Gebrauchsanweisung für die Niederlande Gebrauchsanweisung für die Niederlande - eBook-Ausgabe
„Eine sehr persönliche, kurzweilige Mischung aus Anekdoten, Sprachtipps, historischen Spaziergängen, Einblicke in Vorurteile, kurz gesagt eine literarische Reise durch das nahe und scheinbar so vertraute Nachbarland der Deutschen.“ - Rheinische Post
Gebrauchsanweisung für die Niederlande — Inhalt
Viel mehr als Fahrräder, Tulpen und Käse
Hartelijk welkom!
Die Niederlande sind gar nicht so weit weg und doch ganz anders. Liberaler. Nicht so sicherheitsbewusst. Es gibt guten Käse, bunte Tulpen und starke Deiche. Oder?
Kerstin Schweighöfer lebt seit dreißig Jahren in diesem vlakke land und muss es wissen. Sie radelt mit uns über die Inseln, spaziert durch Amsterdam, Rotterdam und Den Haag, tuckert über die Kanäle von Leiden und streift durch den tiefen Süden von Limburg und Nordbrabant.
Sie erklärt, was es mit dem Oranje-Gefühl auf sich hat, erforscht das deutsch-niederländische Verhältnis und zeichnet so das Bild eines einmaligen Landes.
„Wenn es um deutsch-niederländische Beziehungen geht, ist Kerstin Schweighöfer die perfekte Ansprechpartnerin“ tz
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für die Niederlande“
Prolog: Mijn vlakke Land
Es ist einer jener Sommertage, an denen das Thermometer über dreißig Grad klettern wird. Ich habe den Wecker auf halb sechs gestellt, um ganz früh am Wassenaarse Slag zu sein und die noch kühlen Morgenstunden zu nutzen. Die Nordsee ist spiegelglatt, der Strand bis auf einen einzigen weiteren Hundebesitzer menschenleer. Am Horizont ziehen wie immer große Containerschiffe träge nach Schottland und Skandinavien. Oder, entgegengesetzt, Richtung Ärmelkanal und Hafen Rotterdam.
Ich blinzle in die Sonne, die gerade über dem Dünenhügel [...]
Prolog: Mijn vlakke Land
Es ist einer jener Sommertage, an denen das Thermometer über dreißig Grad klettern wird. Ich habe den Wecker auf halb sechs gestellt, um ganz früh am Wassenaarse Slag zu sein und die noch kühlen Morgenstunden zu nutzen. Die Nordsee ist spiegelglatt, der Strand bis auf einen einzigen weiteren Hundebesitzer menschenleer. Am Horizont ziehen wie immer große Containerschiffe träge nach Schottland und Skandinavien. Oder, entgegengesetzt, Richtung Ärmelkanal und Hafen Rotterdam.
Ich blinzle in die Sonne, die gerade über dem Dünenhügel auftaucht, und treibe auf dem Rücken im Wasser – flankiert von meinen beiden Labradorhündinnen Nina und Emma, die mich nicht aus den Augen lassen. Rechts von mir, in der Ferne, zeichnet sich die Pier von Scheveningen mit dem Riesenrad gegen den blauen Himmel ab, links der weiße Leuchtturm von Katwijk. Manchmal, im Herbst oder Winter, machen wir eine lange Strandwanderung in das alte Fischerdorf und schlendern dort über den Boulevard. Hier am Wassenaarse Slag gibt es nur Meer und Dünen, Möwen und Strand. Und in den Sommermonaten ein paar Holzpavillons mit einladenden Terrassen.
Dort treffen gerade die ersten Mitarbeiter ein, rücken Tische und Stühle zurecht und stellen Sonnenliegen in den Sand, immer paarweise mit bunt gestreiftem Windschutz. Ob ich da vielleicht, weit vor der offiziellen Öffnungszeit, gleich noch ein kopje koffie bekommen werde, bevor ich mich an den Schreibtisch setze?
In solchen Momenten tiefer innerer Ruhe, wenn ich bis auf ganz wenige andere Menschen alleine zwischen Himmel und Meer zu sein scheine, erfüllt mich jedes Mal ein Gefühl der Freiheit und des Losgelöstseins. Was für ein Privileg ist es doch, in der Nähe eines wunderschönen Sandstrandes zu leben – da, wo andere Leute Urlaub machen. Obendrein zentral gelegen, direkt bei Den Haag und so ziemlich genau in der Mitte zwischen Amsterdam und Rotterdam. Einfach ideal, wenn man so wie ich als Auslandskorrespondentin aus den Niederlanden berichtet.
Ideal auch die Offenheit der Menschen, die grundsätzlich zu allem eine Meinung haben, frei von der Leber weg reden und ohne Umschweife zur Sache kommen. Manchmal sind sie zu direkt; nach den Maßstäben ihrer Nachbarn in England, Frankreich und auch Deutschland, wo weitaus mehr Wert auf Etikette gelegt wird, gelten sie zuweilen sogar als unhöflich und vorlaut. Und ihre Kinder als undiszipliniert und frech. Der UNESCO zufolge zählen die kleinen Niederländerinnen und Niederländer aber auch zu den glücklichsten Kindern auf Erden, eben weil sie mit viel weniger Zwängen und Druck aufwachsen als andere.
Denn in dem Land, in dem ich lebe, wird Freiheit nach wie vor großgeschrieben – trotz rechtspopulistischer und fremdenfeindlicher Strömungen, von denen auch die Niederlande nicht verschont geblieben sind. Es ist ein Land, das – aus der Luft betrachtet – einem abstrakten Mondrian-Gemälde gleicht, weil so gut wie alles von Menschenhand in klaren Linien geometrisch angeordnet und geschaffen und dem Meer abgetrotzt wurde. Ein Land mit historischen Städten, die immer noch so aussehen wie auf den Kunstwerken alter Meister. Ein Land auch, in dem die Kathedralen die einzigen Berge sind, wie es Jacques Brel 1962 in seinem wunderbaren Chanson über sein vlakke land besungen hat. Er machte damit zwar Flandern eine Liebeserklärung, aber einst waren sie ja ohnehin vereint, die beiden lage landen, die niedrigen Länder. Der niederländische Teil der Nordseeküste steht dem belgischen an Flachheit jedenfalls in nichts nach, auch er ächzt zuweilen unter dem Nordwind und lässt sich vom warmen Südwind liebkosen. Und so möge es mir Brel verzeihen, wenn ich seine Beschreibung für die Niederlande übernehme. Für mich sind sie mijn vlakke land.
Die Niederländer – ein Crashkurs
Um das gleich am Anfang zu klären: Alle Holländer sind Niederländer, aber nicht alle Niederländer Holländer. Dazu zählen nur die in den beiden Küstenprovinzen Süd- und Nordholland lebenden Menschen. Doch weil die schon vor Jahrhunderten, damals, als die Niederlande entstanden, am mächtigsten und reichsten waren, bürgerte sich Holland als Synonym für die Niederlande ein. Wobei bei Weitem nicht alle Niederländer damit einverstanden sind, auf Holländer reduziert zu werden. Weil das ungefähr so ist, als bezeichnete man alle Deutschen als Bayern oder Schwaben. Wie würden Sie sich da als Nicht-Bayer oder Nicht-Schwabe fühlen? Na, sehen Sie! Genauso geht es auch den Nicht-Holländern.
Und damit nicht genug: Wir Deutschen beschränken unser kleines Nachbarland im Westen auch gerne auf Tomaten und Tulpen, auf Kiffen, Käse und Holzschuhe, die Klompen. Hand aufs Herz: An was denken Sie bei Holland als Allererstes? Ertappt? Sie brauchen gar nicht so schuldbewusst dreinschauen, mir ging es nicht anders, als ich vor gut dreißig Jahren der Liebe wegen die Alpen gegen die Nordsee eintauschte. Ich bin da aufgewachsen, wo der Rhein entspringt, im Bodenseeraum. Jetzt lebe ich an seinem anderen Ende – da, wo er in die Nordsee mündet. Für mich als Süddeutsche waren die Niederlande wirklich extrem weit weg. Ich war es gewohnt, nach Süd oder Südwest zu schauen, nach Frankreich und Italien. Aber doch nicht über die Schulter rauf nach Nordwest!
Und auch ich dachte bei Holland (ja, Holland!) als Erstes an Tomaten und Tulpen, an Kiffen, Käse und Klompen. Vielleicht auch noch an den Kampf gegen das Wasser. Und die sprichwörtliche Lässigkeit der Niederländer, die so herrlich unkompliziert sein sollten, ohne Respekt vor Autoritäten. Die nicht nur jeden sofort duzten, sondern auch den Drang hatten, alles zu verkleinern und zu verniedlichen, indem sie überall ein je oder tje dranhängten. Dropje voor dropje kwaliteit – mit diesem Reklamespruch für Dosenmilch bin ich aufgewachsen. Aus einer Tasse wird hinter den Deichen ein Tässchen, ein kopje. Aus einem Bier ein biertje. Und ihr Land selbst bezeichnen die Niederländer gerne liebevoll als kikkerlandje, als Froschländchen. Weil es angeblich so kühl und nass ist.
Glauben Sie mir: Das ist das einzige der genannten Klischees und Vorurteile, das NICHT stimmt. Jedenfalls nicht mehr. Der Klimawandel hat den Sommern an der niederländischen Nordseeküste mediterranen Charakter verschafft, der (auch in meinem Garten) Palmen gedeihen lässt. Es werden am laufenden Band Hitzerekorde gebrochen. So wie 2020: Da dauerte die Hitzewelle im August zwei Wochen lang an; an acht Tagen hintereinander wurden weit über dreißig Grad gemessen. Das hatte es noch nie gegeben. Zum Leidwesen der kikker.
Ansonsten aber haben die aufgeführten Stereotypen durchaus ihre Richtigkeit: Käse, Tomaten und Tulpen gehören nun mal zu den beliebtesten Exportschlagern der Niederlande (Hasch übrigens auch, es liegt Schätzungen zufolge vor der Salatgurke und nach den Champignons auf Platz vier, aber daran werden die Niederländer eher ungern erinnert). Wobei den Tomaten in Deutschland nach wie vor das Image von Wasserbomben anhaftet – zum Leidwesen ihrer Züchter und inzwischen auch völlig zu Unrecht. Die Tulpe dagegen hat es schon vor Jahrzehnten geschafft, zum Nationalsymbol aufzusteigen. Für eine Immigrantin aus Kleinasien eine beachtliche und heute recht utopische Karriere.
Was den Verkleinerungsdrang der Niederländer betrifft: Der kann, ohne zu übertreiben, als Wahn bezeichnet werden, vor dem nichts sicher ist – weder plantjes und beestjes, also Flora und Fauna, noch mannetjes und vrouwtjes, also die Menschheit. Eigentlich werden nur Verbrecher und der König nicht verkleinert.
Gegen das Duzen hingegen ist wirklich niemand gefeit – noch nicht einmal Willem Alexander samt Gattin Máxima und Mutter Beatrix. Aber die Niederländer sind nun mal weitaus weniger formell als Deutsche oder Franzosen. Obrigkeitsdenken ist ihnen fremd. Dafür sind sie sehr direkt und halten selbst einfachste Höflichkeitsregeln für überflüssig, auch bei Wildfremden. Willem, ein holländischer Kollege von mir, kam vor nicht allzu langer Zeit fassungslos von einer Radtour entlang der Mosel zurück: Er war bei Koblenz vom Weg abgekommen, genauer gesagt vom Fluss, hatte sich den erstbesten Passanten geschnappt, ihm im schönsten Rudi-Carrell-Deutsch („Weißt DU vielleicht, wo ich hier bin?“) die Landkarte direkt vor die Nase gehalten – und sich dann gewundert, dass der arme Mann erschrocken mehr als einen Meter zurücksprang.
Meine neuen Landsleute sind auch allergisch gegen Bevormundung. „Laat me“, lass mich, heißt nicht umsonst eines der schönsten und bekanntesten Lieder des 2009 verstorbenen niederländischen Chansonniers Ramses Shaffy, das auch zu meinen Lieblingsliedern gehört: „Lass mich einfach gewähren“, singt er da. „Laat me mijn eigen gang maar gaan.“
An dieser Stelle eine kleine Aussprachehilfe: ij wird e-i ausgesprochen, das Rijksmuseum ist also das Re-iksmuseum. Oe ist u – Koe wie Kuh. Ou ist au – bouwen wie bauen. Und eu ist ö – Europa wird hier also Öropa ausgesprochen. Und der Keukenhof (da, wo so viele Tulpen blühen) ist der Kökenhoff. Die belgische Stadt Leuven wird wie Löwen ausgesprochen. Und Köln ist Keulen, Kölen. Das hilft enorm beim Lesen, dann versteht man sofort deutlich mehr. Ach ja, und g ist natürlich ein ch wie im deutschen ach.
Eigenverantwortlichkeit wird in meiner Wahlheimat großgeschrieben, von radikalen Verboten nicht viel gehalten. Dazu sind die Niederländer viel zu pragmatisch. Und sie haben einen ungeheuren Drang nach Transparenz. Das hat mit dem Calvinismus zu tun, denn bei guten Calvinisten wird nichts verborgen (deshalb die einst offenen Gardinen, die allerdings hinter immer mehr Fenstern zugezogen werden). Jedenfalls schrecken die Niederländer davor zurück, etwas zu verbieten: Es könnte ja trotzdem weiterhin geschehen, nur heimlich, unkontrollierbar und eben nicht mehr transparent. Und da ist durchaus was dran.
Das hat zur Politik des gedogens geführt, ein Schlüsselbegriff in der niederländischen Gesellschaft. Gedogen bedeutet tolerieren oder dulden. Ein berühmtes Beispiel für gedogen ist das blowen, wie das Kiffen hier heißt – also der Konsum weicher Drogen. Sie sind auch in den Niederlanden nach wie vor illegal. Aber um den Haschraucher von der kriminellen harten Drogenszene fernzuhalten, darf er unter bestimmten Bedingungen in den Coffeeshops kiffen. Bei Prostitution und Abtreibung sind die Niederländer einen Schritt weiter gegangen: Beides ist inzwischen legal, wurde zuvor aber jahrelang nur gedoogd.
Ebenfalls ein mustergültiges Beispiel für den niederländischen Pragmatismus ist der Sterbehilfeparagraf: Es mag einige von Ihnen überraschen, aber auch in den Niederlanden ist Sterbehilfe verboten. Nur wenn der Arzt bestimmte Richtlinien einhält, muss er keine strafrechtlichen Folgen fürchten – dann wird Sterbehilfe gedoogd. Mit dieser Regelung hatten die Niederländer 2002 allen Protesten aus dem Ausland zum Trotz den internationalen Alleingang gewagt und wurden zu Wegbereitern.
Apropos Wegbereiter: Auch das ist typisch niederländisch, diese Unbefangenheit, diese Unerschrockenheit, mit der hier Neues umarmt und unbekannte Wege eingeschlagen werden. „Die Niederländer probieren es einfach aus“, erzählte mir ein deutscher Polizist aus dem Grenzgebiet einmal nicht ohne Neid und einigermaßen perplex. „Wenn’s schiefläuft, wird’s eingestellt, wenn’s gut ist, behält man es bei. Wir Deutsche hingegen – wir führen erst einmal jahrelang zig Studien und Untersuchungen durch.“
So kommt es, dass die Niederländer immer wieder die Nase vorne haben und als progressiv gelten. Weil sie sich mehr trauen als andere. Ein berühmtes Beispiel dafür ist die gleichgeschlechtliche Ehe: Als erstes Land der Welt haben die Niederlande sie 2001 eingeführt. Weil jeder die Freiheit haben sollte, den zu heiraten, den er liebt – auch Männer einen Mann und Frauen eine Frau. Der beliebte homosexuelle Komiker und Schauspieler André van Duin bezeichnete die Niederlande als „Land, wo jeder er selbst sein kann“.
Doch auch wenn viele Stereotypen und Vorurteile ihre Berechtigung haben – machen Sie jetzt nicht den Fehler zu denken, damit habe sich die Sache erledigt, ansonsten werde es auf der anderen Seite der Grenze schon nicht sehr viel anders zugehen als zu Hause. Klingt nicht auch die Sprache der Niederländer ein bisschen wie ein drolliger deutscher Dialekt?
Schon wieder ertappt? In diesem Falle können Sie den Blick zu Recht schuldbewusst senken. Damit verscherzen Sie sich hinter den Deichen garantiert sämtliche Sympathien. Die Niederlande mögen zwar nur so groß sein wie Nordrhein-Westfalen und mit rund 17 Millionen Menschen auch genauso viele Einwohner haben. Aber sie sind mehr als unser putziger Nachbar im Westen, sie möchten für voll genommen werden – erst recht von einer Nation, die sie vor rund achtzig Jahren überrollt und besetzt hat. In den Niederlanden wird Nederlands gesprochen, und das ist – wie Deutsch – eine eigenständige germanische Sprache. Man darf sie als Halskrankheit bezeichnen, wenn man das unbedingt will, aber niemals als deutschen Dialekt. Deutsch und Nederlands sind sozusagen Geschwister. Und auch die Menschen in diesen beiden Ländern kann man als Brüder und Schwestern sehen. Aber weil Geschwister trotz aller Ähnlichkeiten sehr unterschiedlich sein können, ticken auch Deutsche und Niederländer in vielerlei Hinsicht sehr anders. Davon auszugehen, dass es wegen der vielen Gemeinsamkeiten keine besonderen Unterschiede gibt, ist der größte Anfängerfehler, den man machen kann. Ein lebensgefährlicher obendrein.
Das fängt schon beim Zebrastreifen an: Schweizer Autofahrer treten bereits fünfzig Meter vorher auf die Bremse (auch das weiß ich aus Erfahrung, ich bin im Schweizer Grenzgebiet aufgewachsen), deutsche immerhin meist zehn Meter davor, der niederländische Autofahrer hingegen, der fährt weiter. Der bremst nicht. Da muss man froh sein, dass er nicht auch noch Gas gibt. Und sollte er tatsächlich einmal vor einem Zebrastreifen anhalten, dann bedankt sich der Fußgänger in der Regel überschwänglich und weiß vor lauter Begeisterung gar nicht, wie schnell er auf die andere Seite kommen soll.
Auch beim (Be-)Zahlen kommen viele Deutsche ins Staunen, wenn sie vergeblich auf ihr Wechselgeld warten, jedenfalls auf die Ein- oder Zwei-Eurocent-Münzen: Das kommt davon, wenn man unbedingt noch vorsintflutlich mit Bargeld zahlen will! Dann muss man in Kauf nehmen, dass nach oben oder unten abgerundet wird: Aus 9,98 Euro werden zehn Euro, aus 9,97 Euro 9,95 Euro. Weil das lästige Kupferkleingeld die Portemonnaies zu voll macht. Finden jedenfalls die Niederländer und würden es deshalb am liebsten ganz abschaffen. Schließlich leben sie ohnehin bereits so gut wie bargeldlos, denn alles – auch eine Schachtel Streichhölzer oder einen Kaugummi – können sie problemlos mit ihrem pinpas zahlen, ihrer Bankkarte. Folge: Viele vergessen, ins Ausland Bargeld mitzunehmen. So wie Amra, die Tochter von meinen Freunden Vincent und Moniek, die kürzlich mit Kommilitoninnen ein Wochenende in der Eifel verbracht hatte und entsetzt berichtete, dass sie nach dem Essen im Restaurant nicht hatten zahlen können, weil sie bargeldlos verreist waren. „Stell dir vor, da konnte man nicht pinnen!“ Da half nichts – die meisjes mussten am späten Abend noch in den nächsten größeren Ort fahren und dort einen Geldautomaten suchen. „Die Details dieser Odyssee erspare ich dir“, seufzte Amra.
Am deutlichsten aber sind die Unterschiede zwischen Niederländern und Deutschen, wenn es um ihre Gesundheit geht, da tun sich zwischen den beiden Nationen regelrechte Abgründe auf. Dazu reicht es, den Fernseher anzumachen und auf die Werbung zu achten. In den Niederlanden geht es in der Hauptsache ums Geld: Wo kann ich sparen, wo kriege ich zwei Flaschen Spülmittel zum Preis von einem – twee voor een, eine bei den sparsamen Calvinisten sehr beliebte Aktion. In Deutschland hingegen dreht sich fast alles um die Gesundheit und wie ich sie angeblich erhalten oder wiederherstellen kann, sprich: um Pillen, Säfte und Salben. Alles völlig überflüssig, finden die Niederländer. „Salben sind nur Geldmacherei“, bekam ich von meinem Hausarzt zu hören, als ich ihn einmal wegen eines verstauchten Fußes aufsuchte. „Die Schwellung geht von selbst wieder zurück.“ Und er sollte ja auch recht behalten.
In den Augen meiner neuen Landsleute sind wir Deutschen Weicheier, denn in den Poldern gilt das calvinistische Motto: Niet klagen maar dragen. Mit anderen Worten: Was mich nicht umbringt, macht mich stark. Wundert es einen da noch, dass die Niederländer keine Kuren kennen? Als meine niederländische Freundin Ina hörte, dass meine deutsche Freundin Christine wegen Kreislaufbeschwerden anstandslos drei Wochen zur Kur gehen konnte, geriet sie regelrecht aus der Fassung: „Waaaaanzin! Wat dat kost!“ Das Wort Kreislaufbeschwerden gehört seitdem zu Inas Lieblingswörtern. Sie lässt es sich immer regelrecht auf der Zunge zergehen und rollt dabei die Augen. Ina ist überzeugt davon, dass es dieses Wort in keiner anderen Sprache gibt: „An Kreislaufbeschwerden leiden nur Deutsche.“
Ina ist eine Bilderbuchholländerin, hochgewachsen mit hellblonden, schulterlangen Haaren. Familie und Beruf konnte sie immer gut unter einen Hut bringen, denn die Niederländerinnen sind Weltmeisterinnen im Teilzeitarbeiten. Und so wie einst ihre vier Kinder setzt Ina inzwischen auch ihre Enkel aufs Rad – eins vorne, eins hinten, rechts und links prall gefüllte Einkaufstaschen. So sieht das Mom’s Taxi in den Niederlanden aus. Alles kein Problem, die Niederländerinnen sind wahre Gleichgewichtskünstlerinnen auf dem fiets.
Ina leiht mir ihr Rad immer gerne aus, wenn ich Besuch aus Deutschland bekomme. Das heißt, sie würde es gern tun, denn es wäre ja sehr praktisch, schon wegen der Kindersitze. Und deshalb kann sie nicht nachvollziehen, dass von ihrem Angebot bei Weitem nicht immer Gebrauch gemacht wird. Auch meine Schwester lehnte dankend ab, als sie mit meiner damals zwei Jahre alten Nichte vorbeikam. Sie guckte nur den Kindersitz an und dann mich, als ob ich von einem anderen Planeten käme. Es fehlte nicht viel, und sie hätte sich an die Stirn getippt. Nie und nimmer würde sie sich auf dieses Rad setzen – allerhöchstens mit Helm. Den hatte ich natürlich nicht. Ina auch nicht: Bei der Vorstellung daran würde die sich an die Stirn tippen. Mit Helm spürt man ja den Wind in den Haaren nicht mehr! Der muss freies Spiel haben!
Nun ist es zwar so, dass der niederländische Radfahrer in Watte gepackt wird: Er hat eigene Ampeln, eigene Unterführungen und einen eigenen Kreisverkehr, er muss sich nicht, wie in deutschen Städten, den Gehweg mit Fußgängern teilen (grau-en-haft!). Nein, er hat seine eigene Straße, ganz für sich allein. Es gibt sogar Schnellstraßen, speziell für fietsers. Aber trotzdem hat mich dieser Besuch meiner Schwester einmal mehr in meinem Eindruck bestätigt, dass das Sicherheitsbedürfnis der Niederländer, verglichen mit dem der Deutschen, als kümmerlich bezeichnet werden darf. Anders ausgedrückt: Bei Deutschen ist es wesentlich stärker ausgeprägt. Wir gehen gerne auf Nummer sicher. Wir rechnen mit dem Schlimmsten. Verglichen mit Niederländern sind wir extrem risikomeidend. Die sind da viel entspannter. Und viel optimistischer: „Komt goed!“, lautet ihr Motto. „Wird schon gut gehen.“ Und in den meisten Fällen geht es ja auch gut.
Deshalb gibt es hier auch Parkplätze, die in Deutschland undenkbar wären und die das Einparken für Nicht-Niederländer zu einer traumatischen Erfahrung werden lassen: parallel zur Gracht, ganz ohne Stahlbügel, ganz ohne irgendwas, das den freien Fall ins Wasser bremsen würde. Nichts, nada, niente, nothing. Wozu auch? Geht in den meisten Fällen ja gut! Auch wenn man dann nur noch auf einer Seite aussteigen kann – weil man auf der anderen ins Wasser fallen würde.
Apropos parken: Tun Sie es nur da, wo es erlaubt ist, und zahlen Sie immer ausreichend. Falschparken ist ein teurer Spaß und fängt bei 95 Euro an. Das gilt auch für Geschwindigkeitsübertretungen, insbesondere auf den Autobahnen, wo tagsüber nur Tempo hundert erlaubt ist. Zwanzig km/h mehr? Macht 132 Euro. Ich wurde neulich mit meinen Hündinnen in einem Gebiet erwischt, wo ich sie an die Leine hätte nehmen müssen, aber frei laufen ließ. Der Ordnungshüter kannte kein Pardon: 95 Euro. Noch mehr zur Kasse gebeten wurde die Tochter eines deutschen Bekannten, die für ein Auslandssemester gerade nach Amsterdam umgezogen und spätabends beim wildplassen erwischt worden war: Sie hatte vergeblich nach einer Frauentoilette Ausschau gehalten, sich in ihrer Not schließlich im Vondelpark hinter einen Baum gehockt – und verstand die Welt nicht mehr, als sie deswegen zu einer Strafe von 140 Euro verdonnert wurde. Die Niederlande waren doch dieses lockere liberale Land, in dem man es mit Verboten nicht so genau nahm und alle Augen zudrückte? Von wegen – diese rosarote Brille können Sie getrost absetzen! Die niederländische Gesellschaft hat auch ihre harten Seiten, sie weiß mühelos Liberales und Repressives zu vereinen. Was insbesondere uns Deutsche immer wieder überrascht.
An all das musste auch ich mich erst einmal gewöhnen. Inzwischen allerdings sind dreißig Jahre unter Niederländern nicht ohne Folgen geblieben: Bei Deutschlandbesuchen muss ich daran denken, Bargeld mitzunehmen, und aufpassen, dass ich nicht zu direkt bin und jeden sofort duze. Ich finde es normal, dass mich mein Hausarzt ohne Rezept wieder nach Hause schickt, und ich kann parallel zur Gracht einparken. Statt Bergwanderungen genieße ich lange Strandspaziergänge, See und Salzluft. Das gesellschaftliche Klima ist trotz allem nach wie vor liberal, der Nachdruck liegt auf
der Eigenverantwortlichkeit. Man wird viel weniger bevormundet und hat immer ein bisschen das Gefühl, ohne Helm auf dem Rad zu sitzen und den Wind in den Haaren zu spüren.
Ich habe es kennen- und lieben gelernt, mijn vlakke land. Es ist hier nicht alles besser, das nicht. Aber vieles anders – sehr viel mehr, als man auf den ersten Blick vermutet. Dafür gibt es oft Erklärungen. Auf den nächsten Seiten werden Sie erfahren, weshalb die Niederländer in so vielerlei Hinsicht so anders ticken als wir Deutschen. Und wie sie trotz Klimawandel weiterhin trockene Füße behalten wollen. Warum Englisch statt Nederlands zur Weltsprache aufgestiegen ist. Was die DNA von New York mit Amsterdam zu tun hat und der holländische Hering mit Truthahn und Thanksgiving Day. Und weshalb wir Deutschen hinter den Deichen nicht mehr der ungeliebte große Bruder im Osten sind, sondern – im Gegenteil – oft der hochgelobte und vorbildliche.
Wir werden zusammen den hohen Norden und den tiefen Süden erkunden, wo die Unterschiede zwischen den Menschen genauso markant sind wie zwischen Münchnern und Hamburgern, auch wenn sie nicht 800, sondern nur 330 Kilometer trennen. Und Sie werden die unbekannten Seiten von bekannten Städten wie Amsterdam, Den Haag und Rotterdam kennenlernen.
Als Erstes aber möchte ich Sie in die alte Rembrandt- und Universitätsstadt Leiden entführen. Weil der Leidener Grachtengürtel genauso malerisch ist wie der von Amsterdam. Weil sich hier die allererste Tulpe durch holländischen Boden gebohrt hat. Weil der Samstagsmarkt von Leiden der schönste ist, den ich kenne. Und weil ich seit fast dreißig Jahren am Stadtrand von Leiden wohne.
Ach, eh ich es vergesse: Wir können uns doch duzen, oder? Einverstanden?
Gut, dann kann es ja losgehen. Kom je mee?
Käsefans aufgepasst
Deckt euch mit pikantem Bauernkäse ein – mit boerenkaas belegen! Lekker! Am besten beim kaasboer, sprich: einem Käseladen. Oder beim Käsestand auf dem Markt. Da habt ihr die Qual der Wahl – und könnt auch alles durch probieren!
Gartenfreunde sollten bollen mit nehmen, Blumenzwiebeln.
Aber nicht am Bahnhof oder auf Schiphol und in Souvenirläden ganz grundsätzlich nicht. Nein, am besten geht ihr dafür auch auf den Markt oder in ein Gartenzentrum.
Es muss nicht immer Amsterdam sein!
Das Hollandgefühl stellt sich auch in altholländischen Städten wie Leiden, Delft, Gouda oder Dordrecht umgehend ein. Sie sind nicht ganz so überlaufen, und in vielen dieser Städte finden ebenfalls idyllische Grachtenrundfahrten statt.
Macht eine Dünen und Strandwanderung!
Besonders schön und verwunschen-bezaubernd sind die Dünen von Katwijk, auf Terschelling, im Naturreservat Meijendel bei Den Haag und in Nordholland bei Schoorl. Packt euren Rucksack mit Thermoskanne und broodjes für eine Brotzeit auf dem Dünengipfel oder unten am Strand.
Kulinarischer Höhepunkt
Probiert mal einen pannenkoek, am besten in speziellen pannenkoeken-Restaurants. Da gibt es die „Polder-Pizza“ wagenradgroß, mal herzhaft-deftig mit Krabben, Lachs, Spinat, Käse und/oder Speck. Mal süß mit Erdbeeren, Eis, Schokolade, Äpfeln und Sahne.
Die perfekten Mitbringsel
sind stroopwafeltjes, zwei runde Waffelhälften mit Rautenmuster, zusammengehalten von Sirup. Klebrig, aber sehr lekker! Gibt’s so groß wie ein runder Durchschnittslebkuchen. Oder klein wie ein Taler. Für die Daheimgebliebenen garantiert ein Erfolg!
„Ein spannendes Reisebuch, das auch für Fans noch die ein oder andere Überraschung bereithält.“
„Eine sehr persönliche, kurzweilige Mischung aus Anekdoten, Sprachtipps, historischen Spaziergängen, Einblicke in Vorurteile, kurz gesagt eine literarische Reise durch das nahe und scheinbar so vertraute Nachbarland der Deutschen.“
„Ein leicht zu lesender literarischer Reiseführer.“
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