Gebrauchsanweisung für Frankfurt am Main Gebrauchsanweisung für Frankfurt am Main - eBook-Ausgabe
„Ihr Buch ist dabei mehr als ein Reiseführer – eher eine Liebeserklärung für ihre Wahlheimat und das trotz der Gegensätze, die Frankfurt zu bieten hat. Ihre Schilderungen spickt sie mit Humor und Fachwissen, sodass ihr Buch leicht zu lesen und dennoch informativ ist.“ - StadtRadio Göttingen „Book’s n‘ Rock’s“
Gebrauchsanweisung für Frankfurt am Main — Inhalt
Wo die Unbeständigkeit sesshaft ist
Wie beeindruckt man eine Frankfurterin? Was haben Goethe und der Eiffelturm gemeinsam? Und wie konnte ausgerechnet „Handkäs mit Musik“ zum kulinarischen Aushängeschild der internationalen Finanzmetropole werden? Vom Rummelviertel Sachsenhausen über „das lustige Dorf Bernem“ bis ins elegante Westend: Constanze Kleis führt durch ihre Wahlheimat. Sie befasst sich mit der Weltkarriere eines Würstchens, Deutschlands einziger Skyline und des Pudels Kern. Sie berichtet, wie sich die Frankfurter an der neuesten Altstadt Deutschlands erfreuen und sich auf die Folgen des Brexit vorbereiten. Von der Frankfurter Schule, der Gentrifizierung und dem friedlichen Zusammenleben von 180 Nationen – ja, sogar in den Schrebergartenvereinen.
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Frankfurt am Main“
Inhaltsverzeichnis
Der Anfang von allem.. 3
Vom kleinteiligen Größenwahn 7
Einnehmend, graziös, allerliebst: die Frankfurterin 14
Des Pudels Kern 19
Der musikalische Handkäs 25
Die glorreichen Sieben 30
Des Volkes wahrer Himmel 33
Der unsterbliche Dichter 38
Der Stoff, aus dem die Träume sind 42
Das Frankfurter Karma-Rad 47
Kulissenschiebung 51
Feine Adressen, nicht nur bei Messen 55
Der Kosmopolit und die Mülltrennung 61
Kaufrausch in der City 65
Freiheit über den Wolken 71
The Taste of Frankfurt 77
Wohnsinn. 83 Freiluftfreuden 89
Das Leben – eine Trostbude 93 [...]
Inhaltsverzeichnis
Der Anfang von allem.. 3
Vom kleinteiligen Größenwahn 7
Einnehmend, graziös, allerliebst: die Frankfurterin 14
Des Pudels Kern 19
Der musikalische Handkäs 25
Die glorreichen Sieben 30
Des Volkes wahrer Himmel 33
Der unsterbliche Dichter 38
Der Stoff, aus dem die Träume sind 42
Das Frankfurter Karma-Rad 47
Kulissenschiebung 51
Feine Adressen, nicht nur bei Messen 55
Der Kosmopolit und die Mülltrennung 61
Kaufrausch in der City 65
Freiheit über den Wolken 71
The Taste of Frankfurt 77
Wohnsinn. 83 Freiluftfreuden 89
Das Leben – eine Trostbude 93
Vom Wal verschluckt – Frankfurt und seine Kultur 96
Vom Suchen und Finden der Liebe 101
Wie kann nor e Mensch net von Frankfort sei 104
Der Anfang von allem
Frankfurt ist alt. Das muss man gleich zu Beginn sagen. Es wird leicht vergessen. Keine Stadt wirkt so zukunftsorientiert und gegenwartsfixiert wie die Mainmetropole. Als hätte sie sich vorgenommen, auf ewig Skateboard zu fahren und standhaft den Seniorenteller zu ignorieren, der – gemessen an ihrer Geschichte – eigentlich passender wäre. Natürlich gibt es ausreichend Zeugen der Vergangenheit. Solche, die die Geschichte leidlich unbeschadet überlebten, wie die Justinuskirche in Höchst, eine der ältesten Kirchen Deutschlands. Und solche, die die Stadt hat gleich wiederauferstehen lassen aus den Ruinen des Zweiten Weltkriegs wie den Dom oder die Paulskirche.
Aber es ist vor allem die gerade eröffnete neueste Altstadt Deutschlands, mit der Frankfurt zeigt, dass man hier souverän sogar die Vergangenheit noch nachbessert und dem Gesamtbild einer modernen und enorm aufstrebenden Metropole anpassen kann. Es mag an dem kleinen, aber gewichtigen Wörtchen „frei“ liegen, das die Stadt wie ein roter Faden durch die Jahrtausende geleitet. Im Gefolge die üblichen Begleiterscheinungen: Eigensinn, Beharrungsvermögen, Widerstandsgeist, Lust am Disput, aber auch ein so tief sitzender Unabhängigkeitsdrang, dass es schon etwas Genetisches sein muss. Wenn es ausgerechnet ein König war, der Frankfurt dies Marschgepäck für alle Zeiten als gutes Omen mit auf den Weg gab, ist das auch typisch für die Stadt. Hier legte man „frei“ immer schon radikal so aus, selbst gegen die Obrigkeit keinerlei Vorurteile zu hegen.
Karl der Große, so will es die Legende, soll auf der Flucht vor den Sachsen an den Main gekommen sein. Dichter Nebel lag über dem Fluss. Die Flüchtenden konnten den Übergang nicht erkennen, und Karl flehte zu Gott. Der schickte ihm eine weiße Hirschkuh mit ihrem Kalb, die den Flüchtenden die Furt wies. Karl nannte den Ort daraufhin „Francofurd“.
Das ist die Legende. In Wahrheit ist über eine Schlacht zwischen Franken und Sachsen zu dieser Zeit nichts bekannt. Verbrieft ist allerdings durch die erste städtische Urkunde, datiert vom 22. Februar 794, wie Frankfurt von Anfang an Widerspruchsgeist in die DNA geschrieben wurde. Aus Trotz, weil man ihn nicht eingeladen hatte, hielt Karl der Große in Frankfurt eine Gegenveranstaltung zum Zweiten Konzil von Nicäa ab. Man befasste sich mit dem Bilderstreit und mit Ordnungsfragen von internationaler Bedeutung. Damit hatte Frankfurt nicht nur seinen ersten Beitrag zur internationalen Kulturpolitik geleistet, sondern war auch als Meet-and-Greet- und als Business-Stadt entdeckt worden.
Fortan kam es immer wieder zu hochkarätigen Versammlungen der deutschen Könige. Die gekrönten Häupter fühlten sich offenbar so wohl in Frankfurt, dass sie bald einen hochoffiziellen Grund für ihren Besuch fanden: Frankfurt wurde Krönungsstadt. Bestätigt wurde das durch die berühmte Goldene Bulle, herausgegeben im Jahr 1356, mit der Kaiser Karl IV. Frankfurts Recht, Wahlstadt des Reiches zu sein, festlegte. Das wichtigste Verfassungsdokument des Heiligen Römischen Reiches behielt bis 1806 zu Zeiten Napoleons Gültigkeit.
Einem anderen als dem Kaiser brauchte Frankfurt als „selbstständige Reichsstadt“ fortan nicht zu dienen. Es hatte ja längst anderes zu tun. Dank der günstigen geografischen Lage in der Mitte von allem blühte der Handel. Zumal seit 1222 eine Brücke „hibbdebach“ und „dribbdebach“, Nord und Süd, verband. Übrigens war das nicht bloß eine geografische, sondern auch eine mentale Beziehungsanbahnung. Sachsenhausen, das „Drüben“, war seit jeher bevorzugte Wohnstatt der kleinen Leute, der ziemlich ruppigen, aber urgemütlichen Verwandtschaft. „Hüben“ dagegen stand für Weltläufigkeit, Glanz, Metropolengewimmel und ja – auch für Dickduher, also Angeber.
Brückenschlagen wurde so etwas wie die Hauptbeschäftigung der Stadt. Viele Fremde kamen nach Frankfurt, Händler, Kaufleute, die Messe wurde gegründet. Da gab es einiges zu verbinden: fremde Kulturen und Lokalpatriotismus, Geist und Geld, Mundart und Fremdsprachen, Bürgerstolz und Volksnähe.
Frankfurt bekam sein Lehrbuch dafür einmal wieder direkt von oben. 1240 sicherte Kaiser Friedrich II. der Stadt zu, jeden Besucher der Frankfurter Messe unter seinen Schutz zu stellen. 1330 bewilligte Ludwig der Bayer, der 1314 in Frankfurt gewählt worden war, der Stadt das Recht, jährlich eine zweite Messe abzuhalten. Und 1337 versprach er für sich und seine Nachkommen, keiner Stadt eine Messe zu genehmigen, die Frankfurt als Konkurrenz schaden könnte.
Mit den Messebesuchern zogen die Determinanten von Kultur ein: Vernunft und Toleranz, gebaut auf das solide Fundament von Pragmatismus und Gemeinsinn. Dass dabei das Geld eine tragende Rolle spielte – 1585 legte die Burs, ein Zusammenschluss von Kaufleuten zur einheitlichen Notierung der einzelnen Münzsorten, quasi den Grundstein für die Frankfurter Börse –, veranlasste Martin Luther zu der hämischen Bemerkung, Frankfurt sei bloß ein „Silber- und Goldloch“.
Noch so ein Missverständnis. Natürlich regierte Geld schon damals die Welt. Eine Tatsache, der man sich im realitätstüchtigen Frankfurt gern stellte. Mit dem Wissen, dass der schnöde Mammon der Humus ist, der Unabhängigkeit, Stärke und auch Kultur zum Blühen bringt. Es war Mayer Amschel Rothschild, sechs Jahre vor Goethe in der Frankfurter Judengasse geboren, der das erste deutsche Bankenimperium Fugger’schen Ausmaßes ins Leben rief. Seine fünf Söhne, „die fünf Frankfurter“ genannt, kontrollierten mit ihren Banken in den wichtigsten europäischen Geldzentren praktisch die gesamten Geldgeschäfte Europas, einschließlich derer des Papstes. „Wenn mei Bube net wolle, gib’s kein Krieg“, soll die alte Frau Gudula „Gutele“ Rothschild gesagt haben. Von 1771 bis 1792 hatte sie 20 Kinder geboren, von denen jeweils fünf Töchter und fünf Söhne das Erwachsenenalter erreichten. Obwohl 1796 den Juden erlaubt wurde, das Getto in der heutigen Altstadt zu verlassen, blieb die Familie im Geburtshaus des Patriarchen, einem mehrstöckigen schmalen Gebäude, wo auch das Kontor untergebracht war, in dem die Söhne schon ab ihrem 13. Lebensjahr mitarbeiteten.
In Frankfurt wurden Vermögen zwar angehäuft, aber kein Protz, kein Pomp damit betrieben. Im Gegenteil. Legendär die kaufmännische Nüchternheit und die Bescheidenheit der Bürger, die bisweilen hart an der Grenze zum Geiz entlangschrammte. Außer, es gab wirklich gute Gründe, etwas auszugeben. Zu diesen zählten stets Kunst, Kultur, Wissenschaft, Bildung und Soziales. Allein die Familie Rothschild begründete annähernd 30 Stiftungen für karitative, kulturelle und wissenschaftliche Zwecke. So die Rothschild’sche Bibliothek, deren Bestände heute in der Stadt- und Universitätsbibliothek aufgegangen sind, oder das Carolinum, nach wie vor Ausbildungsstätte für Zahnmedizin in der Frankfurter Universitätsklinik.
Aber auch viele andere, vor allem auch jüdische Mitbürger, verfuhren nach der Devise von Vergil: „Sofern du die anderen an Ehre und Reichtum übertriffst, musst du danach streben, sie auch an Großzügigkeit zu übertreffen.“ Sigmund Geisenheimer, Prokurist im Hause Mayer Amschel Rothschild, gründete 1804 das Philanthropin, eine jüdische Realschule. Juden waren es auch, die die Universität ins Leben riefen, und viele Krankenhäuser gäbe es nicht ohne jüdische Wohltäter. Hermann Weil, ein Getreidegroßhändler, stiftete 1923 das Institut für Sozialforschung, aus dem später die „Frankfurter Schule“ hervorging, und Georg Speyer das Chemotherapeutische Forschungsinstitut, das von dem Nobelpreisträger Paul Ehrlich geleitet wurde.
Die Nazis schalteten das Stiftungswesen mit der NSV (Nationalsozialistische Volkswohlfahrt) und dem WHW (Winterhilfswerk) bis auf wenige Ausnahmen gleich und plünderten die jüdischen Stiftungen. Es brauchte lange Jahre des Wiederaufbaus, um an diese Tradition des Mäzenatentums anzuknüpfen.
Heute ist Frankfurt wieder deutsche „Stiftungshauptstadt“. Über 500 Stiftungen – das sind 76 Stiftungen pro 100 000 Einwohner – mit einem Gesamtvermögen von rund sechs Milliarden Euro sind in Frankfurt am Main aktiv, und fast alle sind sie gemeinnützig. Etwa 40 Prozent widmen sich der Wissenschaft und Forschung, 14 Prozent der Bildung und Erziehung, 30 Prozent sozialen Zwecken und 16 Prozent den Bereichen Kulturförderung, Natur- und Umweltschutz.
Frankfurt wäre nicht, was es ist, ohne die Initiative von Einzelnen. Während man heute „unternehmerische Verantwortung“ zunehmend für eine seltene Geisteskrankheit hält, empfand man es in der Bürgerstadt als Verpflichtung, nebenbei nicht nur die eigenen, sondern die Verhältnisse anderer zu verbessern. Die Geschichte der Stadt liest sich deshalb auch wie ein Who’s who der Weltverbesserer, die man nicht mit Revoluzzern verwechseln darf. Barrikadensturm, der Bürger als Brandstifter – für diese Art des politischen Extremsports war das Klima der Stadt viel zu gemäßigt. In Frankfurt wollte man stets den Hütten Frieden bringen, ohne dafür gleich ganze Paläste anzünden zu müssen. Zumal die Erneuerer oft selbst ganz komfortabel wohnten. Heinrich Hoffmann etwa. Der gebürtige Frankfurter – den die Stadt zu seinem 200. Geburtstag 2009 mit vielen Veranstaltungen würdigte – war nicht nur „Struwwelpeter“-Erfinder, sondern auch praktischer Arzt, Nervenarzt, Gedichteschreiber, Humorist, Satiriker und Liberaler. 1848 saß er als einer der zwölf Frankfurter Vertreter im sogenannten „Vorparlament“. Berühmt wurde er vor allem durch sein Eintreten für eine humane Psychiatrie. Trotz vieler Widerstände realisierte er sein Ideal einer modellhaften psychiatrischen Klinik. Auf seine Initiative hin entstand auf dem „Affenstein“, wie die Frankfurter das Gelände nannten, auf dem später das I. G.-Farben-Haus stehen sollte und nun die Universität residiert, die „Anstalt für Irre und Epileptische“, eine psychiatrische Klinik nach den neuesten Maßstäben ihrer Zeit. Es war damals das größte Gebäude Frankfurts, weitläufige Gärten inklusive. Denn Hoffmann, Sohn eines Frankfurter Architekten, setzte bei den Therapien sehr auf Betätigung an frischer Luft.
Oder Friedrich Stoltze, in Frankfurt vor allem als Mundartdichter und Lokalpatriot berühmt. Erblich belastet – Stoltzes Vater betrieb den Gasthof „Zum Rebstock“ zu Füßen des Doms, einen Treffpunkt liberal gesinnter Bürger –, machte er sich als Freiheitsdichter, Demokrat, Satiriker, zeitkritischer Journalist und Herausgeber der Zeitschrift Frankfurter Latern einen nachhaltigen Namen. Wegen seiner kritischen Äußerungen wurde Stoltze mehrfach in Abwesenheit verurteilt. Einmal, als die Preußen im Juli 1866 Frankfurt besetzten, musste er sogar fliehen. Zunächst nach Stuttgart, später in die Schweiz. Erst nach Erlass einer Amnestie kam er in sein geliebtes Frankfurt zurück.
Sein ältester Sohn Adolf trat als Journalist und Schriftsteller später in die Fußstapfen seines Vaters. So erfolgreich, dass er in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts bei einer Umfrage des Frankfurter General-Anzeigers zum populärsten Frankfurter gewählt wurde. Er starb kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und musste nicht mehr erleben, wie knapp 10 000 von den ehemals 30 000 jüdischen Mitbürgern 1941 in der Großmarkthalle für die Deportation in die Konzentrationslager zusammengetrieben wurden. 1000 hatten sich bis dahin aus Angst vor dem Kommenden schon selbst das Leben genommen.
Ja, die Demokratie wurde in der Frankfurter Paulskirche aus der Taufe gehoben. Ja, es gab eine lange Tradition des Schönen, Wahren, Guten. Die Stadt zählt große Geister und Künstler – solche wie die Malerdynastie Morgenstern, auch „die deutschen Canalettos“ genannt, oder Max Beckmann, der das alte Frankfurt künstlerisch in die neuen Zeiten führte und ab 1925 die Städel-Meisterklasse leitete – zu ihren Berühmtheiten. Paul Hindemith revolutionierte die Musik von Frankfurt aus. Und mit der „Frankfurter Schule“, mit Max Horkheimer, der 1930 die Leitung des Instituts für Sozialforschung übernommen hatte, mit Theodor W. Adorno, Leo Löwenthal, Walter Benjamin, Friedrich Pollock und Herbert Marcuse wurde das Denken in ganz neue Bahnen gelenkt.
Dennoch stimmt leider auch, was der Frankfurter Rabbiner Leo Baeck schrieb: „Es gibt auch eine Geschichte dessen, wozu Menschen geschwiegen haben.“ Selbst im liberalen Frankfurt. Ich habe für meine Diplomarbeit mit einigen Frankfurtern, die in der Weimarer Republik Kinder oder Jugendliche waren, Interviews geführt. Viele sagten, es sei ihnen einfach nicht aufgefallen, dass unter dem NS-Regime plötzlich Mitschüler verschwanden. Von einem Tag auf den anderen nicht mehr da waren, die Wohnungen verlassen hatten, die Arbeitsplätze geräumt. Man war mit anderem beschäftigt. Mit der ersten Liebe, damit, eine Lehrstelle zu finden, eine Wohnung. Das sei anstrengend genug gewesen. Doch immerhin gab es auch Menschen wie Gertrud, damals in der SPD organisiert. die von Frankfurt nach Berlin reiste, weil man ihren Verlobten bis dorthin verschleppt hatte, und die es tatsächlich schaffte, „ihn da rauszubabbeln“. Pit – ein ehemaliger Nachbar – musste den ganzen Krieg Minen räumen. Ein Kollege hatte ihn – Mitglied in der KPD – bei den Nazis angeschwärzt. Er hatte Glück und überlebte. Nach dem Krieg habe er den Denunzianten wieder getroffen, erzählte Pit mir. „Da ist nichts passiert. Nicht in seinem Kopf, nicht in seinem Gewissen.“ Und er war nicht der Einzige. In seiner Vorlesung zur „Aufarbeitung der Vergangenheit“ erwähnt Adorno eine glaubwürdige Episode: Eine Frau habe nach einer Aufführung des Tagebuchs der Anne Frank erschüttert gesagt: „Ja, aber das Mädchen hätte man doch wenigstens leben lassen sollen.“ (Theodor W. Adorno: Aufarbeitung der Vergangenheit, Reden und Gespräche 1955 bis 1969, 2 Tonkassetten, Hessischer Rundfunk)
Überall in der Stadt trifft man heute auf Spuren dieser Zeit, auf den Versuch, ihre Opfer als Mahnung in Erinnerung zu behalten. Etwa auf die „Stolpersteine“, 10 × 10 cm große Messingplaketten im Bürgersteig, die mit den Worten beginnen: „Hier wohnte …“ Den Opfern sollen ihre Namen zurückgegeben werden. Dass nach dem Krieg von Frankfurt aus wichtige Ursachenforschung betrieben wurde, unter anderem von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, von Jürgen Habermas und Alexander Mitscherlich als Leiter des Sigmund-Freud-Instituts, war immerhin ein Neuanfang, der den Namen verdiente.
Dialektik der Aufklärung, Unwirtlichkeit der Städte, Unfähigkeit zu trauern, Ende der Literatur, Kultur für alle, multikulturelle Gesellschaft – viele wichtige Denkanstöße kamen und kommen seitdem wieder aus Frankfurt. Mit ihnen erneuert die Stadt das alte Versprechen von der Freiheit. Der des Denkens und der des Geldverdienens. Beides gehört seit den Anfängen Frankfurts untrennbar zusammen. Manchmal gewinnt man zwar den Eindruck, vor allem das Geldverdienen hätte mal wieder die Nase vorn. Aber dann denkt man ganz fest an die Buchmesse und an den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, dieses „Symbol der Völkerverständigung“, an die „multikulturelle Gesellschaft“, die hier tatsächlich gelebt und nicht bloß behauptet wird, oder an die Frankfurter Allgemeine Zeitung, hinter der nicht allein in der Werbung die klügsten Köpfe stecken. Und daran, dass in Frankfurt schließlich auch das „Prinzip Hoffnung“ erdacht wurde. Damit kam Karl der Große immerhin zu der Hirschkuh und die Stadt zu ihrer Selbst-Überzeugung, gleichzeitig berechnend und großzügig, sehr alt und sehr jung, ziemlich spießig und trotzdem ungemein modern sein zu können.
Ob es stimmt, das muss jeder ganz allein herausfinden. Wir sind in Frankfurt, und da werden einem auch beim Frankfurt-Bild grundsätzlich keine Vorschriften gemacht. Schließlich sollen auch die Zugereisten einmal erleben, was Frankfurt schon seit etwas mehr als 1200 Jahren weiß: Freiheit ist schön, macht aber viel Arbeit und birgt einiges an Risiken und Nebenwirkungen. Man kann missverstanden werden und sogar kläglich scheitern. Aber man kann auch wieder aufstehen. Fast alles ist möglich. Jedenfalls von Frankfurt aus gesehen.
Vom kleinteiligen Größenwahn
Nicht mal Florian Silbereisen ist so häufig im Fernsehen wie die Frankfurter Skyline. Ständig hält sie als Kulisse für Bankennachrichten oder Börsenmeldungen her, und so verhält es sich mit der Stadtsilhouette wie mit anderen Promis, die man dauernd in der Öffentlichkeit sieht: Ein Gefühl der Vertrautheit entsteht. Wer nach Frankfurt kommt, hat meist nicht nur Kulturbeutel und Unterwäsche zum Wechseln im Gepäck, sondern auch ziemlich genaue Vorstellungen von der Mainmetropole. So viel vorneweg: Er wird sich im Nahkontakt mit der Stadt von einigen verabschieden müssen (bitte Taschentücher mitbringen!).
Die erste und größte Überraschung: wie klein die Stadt ist. Besonders wenn man vom Flughafen aus anreist, also mit der Erwartung, dass die City hält, was der Airport verspricht. Und zwar mit immerhin 23 Quadratkilometern aus Beton und Glas, mit 410 Check-in-Schaltern für 99 Airlines, die 311 Destinationen in 97 Ländern bedienen. Mit 225 Geschäften und Restaurants, die an allen sieben Tagen der Woche geöffnet haben, mit einer Klinik, einer Kirche, einem ICE-Bahnhof und der weltweit modernsten Tierstation. Die „Animal Lounge“ wickelt auf circa 4000 Quadratmetern Fläche den Export, Import und den Transit von jährlich 80 Millionen Zierfischen, 15 000 Haustieren, 8000 Schweinen und 2000 Pferden ab. Hier werden mit 512 115 Flugbewegungen knapp 70 Millionen Passagiere jährlich (Stand 2018) in die Luft gebracht. Rund 81 000 Menschen arbeiten auf dem Flughafen bei insgesamt über 500 Firmen und Institutionen. Damit ist laut IHK Frankfurt der Flughafen die größte lokale Arbeitsstätte in Deutschland.
Böse Stimmen behaupten gar, Frankfurt sei eigentlich nur ein Vorort des Airports. Aber das ist maßlos übertrieben. Ebenso wie das Gerücht, es seien in den endlosen und verwirrenden Labyrinthen dort schon Menschen verloren gegangen. Richtig ist, dass man sich auf Wege gefasst machen sollte, die eigentlich in einen Wanderführer gehören. Man kann nur vermuten, wie viele Reisende auf der Suche nach ihrem Gate erschöpft das ehrgeizige Projekt einer Fernreise zugunsten von Ferien auf dem Bauernhof im Odenwald aufgegeben haben.
Und es kommt noch schlimmer, nämlich größer. 2023 wird ein drittes Terminal jährlich bis zu 23 Millionen weitere Passagiere abfertigen, und um den „Stadtteil Flughafen“ zu komplettieren, entsteht im Frankfurter Stadtwald mit „Gateway Gardens“ ein „Global Business Village“. Zwischen der A3 und der B43 ist das Gelände eines ehemaligen Wohnquartiers der US-Army umgewidmet worden zu einer Reißbrett-Stadt mit Bürogebäuden, mehreren Hotels, Gastronomie und Einzelhandel, S-Bahn-Anschluss inklusive.
Irgendwann wird man gar nicht mehr wissen, wo der Airport aufhört und Frankfurt anfängt. Würde allein die Größe zählen, wäre die Stadt bald nur noch eine Randerscheinung. Gerade in Frankfurt aber weiß man, dass es mehr braucht, um sich als Weltstadt zu qualifizieren: den menschlichen Faktor, die Seele, das Gefühl, die emotionale Verankerung. Fraport pflegt zwar ein breites Sponsoring, um diesen Mangel auszugleichen. Mit Spenden und Aktionen werden etwa Musikveranstaltungen unterstützt, auch viele Sportvereine wie die Eintracht Frankfurt. Zur Eingemeindung ins Frankfurter Herz hat es bislang aber nicht gereicht. Selbstbewusst verteidigt der Bürger seine unerschütterliche Überzeugung, dass die Stadt die Sonne ist, um die der Flughafen gefälligst zu kreisen hat, und es keinesfalls umgekehrt sein sollte. Sorgen macht er sich trotzdem. Schaut man nach oben, sieht man dort jetzt schon bis zu acht Flugzeuge gleichzeitig den Himmel durchkreuzen. Ich gehöre zu den 15 Prozent der Deutschen, die unter Flugangst leiden, und halte mich ebenso ungern unter einem Flugzeug oder gar mehreren auf wie darin. Selbst wenn sich der Abstand auf mehrere Kilometer beläuft. Im Flugangst-Seminar hat man mir zwar beigebracht, dass es strenge Vorfahrtsregeln auch für die Luftfahrt gibt, aber wie alle Flugängstler besitze ich eine – wie ich finde – gesunde Skepsis, die mir souffliert, dass Menschen, die von der Lufthansa dafür bezahlt werden, einem das Fliegen schmackhaft zu machen, einfach die Objektivität fehlt.
Das gilt auch für die Beurteilung der Lärmbelastungen durch das ständige Starten und Landen in unmittelbarer Nachbarschaft. Dass sich der Frankfurter Flughafen als „Silent Airport“ bezeichnet, meint lediglich, dass die Lautsprecherdurchsagen von rund 1000 pro Tag auf 600 reduziert wurden. Seit im Oktober 2011 die neue Landebahn Nordwest in Betrieb genommen wurde, sind die Belastungen durch den Fluglärm enorm angestiegen.
Zwar gibt es ein Nachtflugverbot, das zwischen 23 und 5 Uhr gilt. Aber das scheinen die Fluggesellschaften nur für einen unverbindlichen Vorschlag zu halten. Allein im Mai 2018 setzten zwischen 23 und 24 Uhr 185 Maschinen in Frankfurt auf. So erleben auch Villenbesitzer im nun dicht überflogenen Stadtteil Lerchesberg seit Jahren, wie schnell man doch seine Meinung über ein ungebremstes Wirtschaftswachstum ändern kann, wenn das Haus plötzlich unverkäuflich wird. Und das ist nicht nur Jammern auf sehr hohem Niveau, wie ich mich bei einem Besuch bei einer betroffenen Familie überzeugen konnte. Man hätte dem Piloten die Nasenhaare schneiden können, so bodennah donnerten die Flugzeuge im Minutentakt über das schöne Grundstück mit Waldrandlage, und eine Verständigung auf der herrlichen Terrasse wäre nur noch mit Gebärdensprache möglich gewesen.
Nicht die Stadt ist zu klein, der Flughafen wird zu groß, so die Überzeugung vieler Frankfurter. Ein feiner Unterschied, der zur nächsten Überraschung führt: dass wir, die wir hier wohnen, keinesfalls unter Minderwertigkeitskomplexen leiden, bloß weil die Stadt wie ein Feigenblatt des Airports wirkt. Wir finden unser Leben in übersichtlicher Kleinheit sogar ziemlich praktisch.
Einen Tag, höchstens, benötigt man, seinen Gastgeberpflichten nachzukommen, Besuchern die wichtigsten Sehenswürdigkeiten vorzuführen. Die Skyline zeigt sich quasi von allein. Den Römer, die Paulskirche, „Wiege der Demokratie“, die Messe, die Börse, die Alte Oper, jenen klassizistischen Prachtbau des Schinkel-Schülers Richard Lucae, zu dessen Einweihung 1880 – es wurde Don Juan gegeben – der Kaiser höchstselbst anwesend war, bewältigt man in kaum mehr als einer Stunde.
Der imperiale Kommentar – „so was können doch nur die Frankfurter sich leisten“, soll Wilhelm I. damals gesagt haben – lässt sich gleich noch mal zitieren, wenn man erzählt, dass die Stadt für den Wiederaufbau des im Krieg völlig zerstörten Gebäudes volle 200 Millionen Mark aufbrachte. Deutlich höher lagen die Kosten der 2018 eröffneten neuen Altstadt. Die „von der Stadt zu finanzierenden Kosten“ beliefen sich auf 200 Millionen Euro. Dafür kann man aber gleich mal mindestens 30 Minuten Sightseeing zusätzlich einplanen.
Auch Alt-Sachsenhausen, der Main, das Museumsufer, die Zeil, der Palmengarten, Frankfurts herrlichste Park- und Gartenanlage, lassen sich locker ablaufen, ohne dass man dabei auch nur einmal aus der Puste gerät. Großartiges und Kleingeistiges, Aufregendes und Gemütliches, Provinz und Metropole, Weltoffenheit und Enge, alles liegt nah beieinander.
Das hat einen ganz eigenen Charme. Wie in einer russischen Matroschka kommen in der Tiefe, nicht in der Weite, immer neue Aspekte zum Vorschein. Der Architekturkritiker Dieter Bartetzko hat den Mehrwert der Enge einmal so formuliert: „Reiz und Eigenart aber bestehen vor allem in der Vielfalt und in der Widersprüchlichkeit seiner Stadtlandschaft. Der mitunter blitzschnelle Wechsel vom Boulevard zur Gasse, das Aufeinanderprallen repräsentativer und unscheinbarer Bauten, das Netzwerk der beengten Innenstadt und die großzügige Flächenverteilung in den Außenbezirken, die Verkaufsbude neben dem Handelszentrum, das Fachwerkhaus im Schatten des Mietcontainers, Krähwinkel und Metropolis ineinander verkrallt – all das macht die Identität dieser Stadt aus. Hierin gründet ihr exemplarischer Charakter: sich nie entschieden zu haben, weder für die Großstadt noch für das Dorf, weder für das Steinmeer noch ganz für die Idylle. Frankfurt ist gleichsam aus Partikeln aller Städte zusammengesetzt – nicht provisorisch, aber immer improvisierend.“ (Dieter Bartetzko: Architektur kontrovers: Schauplatz Frankfurt, Frankfurt/M. 1986)
Meine Schwiegermutter war deshalb ziemlich enttäuscht, als sie das erste Mal nach Berlin kam: „Wie unpraktisch. Überall muss man hinfahren!“ In Frankfurt kann man überall zu Fuß hingehen. Sogar mit einer künstlichen Hüfte. Natürlich konnte der erste internationale spaziergangswissenschaftliche Kongress nur hier stattfinden. „Wir werden zwei bis drei Stunden zu Fuß unterwegs sein und dabei nicht einmal eine Straße überqueren müssen. Das ist schon etwas Besonderes“, lobte der Flanierwissenschaftler Bertram Weisshaar gegenüber der Nachrichtenagentur AP die besonderen Qualitäten der Stadt.
Für die sind wir Frankfurter dankbar. Spätestens wenn mal wieder die U-Bahn ausfällt, der Bus einfach nicht kommt oder ein ganzer Stadtteil verkehrstechnisch lahmgelegt wird. Das passiert schon mal, weil dauernd irgendetwas ist: Ein Marathon oder eine der Demonstrationen, für die Frankfurt ja berühmt ist. Sie gehören quasi zur städtischen Folklore. Dienstags lässt man ohnehin alle Hoffnung auf eine pünktliche Heimkehr fahren. Das „Tuesday-Night-Skating“ ist nicht bloß das schnellste und längste nächtliche Rollschuhlaufen Europas, sondern auch das größte Verkehrshindernis im Sommer. Egal. Wir kommen immer auch per pedes oder Fahrrad heim. Kein Wunder, wenn Frankfurts Taxifahrer laut einer Studie des ADAC zu den schlechtestgelaunten des Landes zählen.
Womit wir beim nächsten Frankfurt-Trugschluss wären: der Behauptung, Frankfurt sei Dienstleistungshauptstadt, also so etwas wie die letzte blühende Oase in der Service-Wüste Deutschland.
Eines darf man hier auf keinen Fall tun: annehmen, man wäre wenigstens in Frankfurt König, bloß weil man Kunde ist. Man muss den Titel richtig, nämlich als Frankfurter Beitrag zur Relativitätstheorie verstehen. Vom Butler über den Barmixer, den Koch für daheim, die Haushaltshilfe für den gehobenen Bedarf bis hin zum Personal Trainer und einem Catering für 200 Personen lässt sich im oberen Preissegment Lebenshilfe binnen Stundenfrist organisieren. Bügeln, Babysitten, Waschen, Einkaufen, Sporteln, Kochen, ein paar Stunden in Latex bei einer Domina am Kreuz hängen oder den Hund zum Tierarzt bringen lassen – allerorten stehen dienstbare Geister bereit, dem gestressten Leistungsträger unter die Arme zu greifen. Hotels packen Picknickkörbe für den Ausflug ins Freie und bieten nach der Devise „Frieden schaffen ohne Waffen!“ am Heiligen Abend Weihnachtsgans mit Knödeln und Rotkraut to go für zu Hause an.
Alles scheint möglich, bis man eine Briefmarke braucht, einen Elektriker, eine Aufenthaltserlaubnis oder einen Termin beim Orthopäden. Bei den notwendigen Dingen herrschen in Frankfurt ähnliche Zustände wie in Leningrad, bevor es St. Petersburg hieß. Fünf Jahre seines Lebens soll jeder Deutsche durchschnittlich mit Warten verbringen. Gemessen an den endlosen Stunden im real existierenden Leerlauf, mit denen der Frankfurter die Statistik hebt, leben überall im Lande Menschen, die sehr glücklich darüber sein müssen, wie man hier für sie Schlange steht. Allein auf einen Friseurtermin bei Frankfurts Antwort auf Udo Walz und Marlies Möller, „Wachs & Wachs & Zians“, muss man fast länger warten als ein Bürger der ehemaligen DDR auf einen Trabi. Man tut es, weil man in der Geldstadt wie sonst nirgendwo weiß: Alles hat seinen Preis. Auch und gerade die perfekte Frisur.
Einfach so an das Objekt seiner Begierde zu kommen würde einen Frankfurter ohnehin nur aus seiner Lebensbahn werfen. Für den außerordentlich seltenen Fall, dass wider Erwarten etwa in der Hauptpost auf dem Goetheplatz nicht wie sonst bloß die Hälfte der Schalter, sondern alle besetzt sind, gibt es spezielle Orte, an denen wir uns bestätigen lassen, dass wir uns noch in Frankfurt befinden. Ein Restaurant in der City beispielsweise ist geradezu berühmt für seinen saumseligen Service. Man erhält dort eher seinen Rentenbescheid als das, was man, ohnehin nur unter großen Mühen (setzen Sie sich am besten nackt an einen Tisch, es könnte helfen), bestellt hat. Das Lokal ist immer voll.
Sowieso sind überall immer schon andere da, die dasselbe wollen: eine Kinokarte, einen Fahrschein, den ersten Platz am Abfertigungsschalter auf dem Flughafen oder an der Kaufhauskasse. Schlangen, wohin man auch schaut. Es ist, als würde sich Frankfurt täglich aufs Neue selbst damit überraschen, nicht Provinz zu sein und mehr als einer Million Menschen ganz banale Bedürfnisse erfüllen zu sollen. Das ist kein Fluch, das ist Zen. Frankfurter sind die direkten Nachfahren des weißen Kaninchens aus Alice im Wunderland. Jeder hetzt hier – „keine Zeit, keine Zeit“ – durchs Leben. Außer man zwingt ihn zum Verweilen.
Zu den Spitzenreitern im zwangspausenproduzierenden Gewerbe zählt die Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main. Bei der Frankfurter S-Bahn Rhein-Main ist jeder zehnte Zug verspätet, keine S-Bahn in Deutschland ist unpünktlicher. Damit man die Wartezeiten auch genießen kann, sind allerorten „Countdown-Anzeigen“ aufgestellt worden, die dem Bürger Klarheit verschaffen sollen, in wie vielen Minuten kommt, wofür er bezahlt: eine Beförderung. Klug war das nicht. Seitdem ist es offiziell, dass sich zwei Minuten nicht nur wie zehn anfühlen können, sondern faktisch auch zehn Minuten sind. Obwohl auf der Tafel genauso lange „in zwei Minuten“ steht. Möchte man Zweifel, ob man zwischenzeitlich vielleicht verlernt hat, die Uhr abzulesen, aus dem Weg räumen, ruft man die „Mobilitätsberatung“ an (069–24 24 80 24). Es gibt keinen besseren Zeitvertreib.
„Wo sind Sie gerade?“, fragt der Mobilitätsberater. „Ich stehe an der Haltestelle Leonardo-da-Vinci-Allee, die Straßenbahn kommt nicht.“ – „Sie müsste aber schon da sein.“ – „Ist sie aber nicht.“ – „Nehmen Sie doch den Bus.“ – „Der bringt mich aber nicht dorthin, wohin ich wollte.“ – „Aber der kommt gleich!“
Meine einzige Erklärung für die umwerfenden Ergebnisse der jährlichen Zufriedenheitsumfragen der Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main ist die Vermutung, dass die Stadt Stimmungsaufheller ins Trinkwasser leitet. Schon sind wir beim nächsten Frankfurt-Irrtum, dem Gerücht, die Stadt habe ein ernsthaftes Drogenproblem. Mit den üblichen betrüblichen Folgen, also Diebstahl, Überfall und Haue. Ist Frankfurt nicht „Hauptstadt des Verbrechens“? Man liest ja so viel …
Tatsächlich ist die Kriminalitätsrate so gering wie lange nicht mehr. Trotzdem lässt sie keinen Zweifel zu: Frankfurt ist immer noch deutsche Verbrechenshauptstadt. Zuletzt entfielen auf 100 000 Einwohner in Frankfurt 14 864 Straftaten. So viele wie in keiner anderen deutschen Metropole.
Allerdings kann Frankfurt mildernde Umstände geltend machen. Es liegt an seinem Status als „Hafenstadt“. Meint: Frankfurt hat eine Messe mit ca. 2,2 Millionen Besuchern pro Jahr, ein hohes Aufkommen von Berufseinpendlern (376 000 täglich) und liegt auch bei der Anzahl der ca. 3,4 Millionen Touristen, die jährlich nach Frankfurt kommen, an der Spitze deutscher Großstädte. All die Kurzzeitbesucher stellen auch alles Mögliche an und lassen Frankfurt statistisch dafür büßen. „Importierte Kriminalität“ nennt sich das Phänomen. So werden zum Beispiel sämtliche Drogenfunde am Flughafen der Stadt angelastet. Egal, ob der Stoff für Frankfurt bestimmt war oder nicht. In keiner anderen Stadt gibt es zudem einen so hohen Anteil von Tätern mit Wohnsitz im Ausland. Nicht mal die Hälfte der Tatverdächtigen wohnt in Frankfurt und wird auch dort straffällig. Die zahlreichen Wirtschaftsdelikte in der Bankenmetropole blähen die Statistik noch einmal auf. Ebenso wie die Verstöße gegen das Ausländergesetz. Bei einem AusländerInnenanteil von fast einem Drittel der Bevölkerung ziemlich naheliegende, aber nicht gefährliche Vergehen.
Überhaupt ist gerade in Sachen Kriminalität in Frankfurt manches ganz anders, als man denkt. Wer bei Drogenmissbrauch etwa an die Elendsgestalten im Bahnhofsviertel denkt, die sich ihre Sucht auf dem Straßenstrich und/oder mit „Hasse mal en Euro?!“ finanzieren, sollte wissen, dass sich auch und vor allem die Leistungsträger von verbotenen Substanzen befeuern lassen. Nach den Rückständen im Main zu schließen, wird in der Bankenmetropole Frankfurt deutlich mehr Kokain konsumiert als in der Partyhauptstadt Berlin oder im reichen München. Ja, das ist beängstigend – vor allem für den Fischbestand.
Zum Fürchten ist die Stadt allerdings vorwiegend in den Frankfurt-Krimis. In den Büchern von Matthias Altenburg, der unter dem Alias Jan Seghers seinen Kommissar Marthaler in bislang sechs Fällen ermitteln ließ: zuerst in Ein allzu schönes Mädchen und zuletzt in Menschenfischer. „Jan“ war für den leidenschaftlichen Radfahrer Altenburg als Referenz an Jan Ullrich gedacht, lange bevor der mit Drogenproblemen Schlagzeilen machte und seine sportlichen Erfolge wegen Doping annulliert wurden. Und „Seghers“ ist als Verneigung vor Anna Seghers gemeint. Die Seghers-Krimis sind nicht nur äußerst spannend, sie lesen sich auch wie intime und ortskenntnisreiche Besichtigungen der Mainmetropole. Selbst für jene, die bis dato glaubten, ihrer Stadt schon hautnah gekommen zu sein. „Für mich haben Orte eine wahnsinnig große Bedeutung. Und deshalb ist das Fahrradfahren eigentlich als Handwerkszeug wichtiger als der Computer“, so der Autor.
Auch im TV-Krimi zeigt die Stadt sich von ihren spannendsten Seiten, haben selbst eingefleischte Frankfurter die Gelegenheit, ihre Heimat einmal aus einer anderen Perspektive kennenzulernen. So in den Frankfurt-Tatorten, in der Serie Ein Fall für zwei oder jüngst in dem ZDF-Sechsteiler Bad Banks, der 2018 etliche Preise abräumte.
Auf seinen Life-Krimi braucht der Frankfurter dennoch nicht zu verzichten. Es besteht – wie in allen Städten – durchaus berechtigter Anlass, uff de Gass seine Habseligkeiten im Auge zu behalten. Das nur als Info, besonders für Männer, die so leichtsinnig sind, ihre Hosentaschen mit Fort Knox zu verwechseln oder ausgerechnet im Bahnhofsviertel mit Barschaften im fünfstelligen Bereich herumwedeln. Doch, so blöd kann man sein, wie regelmäßig in der Lokalpresse zu lesen ist. Zu Frankfurter Messen, Märkten, Festen werden vermutlich ganze Taschendieb-Busreisen veranstaltet. Entgegen anderslautenden Befürchtungen aber nutzen Auftragskiller arglose Bürger fast nie als Zielscheibe, und böse Buben sind meist so freundlich, ihre Händel unter sich auszutragen.
Das gilt auch und vor allem fürs Rotlichtviertel. Trotz aller Gentrifizierung und obwohl der Stadtteil sogar von der New York Times als sehenswert eingestuft wurde, scheint es hier immer noch am gefährlichsten zu sein. Wo Junkies sich am helllichten Tage auf den Treppen zur B-Ebene Spritzen setzen, wo man von jungen Nordafrikanern im Pulk zum Drogenkauf aufgefordert wird und es wahrlich nicht so aussieht, als sei die Prostitution ein ganz normaler Beruf, dem man aus freien Stücken und mit Freude nachgeht, wie von einschlägigen Verbänden behauptet, leidet schon mal das individuelle Sicherheitsgefühl. Manche Ecken hätten da sicher die Ausstattungsmerkmale und das Personal für einen Zombie-Film. Dennoch ist das Bahnhofsviertel nach meinem persönlichen Sicherheitsempfinden einer der entspanntesten Stadtteile überhaupt. Nicht bloß, weil nirgendwo sonst so viele Polizisten unterwegs sind. Man ist dort ja auch immer von Menschen umgeben. Außerdem haben Türsteher und Bordellbetreiber ein vitales Interesse daran, dass ihre Klientel nur eines fürchten muss: vom Nachbarn gesehen zu werden. Wenn die Innenstadt nach 23 Uhr kaum belebter ist als der Feldberg, dann also nicht, weil die Frankfurter vor Angst bibbernd in ihren Betten liegen, neben sich ein Küchenmesser und das Telefon. Sie sind bloß rechtschaffen müde.
In Frankfurt wird hart gearbeitet. Die Fleißkärtchen der Stadt sind beidseitig nur mit Bestnoten beschrieben. Hier hat sich ein Rest von protestantischer Ethik erhalten – herübergerettet aus den Tagen, da am Main ein wohlhabendes Finanz- und Handelsbürgertum selbstbewusst, wenn auch unglamourös vor sich hin wirtschaftete. Jeder hat Stress und wirklich Wichtigeres zu tun, als etwa ein Starlet bloß für den operativen Wechsel von Körbchengröße B auf Doppel-D zu bewundern.
Einen Frankfurter zu beeindrucken ist ohnehin schwer genug. Beinahe aussichtslos, ihn mit Prominenz aus der Fassung zu bringen, die rein auf Äußerlichkeiten fußt. Das lässt schon sein Weltbild nicht zu. Oben ist immer dort, wo er sich gerade befindet, und sollte jemand versuchen, diesen Kosmos mit Prahlerei, der exhibitionistischen Zurschaustellung von Reichtum und Position zu seinen eigenen Gunsten neu zu ordnen, heißt es geringschätzig: „Die, wo der doht geschosse hat, lewe all noch.“
Das führt zur dritten Frankfurt-Bild-Korrektur: dass, wo so viel Geld zu Hause ist, auch eine Menge Protz zu finden sein müsste. „In Frankfurt war es nie eine Schande, reich zu sein. Aber es wurde immer übel vermerkt, wenn man seinen Reichtum vor sich her trug“, so erklärte schon Walter Hesselbach, ehemals Chef der Bank für Gemeinwirtschaft.
Dabei leben eine Menge richtig wichtige Menschen in der Stadt, solche, die von den Spitzen der Banken aus die Geschicke des ganzen Landes lenken, die in Forschung und Wissenschaft Bahnbrechendes denken. Aber kaum jemand, mit dem sich die Klatschspalten mit Deftigem füllen ließen. Regelmäßig hält sich der „Gesellschaftsreporter“ deshalb – Not kennt kein Gebot – an Sabrina Setlur, an Sonya Kraus, an Franziska Reichenbacher, Alexander „Honey“ Keen (Ex-Freund der Germany’s-Next-Topmodel-Gewinnerin Kim) schadlos. Wenn eine der DSDS- oder Germany’s-Next-Topmodel-Kandidatinnen aus Frankfurt oder sogar Offenbach kommt, werden vermutlich Champagnerflaschen geköpft. Und wenn Hochkaräter wie Nora von Waldstätten oder Elyas M’Barek zur Wiedereröffnung der Louis-Vuitton-Boutique anreisen, ist das, als sei Frankfurt der brennende Busch erschienen. Doch solche geben bloß Gastspiele und Autogramme, lassen sich zur Verleihung des Hessischen Filmpreises oder zum Opernball sehen – aber nie bleibt einer lange genug, um Frankfurt dauerhaft ins Sichtfeld von RTL exklusiv und der Bunten zu bringen.
Die Frankfurter tragen es mit Fassung. Das viele Blitzlichtgewitter würde sie ohnehin nur bei der Arbeit stören. Packt sie zwischendurch dennoch mal der Größenwahn, finden sie am südlichen Mainufer, zwischen Frankfurt und Offenbach, Läuterung. Dort steht ein Denkmal von Hans Traxler, ein leerer Sockel mit der Aufschrift „ICH“. Bei besonders heftigen Anfällen von Gefallsucht stellt man sich so lange darauf, bis sie wieder vorbei sind, und kehrt befreit von solchen Herrschaftspossen zum städtischen Understatement zurück. Auf dem Weg kann man sich an einem der herrlichsten Stadtpanoramen erfreuen und einmal wieder sehr glücklich sein, in Frankfurt zu leben. Idealerweise in aller Stille.
In Frankfurt spricht man nicht über Frankfurt. Jedenfalls nicht laut und schon gar nicht enthusiastisch. Anders als in München oder Hamburg, wo es offenbar Steuererleichterung dafür gibt, ständig seine Stadt zu preisen, halten sich die Frankfurter mit Lobhudeleien für ihren Heimatort vornehm zurück. Nie schwärmt ein Frankfurter von den Schauwerten der Mainmetropole. Ausnahmen wie der eigens zum Frankfurt-Liebhaben gegründete Verein „Freunde Frankfurts – Verein zur Pflege der Frankfurter Tradition e. V.“ bestätigen diese Regel. Eher entlockt man einem Frankfurter seinen Kontostand als ein „Toll, meine Stadt! Niemals könnte ich woanders leben!“.
Daraus auf tiefe Abneigung zu schließen würde allerdings direkt zum nächsten Frankfurt-Irrtum führen. Die Bürger lieben ihre Stadt. Inniglich sogar. Sicher, es könnte freundlichere, unterhaltsamere, größere, gerechtere und günstigere geben. Aber die sind eben noch nicht auf der Weltkarte erschienen. Frankfurt ist für seine Einwohner längst nicht optimal, aber gerade deshalb die denkbar lebenswerteste aller Alternativen. „Kritisch“ nennen die Frankfurter diese Haltung und sind stolz darauf. Für sie ist es ganz und gar kein Widerspruch, die Stadt gerade für die Freiheit zu schätzen, dass man hier überall ein Haar in der Suppe finden und es öffentlich ausstellen darf. Das erklärt auch die lange Tradition der Nestbeschmutzungen. Angefangen bei Goethes Mutter Aja, die schimpfte, die „berühmte“ Stadt habe große Häuser und kleine Köpfe, über Arthur Schopenhauer – „eine kleine, steife, innerlich rohe, Municipal-aufgeblasene, bauernstolze Abderiten-Nation“ – bis hin zu Ludwig Börne – spießiger „Krähwinkel“. Später erfand Mitscherlich hier die „Unwirtlichkeit der Städte“, und die Medien steuerten „Bankfurt“, „Krankfurt“, „Junkfurt“ und „Krawallfurt“ bei.
Die Frankfurt-Nörgelei ist der Stadt mittlerweile so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sogar am Meckern selbst herumgekrittelt wird. So stellte Robert Gernhardt, der mehr als 40 Jahre in Frankfurt lebte, fest: „Auf Frankfurt einzuschlagen ist langweilig.“ Aber psychologisch wichtig. Nur Reibung erzeugt schließlich Wärme. Die Frankfurter machen gern und ausgiebig Gebrauch von diesem ihrem liebsten Naturgesetz. Dicht gefolgt vom zweiten städtischen Grundsatz: niemals und an nichts einfach so zu glauben, außer dass e Pfund Rindfleisch e gud Supp gibt.
Das soll einen nicht daran hindern, Gefallen an der Stadt zu finden. Man kommt ja von auswärts und darf deshalb getrost seiner Begeisterung auch Ausdruck verleihen. Gründe finden sich zur Genüge. Gerade weil die Stadt genau so und gleichzeitig völlig anders ist als das Frankfurt-Bild, mit dem man anreist. Spätestens am Flughafen stellt man fest, wie enorm der Unterschied zwischen „groß“ und „großartig“ sein kann. Man steht in der Schlange etwa an Position 154 und hat also dazu ausreichend Gelegenheit. Sollten Sie sich trotzdem langweilen, rufen Sie die Mobilitätsberatung an. Die vertreibt Ihnen gern die Zeit. „Nach Hamburg? Da nehmen Sie am besten die Straßenbahn. Die müsste eigentlich längst da sein.“
„Ihr Buch ist dabei mehr als ein Reiseführer – eher eine Liebeserklärung für ihre Wahlheimat und das trotz der Gegensätze, die Frankfurt zu bieten hat. Ihre Schilderungen spickt sie mit Humor und Fachwissen, sodass ihr Buch leicht zu lesen und dennoch informativ ist.“
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