Frauen, Fische, Fjorde Frauen, Fische, Fjorde - eBook-Ausgabe
Deutsche Einwanderinnen in Island
Frauen, Fische, Fjorde — Inhalt
1949. Auf Islands Bauernhöfen herrscht akuter Frauenmangel, während in Deutschland auf einen Mann fünf Frauen kommen. Hunderte von ihnen entschließen sich, nach Island zu emigrieren – in ein Land, von dem viele nicht einmal wissen, wo genau es liegt. Ihre Motive sind so unterschiedlich wie ihre Biografien. Anhand ausgewählter Lebenswege zeichnet Anne Siegel spannende Schicksale nach. Sensibel und mitreißend schildern die heute betagten Frauen, wie sie überwältigt wurden von der Gastfreundschaft der Bewohner und der Wildheit der Natur; wie sie als Landarbeiterinnen ein neues Zuhause fanden, Familien gründeten und für immer blieben. Um drei neue Kapitel ergänzte und aktualisierte Taschenbuchausgabe www.FrauenFischeFjorde.de www.facebook.com/FrauenFischeFjorde/
Leseprobe zu „Frauen, Fische, Fjorde“
Vorwort
Sie hieß Helga. Ich weiß noch, wie sie aussah, als ich sie zum ersten Mal sah. Blondes Haar, klein und zart – wahrscheinlich auch dünn. Blaue Augen. Ich wusste, dass sie fremde Sprachen konnte, aber auch ein wenig Isländisch, das eben ganz anders klang. Wusste, dass sie aus Deutschland kam. Es war Nachkriegszeit. In den Zeitungen sahen wir Fotos von Städten in Ruinen und verhungernden Kindern. Im Radio klangen Nachrichten voller Trauer und Elend. Das hat mich als Kind ziemlich mitgenommen. Helga war mit dem Schiff Esja aus Hamburg zu Beginn des [...]
Vorwort
Sie hieß Helga. Ich weiß noch, wie sie aussah, als ich sie zum ersten Mal sah. Blondes Haar, klein und zart – wahrscheinlich auch dünn. Blaue Augen. Ich wusste, dass sie fremde Sprachen konnte, aber auch ein wenig Isländisch, das eben ganz anders klang. Wusste, dass sie aus Deutschland kam. Es war Nachkriegszeit. In den Zeitungen sahen wir Fotos von Städten in Ruinen und verhungernden Kindern. Im Radio klangen Nachrichten voller Trauer und Elend. Das hat mich als Kind ziemlich mitgenommen. Helga war mit dem Schiff Esja aus Hamburg zu Beginn des Sommers 1949 in Reykjavík angekommen. Ein paar Jahre später heiratete sie den blonden, maskulinen Bauernsohn von dem Hof, auf dem sie als Magd gearbeitet hatte. Sie waren zum Standesamt in unserer Kleinstadt, Seydisfjördur aus den Ostfjorden, gekommen. Meine Eltern, alte Freunde der Bauernfamilie, waren Trauzeugen. Nach der Trauung gab es Kaffee und Kuchen in unserer guten Stube. Wir Kinder durften nicht mitfeiern, nur die Hand geben, gratulieren und dann schnell verschwinden. Ich weiß es noch, wie ich an dem hellen Sommerabend auf der Treppe saß und darauf gewartet habe, dass das Brautpaar herauskam. Ich wollte Helga nochmals sehen, anfassen. Wollte sie am liebsten kennenlernen. Das habe ich auch – aber erst später . . . Es war Anfang der Fünfzigerjahre. Während des Krieges war Island von den Alliierten besetzt, und meine Eltern waren einen Sommer lang mit meinen Geschwistern bei den Freunden auf dem Bauernhof gewesen. In Seydisfjördur war eine große Militärbasis, und ständig wurden deutsche Luftangriffe erwartet. Manch eine Nacht saß unsere Familie unten im Keller. Jetzt würde Helga, ein deutsches Mädchen, also die Bauersfrau desselben Hofes sein, den meine Familie gehütet hatte. Obwohl der Krieg zu Ende war, haben wir uns immer noch vor den Deutschen gefürchtet. Helga war die erste Deutsche, der ich begegnet bin. Kurz darauf kam ein deutscher Zahnarzt mit seiner Familie zu uns. Vor ihm habe ich mich wahnsinnig gefürchtet. Nicht vor Helga. Sie war anders, irgendwie interessant. Vor ihr musste man sich nicht fürchten. Die Jahre gingen dahin, und wir haben uns kennengelernt. Während der Gymnasiumszeit hat sie versucht, mit mir Deutsch zu sprechen, ich wollte aber lieber Polnisch hören. Sie hat auch für mich Lieder in Russisch gesungen und einen populären Schlager übersetzt. Helga war hochintelligent, hatte in einer Großstadt in Deutschland studiert, hatte ihre Träume gehabt und verloren. Und dann war sie in Island gelandet. Auf einem Bauernhof am Ende der Welt, ohne Elektrizität, wo der Stall die Toilette war. Hier wollte sie aber bleiben. Hier musste sie sich nicht fürchten. Sie wurde isländischer als viele der Einheimischen und fühlte sich gut aufgehoben. Island wurde ihre Heimat. Wenn ich an Helga und ihr Schicksal denke, bekomme ich immer noch eine Gänsehaut. Was die Leute im Krieg und in der Zeit danach ertragen mussten – dass sie überhaupt dem Tag in die Augen sehen konnten! Die Erzählungen von einigen der Frauen, die 1949 aus Deutschland kamen, erscheinen jetzt in Deutschland, in diesem Buch von Anne Siegel. Ich freue mich sehr darüber. Die Geschichte der Frauen darf nicht verloren gehen. Den sechs Frauen wünsche ich eine gute literarische Fahrt in die alte Heimat. Aus Island folgen warme Grüße, Respekt und Dank dafür, dass sie zu uns kamen, dass sie sich bei uns eingelebt haben und unsere Gesellschaft bereicherten. Ohne diese Frauen wäre meine Heimat ärmer geblieben. Kristín Steinsdóttir, Reykjavík
Eine isländisch-deutsche Mission
Am 24. März des Jahres 1949 wird Konsul Árni Siemsen von einem schrillen Ton aus seinem Mittagsnickerchen geschreckt. Es klingelt Sturm an der Tür zur alten Villa, in der er seit gut einem halben Jahr mit einem kleinen Stab von Mitarbeitern residiert. Mit einem lauten Stöhnen erhebt sich der Konsul, der in Wahrheit nur Vizekonsul ist, aus seinem schweren, antiken Fauteuil und streift sich die ledernen Halbschuhe über, die noch ganz warm sind und neben dem Sessel stehen. Energisch öffnet er die Tür der Bibliothek zur Eingangshalle. Schwere, dunkle Teppiche liegen auf altem Tannenparkett und dämpfen seine Schritte durch die große Halle. Siemsen hat schlagartig schlechte Laune. Dass er in seiner neuen Funktion in Lübeck so stark frequentiert werden würde, hat ihm niemand gesagt. So schlägt der Bote, der vor der Tür steht, aus einem alten Instinkt heraus erst einmal die Hacken zusammen, als der hochgewachsene Mann mit dem Respekt einflößenden Gesichtsausdruck ihm die Tür öffnet und sich die fedrigen Haare aus dem Gesicht nach hinten streicht. „Ein Telegramm, Herr Konsul!“ Árni Siemsen hat es im Lauf der letzten Monate irgendwann aufgegeben, die Menschen in der Hansestadt, in der er nun wohnt, eines Besseren zu belehren. Er ist zwar Vizekonsul, aber für Lübecks Bewohner ist er „der Herr Konsul“. Tatsächlich ist die alte Villa die erste diplomatische Dienststelle, die die Isländer nach dem Krieg wieder in Deutschland errichten. Es ist zwar geplant, demnächst eine höhere diplomatische Mission in Hamburg zu installieren, aber dass sich die erste Vertretung der noch jungen Republik Island ausgerechnet in der markanten holsteinischen Metropole befindet, hat gute Gründe. Zu Lübeck pflegten die Isländer schon seit Jahrhunderten eine besondere Verbindung, denn hier wurde seit dem Mittelalter gelagert, was das Inselvolk für die Konservierung seines wichtigsten Exportgutes am dringendsten benötigte, das Salz. Ohne die großen, backsteinernen Speicherhäuser an der Trave oder vielmehr deren Inhalt wäre der Fisch aus dem Nordmeer vermutlich niemals zum Exportschlager geworden. „Das weiße Gold“ hat Lübeck wiederum nicht nur Reichtum gebracht, sondern auch uralte Handelsbeziehungen mit Skandinavien, die auf gegenseitigem Vertrauen beruhten. Allein um Island herum lieferte das Meer über hundert verschiedene Fischarten. So reich waren die Fischgründe dort, dass die enormen Fangmengen ganz Kontinentaleuropa versorgen konnten. Und jetzt war es endlich wieder so weit, denn Deutschland, das vor dem Krieg der zweitgrößte Exportpartner des ehemals dänisch besetzten Landes gewesen war, durfte, nein es musste Waren aus dem fernen Inselreich der Wikinger erhalten. Während des Krieges hatte ein striktes Exportverbot zwischen Island und dem „Dritten Reich“ geherrscht. Ein Blick über die Schulter des Telegrammboten hinweg genügt Siemsen, um sich dessen zu vergewissern, dass die Menschen im zerbombten Lübeck jetzt vor allem eines brauchen: Nahrung. Die vollkommen unbeschädigte Villa in der Körnerstraße, dieses erste isländische Konsulat in Deutschland nach dem Krieg, bildet einen befremdenden Kontrast zum Rest der Stadt. Fast vier Jahre nach dem Ende des Krieges häuft sich noch immer der Schutt in den Gassen der ehemals akkuraten, sauberen Stadt mit ihren hohen Handelshäusern aus dunkelroten Ziegelsteinen. Viele Gebäude sind bis auf ihr hölzernes Skelett zerstört; noch immer mangelt es den Menschen an Nahrung, Wohnraum und Arbeit. Viele sehen müde und abgemagert, ja zutiefst traurig aus. Selbst ihre Kleidung ist in dieser ersten Frühlingswitterung des Jahres 1949 nur unzulänglich und improvisiert aus alten Stoffen zusammengenäht. Bis vor einem Jahr hatte der Tauschhandel noch rege geblüht. Zigaretten gegen Hosen, Hosen gegen Hemden, Schnaps, Räder. Es war wie ein lichtes Aufblitzen nach dem Verlust dessen, was die Menschen einmal besessen hatten. Die alte Währung war in die Inflation abgedriftet, also hatten die Menschen begonnen, untereinander direkt Waren zu tauschen. Mit der Währungsreform zum Sommeranfang 1948 hat sich das schlagartig geändert. Noch stehen auf den Holzplanken des Lübecker Bahnhofsportals die Schwarzhändler und versuchen, die alte Reichsmark aus dem Osten gegen die neue Währung des Westens, die „Deutsche Mark“, zu tauschen. Aber schon der Verfall der Ost-Mark zeigt, wie stark der Wert des Geldes im Westen plötzlich gestiegen ist. Eins zu vier tauschen sie eine deutsche Mark gegen das, was die Leute aus der sowjetisch besetzten Zone mitbringen. Die beginnt gerade mal fünfzehn Kilometer östlich von hier und riegelt sich bereits mit Zäunen und Wachtürmen ab. Lübeck hat zu dieser Zeit 250 000 Einwohner, die Hälfte davon sind Flüchtlinge, die im Laufe des Krieges in der Stadt nahe der Ostsee gestrandet sind. Island hat zur selben Zeit gerade einmal 140 000 Einwohner. Aber das Telegramm, das Siemsen jetzt in der Hand hält, soll dies ändern. Es stammt vom Bauernverband in Reykjavík. An diesem Tag beginnt eine erstaunliche Geschichte, die ein paar Hundert deutsche Frauen zur größten Immigrantengruppe Islands machen wird. Dabei wissen viele der Frauen, die nur zwei Monate und elf Tage später in See stechen, zu diesem Zeitpunkt nicht einmal, wo Island überhaupt liegt. Árni Siemsens schlechte Laune ist an diesem Tag schlagartig verflogen. Die Aufgabe, die er nun zu leisten hat, ist nicht nur interessant, sie bietet auch die Chance, zu einem wahren Botschafter zu werden, denn sie drängt sich geradezu auf, um alle Presse- und Medienkontakte zu aktivieren, die der „Herr Konsul“ hat. Siemsen arbeitet sogar so gut, dass er statt der zunächst angefragten 180 allein im selben Jahr 281 Frauen für ein Leben auf Island begeistern kann. In den Jahren darauf werden weitere Frauen aus Deutschland in einer zweiten Welle nach Island auswandern.
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