Freiheit, Wind und Mut Freiheit, Wind und Mut - eBook-Ausgabe
Wie ich auf hoher See zu innerer Stärke fand
— Der persönliche Bericht einer Atlantiküberquerung mit 47 Frauen auf dem Traditionssegler „Brigg Roald Amundsen“„Perfekt für Abenteuerlustige!“ - Freizeit direkt
Freiheit, Wind und Mut — Inhalt
Mit alten Segeln auf neuen Kursen
Vier Wochen dauert die Atlantik-Überquerung des Traditionsseglers Brigg Roald Amundsen. An Bord: 47 Frauen zwischen 19 und 67 Jahren.
Das würde sicher anstrengend werden, hörte Jessica Benjatschek immer wieder, "bei so vielen Frauen so lang auf engem Raum". Doch sie lässt sich nicht beirren, geht an Bord und erkennt: das Gegenteil ist der Fall.
Female Empowerment mitten auf dem Atlantik
Die Dynamik in jeder der drei Wachgruppen ist wertschätzend und offen. Hier gibt es Platz für große im Alltag verdrängte Themen. Jessica lernt, die vielen Taue auseinanderzuhalten, sieht Leuchtplankton, fliegende Fische, Delfine und einen Zwergwal, übernimmt für einen Tag die Rolle der Kapitänin, klettert auf dem Klüverbaum und badet im offenen Meer.
Gefühlvoll beschriebene äußere und innere Reise
Auf dem Meer wächst die Journalistin über sich hinaus. Sie lernt, für sich selbst einzustehen, und ihre anfängliche Angst wandelt sich bald in Selbstbewusstsein.
Leseprobe zu „Freiheit, Wind und Mut“
Der Ruf des Atlantiks
Als Nichtseglerin aufs Meer
Auf dem Meer leuchten die Sterne so hell, wie ich es selten zuvor erlebt habe. Es ist Neumond, und lediglich ein in der Ferne blinkender Leuchtturm sorgt für etwas Lichtverschmutzung in der nächtlichen Dunkelheit. Ich halte Wache, zusammen mit vierzehn anderen Frauen, während der Rest der Crew schläft. In unserer vierstündigen Schicht tragen wir die Verantwortung für das Segelschiff. Das macht mich ganz nervös, weil ich noch keine Ahnung habe, was ich hier überhaupt genau mache und was meine Aufgaben sind. [...]
Der Ruf des Atlantiks
Als Nichtseglerin aufs Meer
Auf dem Meer leuchten die Sterne so hell, wie ich es selten zuvor erlebt habe. Es ist Neumond, und lediglich ein in der Ferne blinkender Leuchtturm sorgt für etwas Lichtverschmutzung in der nächtlichen Dunkelheit. Ich halte Wache, zusammen mit vierzehn anderen Frauen, während der Rest der Crew schläft. In unserer vierstündigen Schicht tragen wir die Verantwortung für das Segelschiff. Das macht mich ganz nervös, weil ich noch keine Ahnung habe, was ich hier überhaupt genau mache und was meine Aufgaben sind. Aber wenn ich in die Sterne schaue, die so schön funkeln, spüre ich in mir eine tiefe Ruhe.
Plötzlich ziehen am Horizont Wolken auf. Der Himmel flackert. Es blitzt, aber es donnert nicht. „Das ist Wetterleuchten“, erklärt Conni, unsere Kapitänin. Wenn sich Gewitterzellen entladen, entstehen Fallwinde, die sich sternförmig über die Ostsee ausbreiten. Durch die Winddreher müssen wir ständig die Segel neu ausrichten – brassen –, um auf Kurs zu bleiben. Dafür ziehe ich mit meinem ganzen Körpergewicht am Seil. Meine Handflächen fühlen sich mit jedem Mal wunder an. In den kurzen Pausen bis zur nächsten Böe bestaunen alle schweigend den Nachthimmel. Ich sehe drei Sternschnuppen, aber immer wenn ich mir etwas wünschen will, heißt es wieder: „An die Brassen!“
Das erste Mal überhaupt segle ich auf einem Traditionssegelschiff, der Brigg Roald Amundsen: vier Tage auf der Ostsee von Rostock nach Sassnitz, nur mit Frauen. Wir haben mehrere Mutter-Tochter-Gespanne und ein paar beste Freundinnen, die nur dabei sind, weil sie einen Eindruck davon bekommen möchten, warum ihre Liebsten ihr Herz an die See verloren haben, zu der sie selbst, so wie ich, nur wenig Bezug haben. Für mich beginnt diese Erfahrung nämlich eher holprig.
Im Schnelldurchlauf bekommen meine Wachkameradinnen und ich erklärt, was wir wissen müssen. Da wären also die zwei hohen Masten und der Klüverbaum, ein Rundholz, das wie eine Speerspitze weit über das Schiff hinausragt. So weit komme ich noch mit. Dann aber wird es komplizierter. Um die Position der Segel zu verändern, muss ich alle 130 Tampen, so heißen die Enden der Seile, richtig zuordnen können. Die Seefahrtsbezeichnungen finde ich dabei einfach nur verwirrend. Es kommt mir vor, als würde auf diesem Schiff eine andere Sprache gesprochen werden, die ich nicht im Geringsten verstehe. Aber ich höre das ja auch alles zum ersten Mal. „Seht ihr die Toppnanten?“, fragt Sandra, unsere Wachleiterin, während wir ihr wie Schafe über Deck nachlaufen. „Ähm, wohin sollen wir gucken?“, flüstert Liz. „Habe ich mich auch gefragt“, antworten Marie und ich im Chor. Und ich bin so erleichtert, dass nicht nur ich mich so komplett lost fühle. Bisher ist mein einziges Erfolgserlebnis, dass ich Backbord und Steuerbord besser auseinanderhalten kann als links und rechts.
Ich habe überhaupt keinen Bezug zum Segeln. Zwar bin ich in Mecklenburg-Vorpommern aufgewachsen und habe als Kind viele Sommerferien an der Ostsee verbracht, allerdings eher am Strand oder auf dem Campingplatz. Meine Großeltern haben mich ein paarmal auf ihrem Motorboot mitgenommen, um auf Flüssen, Kanälen und Wasserstraßen zu schippern. Wenn wir in einer Schleuse waren, war das immer das Highlight für mich. Aber das ist mit Segeln auf traditionellen Segelschiffen nicht vergleichbar. Selbst auf einer Jacht zu segeln, soll laut den anderen Crewmitgliedern nicht wirklich vergleichbar sein. Aber wie bin ich überhaupt hier gelandet?
Durch einen großen Zufall. Ich habe mich nach meinem Volontariat beim Frauenmagazin Emotion gerade erst als Journalistin selbstständig gemacht und meiner ehemaligen Chefin geschrieben, dass ich gerne auch als Freie wieder für sie arbeiten würde. Ihre Antwort: „Hättest du eventuell Zeit und Lust, für uns ziemlich kurzfristig im August auf einen Segeltörn zu gehen?“ Dass ich noch nie zuvor segeln war, fände sie besonders spannend, und ich habe immer Lust auf neue Erfahrungen, bei denen ich vielleicht auch neue Seiten an mir entdecken kann.
Emotion will Frauen dazu ermutigen, ihren ganz eigenen Weg zu gehen. Eine Vision, mit der ich mich voll und ganz identifizieren kann. Mein Weg in den Journalismus ist alles andere als geradlinig. Zwar bin ich direkt nach dem Abi nach Hamburg gezogen, um an einer privaten Hochschule Journalistik zu studieren, doch brach ich das Studium dort trotz meines Stipendiums ab. Es fühlte sich einfach nicht stimmig an. Ich war unglücklich mit der Lehrweise und hatte den Eindruck, nur meine Zeit abzusitzen. Ein Journalistikstudium kann ein Weg in den Journalismus sein, aber es war nicht meiner. Auch wenn Kommiliton:innen die Sorge äußerten, dass ich aufgrund meiner Entscheidung wohl nie wieder Fuß im Journalismus fassen würde. Ich beschloss, erst mal Kulturanthropologie und im Nebenfach Religionswissenschaften zu studieren. Einfach aus der Neugierde heraus, ohne auch nur eine Vorstellung davon zu haben, was ich beruflich damit am Ende anfangen werde.
Im Pflichtpraktikum wollte ich dem Journalismus noch eine Chance geben. Herausfinden, ob ich damals mit meinem Traum, Journalistin zu werden, so falschlag oder ob es nicht doch etwas für mich ist.
Ich landete beim Emotion-Magazin, wo ich am ersten Tag komplett unerwartet auf eine ehemalige Kommilitonin traf, die meine Entscheidung damals nicht verurteilt hatte und sich freute, dass unsere Wege sich erneut kreuzten. Nach dem Praktikum, ohne das ich wohl nie in die U-Bahn gestiegen wäre, in der ich meinen Mann kennenlernte, wurde mir eine Stelle als studentische Aushilfe angeboten und schließlich auch die Ausbildung zur Redakteurin: ein Volontariat. Schnell durfte ich komplett eigenverantwortlich arbeiten, in meinem Tempo wachsen und mich ausprobieren. Besonders Themen, in denen es auf Feinfühligkeit und Empathie ankommt, landeten häufig auf meinem Tisch.
Am liebsten schreibe ich über Themen, in denen es um Schicksale und Menschen geht, über Themen, die aufrütteln, aber auch Hoffnung machen. Vermittlerin zwischen zwei Welten zu sein oder denen Gehör zu verschaffen, die sonst selten gehört werden, treibt mich an. Aber auch meine Neugierde, selbst neue Erfahrungen zu machen und die Welt um mich herum besser zu verstehen, in der es immer unterschiedliche Perspektiven und Lebensrealitäten gibt.
Und da bin ich also, im Auftrag von Emotion, um als Nichtseglerin darüber zu berichten, wie es so ist, auf einem traditionellen Segelschiff. Nur unter Frauen.
Auf dem Schiff merke ich schnell, dass diese Segelerfahrung wie ein Brennglas auf meine Schwachpunkte wirkt: Ich bin ungeduldig und kann schlecht akzeptieren, etwas nicht sofort zu verstehen. Dabei muss ich das gar nicht bis ins Detail, auf diesem Törn werden keine Vorkenntnisse erwartet. Hier an Bord heißt es, dass Neugierde viel wichtiger sei. Die alte Brigg ist eine Art Segelschulschiff, das vom Verein „LebenLernen auf Segelschiffen e. V.“ betrieben wird. Wir sollen nur gut zuhören, dann einfach machen. „Entspannt euch!“, hören wir immer wieder von den erfahreneren Seglerinnen, die sich alle gut in uns Neulinge hineinversetzen können und zugeben, dass sie nach Monaten auf dem Festland auch immer etwas Zeit bräuchten, um wieder reinzukommen und sich zurechtzufinden.
„Backbord-Gordinge bereit machen!“, ruft Conni, unsere Kapitänin. Ich halte den richtigen Tampen fest, sodass dieses Seil mir nicht mehr entwischen kann, und antworte unsicher: „Backbord-Gordinge sind klar?“ Unsere Kapitänin sagt: „Wisst ihr was? In der Stimme kann man jede Unsicherheit und alle Selbstzweifel heraushören, die man im Laufe des Lebens angehäuft hat.“ Diese Lektion will ich unbedingt mitnehmen. Ich habe mir angewöhnt, manchmal leiser und zurückhaltender zu sein, weil ich nicht auffallen oder herausstechen möchte. Hier kann ich wieder lernen, laut, bestimmt und selbstbewusst zu sein.
Die Frauen aus der Stammcrew erzählen mir, was sie an ihrem Hobby so sehr begeistert. Anna zum Beispiel ist Rechtsanwältin und segelt seit zehn Jahren, weil sie es genießt, einfach nur Anweisungen zu befolgen, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Das Schiff ist ihre Abkürzung ins Hier und Jetzt. Auch mir fällt auf, dass ich, seit ich an Bord bin, an nichts anderes denke. Dabei checke ich sonst selbst sonntagabends um 22 Uhr noch Mails. Das alles spielt hier keine Rolle. Ich komme einfach nicht dazu. Weil ich mich in dieser für mich neuen Welt erst mal zurechtfinden muss. Und weil ich den ganzen Tag oben an Deck beschäftigt bin und überall mit anpacke, wo eine helfende Hand gebraucht wird. Selbst wenn ich gerade keine Wache habe und mich eigentlich ausruhen könnte.
Zwischendurch übe ich Knoten und versuche beim „Klardeck machen“ die Tampen so aufzuwickeln, dass sie keine Achten bilden. Ein bisschen stolz bin ich schon, wie ordentlich ich das mache, bis die Kapitänin zu mir sagt: „Das sieht schön aus, muss im Ernstfall aber dreimal schneller gehen.“
Zum Glück lautet ein Grundsatz an Bord: „Jede in ihrem Tempo.“ Und ein anderer: „Alles kann, nichts muss.“ Das hilft mir, als ich mir nicht zutraue, bei Regen den 36 Meter hohen Mast hinaufzuklettern, um das Segel einzupacken. Erst bin ich enttäuscht, weil ich nur bis zur ersten Saling in zwölf Meter Höhe komme, doch meine Mitseglerinnen überzeugen mich, dass es viel mutiger ist, sich einzugestehen, wenn man an seine Grenzen stößt.
Im Laufe der viertägigen Reise verschiebe ich meine Grenzen immer mehr. Ich werde routinierter und schneller. Auch mit den Segelbegriffen klappt es besser. Und ich traue mich, die Segel auf dem Klüverbaum zusammenzupacken. Dafür stehe ich auf einem dünnen Tau mit einem Sicherheitsnetz darunter über dem offenen Meer und lasse den Blick schweifen. In der Abendsonne schimmern die Kreidefelsen orange-gold, ein Moment, der sich tief in mir einprägt.
Zur passionierten Seglerin hat mich der Törn nicht gemacht. Doch ich bin begeistert von den Frauen. In den wenigen Tagen sind wir eine richtige Gemeinschaft geworden. Ich habe mich in der Crew sofort willkommen gefühlt. Gerade als ich dachte: So langsam kenne ich mich hier aus, ist es auch schon wieder vorbei.
Bei der Verabschiedung laufen bei mir die Tränen. Werde ich einige der Frauen noch einmal wiedersehen, die in ganz Deutschland, Norwegen und der Schweiz verteilt leben?
Immer wieder denke ich daran, wie es wohl wäre, länger auf dem Schiff unterwegs zu sein. Was würde das mit mir machen? Werde ich dieselben positiven Effekte spüren? Also entspannter, gelassener, vor allem wohlwollender mit mir selbst sein, besonders dann, wenn meine innere Antreiberin mich stresst? In Tagträumen zieht es mich immer wieder raus aufs Meer. Die Sehnsucht wird stärker, aufs Schiff zurückzukehren.
Gelegenheiten, die sich nur einmal bieten
März 2022: „Hey, Verena, mittlerweile ist unser Ostseetörn ja schon eine Weile her. Ich überlege die ganze Zeit, ob ich noch mal einen Törn mitmache. Du auch?“
„Echt witzig, dass du das gerade ansprichst. Hast du von der geplanten Atlantiküberquerung gehört?“
„Nee, wie jetzt?“
„Diesen Winter wird es auf der Roald zum ersten Mal eine Atlantiküberquerung nur mit Frauen geben!“, sagt Verena begeistert. „Von Teneriffa bis Martinique, vier Wochen sind geplant.“
„Okay, ich bin dabei!“
„Ja? Echt?“
„Auf jeden Fall, da muss ich gar nicht drüber nachdenken. Das kann ich mir gar nicht entgehen lassen.“
„Ach, das wird toll! Ruf doch mal Klara an, vielleicht kann sie einen Platz für dich freihalten.“ Das mache ich auch, direkt nachdem wir aufgelegt haben.
„Na klar reserviere ich dir einen Platz“, sagt Klara. „Wie schön, dass du auch dabei bist. Meine Mutter und ich segeln auch wieder mit. Conni, Kathrin und Meike auch, soweit ich weiß.“
„Das wird ja immer besser!“
„Vermutlich ist es sogar weltweit das erste Mal, dass eine Crew nur mit Frauen den Atlantik auf einem traditionellen Segelschiff dieser Größenordnung überqueren wird.“
Ich erkenne mich selbst kaum wieder, wie schnell ich diese Entscheidung getroffen habe. Obwohl ich sonst immer das Bedürfnis habe, jede Ausgabe von dreißig oder mehr Euro mindestens eine Nacht zu überdenken. Das geht sonst nie aus der Laune heraus.
Irgendwie kommt mir diese Möglichkeit wie ein Wink des Schicksals vor, wie: „Du wolltest wissen, wie es ist, länger auf einem Segelschiff zu sein? Da findest du deine Antworten.“ Vier Wochen. Auf hoher See. Ohne Kontakt zur Außenwelt. Nur wir Frauen, das Schiff, das Meer, der Wind und der Himmel.
Euphorisch berichte ich meinem Mann davon. Michi glaubt mir erst mal gar nicht, dass ich schon zugesagt habe. „Na ja, bis zum Winter ist ja noch etwas Zeit.“ Meint er, dass ich doch noch kneifen könnte? Er weiß doch, wie stur ich bin, wenn ich erst mal eine Entscheidung getroffen habe. Nein, ich glaube, er scheint viel mehr erleichtert, dass ich noch genügend Zeit habe, mich auf den Törn einzustellen. Wie ich mich darauf vorbereiten möchte, will er wissen. Aber kann ich mich auf so ein Abenteuer überhaupt vorbereiten? Klara sagt, dass es auch bei diesem Törn nicht so wichtig ist, viel Erfahrung mitzubringen, hat mir aber auch angeboten, dass ich auf der Ostsee ja auch noch mal bei einem Törn dabei sein könnte. Nur höre ich immer wieder von erfahrenen Ostsee-Segler:innen, dass auch sie noch nie ein Unwetter auf See erlebt haben. Klar ist auch, dass eine Atlantiküberquerung anders ist als ein kurzer Törn auf der Ostsee. Aber das spielt gerade überhaupt keine Rolle für mich.
Segelvokabeln kann ich bestimmt in der Zwischenzeit lernen, im Bordhandbuch lesen, Knoten üben und den Sommer über den Gartenschlauch jedes Mal ein bisschen schneller und ordentlicher aufwickeln.
Wenn ich eines weiß, dann, dass ich mir in Zukunft keine Selbstvorwürfe machen möchte, die mit hätte, wäre oder könnte beginnen. Manche Gelegenheiten ergeben sich nur einmal im Leben. Diese ist eine davon. Die Erfahrungen, die ich machen werde, das weiß ich schon heute, werde ich nie vergessen. Auch wenn ich mich unterwegs doch nicht wohlfühlen sollte, habe ich es immerhin ausprobiert und danach zumindest Klarheit, anstatt mich weiterhin zu fragen, wie das wohl gewesen wäre.
Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht auch verunsichert bin. Michi schaut mich noch einen Moment prüfend an. Dann lachen wir, und er nimmt mich in den Arm.
„Michi?“
„Ja?“
„Angst macht es mir aber auch.“
„Ach ja?“
„O Gott! Was mache ich denn?“
Immerhin habe ich nicht die geringste Ahnung, was mich erwartet. Meine Vorstellungskraft kommt an ihre Grenzen: keine Bilder im Kopf, keine Assoziationen, keine Ahnung. Das macht mir Angst. Und zwar so richtig. Es ist überhaupt nicht greifbar, wovor genau ich mich fürchte, sondern einfach ein Gefühl. Als würden Millionen kleine Spinnen von meinen Beinen bis hoch zum Hals krabbeln. Nur ist Angst nicht auch eine ganz natürliche Reaktion auf etwas vollkommen Unbekanntes? Ich sollte ihr nicht zu viel Beachtung schenken. Bis dahin, rede ich mir ein, muss ich loslassen. Vor allem mein Bedürfnis nach Kontrolle: Ich muss aushalten, nicht zu wissen, was auf mich zukommt, bis es so weit ist.
Wenn im Herbst die neue Staffel „The Crown“ auf Netflix erscheint, so nehme ich mir vor, werde ich mit der Reisevorbereitung beginnen. Warum ausgerechnet eine Serie über das englische Königshaus? Einfach so. Weil ich gespannt bin, wie Diana, die Princess of Wales, dargestellt wird, mich darauf freue und hoffe, so der Nervosität in Bezug auf die Reise etwas entgegensetzen zu können. Und weil ich den Zeitpunkt noch etwas hinauszögern möchte, bis ich mir eingestehen muss, dass es jetzt wirklich ernst wird. Denn ich rede mir ein, dass ich dann immer noch zwei Monate habe, um mich auf mein großes Abenteuer vorzubereiten und meine Ausrüstung zu besorgen.
Der Sommer vergeht allerdings schneller als gedacht. Die neue Staffel ist längst angelaufen, nur habe ich zu viele Aufträge angenommen, die ich bis zu meiner Abreise abarbeiten muss. Ich habe in die Serie noch nicht mal reingeschaut, und wir sind schon fast im Dezember. Jetzt tickt die Uhr aber wirklich! Und meine Ängste schießen hoch wie ein Ball, den ich nicht länger unter Wasser drücken kann. Ich bin nervös und angespannt. Vielleicht auch, weil alle, denen ich von meiner Reise erzähle, noch mal nachhaken: „Das ist ein Scherz, oder? Du machst das? Das würde ich mich nicht trauen.“ Und wenn ich sage, dass wir nur unter Frauen sein werden, überrascht mich doch, dass mich mehr als nur ein Bekannter korrigieren wollte:
„Na, aber ihr habt doch noch den Kapitän.“
„Nein. Wir haben eine Kapitänin!“
Alle prophezeien mir, dass es sicher anstrengend wird bei so vielen Frauen auf engem Raum über so einen langen Zeitraum. Und keine kann weg oder zwischendurch abbrechen. Mir wird allmählich klar, dass diese Erfahrung ebenso grandios werden könnte wie furchtbar. Kann ja sein, dass wir uns nicht so gut verstehen, es richtig Streit gibt, sich Cliquen bilden oder manche von uns – vielleicht ja sogar ich – ausgeschlossen werden. Wer weiß das schon?
Ich bin überhaupt nicht menschenscheu – im Gegenteil, ich genieße es sehr, unter Leuten zu sein. Kraft schöpfe ich allerdings eher im Alleinsein. Das könnte eine Herausforderung für mich werden. Kann ich mich überhaupt weiterhin vegan ernähren? Auf dem Schiff kocht ja nicht jede für sich. Und wie gefährlich ist dieses Abenteuer überhaupt? Was passiert, wenn es einen medizinischen Notfall an Bord geben sollte? Natürlich google ich sofort, ob es Vorzeichen für eine Blinddarmentzündung gibt. Gehe ich zu naiv an die Sache heran? Ich weiß nicht mal, wie es ist, bei Sturm oder Unwetter auf dem offenen Meer zu sein. Mitten auf dem Atlantik sind wir ausgeliefert. Vermutlich gibt es eine Million Szenarien, was passieren könnte – gute wie schlechte. Aber ist es nicht auch die Ungewissheit, die ein richtiges Abenteuer ausmacht?
„Hast du dir jetzt eine Packliste geschrieben?“, fragt Michi.
„Mach ich noch“, antworte ich schon seit Wochen.
„Viel Zeit bleibt dir nicht mehr!“, warnt er zu Recht. Um das Risiko, kurz vor Abflug noch krank zu werden, zu minimieren, laden wir die ganze Familie bereits am ersten Advent zu einem vorgezogenen Weihnachtsfest ein, dann habe ich noch eineinhalb Wochen für die letzten Anschaffungen für die Reise, und dann verbarrikadieren Michi und ich uns bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag zu Hause. Noch nie habe ich für so viele Menschen ein Drei-Gänge-Menü gekocht, aber was warm sein sollte, wurde warm serviert. Es war das gemütlichste Weihnachtsfest überhaupt. Vielleicht auch, weil niemand große Erwartungen an den Tag hatte.
Jetzt denke ich mir, vielleicht ist es auch vor dem Törn die beste Voraussetzung für mich, überhaupt keine Erwartungen zu haben. Vermutlich werde ich dann zwar manchmal überrascht, aber ich kann eben nicht enttäuscht werden.
Der Abschied von meiner Familie und meinen Freund:innen berührt mich sehr, wenn er auch etwas schräg ist. Es fühlt sich an, als würden alle noch ein paar letzte Worte an mich richten, sie erzählen Anekdoten, überhäufen mich mit Schutzengeln, Talismanen und Glücksbringern und sagen mir noch einmal, wie viel ich ihnen bedeute. Und ich habe immer wieder den Drang zu betonen: „Ja, aber ich komme doch wieder?!“ Ich bin so dankbar für die vielen Herzensmenschen um mich herum und frage mich, was ich während meiner Abwesenheit in ihrem Leben wohl verpasse.
Hauptsache, die Yogamatte ist dabei
Zum Glück habe ich die Essensfrage schon klären können. Unsere Smut, die Schiffsköchin, hat mich von sich aus angerufen, um noch einmal nachzufragen, welche Lebensmittel ich nicht esse, und mir versichert, dass meine vegane Ernährung kein Problem sei. „Das bekommen wir schon hin.“ Nur nachmittags, wenn es Kuchen gibt, würde ich leer ausgehen. Kein Problem, ich bin trotzdem erleichtert.
Außerdem frage ich in meinem Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis alle mit Segelerfahrung nach ihrem Rat für meine Atlantiküberquerung. „Gibt es etwas, worauf ich mich vorbereiten kann und sollte?“ Nicht wirklich. Alle sprechen nur über Seekrankheit, etwa, dass ich mir einen Fixpunkt an Land suchen soll, solange es noch in Sicht ist, oder Snacks einpacken, die ich trotz Übelkeit vermutlich gerne essen würde. Aber ich bin sicher, dass ich nicht seekrank werde. Wenn ich auf einer Fähre auf der Ostsee bin oder beim Autofahren lese und hinten sitze, wird mir auch nicht schlecht. Nicht ansatzweise.
Ich habe aber schon den Eindruck, dass ich etwas brauche, um mich mental besser auf die Zeit auf dem Atlantik vorzubereiten, und schaue mir daraufhin YouTube-Videos von Monsterwellen an. Dank des Algorithmus sehe ich diese Clips nun täglich. Auch mein Feed auf Facebook und Instagram wird regelrecht überschwemmt. Dadurch rede ich mir ein, bei hohem Wellengang auf einem Schiff zu sein, müsse sich anfühlen wie der kurze Moment der Schwerelosigkeit in einer Achterbahnfahrt, vielleicht aber auch wie eine endlos lange Fahrt mit der „Wilden Maus“. Aus irgendeinem Grund kehrt ausgerechnet beim Anblick der Monsterwellen die Vorfreude auf die Reise zurück. Das Kribbeln in meinem Bauch fühlt sich jedenfalls angenehm an.
Mittlerweile hat der Verein eine Packliste geschickt, die mit unserer Kapitänin abgesprochen wurde, die den Atlantik bereits einige Male überquert hat. Darin steht etwa der Hinweis, dass an Bord auch die Möglichkeit bestünde, einmal Wäsche zu waschen. Viel ist das ja nicht. Ich bestelle sofort ein paar Schlüpfer. Es gibt auch eine Liste an Dingen, die wir nicht brauchen, etwa einen Koffer, aus Platzgründen, weil er viel zu sperrig in den Kammern wäre. Oder einen Schlafsack, weil es richtige Bettwäsche gibt. Zu Hause bleiben soll auch eine Stirn- oder Taschenlampe, weil unsere Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen und so ein Lichtkegel die Crew, die gerade an Deck ist, eher stört. Handschuhe brauchen wir nicht, da es wichtig ist, den Tampen in der Hand zu spüren, um das Verletzungsrisiko zu verringern. Auch den Wecker sollen wir zu Hause lassen, aus Rücksicht. Vom ersten Törn weiß ich, dass es im Drei-Wach-System immer Menschen gibt, die gerade schlafen oder sich ausruhen. Die Wache, die den Schiffsbetrieb am Laufen hält, weckt dann die nächste Wache und geht dafür von Koje zu Koje.
Ich brauche noch Regenkleidung und robuste Hosen, am besten mit vielen Taschen. Da ich nur Dinge kaufe, von denen ich überzeugt bin, dass ich sie auch in fünf bis zehn Jahren noch sinnvoll finde, bestelle ich die fehlenden Klamotten bei einem Hersteller für Arbeitsbekleidung. Außerdem finde ich professionelle Segelkleidung ziemlich teuer, dafür, dass ich ja immer noch nicht weiß, ob Segeln etwas ist, was ich in Zukunft häufiger machen werde. So kann ich die Klamotten beispielsweise tragen, wenn ich mit meiner Hündin durch Wald und Wiese streife, bei einem ehrenamtlichen Arbeitseinsatz für den Naturschutz aktiv bin und mit meiner örtlichen Naturschutzvereinsgruppe zum Beispiel Moore renaturiere, oder wenn Michi und ich in Zukunft hoffentlich ein Haus sanieren werden. Zum Glück kommt mein Paket noch eine Woche vor Abflug an. Manchmal bin ich über mich selbst verwundert, wie locker ich bleiben kann, wenn die Zeit immer knapper wird.
Neben der Packliste hat Klara vom Schiffsverein uns Seefrauen eine freiwillige Adressliste geschickt, woraufhin ein paar von uns sich kurz vor Weihnachten zu einem digitalen Treffen verabreden. Wir alle sind neugierig, mit wem wir demnächst sehr viel Zeit verbringen werden. Ich finde alle vom ersten Eindruck her sympathisch. Bei unserem ersten Kennenlernen erzählen ganz viele, dass sie sehr naturverbunden sind, und mehrere haben einen Hund. Ich freue mich über ein paar Gemeinsamkeiten. Was die Segelerfahrung auf einem traditionellen Segelschiff betrifft, da bin ausgerechnet ich die Erfahrenste aus unserer Runde. Einige möchten noch ein paar Fragen loswerden:
„Wie viele Bücher werdet ihr eigentlich mitnehmen?“, fragt Sophie in die Runde.
„Ich weiß noch nicht genau, welche, aber es werden viele sein“, sagt Diana. „Wir werden ja auch sehr viel Zeit zum Lesen haben.“
„Meinst du wirklich?“, frage ich. „Beim Segeln auf der Ostsee hatte ich eher den Eindruck, dass es sehr wenig Freizeit gab. Da war immer was zu tun.“
„Na ja, übertrieben gesagt setzen wir die Segel, wenn wir losfahren, und holen sie wieder ein, wenn wir angekommen sind“, sagt Diana. „Wir segeln doch immer in die gleiche Richtung.“
Ich stelle mich eher darauf ein, dass es stressig wird. Doch was ist, wenn Diana recht hat? Wenn wir wirklich nur ab und an die Segel neu ausrichten müssen, und das war es dann. Bin ich auch für Langeweile gerüstet, ohne dabei allein sein zu können? In unserem Gruppenchat posten zwei Frauen, dass sie regelmäßig Yoga machen und dass alle, die Interesse daran hätten, unbedingt ihre Matten mitnehmen sollen. Und dann wird meine Suche nach der perfekten Yogamatte zur größten Ablenkungsquelle überhaupt gegen die auftauchenden Sorgen, mit Langeweile während des Törns womöglich nicht gut zurechtzukommen. Als wäre es in der Reisevorbereitung gerade das Allerwichtigste. Ich durchforste stundenlang das Internet, weil ich nach einer Korkmatte suche, die so hauchdünn ist, dass sie sich falten lässt, und finde tatsächlich eine, die nur einen Millimeter dick ist und 845 Gramm wiegt. Falls wir bei diesem Törn wirklich wenig zu tun haben sollten, wäre das doch eine gute Beschäftigung.
An Heiligabend krame ich meine alte Adidas-Reisetasche raus, die ich mir mit sechzehn zu Weihnachten gewünscht habe. Damals war diese Tasche ein Freiheitssymbol für mich, denn am liebsten war ich jedes Wochenende unterwegs. Ich komme aus einem 300-Seelen-Dorf in Mecklenburg-Vorpommern. Unser Haus stand sogar noch hinterm Ortsausgangsschild, irgendwo im Nirgendwo an einer Straße mit ein paar Häusern, zwischen Bach, Wald und Feld. Der letzte Bus Richtung Bahnhof fuhr im Winter um 17:30 Uhr. Freitags nach der Schule bin ich deswegen meist direkt zu meinem damaligen Freund nach Schwerin gefahren und von dort aus nach Rostock oder Hamburg auf viele Metalkonzerte. Der Buchstabenaufdruck auf der Tasche blättert schon ein wenig ab, und die Bodenverstärkung hat einen Riss, aber da ich sie auf der Reise ja nicht täglich tragen werde, macht mir das nichts aus.
Packliste
● 1 Fleecejacke
● 1 Regenjacke
● 1 Regenhose
● 2 lange Hosen (eine robust, die andere aus dünnem Stoff)
● 2 kurze Hosen
● 1 Leggins
● 1 Longsleeve
● 4 T-Shirts (Merino)
● 8 schnell trocknende Sport-Unterhosen
● 1 Periodenunterwäsche
● 1 lange Unterhose
● 4 Paar Socken
● 1 Bikini
● 1 kleines Mikrofaserhandtuch
● 1 großes Mikrofaserhandtuch
● 1 Paar Badelatschen mit Gummisohle
● 1 Paar Wanderschuhe
● 1 Sonnenhut
● 1 Sonnenbrille mit Brillenband
● 1-Liter-Trinkflasche
● Waschtasche: je 1 Sonnencreme, Gesichtscreme, Lippenpflege, Deo, festes Shampoo und feste Seife, Zahnpasta und Zahnbürste
● Apotheke: 4 Kopfschmerztabletten, 3 Schmerztabletten gegen Menstruationsbeschwerden, 1 Blister Kohletabletten, 5 Aspirin-Komplex, 1 Insektenstich-Pen, 1 Tube Aloe-Vera-Gel, 1 Dose Vitamin-C-Brausetabletten, 1 Impfpass
● Luxus: je 1 Yogamatte, Kapodaster (auf dem Schiff gibt es eine Gitarre, und damit kann ich die Tonhöhe anpassen), Kindle, Notizbuch, Stift, Minifernglas, Powerbank mit Ladekabel, Smartphone und Glücksbringer
● Essen: 20 vegane Proteinriegel, 1 vegane Schokoladencreme, 1 Erdnussbutter, 1 Tüte Salbeibonbons
Einen Tag bevor ich nach Teneriffa fliege, wo die Roald Amundsen auf mich wartet, steht Michi in der Küche und bereitet uns an diesem ersten Weihnachtstag ein schönes Festessen zu. Während es im ganzen Haus nach Rotkohl duftet, sitze ich an meiner Steuererklärung. Was auch sonst, einen Tag bevor das Abenteuer losgeht? Wie gut, dass Michi kocht und mir so den Rücken frei hält! Am Abend bin ich zufrieden, dass ich alles abgeschlossen habe, was ich vor der Reise fertig kriegen wollte. Noch nie zuvor hatte ich so ein starkes Bedürfnis danach, das Jahr so ordentlich abzuschließen. Ich sortiere, räume auf, richte mir sogar eine Abwesenheitsnotiz ein, was ich sonst als Selbstständige so gut wie nie mache. Wenn ich erst mal auf hoher See bin, kann ich ja nichts machen, und niemand kann mich erreichen. Vielleicht bin ich auch so energisch dabei, meine To-do-Liste abzuarbeiten, weil es mich ablenkt und ich darüber Kontrolle habe. Auf die Abwesenheit am Schreibtisch kann ich mich zumindest vorbereiten.
Hier, im Norden Hamburgs, weht abends ein eisiger Wind, aber wir kuscheln uns in unserem kleinen Häuschen vor den Kamin. In meinen Gedanken gibt es gerade nur Michi und unsere Labradorhündin Tilda. Sie werden mir so fehlen. Tilda ist gerade mal ein Jahr alt, mitten in der Pubertät, und ich bin ihre Hauptbezugsperson. Da ich meist aus dem Homeoffice arbeite, ist sie es gewohnt, dass ich immer bei ihr bin. Wie wird es ihr überhaupt damit gehen, wenn ich so lange weg bin?
Teneriffa
Um 5 Uhr morgens klingelt mein Wecker. Die Tasche ist schon gepackt, ich mache mich frisch, ziehe mich an und stehe vierzig Minuten später am Hamburger Flughafen an der Gepäckabgabe. Michi begleitet mich. Wenn ich aufgeregt oder ängstlich bin, bleibt er ruhig. Bin ich zu emotional, ist er rational. Er schafft es immer wieder, mich auf eine sehr einfühlsame Art und Weise auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Und das ist genau das, was ich jetzt gerade brauche. Ich kann es gar nicht glauben, dass es wirklich so weit ist, dass die anderen Frauen und ich morgen in See stechen werden und ich kurz darauf wochenlang gar nichts von meinem Mann hören werde. Das ist so absurd. Die letzten Monate war dieses Abenteuer einfach nur surreal. Jetzt ist es zum Greifen nah. Ich bin so aufgeregt, dass mir schlecht wird.
Noch nie hatten Michi und ich so lange keinen Kontakt. Ich verreise gern allein, gehe manchmal über mehrere Tage oder auch mal Wochen solo wandern. Klar hören wir dann auch mal eine Zeit lang nichts oder nur sehr wenig voneinander, aber ich wusste immer, dass wir uns gegenseitig erreichen können, wenn etwas Wichtiges ist. Aus einem Notfall heraus habe ich mich noch nie gemeldet, meistens rufe ich Michi nur an, um meine Begeisterung mit ihm zu teilen. Dann erzähle ich ihm etwa davon, dass ich gerade einem Fuchs begegnet bin, eine Schwarzspecht-Familie aus nächster Nähe beobachten konnte, oder aber ich beschreibe ihm einen Wegabschnitt, den ich besonders schön fand. Alle Fotos, die ich gemacht habe, erzählen eine Geschichte, die ich mit ihm teilen möchte.
Jetzt wird es anders sein. Ob im Notfall oder aus Begeisterung, ich werde mich nicht melden können. Und er sich auch nicht. Weil es bereits wenige Seemeilen hinter den Molen weder Handy- noch Internetempfang gibt. Nicht zu wissen, wie es Michi, unserer Hündin, meiner Familie und meinen Freund:innen geht, was sie besorgt oder worüber sie vielleicht gern mit mir sprechen würden, nimmt mich mehr mit, als ich zugeben möchte.
Die Erfahrung, dass plötzlich alles anders sein kann, habe ich das erste Mal im Alter von sieben Jahren gemacht, als mein Papa eines Nachts wegfuhr. Da er immer schon frühmorgens zur Arbeit musste, bekam ich davon erst mal gar nichts mit. Es war ein warmer Sommertag Anfang der 2000er, meine Tante hatte mich von der Schule abgeholt und Fischstäbchen zum Mittagessen gebraten. „Mama hat noch einen Termin.“ Dann sollte ich runter in den Garten gehen, zu meinen Großeltern, die im selben Haus wohnten. Als ich um die Ecke bog, war die ganze Familie bereits versammelt. Oma rannte auf mich zu, nahm meine kleinen Hände und sagte mit brüchiger Stimme: „Ach, mein Kind, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, dein Papa ist tot.“
Ich stand da wie versteinert, versuchte meine Mutter zwischen all den Menschen zu entdecken. Sie saß auf einem weißen Flechtstuhl auf der Terrasse, hatte meine kleine Schwester auf dem Schoß, die gerade erst dreieinhalb Jahre alt war. Meine Schwester schaute ganz ruhig umher, konnte gar nicht verstehen, dass auch sie Papa nie mehr wiedersehen wird. Mama schluchzte laut und verzog ihr Gesicht dabei, als hätte sie starke Schmerzen. Da ist die Leichtigkeit in mir erloschen wie eine Kerze im Regen.
Nach der Beerdigung sagten meine Mutter und Oma mir, dass Papa sich das Leben genommen hatte. „Du solltest es von uns erfahren.“ Etwa zehn Jahre lang habe ich überhaupt nichts mehr gefühlt, was Papa betrifft: keine Trauer, keinen Schmerz, keine Wut, keine Verbundenheit. Wie sollte ich damals als Siebenjährige verstehen, warum mein Papa nicht mehr bei mir sein wollte, nicht für mich gegen die dunklen Wolken angekämpft hat. Nie wollte ich darüber sprechen. Mit niemandem. Und da ich vom Verhalten her nicht auffällig war, sprach mich auch niemand darauf an.
Wurde in den Nachrichten über Schicksalsschläge oder Familientragödien berichtet, dachte ich nicht: „So was passiert nur den anderen.“ Das Schicksal hatte mich bereits eines Besseren belehrt. Auch wenn ich mein Kindheitstrauma insbesondere in den letzten Jahren aufgearbeitet habe, rechne ich auch heute immer damit, dass alles passieren kann: Gutes wie Schlechtes, tendenziell jedoch gehe ich erst mal vom Schlimmsten aus und muss mich mit der Kraft des Verstandes selbst beruhigen. Besorgt bin ich dabei eigentlich weniger um mich selbst, sondern eher um die anderen.
Als wir uns verabschieden, sagt Michi: „Ich werde besonders acht darauf geben, keine unnötigen Risiken einzugehen, weder beim Basteln in der Werkstatt noch im Straßenverkehr.“ Wir lachen. Er weiß genau, was mich bedrückt. Ich ziehe meinen Ehering vom Finger und gebe ihn ihm zur sicheren Aufbewahrung. Wir beide finden, dass es viel schlimmer wäre, würde ich ihn während der Arbeiten auf dem Schiff verlieren, als dass ich ihn vorübergehend nicht trage. Dann weinen wir vor der Sicherheitskontrolle im Flughafen, bevor ich mich löse und noch einmal winke. Mein Abenteuer geht los.
Der Flug nach Teneriffa verläuft reibungslos und ohne Verspätung. Während ich auf Verena und ein paar Mitseglerinnen aus Berlin warte, die in zwei Stunden landen werden, sitze ich am zweiten Weihnachtsfeiertag im T-Shirt vor dem Eingang des Flughafens auf einer sonnigen Bank. Mehr als einen halben Müsliriegel bekomme ich nicht runter, so schlecht ist mir. Um mich abzulenken, nehme ich ein paar Sprachmemos auf und wünsche meinen Freund:innen einen schönen Jahreswechsel, der ja kurz bevorsteht. Ich glaube, jetzt lässt der Stress endlich nach, denn ich werde richtig müde und fühle mich zugleich innerlich ganz ruhig und zufrieden. Jetzt kann nichts mehr dazwischenkommen, was meine Reise verhindert.
Auf meinem Handy leuchtet eine Nachricht von Sophie auf, die ich vor Kurzem bei unserem digitalen Treffen kennengelernt habe. Sie ist eben gelandet. Ich springe sofort auf und sehe sie schon von Weitem. Wir begrüßen uns wie alte Freundinnen. Mit einem lauten Seufzen legt sie ihren Trackingrucksack ab und erzählt mir, wie aufgeregt sie vor ihrem allerersten Törn ist.
„Wie bist du denn eigentlich auf den Atlantiktörn gestoßen?“, frage ich sie.
„Ich hatte Lust zu reisen, und der Törn wurde mir als Werbeanzeige auf Instagram angezeigt. Fand es so cool, dass nur Frauen mitsegeln, dass ich sofort gebucht habe.“
Plötzlich stehen die Berlinerinnen neben uns, Zeit zum Austauschen bleibt uns aber nicht mehr, weil unser Bus zur Hauptstadt der Insel, nach Santa Cruz, gleich abfährt. In unserem Hostel treffen wir auf Gudrun und verabreden uns zum gemeinsamen Abendessen. Beim Italiener sprechen wir über unsere Erwartungen an die Reise.
„Ich finde es so surreal, dass wir morgen schon in die Karibik aufbrechen werden.“
„Also, ich kann mir nicht vorstellen, dass wir morgen schon die Segel setzen. Es ist viel zu windig“, sagt Gudrun.
„Kann schon sein, dass wir ein, zwei Tage im Hafen bleiben. Der Verein hat ja extra ein paar Tage als Zeitpuffer eingerechnet für den Fall, dass die Wetterbedingungen nicht optimal sind“, erklärt Verena.
„Ich hoffe trotzdem, dass es morgen schon losgeht.“
Gudrun erzählt uns, warum sie die Atlantiküberquerung unter anderem machen möchte. Ihr Vater war Matrose auf der Gorch Fock und segelte als junger Mann auch von Teneriffa aus auf die hohe See. So eine Erfahrung – eine lange Seereise in einer Gruppe – möchte sie auch machen und freut sich auf ihr erstes Mal Segeln. Verena ist im Gegensatz zu uns sehr erfahren und hat als Fotografin verschiedene Segelprojekte begleitet, war auch schon auf einem Frachtsegelschiff in der Karibik. Gudrun zeigt uns voller Begeisterung abfotografierte Schwarz-Weiß-Fotos vom Törn ihres Vaters. Auf einem sind alle Matrosen in die Rahen geklettert. Sie sehen so winzig aus zwischen den hafenfein gepackten Segeln des Dreimasters.
Zum Abschluss machen wir auf dem Rückweg zum Hostel noch einen Zwischenstopp am Hafen und erkennen sie natürlich sofort: die Brigg Roald Amundsen. „Wow, die ist viel kleiner, als ich erwartet habe“, sagt Sophie, und wir alle lachen. Daran werden wir uns bestimmt schnell gewöhnen, immerhin wird dieses Schiff mit seinen knapp fünfzig Metern Länge und gut sieben Metern Breite bald unsere ganze Welt sein. Aber auch ich muss zugeben, dass sie im Hafenbecken von Santa Cruz de Tenerife aussieht wie eine Nussschale.
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