Für jetzt und immer — Inhalt
Am Tegernsee kündigt sich ein traumhafter Sommer an, doch die hübsche Kindergärtnerin Lena hat nichts als Sorgen: Wegen eines Missverständnisses hat sie ihren Job verloren. Zu allem Überdruss gerät sie beim Einkaufen auch noch mit einem attraktiven, aber unausstehlichen Fremden aneinander. Kurz darauf lernt sie die neunjährige Mia kennen, die ihr schnell ans Herz wächst. Als sie das Angebot erhält, Mias Kindermädchen zu werden, nimmt sie erfreut an. Eine Entscheidung, die ihr Leben vollkommen auf den Kopf stellen wird – nicht zuletzt, weil sie dadurch dem ungehobelten Unbekannten wiederbegegnet …
Leseprobe zu „Für jetzt und immer“
„Mami, Mami, da ist Chico!“ Das kleine Mädchen jauchzt vor Freude und deutet auf die beiden vermummten Gestalten, die über die große Wiese einem quietschfidelen Bretonischen Spaniel hinterher in ihre Richtung stapfen.
Schritt um Schritt kämpfen sich die Erwachsenen durch den knietiefen pulvrigen Schnee, der in der letzten Nacht gefallen ist. Dem Mädchen reicht die weiße Pracht fast bis zum Bauch, was es aber nicht zu stören scheint. Einzig der übermütige weiß-braun gefleckte Hund, der die Kleine schon von Weitem mit freudigem Gebell begrüßt und ihr in [...]
„Mami, Mami, da ist Chico!“ Das kleine Mädchen jauchzt vor Freude und deutet auf die beiden vermummten Gestalten, die über die große Wiese einem quietschfidelen Bretonischen Spaniel hinterher in ihre Richtung stapfen.
Schritt um Schritt kämpfen sich die Erwachsenen durch den knietiefen pulvrigen Schnee, der in der letzten Nacht gefallen ist. Dem Mädchen reicht die weiße Pracht fast bis zum Bauch, was es aber nicht zu stören scheint. Einzig der übermütige weiß-braun gefleckte Hund, der die Kleine schon von Weitem mit freudigem Gebell begrüßt und ihr in weiten Sätzen entgegenspringt, ist noch von Interesse für sie.
Minuten später erreicht das Paar den Weg, auf dem die Freunde auf sie warten.
„Hallo, du lieber, lieber Chico.“ Das Kind umschlingt den Hundehals mit beiden Händen und schmiegt seinen Kopf an das mit kleinen Eiszapfen behangene Fell des gutmütigen Rüden.
Die Erwachsenen lachen. „Wieso schafft ihr euch nicht endlich selbst einen Hund an?“, fragt der Besitzer des Spaniels seinen Freund. „Wenn ich mir ansehe, wie vernarrt Mia in unseren Chico ist, dann ist so eine Entscheidung doch schon längst überfällig!“
Fritz seufzt. „Ich weiß“, sagt er leise. Die Diskussion hat er schon gefühlte hundert Mal mit seiner Frau geführt, die allerdings mittlerweile höchst allergisch auf das Thema reagiert. Sie gehen jetzt zehn Schritte hinter den beiden Frauen, während Mia mit Chico durch den Schnee tollt.
„Julia mag keine Hunde“, führt Fritz aus. „Sie sagt, sie stinken und sind unhygienisch. Außerdem ist sie sich sicher, dass alle Arbeit an ihr hängen bleibt, wenn Mia das erste Interesse verloren hat.“
„Die Gefahr besteht“, gibt der Freund unumwunden zu. „Aber das ist doch sicher nur eine Frage dessen, wie ihr mit dem Thema umgeht.“
Noch bevor Fritz zu einer Antwort ansetzen kann, kommen zwei Enten im Tiefflug von Norden her angeflogen, und der angeborene Jagdtrieb des Hundes erwacht. Er macht sich aus der Umarmung des Kindes los, springt hoch und schnappt nach dem ersten Tier, das er nur knapp verpasst. Kaum dass seine Pfoten den Boden berühren, setzt er erneut zum Sprung an, doch da sind die Enten bereits zu weit weg. Er stutzt einen Augenblick, bellt ein einziges Mal, dann jagt er den Vögeln hinterher. Ehe die Erwachsenen es sich versehen, fängt auch Mia auf ihren kurzen Beinchen an zu rennen, dem Hund hinterher, der bereits nach wenigen Sätzen die Eisfläche des nur halb zugefrorenen Sees erreicht.
„Mia, nein!“, brüllt Fritz. „Bleib stehen!“
Doch da ist es schon zu spät. Das Kind tapst auf dem rutschigen Untergrund, von dem der Wind den Schnee gänzlich fortgeblasen hat, immer weiter vorwärts; ganz auf sich und den Hund konzentriert, hört es die panischen Schreie der Erwachsenen nicht. Dann knirscht es, ganz leise nur. Staunend bleibt das Mädchen stehen, blickt verwundert auf den Boden vor sich und betrachtet mit kindlicher Faszination die feinen Linien, die sich im Eis abzuzeichnen beginnen. Einen Augenblick lang verharrt es, dann dringen die verzweifelten Rufe des Vaters, der sich nur dreißig Meter entfernt die Seele aus dem Leib brüllt, wie durch einen dichten Nebel zu ihm. Erschrocken schaut das Kind auf, und dann, endlich, dreht es seinen Kopf in Richtung der Stimmen, die so hartnäckig rufen.
„Mia, hörst du mich?“
„Papi, du musst herkommen! Da ist eine Zeichnung auf dem Boden.“
„Nein, Schatz, komm du zu mir, bitte. Wir sehen uns das ein anderes Mal an.“ Die Panik lässt die Stimme des Mannes überschnappen.
Doch das Kind ahnt die Gefahr nicht, die ihm droht. Und so weigert es sich zu gehorchen; es bleibt stur stehen, gefangen von der Schönheit der Struktur des Bodens unter sich, die sich wie von Zauberhand immer weiter über die Eisfläche ausbreitet.
Erst als der Vater ihr verspricht, dass er es sich mit ihr zusammen ansehen will, aber nur, wenn sie ihn abholen kommt, macht sie den ersten Schritt auf das rettende Ufer zu. Doch dann wird aus dem leisen Knirschen ein Knacken. Laut. Ganz plötzlich quillt Wasser zwischen den breiter werdenden Linien hervor, und im Nu stehen die Schuhe des Mädchens im Wasser.
„Fritz, nun tu doch was!“, schreit Julia panisch. „Hol sie da runter.“
Bestürzt blickt er sie an. Das Eis ist dünn, kaum dick genug, um nur das Kind zu tragen, und doch gibt es noch Hoffnung, dass es hält. Wenn er die Fläche jedoch betritt …
Inzwischen macht Mia zwei weitere Schritte, dann bricht ihr Fuß ein, das Wasser schwappt nach oben über den Saum ihres Stiefels, und nun bekommt auch sie Angst.
„Papi!“, schreit sie, dann versinkt auch ihr zweiter Fuß.
Fritz reißt sich die Jacke vom Leib und betritt vorsichtig das Eis. Er lässt sich auf die Knie herab, dann legt er sich zur Gänze hin. Ganz so, wie es im Lehrbuch steht.
„Leg dich auf den Bauch, mein Schatz!“, ruft er. „Genauso wie ich. Ganz langsam.“
„Aber da ist es doch ganz nass“, weht ihr dünnes Stimmchen herüber.
Schließlich legt sie sich doch hin und fängt an, mit sachten Bewegungen über den klirrend kalten Boden zu robben. Als sie nur noch zwei Meter voneinander entfernt sind, stößt das Eis plötzlich ein gequältes Ächzen hervor, faltet sich für einen Moment steil auf, dann bricht es unter den beiden Personen weg.
Sofort taucht Fritz unter, sucht mit weit aufgerissenen Augen nach dem kleinen Körper, erwischt ihn, zieht ihn zur Oberfläche und schiebt ihn an die eisige Luft. Doch da ist nichts, wo sie sich festkrallen kann. In höchster Panik schlägt sie um sich und drückt ihren Vater unter Wasser.
Fritz’ mit Wasser gefüllte Stiefel fühlen sich an wie Bleiklumpen um seine Beine, und das Mädchen in seinen Armen strampelt immer heftiger, weil er es kaum noch schafft, es an der Luft zu halten.
Und dann ist das Eis wieder über ihm. Er spürt einen stechenden Schmerz in seinem Rücken; die Geräusche um ihn herum verstummen, und allmählich wird ihm schwarz vor Augen.
Und dann ist es still.
Als Lena die Tür der Kita hinter sich abschloss, war sie völlig erschöpft. Sie blickte an sich herab, sah das mit Farben und Nutella verschmierte T-Shirt und überlegte, ob sie noch mal nach drinnen gehen sollte, um sich umzuziehen. Soweit sie sich erinnern konnte, lag in ihrem Spind noch eine Bluse, die sie vor einigen Wochen vergessen hatte, aber die sah vermutlich auch nicht viel besser aus. Seufzend zuckte sie mit den Schultern. Egal. Sie musste nur noch ein paar Lebensmittel einkaufen, danach war der Tag zu Ende, zumindest, was sämtliche außerhäusigen Aktivitäten anbelangte, und dem kleinen grauen Kater, der sie regelmäßig besuchen kam, war es sowieso schnuppe, wie sie aussah.
Als sie zwanzig Minuten später den Supermarkt verließ, bekam sie gerade noch mit, wie ein großer Audi auf den Behindertenparkplatz fuhr, beide Plätze der Länge nach blockierte und ein offensichtlich in keiner Weise körperlich eingeschränkter Mann lässig aus dem Fahrzeug sprang. Mit offenem Mund sah sie ihm nach, wie er im Haus verschwand; von derart viel Rücksichtslosigkeit so verblüfft, dass sie keinen Ton herausbrachte. Und als sie ihre Stimme endlich wiedergefunden hatte, war er längst außer Sicht. Lena bückte sich wie in Trance, stellte ihren Korb auf den Gehweg und nahm den Karton mit den Eiern heraus. Zu dumm, dass sie nur eine Sechserpackung gekauft hatte. Die Hälfte benötigte sie für die Pfannkuchen, auf die sie sich schon den ganzen Tag freute, aber die anderen waren entbehrlich.
Genau in dem Moment, als das zweite Ei auf die Windschutzscheibe klatschte und Lena erneut in die Schachtel griff, kam der Besitzer des Wagens gemächlich aus dem Haus spaziert, eine Nachricht in sein Smartphone tippend, nichtsahnend, was ihn erwartete. Als er von seinem Handy aufschaute und merkte, was sich an seinem Auto abspielte, war er für einen Augenblick fassungslos. Dann wurden seine Schritte schneller. „Haben Sie den Verstand verloren?“, rief er mitten im Lauf. „Was soll das denn?“
Lena drehte sich, das dritte Ei bereits in der Hand, erschrocken zu der Stimme in ihrem Rücken herum, und ein Anflug von Schuldbewusstsein ließ ihr das Blut ins Gesicht schießen. Doch nach zwei Sekunden hatte sie sich wieder im Griff, und ihre ursprüngliche Wut gewann erneut die Oberhand. Sie war so aufgebracht, dass sie in Versuchung war, den Rest ihres Abendessens zu opfern und dem eingebildeten Fatzke die Eier an den Kopf zu werfen. Doch dann besann sie sich der guten Erziehung, die sie genossen hatte, und deutete auf das Straßenschild, das die beiden Plätze als für Behindertenfahrzeuge reserviert auswies, und mit der anderen Hand auf das Symbol auf dem Asphalt, das unter seinem Fahrzeug deutlich sichtbar war. „Sie können wohl nicht lesen!“
Bevor er etwas entgegnen konnte, schrillte sein Handy. Zu Lenas Glück war ihm das Gespräch wichtiger als sie. Als er zurück zum Haus lief, bückte sie sich, um ihren Korb aufzuheben, und befand mit einem Blick auf die Frontscheibe, dass er genügend Strafe erhalten hatte. Die Eimasse begann bereits, in der Sonne fest zu werden. Sie lächelte, zeigte dem leeren Hauseingang noch einen Vogel und lief zu ihrem Auto.
Zu Hause angekommen, versorgte sie den Kater, der auf dem Sofa auf ihrem Balkon in der warmen Frühjahrssonne gedöst hatte und jetzt lauthals schnurrend um ihre Beine strich. Als sich die Besuche des kleinen Streuners im letzten Jahr gehäuft hatten, hatte sie mittels eines Aushangs den Besitzer ausfindig gemacht und sich die Erlaubnis geholt, das Katerchen füttern zu dürfen.
Die Lust auf Pfannkuchen war ihr inzwischen vergangen, deshalb zog sie den Deckel von einer Dose Thunfisch, schnippelte Tomaten und eine halbe Salatgurke klein und vermischte das Ganze mit Salz, Pfeffer und etwas Mayonnaise.
„Nix da.“ Sie bückte sich, hob die Katze hoch, die beim Geruch des Fischs sofort zu betteln anfing, und vergrub ihr Gesicht in dem seidigen Fell. „Du kleiner Vielfraß. Das ist nichts für dich.“ Sie setzte sich mit dem Salat aufs Sofa, schnappte sich ein Buch und musste kichern, als die Mieze mit allen Tricks versuchte, ihren Kopf in die Schüssel zu stecken. Als es klingelte, sah sie erstaunt auf die Uhr. Sie hatte niemanden eingeladen und hoffte nur, dass es nicht wieder eine der Mütter ihrer Schützlinge war, die keine Hemmungen hatten, die Erzieherin in ihrer Freizeit zu behelligen.
„Erwartest du Besuch?“, fragte ihre Halbschwester nach einer stürmischen Begrüßung mit einem Blick auf den Berg Thunfischsalat. Eva sah wie immer aus, wie aus dem Ei gepellt. Perfekt sitzende Jeans, eine wie auf den Leib geschnittene rote Lederjacke, die seltsamerweise wunderbar mit ihren veilchenblauen Augen harmonierte, und lässige High-Top-Sneakers, die sich prima zu dem verwaschenen Blau der Hose machten. Lena schüttelte den winzigen Moment Eifersucht ab wie eine lästige Fliege und lachte.
„Du hast recht“, sagte sie vergnügt. „Ich hatte einen derartigen Misttag, dass ich jegliches Maß verloren habe. Hast du schon gegessen?“
Nachdem sie mit vereinten Kräften den Salat und eine halbe Stange Weißbrot verdrückt hatten, rückte Lena mit der Sprache heraus.
„Ich überlege, ob ich meinen Job hinwerfen soll. Meine Geduld ist so erschöpft, dass ich es gar nicht richtig beschreiben kann. Ich habe heute nach der Arbeit wieder ausgesehen wie ein Ferkel und darf mich noch nicht mal darüber aufregen. Und dann hatte ich vor dem Supermarkt auch noch eine Begegnung der dritten Art mit einem arroganten, rücksichtslosen, reichen Schnösel.“
„Oh je.“ Evas Augen blitzten mitfühlend. „Klingt nicht gut. Aber erzähl doch mal von vorn.“
Eine halbe Stunde später hatte sich Lena ihren gesamten Kummer von der Seele geredet, und allein das genügte, dass sie sich wieder besser fühlte. Viel besser sogar.
„Und du willst ernsthaft kündigen?“, fragte Eva entsetzt. „Das kannst du dir doch gar nicht leisten.“
„Das ist auch der Grund, weshalb ich es wohl bleiben lassen werde“, sagte Lena nachdenklich und kraulte den Kater hingebungsvoll zwischen den Ohren. „Weißt du, als ich mich entschlossen habe, mit Kindern zu arbeiten, war ich so voller Euphorie; so sicher, dass ich das mein ganzes Leben lang machen will. Und jetzt schau mich an! Ich bin einunddreißig, Single, verdiene grade mal so viel, dass ich mit Ach und Krach über die Runden komme, und habe jetzt schon das Gefühl, als hätte ich fünfzig Jahre auf dem Buckel.“
„Sechzig“, verbesserte Eva ihre Schwester mit einem verschmitzten Lächeln.
„Was?“
„Mach sechzig Jahre draus. Meine Nachbarin ist fünfzig und fit wie ein Turnschuh. Ich wette mit dir, wenn du sie fragst, dann sagt sie dir, dass sie sich fühlt wie dreißig.“
„Schönen Dank auch! Du machst mir wirklich Mut.“
Doch Eva war noch nicht fertig. „Und ganz ehrlich, wenn ich dich so ansehe, dann siehst du auch nicht so aus, wie man mit dreißig aussehen sollte.“
Bevor Lena auch nur ansatzweise beleidigt darauf hätte reagieren können, hatte Eva sie vom Sofa hochgezogen und ins Bad geschoben, wo sich die beiden Frauen einem großen Spiegel gegenübersahen.
„Das ist jetzt echt nicht böse gemeint. Aber schau doch mal selbst.“ Eva deutete auf das blitzblank geputzte Glas. „Ich bin immerhin einige Jahre älter als du. Aber das sieht man nicht. Und woran, glaubst du, liegt das?“
„An den Genen deiner Mutter“, erwiderte Lena mutlos.
„Blödsinn.“ Eva drehte sich zu ihrer Schwester und nahm sie in den Arm, was angesichts des Größenunterschieds gar nicht so einfach war und wie meist in einem Heiterkeitsausbruch der beiden endete. „Es liegt daran, dass ich einen Job habe, der mir Spaß macht und mir Energie gibt, statt mich ans Ende meiner Kräfte zu bringen. Aber du hast meistens noch nicht mal mehr genug Power, dich nach der Arbeit auf ein Eis mit mir zu treffen.“
Es stimmte. Ihr Job als Erzieherin in dem Kindergarten, in dem Lena seit neun Jahren angestellt war, laugte sie viel zu oft so aus, dass sie am Abend einfach nur wie ein Käfer auf dem Rücken auf ihrem Sofa lag und sich auf das Wochenende freute. Das dann immer so schnell vorbei war, dass sie kaum zum Luftholen kam und manchmal schon am Sonntagnachmittag so entmutigt beim Ausblick auf die Folgewoche war, dass sie am liebsten drauflosgeheult hätte. Und auch jetzt standen ihr die Tränen in den Augen, als sie ihre große Schwester ansah. Obwohl sie verschiedene Mütter hatten und Eva siebeneinhalb Jahre älter war, waren sie ihr ganzes Leben lang ein Herz und eine Seele gewesen. Eva war dem kleinen Wesen vom ersten Tag an verfallen und half ihrer Stiefmutter leidenschaftlich dabei, die Kleine zu füttern und zu wickeln. Später, als Eva längst erwachsen war, wurde ihr klar, welches Glück sie gehabt hatte, dass ihr Vater fünfeinhalb Jahre nach dem Tod ihrer Mutter die lebenslustige Schwedin kennengelernt hatte, die das traurige Mädchen vom ersten Augenblick an in ihr Herz geschlossen und immer wie eine eigene Tochter behandelt hatte. Durch das Einfühlungsvermögen der groß gewachsenen Blonden, die, eigentlich auf der Durchreise nach Griechenland, in Bayern und bei ihrem Vater hängen geblieben war, wurde aus dem unglücklichen Kind in kurzer Zeit ein fröhliches Gör. Und da die Skandinavierin ihre Liebe gleichmäßig auf die beiden Mädchen verteilte, hatte Eva in ihrer kleinen Schwester nie eine Konkurrentin gesehen, sondern ein kleines Wunder, auf das man besonders achtgeben musste.
Und so war es auch heute noch. Als Eva die Tränen in den Augen ihrer kleinen Schwester sah, die schon mit fünfzehn die Größe ihrer Mutter erreicht hatte und Eva damit um fast einen Kopf überragte, schob sie sie aus dem Bad, zog sie erneut in ihre Arme und ließ sich mit ihr aufs Sofa plumpsen.
„Lass es raus, und heul dich aus“, sagte sie jetzt. „Das ganze Hineingefresse bringt doch sowieso nichts.“
„Ach Scheiße“, murmelte Lena, den Kopf an Evas Schulter. „Hätte ich doch nur auf dich gehört.“
„Auf mich?“, fragte Eva erstaunt. „Ich kann mich nicht erinnern, dass ich dir abgeraten hätte, Erzieherin zu werden.“
„Abgeraten vielleicht nicht.“ Lena setzte sich wieder gerade hin und zupfte ein Kleenex aus der Box, die auf dem Couchtisch stand. „Aber du hast mir tagelang Vorträge gehalten, dass ich mit meinen Noten unbedingt studieren und erst anschließend die Ausbildung machen sollte, falls mir der Kopf dann immer noch danach gestanden hätte. Hätte ich damals auf dich gehört, hätte ich heute wenigstens eine Alternative.“
Dagegen konnte Eva nun nichts erwidern, einfach weil es stimmte. „Gut“, sagte sie schließlich zögernd. „Aber ich habe dir auch gesagt, dass jeder Mensch seine eigene Bestimmung hat und dieser auch folgen sollte. Das mit dem Studium war im Grunde nur prophylaktisch gedacht. Falls irgendwann der Tag kommen sollte, an dem du denkst, dass du doch nicht dein ganzes Leben irgendwelchen verheulten, rotznasigen Ungeheuern widmen willst, mit denen du noch nicht mal verwandt bist. Aber du kannst immer noch studieren, wenn du das möchtest. Dein Einser-Abi öffnet dir auch heute noch alle Türen.“
Lena schüttelte den Kopf. „Keine Chance. Zum einen, weil ich es mir nicht leisten kann, zum anderen wüsste ich noch nicht mal, was ich studieren sollte.“
„Veto“, widersprach Eva. „Unsere Eltern würden dir jederzeit helfen, das notwendige Geld aufzubringen. Und ich würde das auch, das weißt du ganz genau. Nein, unterbrich mich nicht“, sagte sie energisch, als Lena ihr ins Wort fallen wollte. „Natürlich kenne ich deine Einstellung, dass du niemandem zur Last fallen möchtest. Aber ich hatte gehofft, dass du möglicherweise endlich alt genug bist, um zu kapieren, dass wir eine Familie sind!“
„Blöde Kuh“, kicherte Lena unter Tränen. „Nichts in meinem Leben war mir jemals klarer als das, solche Nervensägen, wie ihr seid. Aber es widerstrebt mir einfach von ganzem Herzen, von euch Geld anzunehmen. Das musst du doch verstehen!“
„Jaja, ich weiß.“ Eva seufzte. „Dein großes Lebensmotto. Unbeschwert, unabhängig, frei. Wenn man sich Geld borgt, dann verpflichtet man sich zu irgendetwas, das man irgendwann nicht mehr kontrollieren kann.“ Sie sah ihre Schwester mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Du bist manchmal so ein Schaf, Lena. So langsam sollte dir doch klar werden, dass du nichts von alledem bist. Du bist so abhängig von den paar Kröten, die du im Kindergarten verdienst, dass du dir weder einen vernünftigen Urlaub noch einen neuen Trockner leisten kannst, nachdem dein alter den Geist aufgegeben hat – wie lang ist das jetzt her, vier Jahre? Unbeschwert bist du schon lange nicht mehr, weil dir die Rotzgören fünf Tage die Woche das Leben schwer machen. Und frei? Um frei zu sein, sind die Punkte eins und zwei unabdingbar. Es sei denn, du begibst dich auf Mamas Spuren, wirfst alles hin, packst deinen Rucksack, trampst nach Griechenland und schaust nach, ob dort noch ein paar Hippies übrig sind, die dich in ihre Mitte aufnehmen.“
Wortlos hatte Lena ihrer Schwester zugehört, während sich ihre Unterlippe immer weiter nach vorne schob. „Du bist mir ja eine schöne Hilfe“, sagte sie schließlich.
„Ach, Schatz, jetzt fang nicht an zu schmollen, nur weil ich das Kind beim Namen nenne. Es wird einfach Zeit, dass du dir klarmachst, dass dein Leben nicht in die Richtung läuft, die du dir immer gewünscht hast.“ Eva strich ihrer Schwester liebevoll eine Strähne aus dem Gesicht und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Du wolltest immer einen Prinzen auf einem feurigen Ross heiraten, mit ihm in einem großen Schloss leben und einen ganzen Stall eigener Kinder haben, weißt du noch?“ Sie kicherte, als sie daran zurückdachte, wie überzeugend die pubertierende Lena mit dreizehn Jahren sein konnte. „Wir haben alle geglaubt, dass du das eines Tages verwirklichen würdest. Wenn nicht du, dann schafft das keine.“
Eine Weile hingen die Schwestern ihren Erinnerungen an eine wunderschöne, unbeschwerte Kindheit nach, bis Eva sanft nachhakte: „Was ist denn nun das Problem in deinem Job? Erzähl doch mal, was genau macht dich da so fertig? Vielleicht finden wir ja gemeinsam eine Lösung, wie du besser damit umgehen kannst.“
Lena musste lachen, als Eva sie eifrig ansah. Ihre kleine große Schwester war, im Gegensatz zu ihr selbst, extrem praktisch, strukturiert und lösungsorientiert veranlagt. Typisch Jungfrau eben. Lena hingegen war der klassische Fisch. Verträumt, intuitiv, kreativ und immer ein bisschen chaotisch. Vermutlich genau deswegen ergänzten sich die beiden so perfekt.
„Es ist einfach so, dass viele Leute ihre Kinder kaum noch erziehen“, fing sie an. „Sie lassen ihnen so ziemlich jede Unart durchgehen, kaufen alles, auf das die kleinen Hosenscheißer deuten, und erwarten dann von uns, dass wir ihre Erziehungsfehler ausbügeln. Das würde an sich vielleicht sogar funktionieren, wenn wir das denn tatsächlich dürften. Aber wenn du jedes Mal Angst haben musst, dass sich die Eltern über dich beschweren oder dich sogar anzeigen, wenn du ihr Kind auch nur maßregelst, dann haut das einfach nicht hin. Abgesehen davon, dass du gleich einpacken kannst, falls dir mal die Hand ausrutscht.“
Amüsiert sah Eva Lena an, die sich in Rage geredet hatte. „Du willst mir jetzt aber nicht erzählen, dass du für die Prügelstrafe bist, oder?“
„Was? Ach Quatsch. Natürlich nicht. Aber ich finde das Verhalten der Mütter von heute einfach so was von überzogen, dass ich schreien könnte. Fast jede sieht doch heutzutage in ihrem Nachwuchs ein Wunderkind. Da wird damit geprahlt, welches Kind zuerst die ersten Worte spricht, selbstständig auf den Topf geht, und dann wird daraus abgeleitet, dass das Kind hochintelligent ist. Und das wird den Kleinen auch noch vermittelt. Die denken schon im Alter von zwei Jahren, dass sie besser sind als die anderen, schließlich wird ihnen das jeden Tag von ihren Müttern eingeredet. Sie sind rotzfrech, schreien wie am Spieß, wenn ihnen was nicht passt, und vermöbeln die anderen Kinder, falls die ein Spielzeug nicht hergeben. Und du darfst sie nicht mal schimpfen, sonst bekommst du von den Übermüttern gleich einen Einlauf, der sich gewaschen hat. Die sollten sich einfach mal ein paar Tierfilme ansehen.“
„Tierfilme?“, fragte Eva irritiert. „Was soll das denn bitte bringen?“
„Das kann ich dir gerne sagen“, schnaubte Lena. „Erinner dich mal an die Filme, die wir uns früher so gern angesehen haben. Wenn da eine Löwen- oder Katzenmutter Junge hatte und die Blödsinn gemacht haben, dann hat sie denen eins mitgegeben. Das hat mitnichten mit Prügeln zu tun, aber es zeigt dem Nachwuchs seine Grenzen auf. Und das haben wir über den Tausenden von Ratgebern im Laufe der letzten Jahrzehnte völlig übersehen. Statt sich einfach auf ihre Instinkte zu verlassen, wälzen die Mütter heute zig Bücher, um nur ja alles richtig zu machen. Aber wenn du mich fragst, dann hatten wir noch nie so viele Kinder und Jugendliche, die völlig neben der Spur sind.“
„Puh“, sagte Eva, die ihre Schwester aufmerksam beobachtet hatte. „Das regt dich ja richtig auf.“
„Natürlich regt es mich auf! Und glaub mir, so was hatte ich echt nicht im Sinn, als ich meine Ausbildung gemacht habe.“
Das glaubte Eva unbesehen. Lenas Zuneigung zu Kindern war schon immer riesig gewesen. Wenn sie sich um Schwächere kümmern konnte, war sie in ihrem Element, das hatte sich schon abgezeichnet, als sie in der Grundschule war. Umso schlimmer, dass ihre gesamte Euphorie in nur wenigen Jahren einer nicht minder großen Enttäuschung gewichen schien.
„Und was willst du jetzt machen?“, fragte Eva vorsichtig.
„Keine Ahnung.“ Lena zuckte mit den Schultern. „Erst mal weiter wie bisher. Augen zu und durch“, witzelte sie. „Was bleibt mir denn auch anderes übrig!“
Drei Tage später erhielten Lenas gute Vorsätze einen deutlichen Dämpfer. Nachdem alle Kinder von ihren Eltern abgeholt worden waren, verließ sie den Kindergarten mit einem mehr als nur flauen Gefühl im Bauch. Der Tag hatte schon damit begonnen, dass das Mädchen, das sie von all ihren Schützlingen am meisten ins Herz geschlossen hatte, nicht mehr wiederkommen würde. Yara war das jüngste von drei Kindern einer iranischen Familie, und am frühen Morgen war die Mutter schon lange vor allen anderen im Kindergarten gewesen, um Lena die Hiobsbotschaft zu überbringen. Bestürzt sah Lena die hübsche Frau mit dem in frühlingshaft bunten Farben leuchtenden Kopftuch an, deren Augen vom vielen Weinen rot und verquollen waren.
„Krank?“, wiederholte Lena die Worte von Yaras Mutter und führte sie in die kleine Küche, wo sie eine Kanne Tee gekocht hatte. „Möchten Sie eine Tasse? Setzen Sie sich doch.“
Anfangs kamen die Worte nur zögerlich, doch dann erzählte die Frau, als wäre ein Damm gebrochen. Kurz bevor die anderen Kinder von ihren Eltern gebracht wurden, stand Lena auf und streckte die Arme nach Soraya Pashimi aus. Sie wusste nicht, ob es sich in der Tradition ihres Landes schickte, einen fremden Menschen zu umarmen, deshalb wartete sie, ob die Iranerin die Geste annehmen wollte. Die zögerte jedoch keine Sekunde und nahm Lenas Angebot dankbar an.
„Ich wünsche Ihnen so sehr, dass alles wieder gut wird“, murmelte Lena, ganz gefangen von dem warmen Duft, der von Soraya Pashimi ausging. „Wann reisen Sie ab? Und“, sie zögerte einen unmerklichen Moment, „ich würde Yara so gern Lebewohl sagen. Ist das noch möglich?“
Soraya Pashimi schüttelte den Kopf. „Das Flugzeug geht heute Nachmittag, und Yara wird von einem Krankenwagen direkt von der Klinik in München zum Flughafen gebracht.“ Sie löste sich aus der Umarmung. „Yara liebt Sie so sehr. Sie hat jeden Tag von Ihnen erzählt, wenn sie nach Hause gekommen ist. Hier“, sie schob einen Ärmel ihres Kleides zurück und zog einen ihrer zahlreichen goldenen Armreifen vom Handgelenk, „bitte nehmen Sie. Damit Sie sie nie vergessen.“
Lena schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht annehmen. Aber ich werde Yara auch so nie vergessen.“
Einen Moment verschloss sich das trotz der Sorgen noch immer so schöne Gesicht der Iranerin. Dann überzog ein leichtes Lächeln ihre Züge. „Ihr Deutschen seid immer so korrekt. In unserer Tradition ist es eine Beleidigung, ein Geschenk abzulehnen. Bitte springen Sie über Ihren, wie sagt man, Hürde, und nehmen Sie.“
„Schatten“, verbesserte Lena und erwiderte das Lächeln. Sie zögerte noch einen Moment, und dann tat sie, was Soraya wünschte: Sie sprang über ihren Schatten und nahm das Geschenk an. Bewundernd strich sie mit dem Finger über die exzellente Arbeit. „Er ist wunderschön. Herzlichen Dank!“
Mit einem stolzen Kopfnicken quittierte Soraya Pashimi Lenas ehrliche Freude. Als sie sich zum Gehen wenden wollte, hielt Lena sie zurück.
„Ich möchte Ihnen auch etwas geben. Für Yara. Damit sie weiß, dass ich immer an sie denke.“ Sie öffnete eine Tür an dem kleinen Schrank neben der Spüle und holte ein hübsch verpacktes Geschenk hervor. „Ich wollte es ihr nächste Woche zum Geburtstag geben. Es ist ein Stoffhase. Wir hatten den gleichen bei den Spielsachen, und er war von Anfang an Yaras Lieblingstier. Vor ein paar Wochen hat einer der Jungs dem alten Hasen den Kopf abgerissen, und Yara war fürchterlich unglücklich darüber. Deswegen habe ich ihr einen neuen gekauft. Schade, dass ich ihn ihr nicht mehr selbst geben kann.“
Als Soraya Pashimi, das kleine Paket mit dem nagelneuen Hasen unter dem Arm, langsam den Weg bis zum Gartentor entlangspazierte, sich dort noch mal umdrehte und zum Abschied winkte, hatte Lena einen Kloß im Hals.
„Mach’s gut, kleine Yara“, flüsterte sie mit tränenerstickter Stimme. „Hoffentlich bringt dir der Hase Glück!“
Noch ganz gefangen von der Schreckensnachricht, die Soraya Pashimi ihr überbracht hatte, hatte sie ihre Kinder zusammengetrommelt, nachdem sie miteinander zu Mittag gegessen hatten.
„Ich muss euch etwas ganz Trauriges sagen“, setzte sie an, als endlich etwas Ruhe in dem kleinen Saal eingekehrt war. „Es geht um Yara. Ihre Mama war heute früh bei mir und hat mir gesagt, dass Yara nicht mehr zu uns kommen kann.“
Sie gab den Kindern einen Moment, darüber nachzudenken. Es dauerte auch nicht lange, und Marie, die im Denken immer die Flinkste war, hob die Hand. „Du hast gesagt, dass das traurig ist. Ist Yara tot?“
„Nein, sie ist nicht tot, aber sehr krank. Wisst ihr, was Leukämie ist?“
Bis auf Marie schüttelten die Kinder den Kopf.
„Ich weiß, was das ist, Tante Lena. Mein Onkel hat das auch, aber das ist gar nicht schlimm. Das ist was im Blut, und das wird einfach ausgetauscht, und dann ist man wieder gesund.“
„Leider ist es nicht immer so einfach, Marie. Ihr müsst euch das so vorstellen wie eine Erkältung. Manchmal läuft nur die Nase, manchmal tut auch der Hals weh, aber manchmal ist es richtig schlimm, wenn man Fieber hat.“
„Dann hat Yara eine Erkältung mit Fieber, wenn sie so krank ist?“, stellte Moritz mit einem ernsthaften Nicken fest. Er war stolz darauf, sofort begriffen zu haben, was Yara fehlte.
Max hingegen schüttelte den Kopf. „Du bist so dumm, Moritz. Das war doch nur ein Beispiel, damit wir kapieren, dass es nicht so ist wie bei Maries Onkel. Läuterie kann verschieden schlimm sein, wollte Tante Lena damit sagen.“
Nachdem sich die Kinder wieder beruhigt hatten, sagte Lena: „Bevor ihr euren Mittagsschlaf macht, möchte ich mit euch beten, dass Yara wieder gesund wird.“
„Aber das ist doch dumm“, wusste Max altklug. „Yara ist Muslem, da bringt es nichts, wenn wir zu Gott beten.“
„Das heißt nicht Muslem, sondern Moslem“, verbesserte Lutz, froh, dass er seinem Kumpel Max endlich mal etwas voraushatte.
„Richtig heißt es Muslima“, stellte Lena klar und erklärte den Kindern kurz den Unterschied. „Aber das macht nichts. Ich bin mir sicher, wenn wir zu unserem Gott beten, dann wird der unsere guten Wünsche an die richtige Stelle weitergeben.“
Obwohl sie den fünfjährigen Max, den größten Rüpel in ihrem Haufen, nach dem Mittagsschlaf bereits mehrfach ermahnt hatte, dass er die anderen in Ruhe lassen solle, streckte er ihr nur die Zunge heraus, zeigte hinter ihrem Rücken den Stinkefinger und titulierte sie als blöde Kuh, als sie Marie tröstete, die noch ganz geschockt war von der Nachricht, dass ihre Freundin Yara nach Amerika musste, weil dort ein Arzt war, der ihr vielleicht helfen konnte. Während Lena sich darauf konzentrierte, die Zähne zusammenzubeißen, damit ihr nicht doch noch die Hand ausrutschte, schlich sich der vierjährige Olaf, der aufgrund seiner schmächtigen Figur das bevorzugte Opfer des Rabauken war, von allen anderen unbemerkt an seinen Peiniger heran und hieb ihm mit voller kindlicher Wucht eines der kleinen Nudelhölzer, die sie am Vormittag zum Kuchenbacken benutzt hatten, an den Kopf. Verständnislos sah der Geschlagene von Lena zu Olaf, als sich ein dünnes rotes Rinnsal den Weg durch seine semmelblonden Haare suchte, ihm über das Gesicht lief und er aus vollem Hals zu schreien begann. Der kurz darauf mit Sirenen eingetroffene Notarzt fischte kleine Teigklümpchen aus der Wunde und nahm den Dreikäsehoch vorsichtshalber zur Beobachtung mit in die Klinik. Während Max noch aus dem Krankenwagen heraus den Aufruhr aus vollem Herzen zu genießen schien, kamen seine Eltern gleichzeitig, aber aus verschiedenen Richtungen, am Kindergarten an. Und während Max’ Mutter von Verletzung der Aufsichtspflicht schrie, telefonierte sein Vater bereits mit seinem Anwalt.
Als der Sanka, Max’ Eltern im Schlepptau, endlich vom Hof gefahren war und auch die anderen Kinder von ihren Eltern abgeholt worden waren, schob Lena ihr Mountainbike aus dem Büro und schloss die Tür hinter sich ab. Eigentlich hatte sie am Morgen noch vorgehabt, nach der Arbeit auf den Fockenstein zu radeln, aber nachdem sich die Ereignisse überschlagen hatten, fehlte ihr der Elan, auch nur daran zu denken, siebenhundert Höhenmeter zu fahren. Eigentlich ein Klacks, den sie im Normalfall in kaum zwei Stunden hinter sich brachte. Aber heute fühlte sie sich schon körperlich am Ende, als sie eine kleine Anhöhe hinaufgetreten war. Kurz entschlossen gab sie ihren Plan auf, bog in Gmund links ab und fuhr auf dem breiten Forstweg, der parallel zur Bundesstraße verlief, in Richtung Hausham.
Nach zwanzig Minuten kam sie zu einem ungewöhnlich großen alten Baum, vor dem eine windschiefe Ruhebank stand. Erschöpft klickte sie sich aus den Pedalen und setzte sich vorsichtig auf die morschen Planken. Sie beugte sich nach vorne, stützte ihren Kopf in die Hände, und dann brach ihre Schutzmauer, die sie heute so nötig gehabt hatte wie nie zuvor, wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Erst als sie sich zehn Minuten später wieder etwas beruhigt hatte, bemerkte sie das rosafarbene Kinderrad, das im Gras lag. Verwundert stand sie auf und besah sich das Gefährt genauer. Nicht abgeschlossen. Und das mitten im Wald? Seltsam. Und dann nahm sie das Geräusch wahr, das genauso klang wie ihr eigenes Schluchzen wenige Minuten zuvor. Irritiert dachte sie zuerst, sich verhört zu haben. Außer ihr war keine Menschenseele zu sehen. Sicherheitshalber lief sie um den Baum herum, doch auch da sah sie niemanden. Und doch war da etwas, ganz sicher.
Sie trat ein paar Schritte zurück, und dann stellte sie fest, dass es kein einzelner Baum war, der es zu einem derart außergewöhnlichen Umfang gebracht hatte, sondern drei einzelne Buchen, die so eng standen, dass sie im Laufe ihres Wachstums förmlich miteinander verschmolzen waren. Fasziniert strich Lena mit der Hand über die glatte Rinde und freute sich darüber, dass der zuständige Revierförster vor vielen Jahren dieser Laune der Natur ihren ungewöhnlichen Lauf gelassen hatte und somit eine Besonderheit hatte entstehen dürfen.
Über ihrer Entdeckung vergaß sie für einen Moment ihren eigenen Schmerz und auch das Gefühl, dass sie nicht alleine hier war. Doch dann drang das leise Wimmern erneut an ihr Ohr. Sie blickte nach oben, aber auch in dem dichten Geäst konnte sie niemanden ausmachen. Abgesehen davon, dass der nächste Ast viel zu hoch war, als dass selbst ein Erwachsener ihn hätte erreichen können. Und noch etwas fiel ihr auf: Je weiter sie sich von der alten Buche entfernte, umso leiser wurde das Geräusch. Fest entschlossen, dem Rätsel auf die Schliche zu kommen, trat sie erneut an den Stamm. Und tatsächlich, da war es wieder. Sie legte ihr Ohr an die Rinde, und es wurde noch lauter. Und nun war auch ganz eindeutig auszumachen, dass es sich um das Weinen eines Kindes handelte. Lena lief erneut um den Stamm herum, und wenn in dem Augenblick nicht ein lang gezogenes Haaatschi zu hören gewesen wäre, dann hätte sie dem schmalen Spalt, der sich vom Boden bis ungefähr auf die Höhe ihres Bauchnabels erstreckte, keine Bedeutung beigemessen. Vermutlich hätte sie ihn nicht mal bemerkt, da kniehohes Unkraut den größten Teil der Öffnung verbarg. Sie drehte sich zu dem Geräusch und ging in die Hocke.
„Hallo?“, fragte sie leise. „Kannst du mich hören?“
Nach einer Schrecksekunde hörte das Weinen auf. Es folgte das Hochziehen einer Kindernase und dann – nichts mehr.
„Hallo“, wiederholte Lena sanft. „Ich bin Lena. Und wenn ich mich nicht täusche, dann geht es uns beiden im Moment ähnlich schlecht. Ich habe auch gerade geweint, weil ich nicht mehr weiter weiß. Und dabei habe ich mir gedacht, wie schön es wäre, einer Freundin mein Herz ausschütten zu können.“ Sie setzte sich mit dem Rücken an den Baumstamm und drehte ihren Kopf zu dem Spalt. „Aber im Moment ist niemand da, mit dem ich reden kann“, fuhr sie fort. „Vielleicht geht es dir ja genauso?“
Als noch immer keine Reaktion erfolgte, hatte sie eine Idee. „Es ist wahnsinnig heiß hier draußen. Ich kann verstehen, dass du in dem Baum sitzt, da drin ist es sicher viel angenehmer. Aber weißt du, was jetzt auch schön wäre? Mit einem Eis am See zu sitzen und die Füße ins Wasser zu halten.“ Sie wartete eine Weile ab, dann stand sie auf, klopfte sich die Erde vom Hosenboden und überschlug rasch, wie viel Geld in ihrer Hosentasche steckte. Zu dumm, dass sie ihren Geldbeutel zu Hause gelassen hatte und nur die paar Kröten Reserve dabei hatte. „Das mache ich jetzt. Mir ein Eis kaufen, meine ich. Wenn du magst, dann kannst du mitkommen, ich lade dich auf eine Kugel ein. Ich glaube sogar, dass es für zwei oder drei Kugeln reicht.“
Als sie wieder keine Antwort erhielt, verabschiedete sie sich. „Schade. Ich fahre dann mal. Sag deiner kleinen Höhle schöne Grüße von mir.“
Als sie schon alle Hoffnung aufgegeben hatte und sich zum Gehen wandte, bat eine dünne Stimme: „Warte! Ich komme mit.“
Überrascht drehte sich Lena zurück zu dem Gestrüpp und sah die kleinen Finger, die am Boden nach einer Wurzel tasteten, um sich daran leichter aus dem Spalt herausziehen zu können. Spontan bot sie ihre Hand zur Hilfe an und war verblüfft über die Kraft, mit der sie festgehalten wurde. Als Lena dann das schmächtige Mädchen sah, war sie noch mehr verblüfft. Das Kind war vielleicht einen Meter zwanzig groß, acht oder neun Jahre alt und entsetzlich dünn.
Als sie am See angelangt waren, hätte Lena der Kleinen am liebsten einen Schweinsbraten mit drei Knödeln verordnet, damit sie etwas Fleisch auf die Rippen bekam. Aber zum einen hätte ihr Geld dafür nicht gereicht, zum anderen spürte sie, dass die hauchdünne Schicht Vertrauen, die das kleine Mädchen, das sich ihr mit einem schüchternen Blick als Mia vorgestellt hatte, ihr entgegenbrachte, einem Vortrag über BMI und Ernährungsverhalten nicht standgehalten hätte.
„Weißt du schon, was du möchtest?“, fragte sie, als sie in einer langen Schlange anstanden. „Ich nehme Pistazie, Vanille und Schokolade.“
„Vanille. Eine Kugel.“
„Wirklich nur eine?“ Erstaunt sah Lena das Mädchen an. Wann immer es im Kindergarten einen Ausflug in die Eisdiele gab, musste sie ihre Schützlinge zurückhalten, damit die nicht gleich den ganzen Laden leer kauften.
Als sie den kiesigen Strand in Gmund erreichten, wunderte sich Lena erneut. Statt ebenfalls die Schuhe auszuziehen und mit ihr in das erfrischende Nass zu waten, weigerte sich Mia, sich dem Ufer auch nur zu nähern.
„Was ist los?“, rief Lena, die mit hochgekrempelter Jeans bis zu den Knien im Wasser stand und das schnell schmelzende Eis von ihrem Handrücken schleckte. „Es ist herrlich hier drin. Komm doch auch rein.“
Mia schüttelte den Kopf und ließ sich auf den Fersen nieder. Mit einer Hand umschlang sie ihre Knie, die andere hielt die Waffel.
„Erzählst du mir von deinem Baum?“, fragte Lena ihre Begleiterin, die regungslos auf den See starrte. „Wie lange weißt du schon von dem Spalt, und wie hast du herausgefunden, dass du da überhaupt reinpasst?“
„Verpetzt du mich, wenn ich dir alles erzähle?“, fragte Mia in kindlichem Ernst.
„Verpetzen?“ Lena lächelte liebevoll, stakste aus dem Wasser und setzte sich neben Mia ins Gras. „Ich wüsste ja nicht mal, bei wem.“
Als Mia nur mit den Schultern zuckte, fuhr Lena fort: „Erstens kenne ich niemanden, dem ich davon erzählen könnte, und zweitens ist der Baum doch kein Geheimnis, oder?“
„Doch.“
„Also gut. Dann ist er jetzt unser Geheimnis, okay? Und ich verspreche, dass ich es nicht verraten werde!“
„Schwörst du?“ Mia sah sie mit ihren großen Augen ernsthaft an.
Lena streckte zwei Finger in die Luft. „Bei meiner Schwester.“
Nach ein paar Minuten, die Lena wie eine Ewigkeit vorkamen, ließ sich Mia schließlich erweichen und erzählte, wie sie die kleine Höhle zwei Jahre zuvor entdeckt hatte.
„Das war Bella. Die ist einem Eichhörnchen nachgejagt, und das ist in dem Baum verschwunden.“
„Bella?“
„Bella ist ein Pudelmädchen, das ich früher manchmal Gassi geführt habe. Aber sie ist vor zwei Monaten gestorben.“
„Oh je“, sagte Lena mitfühlend. „War sie denn krank?“
„Nee. Wurde von einem Auto überfahren.“ Mia stocherte ungerührt mit einem Zweig in einem Erdloch, aus dem ganze Heerscharen an aufgeregt umherlaufenden Ameisen strömten.
„Was denkst du“, fragte Lena, „ob die Ameisen da wohl verstehen, was du gerade machst?“
„Ameisen? Bestimmt nicht. Das sind doch ganz blöde Tiere.“ Trotzig hieb das Mädchen mit dem Stock auf ein Knäuel Ameisen ein, die gemeinsam versuchten, ein viel zu großes Stück Brot über eine Wurzel zu zerren, die ihnen den Weg verstellte.
„Warum denkst du, dass Ameisen blöd sind?“
„Welches kluge Tier würde sich so abrackern, um etwas in ein Loch zu ziehen, das dafür viel zu klein ist? Außerdem pieseln die einen an, wenn man auf der Wiese liegt. Ich hasse die!“
Nachdem Mia Lena noch mehr Dinge anvertraut hatte, die sie entweder blöd fand oder hasste, oder, wie die Ameisen, beides zugleich, bedauerte Lena fast, das Mädchen zu einem Eis überredet zu haben. Es war ihr schnell klar geworden, dass das Kind trotzig war, verzogen, voller Vorurteile und bockig wie ein Esel. Und doch war irgendetwas an ihr, das eine Seite in Lena zum Klingen brachte und es ihr unmöglich machte, sich einfach zu verabschieden. Und dann hörte sie sich selbst mit Schrecken fragen, ob Mia ihrem Baum jeden Tag einen Besuch abstatte.
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