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Gebrauchsanweisung für Finnland Gebrauchsanweisung für Finnland - eBook-Ausgabe

Roman Schatz
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— Aktualisierte Neuausgabe 2022

„Ich liebe dieses Buch! Ganz ehrlich, ich habe bei der Lektüre eines Sachbuchs selten so viel und herzlich gelacht, wie in Roman Schatz‘ Gebrauchsanweisungen für Finnland. (...) Ein echter Tipp für jeden, der sich mit Land und Leuten gerne auseinandersetzt, neues kennenlernen will und vorallem gerne lacht. Nicht über dieses kuriose Volk, sondern bitte mit ihnen.“ - Buchperlenblog

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Gebrauchsanweisung für Finnland — Inhalt

5,5 Millionen Finnen, 2 Millionen Saunas und 200 000 Seen

„Wenn Schnaps, Teer und Sauna nicht helfen, dann ist die Krankheit tödlich“, so ein finnisches Sprichwort. Der Deutsche Roman Schatz, in Finnland bekannt wie ein bunter Hund, erklärt uns seine Wahlheimat, deren bekannteste Exportgüter Schwitzkästen und Angry Birds sind. Die seit Jahren als glücklichstes Land der Welt den „World Happiness Report“ anführt. Die ein Paradies für Winterbaden, Kanu- und Langlauftouren, Fliegenfischen und Hundeschlittenfahren ist. Deren Fläche zu siebzig Prozent aus Wald besteht. Mit Bewohnern, die als wortkarg und dauermelancholisch gelten – und einer Sprache, die neben „Honigpfote“ noch elf Wörter für „Bär“ kennt.

„Höchste Zeit, hinzufahren und sich Suomi (so heißt Finnland in der Landessprache) mal anzuschauen! Diese Gebrauchsanweisung ist dafür die passende Reiselektüre.“ Bild

Der Autor verrät, was es mit dem Ertüchtigungswahn der Finnen und mit ihrer Schwäche für Ahnenforschung auf sich hat. Wo man sich eine ofenfrische „Ohrfeige“ holen kann und wie Erlebnisgastronomie auf Finnisch geht. Wie ein typisch finnischer Mord aussieht. Und warum manche Rentiere nachts leuchten.

„Dank seiner satirischen Sendungen ist er wohl der bekannteste Deutsche Finnlands – und seine humorvolle Bissigkeit kommt auch dem Buch zugute. Unterhaltsam, kenntnisreich, lesenswert!“ Nordis

€ 16,00 [D], € 16,50 [A]
Erschienen am 26.05.2022
240 Seiten, Flexocover mit Klappen
EAN 978-3-492-27765-5
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€ 13,99 [D], € 13,99 [A]
Erschienen am 26.05.2022
240 Seiten
EAN 978-3-492-60176-4
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Finnland“

Vorwort

» Die Finnen sind bedächtig und sanftmütig, sanftmütiger als alle anderen Bewohner der nordischen Länder. Kein Volk gerät langsamer in Wut als sie, aber auch kein anderes Volk rächt sich hitziger als sie. Sie sind Hitzköpfe und schnell bei der Hand mit ihrer Rache, aber sie versöhnen sich danach auch wieder schnell. Alle Menschen der nordischen Länder sind bekannt für ihre Gastfreundschaft, und besonders die Finnen sind sehr freigebig, sodass man in einem guten Jahr durch das ganze Land reisen kann, ohne für Proviant oder für das Futter seines [...]

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Vorwort

„ Die Finnen sind bedächtig und sanftmütig, sanftmütiger als alle anderen Bewohner der nordischen Länder. Kein Volk gerät langsamer in Wut als sie, aber auch kein anderes Volk rächt sich hitziger als sie. Sie sind Hitzköpfe und schnell bei der Hand mit ihrer Rache, aber sie versöhnen sich danach auch wieder schnell. Alle Menschen der nordischen Länder sind bekannt für ihre Gastfreundschaft, und besonders die Finnen sind sehr freigebig, sodass man in einem guten Jahr durch das ganze Land reisen kann, ohne für Proviant oder für das Futter seines Pferdes zu bezahlen. ( … ) Die Finnen sind tüchtig, geduldig und in ihrer rechtschaffenen Armut unschlagbar. “

So herzlich beschreibt der junge Gelehrte Daniel Juslenius ( 1676–1752 ) im Jahr 1700 auf Lateinisch in seiner Doktorarbeit Aboa vetus et nova (Das alte und neue Turku) seine Landsleute.

Viel hat sich in den letzten dreihundert Jahren geändert. Die Finnen sind nicht mehr rechtschaffen arm, und es ist auch in einem guten Jahr nicht mehr möglich, durchs Land zu reisen, ohne für seinen Proviant zu bezahlen, von den Spritkosten für das Pferd ganz zu schweigen.

Manches hat sich dagegen überhaupt nicht geändert : Die Finnen sind immer noch bedächtig und sanftmütig, gleichzeitig aber auch Hitzköpfe und schnell bei der Hand mit ihrer Rache. Und sie beruhigen sich auch wieder rasch.

Die meisten Finninnen und Finnen werden in Finnland geboren und wachsen hier auf. Mangels Kontrasten sind für sie dieses Land, diese Sprache, dieses Klima, diese Wertewelt und dieser Lebensstil nicht nur normal, sondern nachgerade alltäglich.

Der Autor dieses Buches kam als junger Mann vor knapp dreißig Jahren auf den Spuren der Liebe aus einer Stadt namens Berlin ( West ) nach Finnland. Inzwischen hat er drei Kinder und zusätzlich zum deutschen auch einen finnischen Pass.

Auch nach mehr als einem Vierteljahrhundert ist Finnland für ihn immer noch voll von Mysterien, Rätseln und offenen Fragen. Manche dieser offenen Fragen werden wohl für immer unbeantwortet bleiben, so zum Beispiel diese :

Warum fangen ungefähr drei von zehn Finnen beim Zählen mit den Fingern nicht mit dem Daumen an, sondern mit dem kleinen Finger ?

Achten Sie mal darauf. Es stimmt.

Roman Schatz

Helsinki, im Mai 2014


Auf der Suche nach sich selbst – Die finnische Identität

Eines haben die meisten Finninnen und Finnen gemeinsam, ganz egal, ob sie jung oder alt sind, Rechtskonservative oder Ökorevolutionäre, Feministinnen oder Patriarchen, Bauern oder Professorinnen, religiöse Pietisten oder linientreue Kommunisten : Sie sind fast alle wirklich gerne Finnen und sind, jede und jeder auf eigene Art, mächtig stolz darauf, diesem exotischen kleinen Volk anzugehören.

Wenn man vor meiner Haustür auf die hübsche grüne Helsinkier Straßenbahn wartet und gerade einer der etwa zwei Dutzend amtlichen Beflaggungstage des Jahres ist, kann man, wenn man sich einmal um die eigene Achse dreht, mindestens siebenundvierzig blaue Kreuze auf weißem Grund flattern sehen. Dann kommt die Straßenbahn.

Beflaggt wird unter anderem am Tag der Kriegsveteranen, am Tag der finnischen Sprache, am Tag des Gedichts und des Sommers ( dem Geburtstag des Poeten Eino Leino ), am Tag der Gefallenen, am Tag der Gleichberechtigung ( dem Geburtstag der Schriftstellerin Minna Canth ), am Tag der finnischen Literatur, am Tag des Finnentums, am Tag des Nationaldichters Johan Ludvig Runeberg und am Vatertag. Letzterer findet hier am zweiten Sonntag im November statt, vermutlich, damit finnische Väter nicht auf die Idee kommen, sich mit einer Kiste Bier und ihren Söhnen in die sommerliche Natur zu verdrücken. Der Muttertag ist am zweiten Sonntag im Mai, wie auch im Rest der Welt.

Stolz auf sich selbst als Nation, als Kultur, als Sprache und als Volk zu sein ist für Finnen etwas völlig Selbstverständliches. Für jemanden, der in Deutschland, besonders im westlichen Sektor davon, aufgewachsen ist, ist dieser überbordende, ungehemmte Patriotismus anfangs etwas gewöhnungsbedürftig. Das Wort suomalaisuus, Finnentum, ist all­gegenwärtig im täglichen Sprachgebrauch, die eigene Identität ist Gegenstand unzähliger Bücher, Thema vieler Talkshows und Podiumsdiskussionen, etwas, worüber man gern und viel spricht.

In Deutschland ist schon die Vokabel problematisch. Deutschtum, das tümelt eben und erinnert sofort an die Sünden und Verbrechen, die sich Deutschland in den letzten Jahrhunderten zuschulden kommen ließ.

Hier aber denkt man gern und intensiv über die eigene Nation nach und schämt sich nicht für die eigene Vergangenheit, denn im Gegensatz zu fast allen anderen sogenannten zivilisierten europäischen Staaten hat Finnland nie versucht, die gesamte bekannte Welt oder wenigstens seine Nachbarn zu erobern. Hier ging es nie darum, aggressive oder expansive Außenpolitik zu betreiben, Finnland hatte nie Kolonien. Die Priorität lag immer im eigenen Überleben, im Entwickeln der eigenen Sprache und Identität, im Etablieren einer finnischen Kultur und Nation in Europa.


Finnland – die Wiege der Zivilisation

Vielleicht ist die hartnäckige Nabelschau der Finnen dadurch zu erklären, dass sie gar nicht wissen, wo sie herkommen. Der Ursprung dessen, was man ein finnisches Volk oder eine finnische Kultur nennen könnte, liegt nämlich im Dunkel der Geschichte. Es hat die verschiedensten Ansätze gegeben, Licht in dieses Dunkel zu bringen : Man hat die Bibel interpretiert und glaubte lange Zeit, die Finnen seien ein Stamm, der sich nach der babylonischen Sprachverwirrung in den Norden Europas verirrt habe. Man hat kraniologische Studien betrieben, also die Schädelknochen verschiedener Stämme vergleichend vermessen, und ist zu dem Schluss gekommen, dass finnische Jochbeine denen der Mongolen ähneln. Man hat die heutige finnische Sprache mit anderen, ähnlichen Sprachen verglichen und ein Dutzend verwandter Dialekte entlang der Wolga in Sibirien gefunden, man hat mitochondrische DNS untersucht und überraschenderweise entdeckt, dass die Vorfahren der meisten Finnen aus Mitteleuropa stammen, sich aber Ostfinnen und Westfinnen genetisch weit mehr voneinander unterscheiden als beispielsweise Deutsche von Briten.

Bisher gibt es also widersprüchliche Indizien, aber keine Erklärung für die große Frage, die die Finnen umtreibt : Woher kommen wir ? Sicher ist nur : Die Finnen sind eine echte Rarität.

Der römische Historiker Tacitus schreibt im Jahr 98 am Schluss seines Werkes Germania auch über den Stamm der Fennen : „ Die Tierähnlichkeit der Fennen ist erstaunlich, ihre Armut abschreckend. Sie haben keine Waffen, keine Pferde, kein Haus. Ihre Nahrung besteht aus Kräutern, ihre Kleidung aus Tierhäuten, ihre Lagerstätte ist der Erdboden; ihre einzige Hoffnung sind die Pfeile, die sie aus Mangel an Eisen mit spitzen Knochen versehen. Dieselbe Jagd gibt Männern und Frauen in gleicher Weise ihren Lebensunterhalt, denn die Frauen kommen überall mit hin und beanspruchen ihren Anteil an der Beute. Auch die kleinen Kinder haben keine andere Zufluchtsstätte vor wilden Tieren und vor dem Regen als den Unterschlupf unter irgendein Geflecht von Zweigen; hierhin kehren die jungen Männer zurück, und es ist auch das Asyl der Greise. Aber sie meinen, man sei glücklicher, als wenn man über schwerer Ackerarbeit seufze, mühsam Häuser baue, eigenes und fremdes Hab und Gut in Furcht und Hoffnung umzusetzen suche. Ohne sich um die Menschen und ohne sich um die Götter zu kümmern, haben sie das Schwerste von allem erreicht : wunschlos zufrieden und glücklich zu sein. “

Allerdings kann Tacitus mit dieser Beschreibung gar nicht die heutigen Finnen gemeint haben, denn erstens sind die nicht wunschlos zufrieden und glücklich und zweitens waren sie vor knapp zweitausend Jahren nachweislich noch gar nicht in Finnland. Nur der Name, den Tacitus verwendet, ist bis auf den heutigen Tag an ihnen hängen geblieben. In Tacitus’ Text geht es ziemlich sicher um die Samen, die Ureinwohner der nordischen Länder, die auch heute noch in der sogenannten Kalotte leben, dem Teil von Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, der nördlich des Polarkreises liegt.

Für ein kleines Volk mit einer seltenen Sprache ist es natürlich äußerst ärgerlich, keinen klaren Stammbaum zu haben, und so erfreuen sich in Finnland Ahnenforschung, Regional- und Lokalgeschichte, Heimatmuseen, Dialektpflege, Folklore, Sippentreffen, Trachten und dergleichen großer Beliebtheit.

Die finnische Sehnsucht nach einer glorreichen Vergangenheit hat bisweilen auch sehr amüsante Blüten getrieben. Der Künstler und Hobby-Ägyptologe Sigurd Wettenhovi-Aspa, seines Zeichens „ Fennomane “, wie man sich damals als glühender Patriot nannte, stellte 1935 die Theorie auf, dass sämtliche Bildung und Zivilisation der Welt eigentlich aus Finnland stamme. Die ägyptische Hochkultur habe sich vor mehreren Tausend Jahren gebildet, weil damals Finnen via Indonesien und Indien an den Nil ausgewandert seien. Sämtliche indoeuropäischen Sprachen – so der Freizeitlinguist, der Tausende von Wörtern miteinander verglich – stammten von einer finnisch-ägyptischen Ursprache ab. Seine Theorie nannte er „ Fenno-Ägyptologie “, und ihr zufolge sind auch die Deutschen ein altes ugrisches Volk, das im Lauf der Zeit die deutsche Sprache anstelle der finnischen angenommen hat.

Mag auch der Ursprung der Finnen im Ungewissen liegen, Wettenhovi-Aspa muss als blinder Passagier mit einem Meteoriten auf die Erde gekommen sein. Oder aber er widmete sein Leben einer groß angelegten Wissenschaftsparodie – bis heute ist nicht sicher, ob er es mit seiner waghalsigen Theorie wirklich ganz ernst meinte. Bei Finnen weiß man so etwas eben nie.


Freunde und Feinde kann man sich aussuchen …

… die Nachbarn aber kriegt man von Gott. Finnland, sein Bedürfnis nach Nation und den trotzigen Stolz auf seine Unabhängigkeit kann man nur verstehen, wenn man das Verhältnis der Finnen zu Schweden und Russland kennt. Zwar hat Finnland noch ein drittes Grenzland, im nördlichsten Zipfel gibt es eine gemeinsame Grenze mit Norwegen, aber dort wachsen nur noch Moose und Flechten, weshalb Finnlands Nordgrenze selten von historischer Bedeutung war. Umso stärker aber haben Schweden und Russland das Land geprägt, schon von Anbeginn der modernen Geschichte.

Schweden und Finnland sind sich nicht nur von der Topografie her sehr ähnlich – viele Seen, Granit, Schären, rote Holzhäuschen mit weißen Randbalken, schweigsame Fernsehkommissare –, sondern auch von der Gesellschaftsordnung her. Das folkhemmet, das Volksheim, wie der skandinavische Wohlfahrtsstaat heißt, gibt es auch in Finnland. Manche Institutionen in Finnland erinnern verblüffend an Schweden, so etwa die staatliche Alkoholmonopolhandelskette.

Die Schweden hatten das heidnische, dünn besiedelte Finnland im Mittelalter kolonisiert und durch Kreuzzüge mit den Segnungen des Christentums vertraut gemacht. Finnland wurde dadurch an das westliche, zivilisierte Europa angebunden und bekam von den Schweden eine Ständegesellschaft, eine organisierte Verwaltung, Gesetze und ein funktionierendes Wirtschafts- und Handelssystem aufgestülpt. Besonders bei der Alphabetisierung der Finnen waren die Kolonialherren aus Schweden kreativ : Heiraten durfte nur noch, wer nachweislich lesen und schreiben konnte. Aus diesem Grund quälen sich auch die Sieben Brüder ( die Hauptfiguren des gleichnamigen Romans von Aleksis Kivi, einem zentralen Schmöker der finnischen Literatur ) noch als Erwachsene mühsam auf der Schulbank. Erst wenn sie nachweislich lesen und schreiben können, können sie die Konfirmation empfangen und somit vor dem Gesetz zu mündigen Erwachsenen werden.

Böse Zungen behaupten, die Schweden hätten bei ihrem Vordringen von der finnischen Westküste ins bewaldete Hinterland die Finnen von den Bäumen geschüttelt, ihnen Kleider angezogen, lesen und schreiben beigebracht und sie anschließend als Soldaten in die königlich schwedische Armee gesteckt.

Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts blieb Finnland Kolonie der schwedischen Krone. 1809 mussten die Schweden, nachdem sie einen ihrer zahlreichen Kriege gegen das Zarenreich verloren hatten, Finnland an die Russen abgeben, deshalb trägt dieser Krieg den Namen Finnlandkrieg. Die Gebietsabtretung wurde bei einer Zeremonie im Küstenstädtchen Porvoo, etwa fünfzig Kilometer östlich von Helsinki, vollzogen, und ab sofort war Zar Alexander I., der persönlich über das Treffen präsidierte, nicht nur Kaiser von Russland, sondern im Nebenberuf auch noch Großfürst des autonomen russischen Großfürstentums Finnland.

Unter ihren neuen Herren ging es mit den Finnen zunächst deutlich bergauf. Die Russen räumten den Finnen viele Freiheiten ein, vermutlich, um sich bei der Bevölkerung beliebter zu machen, als es die alten Besatzer gewesen waren. Ab 1841 durfte die finnische Sprache an Schulen unterrichtet werden, 1860 bekam Finnland eine eigene Währung, die markka, deren Name durch einen Ideenwettbewerb in Anlehnung an die in Teilen von Mitteleuropa benutzte Mark festgelegt wurde. Die Freizügigkeit, also das Recht zur freien Wahl des Wohn- und Aufenthaltsorts, wurde eingeführt, körperliche Bestrafungen abgeschafft, Kirche und Verwaltung wurden getrennt und ein eigenes Schul- und Bildungswesen aufgebaut. 1881 trat sogar ein Wehrgesetz in Kraft, das es Finnland erlaubte, eigene Streitkräfte zu unterhalten. Zu allem Überfluss wurde diese liberale Periode von einem stetigen wirtschaftlichen Aufschwung begleitet.

Kein Wunder, dass bei so viel Autonomie in den Finnen das leidenschaftliche Bedürfnis nach Freiheit, Unabhängigkeit und einem eigenen, souveränen Staat entstand. Sie nutzten die Jahrzehnte der Toleranz, um ihre Sprache und Kultur zu stärken. Sämtliche finnischen Künstler und Intellektuelle waren fiebernd damit beschäftigt, eine eigene Nation zu erschaffen. Architekten begannen, im sogenannten nationalromantischen Stil zu bauen, Maler konzentrierten sich auf einheimische Landschaften und auf Motive aus der nationalen Mythologie. Zeitungen und Literatur in finnischer Sprache verbreiteten sich – der Slogan war : „ Schweden sind wir nicht mehr, Russen wollen wir nicht werden, lasst uns also Finnen sein ! “

Die Personifikation Finnlands war die sogenannte Suomi-neito, die Finnland-Jungfer. In der Kunst stellte man sie meist als junge Frau mit langen blonden Haaren dar, für die Fennomanen des 19. Jahrhunderts war sie das romantische Symbol für die Nation. Auch Finnlands Landkarte sah damals noch einer weiblichen Gestalt ähnlich. Nordlappland mit Utsjoki und Inari waren der Kopf, Mittelfinnland der Bauch. Inzwischen fehlen der Dame allerdings der linke Arm und der linke Rockzipfel : Der Arm war die Gegend um Petsamo im Norden und Finnlands einziger Zugang zum Eismeer, der Rockzipfel waren der Großteil von Karelien und die Hälfte des Ladogasees, beides Gebiete, die Finnland nach dem Zweiten Weltkrieg an die UdSSR abtreten musste.


Kalevala – das Buch der Bücher

So viel Nationalgefühl kam natürlich nicht ohne ein Nationalepos aus. Und so machte sich der Arzt, Naturwissenschaftler und Sprachforscher Elias Lönnrot aus Sammatti in der Nähe von Helsinki auf die Reise. Er unternahm insgesamt zehn lange, strapaziöse Wanderungen in die verschiedenen entlegenen Ecken des Landes und sammelte Volkslieder, Geschichten und Moritaten, die ihm meist gesungen und in gereimter Form vorgetragen wurden.

Aus diesen Volksgesängen schmiedete Lönnrot ab 1828 das Kalevala, das offizielle Nationalepos. Er kombinierte und arrangierte die gesammelten Heldenlieder zu einem durchlaufenden Text, und wo etwas fehlte oder nicht richtig passte, dichtete er kurzerhand selbst weiter, und zwar im sogenannten Kalevala-Versmaß.

Die Sagensammlung erzählt von der Entstehung der Welt aus einem Enten-Ei, von Raubzügen und Rache und vom Sampo, einer im wahrsten Sinne des Wortes sagenhaften Maschine, einer magischen Zaubermühle, die ohne Unterlass Korn, Salz und edles Metall mahlt und ihren jeweiligen Besitzer reich macht.

Dieser Sampo wird aus den Klauen der bösen Hexe Louhi befreit, aber die kühnen Helden lassen ihn auf ihrer Flucht dummerweise ins Wasser fallen, wo er bis auf den heutigen Tag Reichtümer produziert. Die Fische sind lebende Zeugen hiervon, sogar die kleinsten von ihnen sind ganz in Silber gekleidet.

Die Hauptperson des Kalevala ist der knorrige Väinämöinen, der schon bei seiner Geburt ein bärtiger alter Mann ist. Er ist im Gegensatz zu den Protagonisten anderer Nationalepen kein Serienmörder, sondern ein weiser Sänger, ein Schamane. Er spielt ein Instrument, das aus dem Unterkiefer eines kapitalen Hechts gemacht ist – die finnische Nationalharfe, die kantele. Trotz seines epischen Alters interessiert er sich für ein junges Mädchen namens Aino. In einer der Schlüsselszenen fordert der Bruder der Schönen den alten Freier zum Wettsingen auf, und Väinämöinen singt den Bruder schnurstracks bis zum Hals in einen Sumpf.

Ein Happy End für den Alten gibt es trotzdem nicht – die junge Aino geht lieber ins Wasser, als einen Mann zu heiraten, der so alt ist wie ein Baum. Die Szene, in der das Mädchen sich ertränkt, ist das Motiv eines berühmten Triptychons von Akseli Gallén-Kallela, dem bekanntesten finnischen Maler aus der Zeit der Nationalromantik.

Das Kalevala beeinflusste alle Disziplinen der finnischen Kunst, also die bildende Kunst, die Literatur und die Musik. Nicht nur die einheimischen Künstler lasen das Buch mit Begeisterung, das Werk erreichte auch über die Landesgrenzen hinaus Bekanntheit : Der Poet Henry Longfellow kannte das Epos und imitierte den Stil, J. R. R. Tolkien wurde davon inspiriert, und sogar bei Micky Maus finden sich Verweise darauf. Das Kalevala ist für die Finnen das Buch der Bücher, der Mythos der eigenen Herkunft, die Saga der eigenen Wurzeln, und die Figuren und Begebenheiten sind Allgemeingut. Die Story ist keineswegs historisch verstaubt : Mehr als ein Dutzend finnische Heavy-Metal-Bands sind erklärterweise vom Kalevala beflügelt, es gibt Kalevala-Schmuck, der bei Männern und Frauen und bei Jung und Alt beliebt ist, und im ostfinnischen Ort Kuhmo, wo jährlich ein internationales Kammermusikfestival stattfindet, gibt es sogar ein ganzes Kalevala-Dorf.

Ein hübsches Detail : In einem der fünfzig Gesänge erfährt man, wie man besonders starkes Bier braut. Elias Lönnrot war zwar auch der Begründer des ersten Abstinenzlervereins in Finnland, aber dieses wichtige volkskundliche Detail hat er seinen Lesern dann doch nicht vorenthalten.


Unabhängig

Ende des 19. Jahrhunderts begann Zar Nikolaus II., Druck auf Finnland auszuüben. Er hatte kein Verständnis für den finnischen Separatismus, sondern verfolgte seinerseits eine großartige panslawistische Vision. Er kassierte die Sonderrechte und Freiheiten seines autonomen Großfürstentums und begann mit der „ Russifizierung “ der Finnen.

Damals kam es zu etwas, das in der finnischen Geschichte Seltenheitswert hat : zu einem politischen Mord. Am 17. Juni 1904 erschoss der Nationalist Eugen Schauman den russischen Generalgouverneur Nikolai Bobrikow, der die neuen Regeln des Zaren in Finnland mit harter Hand durchsetzte und als schlimmer Unterdrücker empfunden wurde. Und es scheint in Finnland Leute zu geben, die auf diesen Herrn Schauman auch heute noch stolz sind. Mehr als hundert Jahre nach der Tat findet man auf seinem Grab in Porvoo noch immer frische Blumen.

Bis 1917 mussten die Finnen warten, dann entließ Russlands neuer Herrscher Wladimir Iljitsch Lenin sie in die Unabhängigkeit, weil er mit seiner Oktoberrevolution alle Hände voll zu tun hatte und sich nicht auch noch um das aufmüpfige ehemalige Großfürstentum im Westen kümmern konnte.

Lenin hatte sich, als es in Russland für ihn zu heiß wurde, mehrfach für längere Zeit in Finnland aufgehalten, und auch hier gab es Kommunisten, die einen Sowjetstaat aufbauen wollten ( Finnland ist übrigens heute das einzige Land auf der Welt, das ein Lenin-Museum sein Eigen nennt, die Russen haben nur seine balsamierte Leiche ).

Anfang 1918 kam es zum Bürgerkrieg. Die Roten, die Kommunisten, kämpften gegen die Weißen, die Regierungstruppen – die Roten wurden dabei von den russischen Kommunisten unterstützt, die Weißen von den kaiserlichen Deutschen. Beide Seiten zeichneten sich durch besondere Brutalität aus, politischer Terror und Massenhinrichtungen waren an der Tagesordnung. Innerhalb von wenigen Monaten ließen 37 000 Finninnen und Finnen ihr Leben, drei Viertel davon Kommunisten. Der Bürgerkrieg endete mit einem Sieg der Weißen, und man muss noch heute aufpassen, wie man ihn nennt, es gibt verschiedene Bezeichnungen wie Bruderkrieg, Freiheitskrieg, Rotenrevolte oder Klassenkrieg.

1919 wurde die Republik Finnland gegründet, die sich an Skandinavien und Westeuropa orientierte. Und wie man weiß, gibt es diese bis auf den heutigen Tag.


Winter- und Fortsetzungskrieg

1938 begann die Sowjetunion, von Finnland Gebietsabtretungen zu verlangen. Damals verlief die finnisch-sowjetische Staatsgrenze nur etwa dreißig Kilometer von Leningrad entfernt. Finnland weigerte sich, die geforderten Teile der karelischen Landenge südwestlich des Ladogasees abzugeben.

Als der Zweite Weltkrieg begonnen hatte, wurden die sowjetischen Forderungen nach Stützpunkten in Finnland lauter, und als Finnland sich erneut weigerte, Territorium abzutreten, griffen Stalins Soldaten an. Der Krieg dauerte von Dezember 1939 bis März 1940 und heißt deshalb Winterkrieg. Gekämpft wurde unter extremen Bedingungen, da sich dieser Winter zu einem der kältesten des Jahrhunderts entwickelte. Der Krieg endete damit, dass die Finnen Gebiete in Karelien und in Ostlappland verloren und die Bewohner ins verbleibende Staatsgebiet umgesiedelt werden mussten.

Es folgte ein unstabiler, nervöser Interimsfriede. Finnlands Beziehung zur UdSSR wurde nicht besser dadurch, dass Finnland nicht den sowjetischen, sondern den deutschen Truppen das Durchmarschrecht sowie den Zugang zu den Nickelminen in Petsamo am Eismeer gewährte und obendrein von den Deutschen Waffen kaufte.

Deutschland und Finnland wurden zu „ Waffenbrüdern “. Als die deutschen Truppen 1941 die Grenzen zur Sowjetunion überschritten, griff auch Finnland an. In diesem sogenannten Fortsetzungskrieg gelang es den Finnen zunächst, die verlorenen Gebiete zurückzuerobern und über die ehemaligen Landesgrenzen hinaus auch Ostkarelien zu besetzen. Als Folge des sowjetischen Großangriffs im Sommer 1944 verschob sich die Front aber wieder nach Westen, in die Nähe der nach dem Winterkrieg gezogenen Grenzen.

Als der politischen Führung Finnlands klar wurde, dass man aufs falsche Pferd gesetzt hatte und dass die Deutschen nicht als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgehen würden, wechselte sie im September 1944 die Seiten und schloss einen Separatfrieden mit der Sowjetunion.

Die Sowjets verlangten von den Finnen, den Kontakt mit Deutschland sofort abzubrechen, die deutschen Truppen aus Finnland zu vertreiben, sämtliches deutsches Kriegsgerät und anderes Eigentum abzuliefern, 300 Millionen Golddollar an Reparationen zu bezahlen und etwa zehn Prozent ihrer Staatsfläche abzutreten.

Zunächst versuchten die ehemaligen Waffenbrüder, sich auf einen unblutigen Rückzug zu verständigen, aber die Sowjets wollten Leichen sehen und verlangten von den Finnen, bei der Vertreibung der Deutschen hart vorzugehen. Die Deutschen wiederum zogen sich nach Nordnorwegen zurück und wandten dabei die Taktik der verbrannten Erde an. Noch heute bekommt man als Deutscher in Finnland ab und an zu hören : „ Ihr habt Lappland verbrannt ! “

Es gab nie eine offizielle Kriegserklärung zwischen Deutschland und Finnland, und erst 1954 erklärte die finnische Regierung diesen Krieg für beendet.


Von der Finnlandisierung zur EU

Finnland bezahlte als einziger Verliererstaat die ihm auferlegten Reparationen in vollem Umfang. Der letzte Güterzug passierte am 18. September 1953 die Ostgrenze. Immerhin hatten die Forderungen der UdSSR die Finnen dazu gezwungen, sich eine Metallindustrie aufzubauen, die jetzt nach Bezahlung der Kriegsschulden für die Produktion von Exportgütern zur Verfügung stand.

Langsam, aber sicher rappelte sich die finnische Volkswirtschaft auf, und man war froh darüber, zwar in den Einflussbereich der UdSSR geraten, aber nicht wie Estland, Lettland oder Litauen annektiert worden zu sein.

Finnlandisierung ist ein Wort, das die Finnen nicht gern hören. Geprägt wurde der Begriff von zwei deutschen Politikwissenschaftlern, bekannt gemacht hat ihn der westdeutsche Politiker Franz Josef Strauß. Ursprünglich beschrieb er ein Szenario, in dem sich die amerikanischen Truppen nach dem Krieg aus Deutschland zurückgezogen hätten und ein wiedervereinigtes Deutschland nach finnischem Modell ein neutraler Pufferstaat zwischen Ost und West geworden wäre.

Schon 1948 hatte Finnland mehr oder weniger unfreiwillig den Vertrag über „ Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand “ mit der UdSSR geschlossen, und während der ausgedehnten Amtszeit von Präsident Urho Kaleva Kekkonen wurde mit der Sowjetunion ein besonders kooperatives Verhältnis aufgebaut.

Kekkonen gelang es, mehr als ein Vierteljahrhundert im Amt zu bleiben, er wurde 1956 Präsident und blieb es ohne Unterbrechung, bis er 1981 demenzbedingt abdanken musste. Während der Kekkonen-Ära war Finnland peinlich genau auf allseitige Neutralität bedacht. Die Sowjetunion, mit der man eine 1340 Kilometer lange Landgrenze hat, sollte unter keinen Umständen provoziert werden. Diese außenpolitische Doktrin hieß nach dem Präsidenten und seinem Vorgänger die Paasikivi-Kekkonen-Linie.

Kekkonen war nicht nur viermal Präsident, sondern auch fünfmal Ministerpräsident, und viele Finnen nennen diese Epoche heute noch liebevoll-ironisch „ Kekkoslowakien “.

Der Zusammenbruch der UdSSR löste in Finnland Anfang der Neunzigerjahre die bisher schlimmste Rezession aus. Die Aufträge der Sowjetunion hatten ein knappes Fünftel des finnischen Außenhandels ausgemacht, und weil die finnische Mark künstlich teuer gehalten wurde, fanden sich keine Absatzmärkte im westlichen Ausland. Die Arbeitslosigkeit stieg innerhalb kürzester Zeit von dreieinhalb auf fast zwanzig Prozent. Ohne den internationalen Erfolg des Mobiltelefonherstellers Nokia, dessen Produkte sich zu dieser Zeit rasant verbreiteten, wäre die Rezession wohl noch viel drastischer verlaufen.

1995 trat Finnland der Europäischen Union bei, teils aus wirtschafts-, hauptsächlich aber aus sicherheitspolitischen Erwägungen. Der Hauptgrund für diesen Beitritt war sicherlich das unverändert große Misstrauen gegenüber Russland, und die ostpolitische Strategie ist immer noch dieselbe : „ Die Russen sollen tun und lassen, was immer sie wollen, Hauptsache, die Verhältnisse dort drüben sind stabil und man lässt uns in Ruhe. “

Russland beziehungsweise die ehemalige Sowjetunion ist einer der stärksten integrativen Faktoren für Finnland. Wer einen Feind oder zumindest einen potenziellen Feind von solcher Größe hat, ist gern bereit, innere Spannungen und Bruderzwiste zu vergeben und sich im Namen des eigenen Überlebens zu solidarisieren.

Inzwischen ist Finnland zwar nicht mehr neutral, aber das Misstrauen und der ryssäviha, der finnische „ Russenhass “, haben sich angesichts des aggressiven Regimes von Wladimir Putin und Konsorten keinesfalls verflüchtigt. Wenn es um den östlichen Nachbarn, um das größte Land der Welt geht, sind die Finnen defensiv, misstrauisch und stets in Alarmbereitschaft. Spätestens seit dem 1954 erschienenen Kriegsroman Der unbekannte Soldat von Väinö Linna weiß jeder Finne, wie man auf Russisch „ Hände hoch ! “ sagt.


Die politische Landschaft

Das politische Spektrum wird von vier großen Parteien dominiert, die jeweils einen Stimmenanteil von um die zwanzig Prozent auf sich vereinigen : von den Sozialdemokraten, einer traditionellen Linkspartei, von der Nationalen Sammlungspartei, einer traditionell rechtskonservativen Partei, von der Zentrumspartei, einer traditionellen Bauernpartei, deren erklärtes Ziel es ist, die Landbevölkerung vor der Gier und Dekadenz der Stadtbewohner zu schützen, und von einer relativ neuen rechtspopulistischen Partei namens Echte oder Wahre Finnen, die mit einer bunten Mischung aus EU-Austrittspropaganda, Anti-Abtreibungsparolen und Homophobie antritt. Diese vier Parteien teilen sich den Löwenanteil der Regierungs- und Oppositionssitze im 200-köpfigen finnischen Parlament, das jeweils auf vier Jahre gewählt wird.

Bei den Wahlen 2011 brauchte es eine Regierungskoalition aus sage und schreibe sechs verschiedenen Parteien, um die Rechtspopulisten auf den Oppositionsbänken zu halten. Der Vorsitzende der Wahren Finnen, Timo Soini, wurde von deutschen Medien sogar schon zum gefährlichsten Mann für die EU auserkoren. Und er ist selbstverständlich stolz darauf.

Mit in der Regierungskoalition ist jedes Mal auch die kleine, aber feine RKP, die sogenannte „ Schwedische Volkspartei “. Sie ist deshalb faszinierend, weil sie eine rein sprachliche Minoritätspartei ist. Egal, ob man von der Ideologie her rot, schwarz, gelb, braun oder rosa ist, wer Finnlandschwedisch als Muttersprache spricht, findet hier ein politisches Zuhause.

Dann gibt es noch die Grünen ( von denen seltsamerweise so gut wie keiner mehr auf dem Land lebt ), die sich für die Umwelt und ein bunteres Leben einsetzen und um die Zehnprozentmarke herumgondeln, sowie einige Rand- und Splitterparteien, Kommunisten, Religiöse und Rechtsausleger.

Im Allgemeinen sind finnische Politiker und Politikerinnen recht farblos, es kommt nur selten zu verbalen Ausfällen. Es hat in der Geschichte der Republik Finnland noch keine einzige Parlamentsschlägerei gegeben.

Auch außerhalb des Reichtags, wie in Finnland nicht nur das Gebäude, sondern auch das politische Organ noch heißt, geht es meist friedlich zu : Demonstrationen werden ordnungsgemäß vorher angemeldet, ihre Teilnehmerzahl übersteigt selten mehrere Dutzend, und die Krawalle, bei denen es in den letzten fünfzig Jahren zu Sachbeschädigungen oder gar Verletzten gekommen wäre, kann man an den Fingern einer Hand abzählen.

Weil man bei nur etwa drei Millionen Wahlberechtigten schon mit einer relativ kleinen Zahl an Stimmen die Hürde ins Amt schafft, bemühen sich die Parteien vor den Wahlen stets intensiv um potenzielle Stimmenmagnete. Eine sympathische Besonderheit des finnischen Parlaments besteht deshalb darin, dass es immer einige Prominente verschiedenster Provenienz schaffen, für mindestens eine Legislaturperiode Abgeordnete oder Abgeordneter zu werden. In jeder Volksvertretung gibt es mindestens ein Exschlagersternchen, eine pensionierte Schönheitskönigin, einen alternden Preisboxer, Speerwerfer, TV-Moderator oder Hürdenläufer.


Der Ball im Schloss

Einmal im Jahr hat man Gelegenheit, der offiziellen Republik Finnland dabei zuzusehen, wie sie sich selbst feiert. Am Abend des 6. Dezember, des Tages, an dem Finnland im Jahr 1917 seine Unabhängigkeit erlangte, lädt der Präsident beziehungsweise die Präsidentin zum Ball ins sogenannte Schloss, wie das Präsidentenpalais am Marktplatz in Helsinki von der Bevölkerung genannt wird.

An diesem Abend mit dabei sind sämtliche Würdenträgerinnen und Würdenträger aus Regierung und Opposition, zahlreiche Größen aus Wirtschaft, Kultur, Kunst, Sport, der Chef des Nationalballetts ebenso wie der Trainer der Fußballnationalmannschaft, außerdem Schlagerstars, ausländische Diplomaten, Olympiasieger und Militärattachés mit ordengeschmückter Brust.

Die knapp zweitausend Gäste, die ins Palais hineinpassen und sich nach einem Begrüßungsdefilee mit präsidentialem Händedruck im Takt zu klassischer und Popmusik auf dem Parkett drehen, sind das ultimative Who’s Who der finnischen Gesellschaft.

Der Abend, der mehrere Stunden dauert, wird im Fernsehen komplett live übertragen, und mit den Einschaltquoten kann sich nur das Endspiel einer Eishockey-WM messen. Gespannt wartet die Öffentlichkeit darauf, wer das Spektakel moderieren darf. Darüber, was die wegweisenden Damen tragen werden, wird im Vorfeld eifrig spekuliert, finnische Starcoiffeure und Couturiers machen in Interviews Andeutungen, verraten aber nicht, worin ihre prominenten Kundinnen beim Ball der Nation gehüllt sein werden. Nach dem Fest werden die Abendkleider und Hochfrisuren in der Boulevardpresse genüsslich und gemeinsam mit der interaktiven Leserschaft zerfetzt.

Nationalheld Lordi war nach seinem spektakulären Sieg beim Grand Prix d’Eurovision 2006 mit dem Song Hard Rock Hallelujah zu dieser hochheiligsten aller Partys eingeladen, erschien aber skandalöserweise nicht. Die damalige Präsidentin Tarja Halonen hatte darauf bestanden, dass Lordi zum feierlichen Anlass die für ihn typische Gummimaske abnehmen sollte. Ein unmaskiertes Erscheinen beim Schlossball wäre aber für das Latexmonster, das mit bürgerlichem Namen Tomi Putaansuu heißt und aus der Hauptstadt Lapplands kommt, mit seiner Berufsethik unvereinbar gewesen.

In den letzten Jahren haben vereinzelt Systemkritiker vor dem Palais ihrem Unmut über die Verschwendung und den ihrer Ansicht nach peinlichen Operettennationalismus Ausdruck verliehen. Weil es aber am Unabhängigkeitstag in Helsinki meist recht kalt ist, ist es der Polizei ein Leichtes, diese Systemkritik unter Kontrolle zu halten.


Niemand hasst die Finnen

Eine historische Besonderheit, die an Finnland fasziniert, ist das völlige Fehlen von richtigen Bösewichten. Die meisten Nationen haben irgendeine Altlast zu tragen, die Deutschen haben Hitler, die Chinesen Mao, die Russen Stalin, dann gibt es noch Ceausescu, Bin Laden, Hussein, Bokassa und Pinochet. Fast jedes Volk hat seinen Dracula oder Godzilla. Nur die Finnen nicht. Entweder haben sie wirklich keine Schurken dieser Größenordnung hervorgebracht, oder sie haben sie so gut versteckt, dass sie sich selbst nicht mehr daran erinnern.

Auch natürliche Feinde hat Finnland nicht. Das ist schon ein bisschen unheimlich : Niemand hasst die Finnen, man respektiert sie, hört ihnen zu und lässt sie in Ruhe. Irgendwie haben sie es geschafft, die Welt davon zu überzeugen, dass sie gute Menschen sind und dass man ihnen vertrauen kann.

Ein Beispiel dafür, wie flach die Finnen den Ball halten, ist der Molotowcocktail. Den gab es bekanntlich schon im Spanischen Bürgerkrieg, aber die improvisierte handgeschleuderte Brandbombe nach dem sowjetischen Kriegsminister zu benennen, darauf kamen erst die Finnen. Und obwohl die ganze Welt das Wort benutzt, hat nie jemand erfahren, dass es aus Finnland kommt.

Schuld daran ist das enorme Informationsgefälle zwischen Finnland und dem Rest der Welt. In Finnland weiß man sehr genau Bescheid darüber, was anderswo geschieht. Die Finnen gehören zu den eifrigsten Zeitungslesern und Nachrichtenguckern der Welt, fast alle sprechen einigermaßen Englisch, weil Filme und Fernsehen hier nicht synchronisiert, sondern untertitelt werden.

Umgekehrt weiß der Rest der Welt kaum etwas von den Finnen. Das kommt davon, wenn man nicht viel Aufheben macht.

Den Finnen ist es gelungen, nicht nur die eigene arktische Urgeschichte zu überleben, Jahrhunderte zwischen zwei schwierigen und übermächtigen Nachbarn zu balancieren, den Zweiten Weltkrieg relativ unbeschadet zu überstehen, sondern dabei auch noch von allen viel Gutes zu lernen, ohne viel Schlechtes zu übernehmen. Und dabei hat die finnische Kultur keinen Schaden genommen, sondern sich stetig weiterentwickelt : Noch nie gab es auf der Welt so viele Finnen wie heute, noch nie gab es so viele Immigranten, die Finnisch sprechen.

Der Menschenrechtsbericht 2013 des U. S. Department of State gibt der Republik Finnland die besten Noten : Hier wird niemand unrechtmäßig festgehalten, es gibt keine politisch Verfolgten oder Gefangenen, es besteht Versammlungs-, Presse- und Religionsfreiheit; Alten, Kranken, Behinderten, sexuellen und anderen Minderheiten geht es deutlich besser als anderswo, es gibt keine Kinderarbeit, und die Pisa-Studie bescheinigt den Finnen, dass ihr Bildungssystem sich mit der Weltspitze messen kann.

Die Finnen haben also allen Grund, stolz zu sein. Und wie gesagt, sie sind es auch.

Roman Schatz

Über Roman Schatz

Biografie

Roman Schatz, 1960 in Überlingen geboren, verliebte sich während des Studiums in Berlin in eine Finnin und folgte ihr 1986 in ihre Heimat. Er schrieb Deutschlehrbücher und Drehbücher fürs Schulfernsehen und arbeitet als Produzent, Regisseur, Buchautor, TV-Moderator und Schauspieler. Auf Deutsch...

Pressestimmen
Buchperlenblog

„Ich liebe dieses Buch! Ganz ehrlich, ich habe bei der Lektüre eines Sachbuchs selten so viel und herzlich gelacht, wie in Roman Schatz‘ Gebrauchsanweisungen für Finnland. (...) Ein echter Tipp für jeden, der sich mit Land und Leuten gerne auseinandersetzt, neues kennenlernen will und vorallem gerne lacht. Nicht über dieses kuriose Volk, sondern bitte mit ihnen.“

Kommentare zum Buch
Unglaublich amüsant geschrieben
Buchperlenblog am 16.07.2022

Gleich vorweg: Ich liebe dieses Buch! Ganz ehrlich, ich habe bei der Lektüre eines Sachbuchs selten so viel und herzlich gelacht, wie in Roman Schatz‘ Gebrauchsanweisungen für Finnland.   Das liegt zum einen natürlich an den zum Teil wirklich amüsanten Fakten, die uns der Autor, der selbst seit über vierzig Jahren in Finnland lebt, hier unterbreitet. Zum anderen aber – und das vorallem – an dem unvergleichlich lockeren, humoristischen Stil, den er hier an den Tag legt. Da werden die Besonderheiten des finnischen Volkes, sei es ihr ausgeprägter Hang zum Nationalstolz, ihr Neid oder die ausgiebige Nutzung der Sauna (einhergehend mit der Erkenntnis, dass in Deutschland „echte finnische Saunen“ alles sind, nur nicht echt finnisch), zu einem spannenden Erlebnis, von dem man Seite um Seite immer noch mehr erfahren möchte.   Natürlich gibt Roman Schatz auch Einblick in die finnische Geschichte, ihre Werte und Traditionen, Kunst und Musik und alle Bereiche dazwischen. Da ist für jeden also was dabei! Mir persönlich war der Abschnitt über die finnische Sprache eindeutig die liebste. Hatte ich kurzzeitig mit dem Gedanken geliebäugelt, selbst ein wenig finnisch lernen zu wollen, muss ich nun sagen: Lieber nicht. Trotzdem oder gerade deswegen hatte ich unglaublich viel Spaß auf dieser Reise nach Finnland, ein Land, das mehrfach zum glücklichsten Land der Welt gekürt wurde, in dem man aber nun trotzdem nicht nur Eitel, Glück und Sonnenschein findet. (Letzteres während des sechsmonatigen Winter ganz besonders nicht.)   Fazit Ein echter Tipp für jeden, der sich mit Land und Leuten gerne auseinandersetzt, Neues kennenlernen will und vor allem gerne lacht. Nicht über dieses kuriose Volk, sondern bitte mit ihnen.

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