Lichtstrahlen der Taschenlampe den Raum durchdrangen.
Ein Blechbecher mit Wasser wurde Juliette in die zitternden Hände gedrückt. Gierig trank sie. Sie war erschöpft, aber ihr Gehirn lief auf Hochtouren. Sie konnte es nicht erwarten, ans Funkgerät zu gehen und Solo von ihrem Erfolg zu erzählen. Und Lukas. Sie hatte hier unten ein Stückchen Hoffnung gefunden.
„Und jetzt?“, fragte Dawson.
Der neue Vorarbeiter der dritten Schicht, der ihr den Wasserbecher gegeben hatte, taxierte sie misstrauisch. Dawson war Ende dreißig, aber die Arbeit im gedimmten Licht der Nachtschicht hatte ihn vorzeitig altern lassen. Er hatte große, knotige Hände, die von zerschrammten Knöcheln und von gebrochenen Fingern zeugten – welche er sich teils bei der Arbeit, teils in Schlägereien zugezogen hatte. Juliette gab ihm den Becher zurück. Dawson blickte hinein und trank den letzten Schluck.
„Jetzt machen wir ein größeres Loch“, sagte sie. »Wir ­gehen da rein und schauen nach, ob das Ding noch zu retten ist.«
Juliette nahm eine Bewegung oben auf dem surrenden Hauptgenerator wahr. Sie blickte gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie Shirly sie stirnrunzelnd ansah und sich dann abwandte.
Juliette drückte Dawsons Arm. „Dieses eine Loch zu vergrößern würde ewig dauern“, sagte sie. „Wir brauchen Dutzende kleinere Löcher, die wir dann verbinden können. Hol den anderen Bohrhammer. Und setz die Männer mit Pickhacken auf die Arbeit an – aber sorg dafür, dass es, wenn möglich, nicht so viel Staub gibt.“
Der Vorarbeiter nickte und trommelte mit den Fingern an den leeren Becher. „Keine Sprengung?“, fragte er.
„Nein. Was auch immer das da drinnen ist, ich will es nicht beschädigen.“
Er nickte wieder, und Juliette überließ ihm die Leitung der weiteren Bohrung. Sie ging zum Generator. Auch Shirly hatte ihren Overall bis zur Taille heruntergezogen und die Ärmel zusammengebunden, auf ihrem Unterhemd zeichnete sich ein auf dem Kopf stehendes Schweißdreieck ab. Mit einem Lappen reinigte sie die Oberseite des Generators, wischte alte Schmiere und den neuen Staubfilm ab, der sich bei der heutigen Grabung daraufgelegt hatte.
Juliette band die Ärmel ihres Overalls auseinander, schlüpfte hinein und verbarg ihre Narben. Sie stieg an der Seitenwand des Generators hinauf, sie wusste, wo sie Halt finden konnte, welche Stellen heiß waren und welche nur warm. „Brauchst du Hilfe?“, fragte sie, als sie oben angekommen war und die wohlige Wärme sowie die Vibrationen der Maschine in ihren strapazierten Muskeln spürte.
Shirly wischte sich das Gesicht mit dem Saum ihres Unterhemds ab. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, geht schon“, sagte sie.
„Tut mir leid wegen des Drecks.“ Juliette musste das Dröhnen der massiven Kolben übertönen, die ständig auf und ab schossen. Vor nicht allzu langer Zeit wären ihr die Zähne ausgefallen, wenn sie sich auf den ­Generator gestellt hätte, damals, als die Maschine nicht rundgelaufen war.
Shirly warf die dreckigen weißen Lappen hinunter zu Kali, die als ihr Schatten arbeitete und den Stoff in einen Eimer mit schmutzigem Wasser auswrang. Es war komisch, zu sehen, wie sich die neue Leiterin der Mechanik mit so etwas Banalem abrackerte wie dem Reinigen des Generators. Juliette versuchte, sich Knox dabei vorzustellen … Und dann fiel ihr zum hundertsten Mal ein, dass sie selbst inzwischen Mayor war – und wie verbrachte sie ihre Zeit? Indem sie sich durch Wände grub und Stahlstreben zerschnitt. Kali warf die Lappen wieder hinauf, Shirly fing sie mit einem nassen Klatschen auf. Das Schweigen von Juliettes alter Freundin, die sich bückte und weiterarbeitete, sprach Bände.
Juliette drehte sich um und sah zu, wie das Bohrungs­team, das sie zusammengestellt hatte, Schutt beseitigte und das Loch vergrößerte. Shirly war nicht begeistert gewesen darüber, dass Juliette ihr die Arbeitskräfte ab­ge­zogen und das Siegel des Silos durchbrochen hatte. Der ­Bedarf an Arbeitern war zu einem Zeitpunkt gestiegen, als deren Reihen sich ohnehin infolge der Gewaltaus­brüche gelichtet hatten. Und ob Shirly ihr nun die Schuld am Tod ihres Mannes gab oder nicht, war unerheblich. ­Ju­liette gab sich selbst die Schuld, und dadurch stand die Spannung so greifbar zwischen ihnen wie festgebackene Schmiere zwischen zwei Zahnrädern.
Bald ertönte wieder das Hämmern an der Wand. Juliette sah Bobby an der Steuerung der Maschine, seine dicken, muskulösen Arme zitterten, während er den fahrbaren Presslufthammer führte. Der Anblick dieser merkwürdigen Maschine, irgendeines Apparates, der jenseits der Wand verborgen war, hatte ihrer zögerlichen Mannschaft Energie verliehen. Angst und Zaudern hatten sich in Entschlossenheit verwandelt. Ein Träger brachte Essen. Ju­liette sah, wie der junge Mann mit den nackten Armen und Beinen die Arbeiten aufmerksam verfolgte. Er ließ seine Lieferung aus Obst und warmem Mittagessen da und nahm dafür Klatsch und Tratsch mit.
Juliette stand auf dem dröhnenden Generator und zerstreute ihre Zweifel, indem sie sich noch einmal sagte, dass sie das Richtige taten. Sie hatte selbst gesehen, wie groß die Welt war, sie hatte auf einer Hügelkuppe gestanden und über das Land geblickt. Nun musste sie den anderen zeigen, was dort draußen lag. Dann würden sie sich in die Arbeit stürzen und sich nicht mehr vor ihr fürchten.



3. Kapitel
Silo 18
Ein Loch wurde aufgerissen, groß genug, um sich hindurchzuquetschen. Juliette durfte als Erste hinein. Mit der Taschenlampe in der Hand krabbelte sie über einen Schutthaufen und zwischen verbogenen Stahlstreben hindurch. Die Luft außerhalb des Generatorenraums war kühl wie in einem tiefen Schacht. Sie hustete in die hohle Hand, der Staub von den Bohrungsarbeiten kitzelte sie in Nase und Rachen. Sie sprang auf den Boden hinter dem klaffenden Loch.
„Vorsicht“, sagte sie zu den anderen, die ihr nachkamen, „man rutscht hier leicht weg.“
Teils erklärte sich die Unebenheit im Inneren mit den Betonstücken, die hereingefallen waren, teils war es einfach die Beschaffenheit des Bodens hier drinnen, der aussah, als wäre er von den Krallen eines Riesen aufgerissen worden.
Sie leuchtete von unten, von ihren Stiefeln bis ganz hi­nauf an die dunkle Decke, und begutachtete die wandhohe Gestalt einer Maschine, neben der selbst der Hauptgene­rator und die Ölpumpen winzig wirkten. Ein Koloss von einem solchen Ausmaß hätte nie gebaut werden sollen – und würde sich vermutlich niemals reparieren lassen. Ju­liette verließ der Mut. Ihre Hoffnung, die Maschine wieder instand setzen zu können, schwand.
Raph kam auf dem knirschenden Schutt in der Dunkelheit zu ihr. Albinismus kam nicht in allen Generationen vor. Raphs Augenbrauen und Wimpern waren hauchzart, fast unsichtbar. Seine Haut war hell wie Milch. Aber wenn er in den Gruben war, verlieh ihm die Dunkelheit, die andere wie Ruß überzog, eine gesunde Gesichtsfarbe. Juliette konnte verstehen, warum er als Junge die Farmen verlassen hatte, um im Dunkeln zu arbeiten.
Mit einem anerkennenden Pfeifen schwenkte Raph seine Lampe über die Maschine. Kurz darauf kam das Pfeifen als Echo zurück – ein Vogel in einer dunklen Ecke, der ihn verhöhnte.
„Ein solches Ding muss von den Göttern stammen“, überlegte er laut.
Juliette sagte nichts. Sie hatte Raph nie für einen Mann gehalten, der den Märchen der Priester Glauben schenkte. Dennoch, das Ding war zweifellos Ehrfurcht einflößend. Sie hatte Solos Bücher gesehen und vermutete, dass die gleichen Menschen, die in der alten Zeit diesen Apparat gebaut hatten, auch für die verfallenden Türme verantwortlich waren, deren Reste noch immer hinter dem Hügel aufragten. Juliette streckte die Hand aus und strich über das Metall, das seit Jahrhunderten nicht mehr berührt oder angesehen worden war, und staunte, wozu die Leute früher imstande gewesen waren. Sie fühlte sich plötzlich sehr klein. Vielleicht lagen die Priester doch nicht so weit daneben …
„Ja, die Götter“, brummte Dawson und drängte sich neben die beiden. „Was machen wir damit?“
„Ja, Jules“, flüsterte Raph aus lauter Respekt vor den dunklen Schatten und den noch dunkleren Vorzeiten, „wie sollen wir das Ding hier rausschaffen?“
„Gar nicht“, sagte sie. Juliette schlüpfte in den Hohlraum zwischen der Betonmauer und dem Maschinenturm. „Das Ding wird sich selbst hinausschaffen.“
„Du meinst, dass wir es in Gang setzen können?“, sagte Dawson.
Die Arbeiter im Generatorenraum drängten sich um das Loch und blockierten das Licht, das hereingefallen war. Juliette richtete ihre Taschenlampe auf den schmalen Spalt zwischen der Silowand und der riesigen Maschine und suchte einen Weg darum herum. Sie ging in die Dunkelheit hinein und kletterte die sanft ansteigende Bodenfläche hinauf.
„Wir setzen es in Gang“, versicherte sie Dawson. „Wir müssen nur herausfinden, wie es funktioniert.“
„Vorsicht!“, sagte Raph, als sie mit den Stiefeln einen Stein lostrat. Juliette war schon über den Köpfen der Männer. Sie sah, dass der Raum weder eine Ecke noch eine hintere Wand hatte, er wölbte sich einfach rundherum.
„Das ist ein großer Kreis“, rief sie, ihre Stimme hallte zwischen Stein und Metall wider. „Ich glaube nicht, dass die Maschine hier auf dieser Seite bedient wird.“
„Da drüben ist eine Tür“, verkündete Dawson.
Juliette rutschte den Hang hinab zu den beiden Männern. Einer der Zuschauer im Generatorenraum schaltete eine weitere Taschenlampe an, zusammen mit Juliettes Lichtstrahl beschien er die Tür, die statt an Angeln an ­Bolzen hing. Dawson kämpfte mit einem Griff hinten an der Maschine. Er stöhnte vor Anstrengung, aber dann quietschte das Metall und gab widerwillig der Muskelkraft nach.
Kaum waren sie durch die Tür, standen sie im weiten Inneren der Maschine. Damit hätte Juliette niemals gerechnet. Als sie an das Schaubild in Solos verborgenem Zimmer dachte, wurde ihr nun klar, dass die Geräte maßstabsgetreu gezeichnet worden waren: Die kleinen Fortsätze, die auf Solos Plan bei den unteren Etagen vorsprangen, waren in Wirklichkeit ein Stockwerk hoch und doppelt so lang. Riesige Stahlzylinder – dieser hier schmiegte sich in eine runde Höhle, fast als hätte er sich selbst begraben. Juliette sagte ihren Leuten, die das Innere der Maschine begingen, sie sollten vorsichtig sein. Ein Dutzend Arbeiter kam hinzu, ihre Stimmen vermischten sich und hallten in den labyrinthischen Eingeweiden des Apparates wider. Das Tabu war gebannt durch Neugier und Erstaunen, die Bohrungen waren erst einmal vergessen.
„Das ist eine Tunnelbohrmaschine mit Abraumförderanlage“, sagte jemand. Lichtstrahlen fielen auf Eisenschütten aus ineinandergreifenden Platten. Unter den Platten waren Räder und Zahnräder und auf der anderen Seite noch mehr Platten, die sich überlappten wie die Schuppen einer Schlange. Juliette begriff auf den ersten Blick, wie sich das ganze Band bewegte – die Platten klappten am Ende um und wurden zum Anfang zurückgezogen. Steine und Schutt wurden damit transportiert. Niedrige Seitenwände aus fingerdicken Platten verhinderten, dass die Steine hinunterfielen. Der Bruchstein, den die Bagger ausgruben, wurde von hier ans Ende befördert, von wo die Arbeiter ihn dann mit Schubkarren wegschaffen mussten.
„Das Ding ist völlig durchgerostet“, sagte jemand leise.
„Ist aber nicht so schlimm, wie es aussieht“, meinte ­Ju­liette. Die Maschine hatte Hunderte von Jahren hier gestanden, sie hatte einen Rosthaufen erwartet, aber der Stahl glänzte stellenweise noch. „Vermutlich war der Raum luftdicht“, dachte sie laut und erinnerte sich an den Luftzug an ihrem Hals und wie der Staub eingesaugt worden war, als sie zum ersten Mal durch das Loch in der Wand geblickt hatte.
„Das ist alles hydraulisch“, sagte Bobby. In seiner Stimme schwang Enttäuschung mit – als hätte er gerade erfahren, dass auch die Götter ihre Hintern nur mit Wasser wuschen. Juliette sah die Sache anders. Solange die Stromquelle intakt war, würde sie die Maschine zum Laufen bringen. Es war eine einfache Konstruktion – als hätten die Götter gewusst, dass diejenigen, die sie entdeckten, auf jeden Fall weniger raffiniert, weniger kompetent sein würden. Es gab Tritthebel wie bei einem Presslufthammer, die jedoch über die gesamte Länge der gewaltigen Maschine verliefen, lediglich die Achsen waren in alter Schmiere festgebacken. An den Seiten und an der Decke gab es weitere Trittstufen, die ebenfalls gegen die Erde drückten. Ju­liette verstand nur nicht, wie man die Grabung in Gang setzen könnte. Vorbei an den beweglichen Schütten und an all den Teilen, mit denen man den zerkleinerten Stein und Abraum aus dem hinteren Teil des Gerätes transportierte, gelangten sie zu einer Stahlwand, die hinter den Trägern und Stegen in der Dunkelheit darüber verschwand.
„Das ergibt doch nicht einen Hauch von Sinn“, meinte Raph, als er an der rückwärtigen Wand stand. „Sieh dir diese Räder an. Wie herum bewegt sich das Ding denn überhaupt?“
„Das sind keine Räder“, sagte Juliette und richtete die Taschenlampe darauf. „Das ganze Vorderteil dreht sich. Hier ist das Drehgelenk.“ Sie deutete auf die Mittelachse, die den Umfang von zwei erwachsenen Männern hatte. „Und diese runden Scheiben hier werden vermutlich auf der anderen Seite hervorspringen und bohren.“
Bobby blies ungläubig den Atem aus. „Durch massiven Fels?“
Juliette versuchte, eine der Scheiben zu drehen. Sie bewegte sich kaum. Man würde ein ganzes Fass Schmiere brauchen.
„Ich glaube, sie hat recht“, sagte Raph. Er hatte den Deckel von einem Behältnis angehoben, das die Größe eines Doppelbetts hatte. Er leuchtete mit der Lampe hinein. »Das hier ist ein Gehäuse mit Zahnrädern. Sieht nach einem ­Getriebe aus.«
Juliette ging zu ihm. Spiralförmige Zahnräder vom Durchmesser einer Männerbrust steckten in getrocknetem Fett fest. Sie passten in die Zähne, die das Vorderteil drehen würden. Das Getriebegehäuse war so breit und massig wie das des Hauptgenerators, wenn nicht größer.
„Schlechte Nachrichten“, sagte Bobby. „Seht mal nach, wohin die Wellen führen.“
Die Lichtkegel von drei Taschenlampen vereinten sich und folgten der Antriebswelle bis ganz nach hinten, wo sie im Nichts endete. Im Inneren dieses schweren Gerätes, in dem großen, leeren Raum, in dem sie standen, hätte das Herz des Ungetüms liegen sollen.
„Sie führen nirgendwohin“, sagte Raph.
Juliette kehrte zurück zum hinteren Teil. Die dicken Aufhängungen für den Motor waren nackt. Zusammen mit den anderen Mechanikern hatte sie die Stelle gesucht, wo ein Antrieb hingehörte. Nun, da sie wusste, wonach sie suchen musste, entdeckte sie die Fundamente: sechs Gewindestangen von zwanzig Zentimeter Durchmesser voller altem, gehärtetem Fett. Die passenden Muttern zu den Gewinden hingen an Haken unter der Aufhängung. Die Götter kommunizierten mit Juliette, sie sprachen mit ihr. Die Menschen von früher hatten eine Nachricht hinterlassen, verfasst in der Sprache derer, die etwas von Maschinen verstanden. Über diese weite Zeitspanne hinweg sagten die Götter zu ihr: „Das funktioniert folgendermaßen. Befolge diese und jene Schritte.“
Fitz kniete sich neben Juliette und legte eine Hand auf ihren Arm. „Tut mir leid wegen deiner Freunde“, sagte er und meinte damit Solo und die Kinder. Aber Juliette fand, er hörte sich so an, als würde er sich zugleich für alle anderen freuen. Als sie zum hinteren Teil der metallenen Höhle blickte, sah sie noch mehr Grubenarbeiter und Mechaniker, die hereinspähten, sich aber nicht so recht ins Innere wagten. Als wären sie alle froh, wenn dieses Unterfangen genau hier und jetzt zu Ende wäre und Juliette nicht weitergraben würde. Aber sie verspürte mehr als nur den Drang weiterzumachen – sie entdeckte allmählich einen Sinn. Die Maschine war nicht vor ihnen versteckt, sondern sicher verwahrt worden. Geschützt. Verstaut. Sie war überall gut geschmiert und vor der Luft geschützt worden – aus einem Grund, den sie nicht erfassen konnte.
„Machen wir das Ganze wieder zu?“, fragte Dawson. Sogar der erfahrene Mechaniker schien plötzlich erpicht da­rauf zu sein, dass Juliette nicht weiterbohrte.
„Das Gerät wartet auf etwas“, sagte sie, zog eine der großen Muttern vom Haken und legte sie auf eine einge­fettete Gewindestange. Die Größe der Stange kam ihr bekannt vor. Sie erinnerte sich an die Arbeit, die sie in einem anderen Leben verrichtet hatte – damals, als sie den Haupt­generator justiert hatte. „Die Maschine will geöffnet werden“, sagte sie. „Überprüft die Rückseite der Maschine, wo wir hereingekommen sind. Die Wand sollte sich entfernen lassen, damit man den Schutt hinausbefördern, aber auch etwas hereintransportieren kann. Der Motor fehlt nämlich ganz und gar nicht!“
Raph blieb bei ihr, seine Taschenlampe war auf ihren Oberkörper gerichtet, damit er in ihr Gesicht sehen konnte.
„Ich weiß, warum sie die Maschine hier reingestellt haben“, sagte sie zu ihm, während die anderen zur Rückseite gingen und nachsahen. »Ich weiß, warum sie das Gerät ­direkt neben den Generatorenraum platziert haben.«



4. Kapitel
Silo 18
Shirly und Kali putzten noch immer den Hauptgenerator, als Juliette aus dem Bauch der riesigen Förderanlage zurückkam. Bobby zeigte den anderen, wie sich die Rückseite der Maschine öffnen ließ, welche Bolzen man entfernen musste und wie die Platten zu lösen waren. Juliette ließ sie die Abstände zwischen den Gewindestangen und dann die Fundamente des Ersatzgenerators ausmessen, um bestätigt zu bekommen, was sie bereits wusste. Die Maschine, die sie freigelegt hatten, war ein richtiggehendes Schaubild. Es war wirklich eine Nachricht aus der Vorzeit. Eine Entdeckung, die eine ganze Kette weiterer Erkenntnisse nach sich zog.
Während Juliette zusah, wie Kali den Schmutz aus ­einem Tuch wrang, bevor sie es in einem zweiten Eimer mit kaum weniger dreckigem Wasser auswusch, kam ihr eine zündende Idee: Eine Maschine verrottete, wenn man sie tausend Jahre einfach so stehen ließ. Sie lief nur dann rund, wenn man sie benutzte, wenn ein Team von Leuten sich ein Leben lang ihrer Wartung verschrieb. Dampf stieg von einem heißen, schaumigen Verteiler auf, als Shirly den Hauptgenerator wischte, und Juliette begriff, dass sie seit Jahren auf diesen Moment zugearbeitet hatten. Sosehr ihre ehemalige Freundin und jetzige Leiterin der ­Mechanik Juliettes Projekt auch hasste – Shirly hatte die ganze Zeit mitgearbeitet. Der kleinere Generator auf der anderen Seite des Hauptmotors hatte eine andere, eine weiter reichende Bedeutung.
„Die Fundamente scheinen zu passen“, sagte Raph, als er mit einem Zollstock in der Hand ankam. „Meinst du, sie haben den Hauptgenerator mit dieser Maschine hierhergebracht?“
Shirly warf einen schmutzigen Lappen herunter, ein sauberer wurde hinaufgeworfen. Arbeiter und Schatten bewegten sich im Takt wie zwei summende Kolben.
„Ich glaube, dass der Ersatzgenerator dazu dient, die Maschine hier herauszuholen“, sagte Juliette zu Raph. Sie verstand nur nicht, warum jemand ein Notstromaggregat einer anderen Verwendung zuführen sollte, und sei es auch nur für kurze Zeit. Damit wäre der ganze Silo den Launen eines Stromausfalls ausgesetzt. Hinter der Wand hätten sie genauso gut einen kaputten Motor in Form ­eines Rosthaufens finden können. Schwer vorstellbar, dass jemand einverstanden war mit den Plänen, die in Juliettes Kopf Gestalt annahmen.
Ein Lappen flog in hohem Bogen durch die Luft und platschte in einen Eimer mit braunem Wasser. Kali warf keinen weiteren Lappen hinauf – sie starrte zum Eingang des Generatorenraums. Juliette folgte ihrem Blick, ihr wurde heiß. Inmitten der schwarzen, schmutzigen Arbeiter der Mechanik stand ein makellos sauberer junger Mann in einem glänzenden silbernen Overall und fragte nach dem Weg. Ein Mann deutete in Juliettes Richtung, und Lukas Kyle, Leiter der IT-Abteilung und Juliettes Freund, kam auf sie zu.
„Sorg dafür, dass der Ersatzgenerator gewartet wird“, sagte sie zu Raph, der sich sichtlich versteifte. Er schien zu wissen, worauf diese Anweisung hinauslief. „Wir müssen ihn anschließen und sehen, was die Maschine dann macht. Wir müssen sowieso die Krümmer entfernen und reinigen.“
Raph nickte, er biss die Kiefer zusammen und löste sie wieder voneinander. Juliette klopfte ihm auf den Rücken, wagte aber nicht, Shirly anzusehen, während sie Lukas entgegenging.
„Was tust du hier unten?“, fragte sie ihn. Sie hatte tags zuvor mit ihm gesprochen, und er hatte nichts von seinem geplanten Besuch gesagt. Es fühlte sich so an, als wollte er sie in die Enge treiben.
Lukas blieb abrupt stehen und zog die Stirn kraus. Juliettes Tonfall war ihr selbst peinlich. Es gab keine Umarmung, keinen Handschlag zur Begrüßung. Sie war zu aufgewühlt, zu angespannt von den Entdeckungen dieses Tages.
„Ich sollte dich dasselbe fragen“, sagte Lukas. Sein Blick wanderte zu dem Loch in der hinteren Wand. „Während du hier unten Löcher bohrst, erledigt der IT-Chef die Arbeit des Mayors.“
„Dann ist ja alles beim Alten.“ Juliette lachte und versuchte, die Situation zu entspannen. Aber Lukas lächelte nicht. Sie legte ihm die Hand auf den Arm und führte ihn weg vom Generator und hinaus in die Halle. „Tut mir leid“, sagte sie, „ich war nur überrascht, dich zu sehen. Du hättest mir sagen sollen, dass du kommst …“
„… und dann hätten wir dieses Gespräch auch über Funk führen können?“
Juliette seufzte. „Nein … Ich freue mich, dich zu sehen. Wenn ich hochkommen und Papiere unterschreiben soll, mache ich das gern. Und wenn du willst, dass ich eine Rede halte oder ein Baby küsse, mache ich das auch. Aber ich habe dir letzte Woche gesagt, dass ich eine Möglichkeit finden will, meine Freunde aus dem anderen Silo zu holen. Und da du dagegen warst, dass ich noch mal über die Hügel gehe …“
Lukas’ Augen weiteten sich, als Juliette so einfach gegen das Tabu verstieß und von der Außenwelt sprach. Er sah sich in der Halle um, ob jemand in der Nähe war. „Jules, du sorgst dich wegen ein paar Leuten da drüben, während hier im Silo alle unruhig werden. Es gibt Gerüchte über Unstimmigkeiten im oberen Drittel. Es gibt ein Nachbeben des Aufstandes, den du ausgelöst hast – nur wendet sich diesmal das Ganze gegen uns.“
Juliette spürte, wie ihr heiß wurde. Ihre Hand glitt von Lukas’ Arm. „Ich habe diesen Kampf nicht gewollt. Ich war nicht einmal hier, als er stattgefunden hat.“
„Aber jetzt bist du hier.“ Lukas’ Augen waren traurig, nicht zornig. Juliette sah, dass die Tage ganz oben im Silo für ihn genauso lang gewesen waren wie für sie unten in der Mechanik. In den vergangenen Wochen hatten sie seltener miteinander gesprochen als damals, als sie in Silo 17 gewesen war. Nun standen sie sich näher und liefen Gefahr, sich zu entfremden.
„Was soll ich tun?“, fragte sie.
»Erstens: Hör auf zu graben. Bitte! Sheriff Billings hat ein Dutzend Beschwerden von Nachbarn gesammelt, die da­rüber spekulieren, was passieren wird. Einige sagen, dass die Außenwelt zu uns hereindringen wird. Ein Priester aus der Mitte des Silos hält wöchentlich zwei Messen ab, um vor den Gefahren zu warnen – seine Vision ist, dass der Staub in den Silo dringt und Tausende sterben werden …«
„Priester!“, höhnte Juliette.
»Ja, Priester. Die Leute marschieren von ganz oben he­runter und von unten herauf, um seine Messe zu hören. Und sollte er seine Frequenz erhöhen und drei Messen in der Woche lesen, wird es zu einer Massenbewegung kommen.«
Juliette fuhr sich durchs Haar, Steinchen und Schutt fielen heraus. Schuldbewusst blickte sie in die Wolke aus feinem Staub. „Was glauben die Leute denn, was mit mir da draußen geschehen ist? Bei meiner Reinigung? Was sagen sie darüber?“
„Manche können es kaum glauben“, sagte Lukas. „Es wird zu einer Legende hochstilisiert. Also wir, wir in der IT, wissen, was passiert ist, aber die anderen fragen sich, ob du überhaupt zur Reinigung hinausgeschickt wurdest. Ich habe ein Gerücht gehört, nach dem das Ganze eine Inszenierung gewesen sein soll, mit der du deine Wahl zur Bürgermeisterin erzwingen wolltest.“
Juliette fluchte leise. „Gibt es Neuigkeiten aus den anderen Silos?“
„Ich erzähle den Leuten schon seit Jahren, dass die Sterne Sonnen sind wie unsere Sonne. Manches übersteigt einfach unser Fassungsvermögen. Und ich glaube nicht, dass die Rettung deiner Freunde etwas daran ändern würde. Du könntest auch deinen Funkerfreund auf dem Markt vorführen und behaupten, dass er aus einem anderen Silo kommt, und die Leute würden es dir genauso glauben – oder eben nicht.“
„Walker?“ Juliette schüttelte den Kopf, aber sie wusste, dass Lukas recht hatte. „Ich brauche meine Freunde nicht, damit sie bestätigen, was ich erlebt habe, Luke. Hier geht es nicht um mich. Da drüben leben sie zusammen mit den Toten. Mit Geistern.“
»Wir etwa nicht? Vergraben wir unsere Toten etwa nicht in den Gemüsebeeten? Ich bitte dich, Jules! Hunderte würden für dich sterben, nur damit du ein paar Menschen­leben retten kannst. Vielleicht sind die anderen da drüben besser dran.«
Sie holte tief Luft und hielt den Atem an, bemühte sich, nicht wütend zu werden. „Das sind sie nicht, Lukas! Der Mann, den ich retten will, ist halb verrückt, weil er Jahrzehnte lang ganz allein war. Die Kinder da drüben haben eigene Kinder. Sie brauchen unsere Ärzte. Und außerdem … habe ich es ihnen versprochen.“
Juliettes flehentliches Bitten erntete lediglich einen traurigen Blick. Es hatte keinen Sinn. Wie sollte man einen Mann dazu bringen, sich um Menschen zu kümmern, die er nie getroffen hatte? Umgekehrt fragte sie sich, was ihr eigentlich an den Leuten in diesem Silo hier lag, die sich zweimal pro Woche von einem Priester vergiften ließen. Oder an all den Fremden, die sie zu führen gewählt worden war, die sie aber nie kennengelernt hatte?
„Ich wollte diese Stelle nicht“, sagte sie zu Lukas, und es fiel ihr schwer, ihre Stimme nicht vorwurfsvoll klingen zu lassen. Andere hatten sie als Bürgermeisterin gewollt, nicht sie selbst. Doch anscheinend waren es nun nicht mehr so viele Leute wie bei ihrer Wahl.
„Ich wusste auch nicht, wofür ich meine Schattenzeit absolviert habe“, konterte Lukas. Er wollte noch etwas hinzufügen, hielt aber den Mund, als eine Gruppe Arbeiter aus dem Generatorenraum kam. Ihre Stiefel wirbelten Staubwolken auf.
„Wolltest du noch etwas sagen?“, fragte Juliette.
„Ich wollte dich bitten, heimlich zu graben, wenn es denn sein muss. Oder überlass es den Männern und komm …“
Er ließ den Satz unvollendet.
„Wenn du sagen wolltest, ich solle heimkommen – mein Zuhause ist hier! Gib mir noch ein paar Tage.“ Es war keine Bitte, es war eine Anweisung. „Lass mich prüfen, ob wir hier unten überhaupt graben können. Und dann komme ich, küsse die Babys und begrabe die Toten. Wenn auch natürlich nicht in dieser Reihenfolge.“
Lukas runzelte die Stirn über Juliettes makabren Ton. „Und du wirst aufpassen, was du sagst, nicht ständig das Tabu brechen?“
Sie nickte. „Wenn wir graben, dann in aller Stille.“ Dabei fragte sie sich, ob eine Maschine wie die, die sie gefunden hatten, überhaupt ohne den entsprechenden Lärm graben könnte. „Ich wollte ohnehin ein paar Energiespartage einlegen. Ich möchte den Hauptgenerator eine Zeit lang auf halber Kraft fahren lassen. Nur für den Notfall.“
Lukas nickte. Juliette merkte, wie leicht und notwendig sich ihre Lügen anhörten. Sie überlegte, ihm auch von der anderen Idee zu erzählen, die ihr seit Wochen durch den Kopf ging, seit sie damals beim Arzt gewesen war, um ihre Verbrennungen behandeln zu lassen. Sie würde für diese Idee ganz oben im Silo etwas erledigen müssen, aber sie sah, dass Lukas nicht in der Stimmung war, weiteren Ärger zu schlucken. Also erzählte sie ihm nur jenen Teil ihres Plans, von dem sie dachte, er würde sich darüber freuen.
„Wenn hier unten alles auf den Weg gebracht ist, will ich hochkommen und eine Zeit lang bleiben“, sagte sie und nahm seine Hand. „Ich werde für eine Weile nach Hause kommen.“
Lukas lächelte.
„Aber weißt du“, sie hatte trotz allem das Bedürfnis, ihn zu warnen, „ich habe die Außenwelt gesehen, Luke. Nachts bin ich wach und lausche Walkers Funkverkehr. Da draußen sind eine Menge Leute wie wir, sie leben in Angst, sie leben getrennt voneinander und kennen die Wahrheit nicht. Ich will mehr tun, als nur meine Freunde zu retten. Ich hoffe, du weißt das. Ich will dem, was sich dort draußen hinter den Mauern des Silos befindet, auf den Grund gehen.“
Lukas’ Adamsapfel hüpfte auf und ab, sein Lächeln verschwand. „Du hängst deine Ziele zu hoch“, sagte er kleinlaut.
Juliette drückte lächelnd die Hand ihres Geliebten. „Das sagt der Mann, der die Sterne beobachtet!“

Hugh Howey

Über Hugh Howey

Biografie

Hugh Howey, Jahrgang 1975, verdiente sein Geld als Skipper, Bootsbauer, Dachdecker und Buchhändler, bevor er als Romanautor erfolgreich wurde. Mit seinem dystopischen Thriller „Silo“, den er zuerst selbst verlegte, erschloss er sich eine schnell wachsende Leserschaft und schaffte den internationalen...

Pressestimmen
agm Magazin

„In Exit laufen die verschiedenen Handlungsstränge der Geschichte zusammen und führen sie zu einem fulminanten Abschluss...Wer klaustropohobe Atmosphäre und Sci-Fi mag, die ohne technischen Fortschritt auskommt, der ist bei Hugh Howeys Trilogie bestens aufgehoben.“

Mannheimer Morgen

„Im Laufe von 464 Seiten, die auch ohne Kenntnis der beiden Vorgängerbände plausibel sind, gewinnen die Charaktere Zug um Zug an Brisanz, Schicksale verbinden sich, die wechselnden Schauplätze kulminieren in einem futuristischen Endzeit-Inferno zwischen Kalten Krieg und Krieg der Welten.“

Wilhelmshavener Zeitung

„Hugh Howey hat ein packendes Meisterwerk geschaffen, intelligent, düster und dramatisch.“

Sonic Seducer

„Wenige Seiten genügen bis man wieder in der Tiefe gefesselt ist, wo sich die Zukunft der kompletten Menschheit entscheidet.“

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