Gebrauchsanweisung für Lissabon Gebrauchsanweisung für Lissabon - eBook-Ausgabe Gebrauchsanweisung für Lissabon - eBook-Ausgabe
Gebrauchsanweisung für Lissabon — Inhalt
Zwischen Melancholie und Moderne:
Martin Zinggl, der seit über zwanzig Jahren immer wieder nach Lissabon zurückkehrt, nimmt uns mit über den Tejo, zu den miradouros mit dem besten Ausblick und auf eine Fahrt mit der legendären Elektrotram 28E. Er lüftet das Geheimnis salzgetrockneten Kabeljaus, erzählt vom strengen Regiment der Kellner und beschwört die Klänge des Fado herauf. Mit ihm entdecken wir Orte, die (noch) keine Touristenhotspots sind, surfen am Hausstrand, besuchen Estoril und spazieren durch den Märchenwald von Sintra. Und erfahren, wieso pastéis de nata einfach glücklich machen.
„Der Autor ist kein Bewunderer Lissabons, sondern ein ihrem Charme Verfallener, ein Freund.“ Mare Magazin
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Lissabon“
Vorwort
Die Schöne am Tejo. Die Königin des Meeres. Die Perle des Südens. Die weiße Stadt. Die uralte Stadt. Die traurige Stadt. Die Stadt des Lichts. Die Stadt der Seefahrer. Die Stadt der Städte. Die Hauptstadt der Melancholie. Das Tor zur Welt.
Viele Beinamen trägt die portugiesische Metropole. Ebenso viel Literatur findet der Reisende oder Interessierte über Lissabon. Genau genommen: weit über tausend deutschsprachige Bücher. Danke also, dass Sie sich – angesichts dieser überwältigenden Auswahl – für diese Gebrauchsanweisung entschieden haben! Zumal [...]
Vorwort
Die Schöne am Tejo. Die Königin des Meeres. Die Perle des Südens. Die weiße Stadt. Die uralte Stadt. Die traurige Stadt. Die Stadt des Lichts. Die Stadt der Seefahrer. Die Stadt der Städte. Die Hauptstadt der Melancholie. Das Tor zur Welt.
Viele Beinamen trägt die portugiesische Metropole. Ebenso viel Literatur findet der Reisende oder Interessierte über Lissabon. Genau genommen: weit über tausend deutschsprachige Bücher. Danke also, dass Sie sich – angesichts dieser überwältigenden Auswahl – für diese Gebrauchsanweisung entschieden haben! Zumal dieses Buch kein Reiseführer ist, keine Hotels und Restaurants empfiehlt, keine Top-10-Sehenswürdigkeiten oder Geheimtipps auflistet. Auch ist es, um es gleich eingangs festzuhalten, keine blindlings verfasste Liebeserklärung an Lissabon. Ich bin kein Bewohner dieser Stadt, zumindest kein dauerhafter, sondern ein Besucher. Bin kein Bewunderer Lissabons, sondern ein ihrem Charme Verfallener, ein Freund. Bin kein hoffnungslos Verlorener, der sich unsterblich in Lissabon verliebt hat und nicht mehr davon loskommt wie von einer Angebeteten. Im Gegenteil. Jedes Mal, wenn ich ins Flugzeug steige und die Metropole verlasse, sagt eine innere Stimme: „Jetzt reicht es, das war das letzte Mal.“ Vermutlich wegen der Flut an Reizen, die in Hirn und Herz strömen, die alle fünf Sinne berauschen. Und auch einen sechsten – aber dazu mehr im Buch. Vielleicht liegt es auch nur an dem beklemmenden und unübersichtlichen Flughafen, der mir den Abschied vermiest – auch das soll sich in naher Zukunft ändern.
Jedes Mal entpuppt sich diese Stimme als Lügnerin. Denn immer wieder ruft mich Lissabon zu sich, diese Königin des Meeres, diese Schöne am Tejo, und immer wieder besuche ich sie gern, diese Stadt der Fliesen und der Melancholie. Zweimal habe ich längere Zeit hier gelebt – und wenn es mich irgendwann ein drittes Mal hierherzieht, würde mich das nicht wundern. Dann vielleicht sogar dauerhaft.
Ich möchte ehrlich sein: Seit über zwanzig Jahren führe ich ein ambivalentes Verhältnis mit dieser Stadt. Lange Zeit empfand ich Abneigung, schwor, nie wieder einen Fuß an das Ufer des Tejo zu setzen. Denn ich bin in Lissabon durch meinen emotionalen Tiefpunkt gegangen, habe den verregnetsten Herbst und den kältesten Winter meines Lebens durchgestanden, während ich, von Alkohol und Marihuana benebelt, versuchte, den Liebeskummer zu überwinden, der mir in dieser Stadt widerfahren war. Der Zufall führte mich zurück – und mittlerweile empfinde ich tiefe Zuneigung für Lissabon. Denn ich habe hier mein Herz verloren und meinen Verstand wiedergefunden, durfte einen fröhlichen Frühling und einen grandiosen Sommer lang den Weltschmerz vergessen, Wärme und Nähe der lisboetas spüren, die mir gezeigt haben, dass Lissabon nicht umsonst den Beinamen „Stadt des Lichts“ trägt.
Wo Licht hinfällt, kann sich Schatten breitmachen. So ist diese Metropole sicher nicht perfekt und strebt dies auch nicht an. Doch sie und ihre Bewohner entzücken gerade deshalb, weil sie manchmal so verschroben und sonderbar sind. Genau darum muss hier nichts schöngeredet werden.
Lange vor Ihrem und meinem Dasein war Lissabon eine Weltstadt – und sie ist auf dem besten Weg, wieder eine zu werden. Kürzlich noch galt sie als das Armenhaus Europas – und diese bittere Vergangenheit spürt jeder Reisende, der genau hinblickt: Die von Zeit und Gischt angefressenen Fassaden verraten es, der abblätternde Schriftzug „LISBOA“ am Fährhafen, die zahllosen Löcher und Unebenheiten der Gassen, ebenso manche in gebeugter Haltung in den Straßen umherziehende Gestalten – als wären sie in ihrem Stolz verletzt – oder die abgetragenen Sakkos und Schirmmützen älterer Herren.
Seit einigen Jahren erfindet sich Lissabon neu, ziehen Moderne und Kreativität in die portugiesische Hauptstadt ein, klopfen den jahrzehntealten Staub der Paralyse ab. An vielen Ecken sprießen bereits die ersten Ergebnisse: experimentelle Küche, märchenhafte Designs, verführerisches Nachtleben, epische Kunst- und Kulturszene. Es ist eine Epoche, in der Altes und Neues aufeinandertreffen und eine Atmosphäre schaffen, die nahezu jeden Besucher begeistert, da es der Stadt gelingt, kosmopolitisch und zugleich authentisch zu bleiben.
Ich konnte Lissabons Renaissance miterleben, habe all die Jahre hingeblickt und nun versucht, einige Beobachtungen und Begegnungen zu verschriftlichen. Versprochen: ohne Bauchpinselei, ohne Übertreibung, ohne Superlative – na gut, ein paar Superlative sind vielleicht dabei. Weil Lissabon eben doch nicht ganz ohne auskommt.
Warum Lissabon?
Gründe, warum Lissabon unbedingt einen Besuch wert ist, gibt es etwa genauso viele, wie es Rezepte mit bacalhau geben soll, Portugals traditionellem Stockfisch, der Ihnen auf die eine oder andere Art immer wieder begegnen wird – sei es als Gericht auf Ihrem Teller, als geruchsintensives Lebensmittel im Supermarkt oder als sagenumwobenes Kulturgut der Portugiesen. Mit Lissabon verhält es sich ähnlich, jeder und jede mag diese Stadt aus unterschiedlichen Gründen. Weil sie sich dort verliebt, erstmals Freiheit gespürt, ein erfolgreiches Start-up aufgebaut oder weil Lissabons Licht und Wärme sie so freundlich willkommen geheißen haben. Aus welchem persönlichen Motiv auch immer man gerne in dieser Stadt verweilt – es gibt ein paar objektive Gründe:
Welche andere europäische Hauptstadt kennen Sie, die auch im tiefsten Winter angenehme fünfzehn Grad Durchschnittstemperatur bietet?
Die Ihnen 2799 Sonnenstunden pro Jahr schenkt – fast doppelt so viele wie Berlin und immer noch gut tausend Stunden mehr als Wien und Bern?
Die Ihnen fangfrischen Fisch und allerlei Meeresgetier offeriert und Ihnen wunderschöne Strände zu Füßen legt?
Deren jahrtausendealte Geschichte jene von Städten wie Rom, Istanbul oder Paris um Jahrhunderte überbietet?
Die mittelalterliche Bauwerke mit hochmodernen Gebäuden in ihrem Stadtbild vereint, sogar einen eigenen Baustil kreiert hat, die Manuelinik, benannt nach König Manuel I.?
Die leistbar, sicher, sauber und tolerant ist, in der sich Xenophobie und Rechtspopulismus selbst in Zeiten der Intoxikation anderer Teile Europas noch schwertun?
Die mit Fado einen eigenen Musikstil geschaffen hat und über ein charakteristisches Lebensgefühl, ja eine Sinnesempfindung verfügt, die saudade, für die es keine angemessene Übersetzung gibt?
Deren Bewohner Sie mit offenen Armen und einer nicht gespielten Herzlichkeit empfangen, obwohl sie eigentlich als schüchtern und introvertiert gelten?
Die ihre Häuser mit Fliesenkunst überzieht, nicht nur, um der Stadt ein buntes Äußeres zu verpassen, sondern um Licht in die verborgensten Winkel zu reflektieren?
Die übersichtlich und klein wirkt wie ein Dorf, aber den Charakter einer Weltstadt hat, mondän ist, die Balance zwischen internationalem Flair und ursprünglichem, lokalem Leben hält?
Die sowohl den Einfluss des afrikanischen als auch des südamerikanischen Kontinents in Europa vereint und Kunst und Kultur der drei Weltregionen in den Alltag integriert? Wobei keine Gegensätze aufeinanderprallen, stattdessen die unterschiedlichen Lebensstile kooperieren und zusammenleben?
Die in einer lagunenartigen Bucht liegt, in der Flamingos durch das Wasser staken?
Die Poesie und Romantik genauso ernst nimmt wie Gastronomie und Lebensqualität, deren Bewohner es schaffen, einen gesunden Ausgleich zwischen Arbeit und Freizeit zu finden – und Sie damit anzustecken?
Die so sehr Eindruck schindet, dass Sie unbedingt zurückkehren wollen, um sie zu besuchen wie einen alten Freund?
Denken Sie in Ruhe nach – Sie werden zu Lissabon keine Alternative finden. Fragen Sie sich lieber, warum Sie diese Stadt bisher nicht besucht haben.
Wäre Lissabon ein Mensch aus Fleisch und Blut, könnte die Stadt nur Leonard Cohen sein. Sie ist elegant, zeitlos und bescheiden wie der Sänger, Schriftsteller und Dichter. Niemand sonst lässt uns so sprachlos zufrieden zurück. Kein anderer versteht es, Schönheit und Wehmut besser in Einklang zu bringen – sei es in gesungener, geschriebener oder gesprochener Form. Lissabon verfolgt ein ähnliches poetisches Prinzip, umhüllt Besucher mit majestätischer Schönheit, zieht sie in einen melancholischen Bann. Etwa akustisch: mit Fado, jener Musikrichtung, die einst in den Hafenvierteln Lissabons geboren wurde. Oder kulinarisch: mit bacalhau, dem treuen Freund der Seefahrer, der es ihnen erst ermöglichte, von Lissabon aus die Welt zu erkunden und dabei doch ständig ihrer Heimat nachzutrauern. Oder visuell: mit den wundervollen Prunkbauten, die sich irgendwo zwischen Vintage und Verfall präsentieren und als Erinnerung an Lissabons tragische Geschichte von Erdbeben, Tsunami, Bränden, politischer Unruhe und finanziellen Engpässen das heutige Stadtzentrum prägen.
Flanieren Sie abends Lissabons Uferpromenade entlang. Lassen Sie sich hypnotisieren von der wie gemalt wirkenden Silhouette und den schummrig gelben Lichtern der Stadt, die sich im quecksilberfarbenen Wasser des Tejo spiegeln. Spüren Sie die warme Brise, die vom Atlantik hereinweht – und hören Sie genau hin. Vielleicht wispert Leonard Cohens Raspelstimme ein Gedicht von Fernando Pessoa aus der Ferne: „Mein Bewusstsein von dieser Stadt ist im Innersten mein Bewusstsein von mir selbst.“
Das kann sonst keine Stadt der Welt.
Apropos Leonard Cohen: Dieser erscheint auch in José Saramagos melancholischem Roman „Die Geschichte der Belagerung von Lissabon“. Als Hommage an seine inspirierende Poesie schenkt der Literatur-Nobelpreisträger aus Lissabon dem kanadischen Künstler eine halbe Seite seines Buches, in der Cohen den Protagonisten Raimundo Silva eindringlich mahnt: „Schon möglich, dass ich zurückkehre, doch ich weiß nicht, wann, und vielleicht bist du in dem Augenblick dann nicht mehr zugegen, nutze die Gelegenheit, genieße, genieße.“
Und wenn wir schon von genießenden Weltstars sprechen: Madonna, Monica Bellucci, Scarlett Johansson, Eric Cantona, Michael Fassbender und John Malkovich leben alle in Lissabon. Das kann nun abstoßend auf Sie wirken oder ein Grund mehr sein, die Stadt auf dem Schirm zu haben und zu schätzen, bevor alle anderen es tun. Die genannten Promis haben Lissabons Reiz bereits erkannt, viele davon vor etlichen Jahren.
Nun sind Sie an der Reihe, ihn zu entdecken!
Ankommen
Sie haben den eindrucksvollen Landeanflug über den Atlantik am Fensterplatz miterlebt? Je nach Route sind Sie vielleicht über Lissabons Hausstrände geflogen, von Comporta bis Caparica, über die markant rote Brücke des 25. April, über den Hafen, aber in jedem Fall über die zerstreute Häusermasse. Einen besseren Panoramablick über Lissabon gibt es nicht, auch wenn man fürchtet, mitten in der Stadt zu landen – und das dann auch tatsächlich tut. Sie haben gesehen, wie sich die Windräder der Lüftungskamine auf den rotbraunen Ziegeldächern drehen; wie die Nachmittagssonne ein Glitzern auf die Wellen des Flusses Tejo zaubert; wie Fähren, Frachter und Segelschiffe Kielspuren im jadegrünen Wasser hinter sich herziehen. Sie konnten sogar den Sonnenuntergang über der portugiesischen Metropole genießen? Bravo, schätzen Sie sich glücklich!
Holen Sie Ihr Gepäck, wenn Sie welches haben. Wenn nicht, schätzen Sie sich noch glücklicher: Ihnen bleibt die Wartezeit am Fließband erspart. Außerdem verschulden Sie auch nicht das lästige Rattern, das in aller Ohren vibriert, wenn Sie einen Trolley durch Lissabons Straßen schleifen. Sollten Sie doch ein Gepäckstück mit Rollen mitführen, bemitleide ich Sie schon jetzt: Das Kopfsteinpflaster und die steil bergauf und bergab führenden Gassen der Stadt werden Ihnen keine Freude bereiten.
Gehen Sie durch den Flughafen hinab zur Metro, dieser Untergrundkonstruktion, von der Lissabon bereits 1888 träumte. Für portugiesische Verhältnisse typisch ist, dass es manchmal dauert, bis Dinge wirklich in Bewegung kommen oder gar umgesetzt werden. Bei der Metro waren es exakt 71 Jahre: 1959 rollte die erste Untergrundbahn über die Gleise. Seitdem wird das Schienennetz ständig erweitert, aber wie lange der Ausbau noch dauert, wann und ob er je abgeschlossen sein wird, kann niemand genau sagen. Und selbst wenn es die lisboetas nervt, können sie mit Großbaustellen umgehen. Bevor das Expo-Gelände 1998 eröffnete, hatte es sieben Jahre Bauzeit in Anspruch genommen. 2016 machte das MAAT, Museu de Arte, Arquitetura e Tecnologia, Schlagzeilen: Nachdem es drei Jahre und zwanzig Millionen Euro verschlungen hatte, fand die Eröffnung zwar im großen Rahmen statt, allerdings nur provisorisch. Da sich einige der rund 17 000 Kacheln von den Wänden lösten, musste die Schlamperei an der Fassade ausgebessert werden. Ein halbes Jahr später war Lissabons modernstes Gebäude in Form eines gestrandeten Rochens fertiggestellt und lockt seitdem jährlich bis zu 375 000 Kunstliebhaber aus aller Welt an das Tejoufer. Der seit 2008 geplante und ursprünglich zur Eröffnung 2017 vorgesehene Novo Aeroporto de Lisboa ist im Vergleich zur Metro demnach harmlos verspätet. Aufgrund fehlender Finanzmittel wurde der Zusatzflughafen auf unbestimmte Zeit verschoben. Politiker sprechen optimistisch von einer Inbetriebnahme in den kommenden Jahren. Tierschützer freuen sich über die Verzögerung, versuchen sie doch das Projekt zu verhindern, da die Einflugschneise das Mündungsgebiet des Tejo überqueren soll, ein Marschland, in dem Tausende Flamingos temporär leben und Hunderttausende Zugvögel haltmachen. Dennoch: Der Flughafen ist beschlossene Sache, auch wenn der Ausbau des derzeitigen Militärflughafens, auf dem der Novo Aeroporto entstehen soll, noch nicht begonnen hat. Wie wir wissen, ist das nicht Europas einziger Hauptstadtflughafen, der zeitlich hinterherhinkt. In Sachen Langsamkeit bei umstrittenen Bauvorhaben spielen sich Berlin und Lissabon gegenseitig den Ball zu. Irgendwann in den kommenden 71 Jahren wird der neue aeroporto schon eröffnen. Bis dahin bleibt der aktuelle Flughafen Humberto Delgado, mehrfach zum schlechtesten Flughafen der Welt gekürt, zwar hoffnungslos überlastet, aber dafür gibt es ja eine verlässliche Metro, in deren Wartebereichen ruhige Popmusik gespielt wird. Pois é! Was soll’s!
Als ich zuletzt in Lissabon lebte, umgab die Ticketschalter in der Metro gähnende Leere. Mittlerweile lotsen Platzanweiser die Schlange von potenziellen Käufern an die Maschinen. Haben Sie den Unterschied zwischen den verschiedenen Fahrscheinen verstanden und den richtigen erstehen können? Gratuliere, ich habe dafür Monate gebraucht. Dann zwängen Sie sich und Ihr Gepäckstück durch die engen Zugangsschranken. Bleiben Sie stecken, schwitzen Sie, fluchen Sie, das gehört dazu. Pois é! So ist das!
Steigen Sie ein in die rote Linie, die Linha do Oriente, und freuen Sie sich darüber, dass Lissabons U-Bahnen nicht nur Farben, sondern auch wundervolle Namen tragen wie Gaivota, Möwe, Girassol, Sonnenblume, Caravela, Karavelle, ein Segelschifftyp, oder eben Oriente, Orient – und von den dazu passenden Symbolbildern geziert werden. Vorsicht übrigens beim Ein- und Aussteigen. Falls Sie größer als 1,80 Meter sind: Kopf einziehen! Die metallenen Haltegriffe, die von der Decke hängen, geben nur mit Gewalt nach. Für die lisboetas kein Problem, gelten die Portugiesen doch als kleinste Nation Europas.
Und keine Sorge: Je näher Sie dem Zentrum kommen, umso freundlicher und kunstvoller gestaltet präsentieren sich auch die Metrostationen, vor allem die älteren. Neunzehn Bahnhöfe hat die portugiesische Malerin Maria Keil mit azulejos verfliest, den stadtbekannten Kacheln – und mit ihren Kunstwerken in den 1950er-Jahren den Grundstein für eine Renaissance dieser damals in Vergessenheit geratenen Tradition Portugals gelegt. Mittlerweile reißen sich Kunstliebhaber, Diebe und Polizei gleichermaßen um die mitunter sehr wertvollen Fliesen, die Lissabon vermehrt abhandenkommen.
Drängen Sie durch die Stationen – insbesondere die Knotenpunkte, an denen sich zwei Metrolinien oder mehrere Verkehrsmittel kreuzen, wie Alameda oder São Sebastião. Stationen, die sich mit ihrer liebevollen Gestaltung bunter Kachelwände und Malereien als Schauräume nationaler Kunst eignen, nicht allerdings für Begegnungen Hunderter Passagiere, die in entgegengesetzte Richtungen reisen wollen – vor allem zur Stoßzeit. Also, drängen Sie, und werden Sie bedrängt, am besten noch immer mit sperrigem Gepäck, da freuen sich Ihre Mitmenschen besonders, auch oder gerade jene, die – den vielen Hinweisen zum Trotz – in eine einfahrende Metro einsteigen, noch bevor Sie aussteigen können. Aber sorgen Sie sich nicht um Taschendiebe – die stibitzen alle in Barcelona. Und für den unwahrscheinlichen Fall, dass Ihnen doch etwas abhandenkommt, besuchen Sie Lissabons legendären Diebesmarkt, den feira da ladra, und stöbern dort nach Ihrem gestohlenen Gut. Unter all dem Ramsch und Kitsch werden Sie wahrscheinlich wiederfinden, was Sie suchen.
Wenn Ihnen das alles zu aufreibend klingt, nehmen Sie vielleicht doch lieber ein Taxi vom Flughafen, einen Mietwagen oder den Aerobus. Oder reisen Sie mit Stil an, so wie Gentleman Jeremy Irons in der gleichnamigen Verfilmung des Buches „Nachtzug nach Lissabon“. Dann erreichen Sie, wie genannter Schauspieler, den Fernbahnhof Santa Apolónia mit dem Zug. In aller Gemächlichkeit, passend zur Stadt. Sie müssen ja nicht über Nacht gefahren sein und auch nicht aus Bern kommen wie Pascal Merciers Romanheld.
Egal, wie Sie in Lissabon eintreffen: Hauptsache, Sie steigen im Zentrum aus. Und vergessen Sie vorerst Ihre Unterkunft und etwaige Termine. Weder die Sehenswürdigkeiten der Stadt noch ihre Köstlichkeiten wie bacalhau oder pastéis de nata laufen Ihnen davon. Fahren Sie direkt nach Ihrer Ankunft zum Praça do Comércio, einst einer der größten Plätze der Welt, immer noch einer der prächtigsten. Die nächstgelegene Metrostation dafür heißt Terreiro do Paço. Steigen Sie dort aus, gehen Sie die Treppen hoch, überqueren Sie den majestätischen Platz, der an drei Seiten von gleichen Fassaden umschlossen wird und an der vierten, nach Süden gerichteten Seite zum Tejo hin offen liegt. „Selbst den anspruchsvollen Reisenden wird der Anblick dieses Platzes überraschen“, schreibt Lissabons bekanntester Dichter, Fernando Pessoa, in seinem Werk „Mein Lissabon“. Stolpern Sie über unebene Pflastersteine im Boden, aber fallen Sie nicht hin! Und falls doch, stehen Sie wieder auf und lachen darüber. Das gehört dazu. Jeder stolpert mal in Lissabon, genauso die lisboetas. Pois é!? Also, was soll’s!?
Lassen Sie sich unterwegs von einem dubios aussehenden Mann, der billige Fälschungen von Markensonnenbrillen verkauft, ansprechen, ob Sie Haschisch, Marihuana oder Kokain brauchen. Kaufen Sie nichts davon, auch wenn Sie es reizvoll finden – sogar die Lissabonner Polizei warnt mittlerweile mit Plakaten vor diesen Schwindlern. Es sei denn, Sie wollen für sündteures Geld Marzipan, Mehl oder Lorbeerblätter kaufen, die sich höchstens zum Kochen eignen.
Gehen Sie bis zum Kaiufer, dem Cais das Colunas, wo voller Eleganz zwei Säulen aus dem Wasser ragen, auf denen gern Möwen stehen und auf Gott weiß was warten, vermutlich auf eine Mahlzeit. Sie repräsentieren Weisheit und Andacht – die Säulen, nicht die Möwen –, wurden nach dem großen Erdbeben 1755 errichtet und sollen Replikas der Säulen des Salomonischen Tempels von Jerusalem sein. Diesen mit Sicherheit nobelsten Ein- und Ausgang Lissabons, das Tor von und nach Europa, nutzten einst viele historische Figuren. Etwa Königin Elizabeth II., als sie vor über sechzig Jahren der Stadt per Schiff einen Besuch abstattete – und Lissabon über ebendiesen Kai aus Marmor durch die beiden Säulen hindurch betrat. Oder der konservative und autoritäre Ex-Präsident Portugals, General Óscar Carmona, Vorgänger und rechte Hand von Langzeitdiktator António de Oliveira Salazar – zwei kontroverse, aber wichtige Lissabonner Namen, waren sie doch die Gehirne und Gründer des faschistisch geführten Estado Novo.
Vom Cais das Colunas aus unternahm General Carmona 1938 und erneut 1939 als erstes Staatsoberhaupt Portugals Reisen in die afrikanischen Kolonien São Tomé und Príncipe, Kapverden, Angola und Mosambik. Am Kai wurde er feierlich verabschiedet und empfangen – und diese historischen Besuche wurden für die Nachwelt in den Säulen verewigt, deren Gravuren heute noch zu lesen sind. Für die wenigen der über 500 000 Einwohner, die davon wissen, sind diese imperialistischen Inschriften ein Schandfleck der Stadt in diesem sonst sehr friedlichen Ambiente.
Und vielleicht nicht unmittelbar von ebendiesem Kai aus, aber sehr wohl von Lissabon machten sich zwischen Juni 1940 und Dezember 1941 Tausende Migranten mit dem Schiff auf den Weg in eine neue Welt. In den Wirren des Zweiten Weltkriegs kehrten sie Europa gezwungenermaßen den Rücken, in der Hoffnung, dass der Atlantik sie von den Barbareien Hitlers trennen würde. Portugal, das den Krieg zunächst nur aus den Schlagzeilen der Zeitungen kannte, verhielt sich unter Diktator Salazar zwar neutral, sympathisierte jedoch mit Hitler und Mussolini. Ein Erlass Salazars, aus Deutschland fliehenden Juden nicht zu helfen, wurde dank einiger stiller Helden inner- und außerhalb Lissabons umgangen. Sie gewährten Flüchtlingen eine Zeit lang einen sicheren Korridor durch ihr Land, ermöglichten ihnen die Reise nach Amerika von Europas einzigem freien Hafen aus, jenem letzten Ort der Hoffnung.
Einst die wichtigste Handelsstadt der Welt, erlangte Lissabon in den Kriegsjahren somit erneut Weltruhm. Diesmal als „Wartezimmer“ für die im Transit lebenden Männer und Frauen, die sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit den Nazi-Spionen lieferten, welche in der Stadt gezielt nach Dissidenten und Geflüchteten Ausschau hielten. Antoine de Saint-Exupéry, Salvador Dalí, Peggy Guggenheim, Hannah Arendt, Max Ernst und Jean Renoir waren nur einige der Persönlichkeiten, die auf ihrem Weg ins Exil in Lissabon haltmachten, in den vielen Cafés der Stadt ausharrten, abends Zeitungspapier auslegten und auf den Böden schliefen. Die Lichter der Stadt am Tejo waren das Letzte, was sie vom kriegsverdunkelten Europa zu sehen bekamen.
Kehren wir aus der Geschichte zurück in die Gegenwart, zurück zu Ihnen. Atmen Sie tief ein und wieder aus. Dreimal. Sie haben es geschafft! Sie sind am Ziel angekommen!
Und jetzt: Realisieren Sie, wo Sie sind.
Riechen Sie den Fisch, um den sich die Möwen zanken. Schmecken Sie die salzige Luft. Vor Ihnen fließt der Tejo, der nach tausend Kilometern quer durch die iberische Halbinsel kurz hinter Lissabon in den Atlantik mündet. Beobachten Sie das Spektakel, das sich vor Ihren Augen abspielt, wenn Segelschiffe, Fähren, Kreuzfahrtriesen und Frachter einander Platz machen und wegnehmen – während kleine Fischerboote und Kajakfahrer versuchen, sich durchzuschlängeln.
Sie befinden sich in der westlichsten Hauptstadt des europäischen Festlandes. Hier, wo Ihre Schritte enden, beginnen Wellen ihren Lauf um die halbe Welt. Richtung Sonnenuntergang gibt es ziemlich lange nichts außer Wasser. Aber nicht nur das: Sie sind nicht einfach irgendwo an Europas Rand, zwei Meter über dem Meeresspiegel, dem Ende der Welt, wie es die Seefahrer einst tauften, die von Lissabon ihre Eroberungs-, Handels- und Erkundungsfahrten starteten. Sie sind nun Zeitzeuge einer Stadt, die sich rasant verändert. Die bei Ihrem nächsten Besuch, vielleicht schon im Folgejahr, eine völlig andere sein wird – Großprojekte wie Metro oder Flughafen einmal ausgenommen: noch lebendiger, lauter, lustiger.
Das passiert doch mit allen Städten dieser Welt, meinen Sie? Mag sein, aber nicht in diesem Tempo. Lissabons Entwicklung verläuft steil bergauf. Keine europäische Hauptstadt verändert sich so schnell wie diese, kaum eine Metropole hat in den vergangenen Jahren einen größeren Besucherandrang erlebt. Diese beiden Faktoren hängen natürlich zusammen. Denn Lissabon hat Hunger nach Moderne und nach 48-jährigem Dornröschenschlaf – bedingt durch Europas längste rechtsgerichtete Diktatur – großen Nachholbedarf nach all den Errungenschaften, die in anderen europäischen Hauptstädten längst zum Alltag gehören: von einem funktionierenden Flughafen und einem barrierefreien Zugang der Stadt für Rollstuhlfahrer über vegane Hipsterbars, Bioläden und Yogastudios bis hin zu einer lückenlosen Versorgung mit Strom und Wasser für die Bewohner.
Darum: Nehmen Sie Kenntnis von dieser Stadt! Saugen Sie alles auf. Nutzen Sie Ihre Sinne. Ziehen Sie Schuhe und Socken aus, um an Ihren Fußsohlen den aufgeheizten Steinboden des Kaiufers zu spüren, der von Wind, Meersalz und Zeit angefressen wurde und sich anfühlt wie versteinerter Emmentaler. Blicken Sie nach rechts zu Jesus, der schützend seine Arme über Lissabon ausbreitet, und zur Brücke des 25. April, die beide Tejoufer miteinander verbindet. Blinzeln Sie in die Nachmittagssonne, die ein pastellfarbenes Licht auf die Häuser wirft. Blicken Sie nach links zu den ankommenden und ablegenden Fähren, die auf die andere Seite des Flusses übersetzen. Hören Sie die Nebelhörner, die Kirchenglocken, die Wellen, wie sie sanft an den Kai schwappen. Schauen Sie sich um: Ist der Mann noch immer da, der täglich aufs Neue Sandburgen und -figuren baut? Jonas Cardoso Neguinho ist sein Name. Sagen Sie ihm Bom dia – oder Boa tarde, falls sich die Sonne bereits senkt und die letzten Strahlen Ihre Haut wärmen. Schütteln Sie Jonas’ Hände, spüren Sie die Schwielen, die er vom täglichen Bau seiner Sandskulpturen hat, deren größter Feind die Gezeiten sind – und randalierende Jugendbanden, die seine Kunst über Nacht mutwillig zerstören. Lassen Sie sich von ihm erzählen, wie willkommen er sich als brasilianischer Migrant in der portugiesischen Hauptstadt fühlt. Nutzen Sie die Chance – bei Ihrem nächsten Besuch ist er vielleicht nicht mehr hier. Pois é! So ist das.
Und wenn Sie nun dastehen, verschwitzt, gereizt, hungrig, ausgetrocknet, mitteleuropäisch: Schnaufen Sie trotzdem durch, lassen Sie los. Diese Stadt wird sich gut um Sie kümmern und Sie verwöhnen – versprochen! Solange Sie ihr unvoreingenommen und offen begegnen, kann gar nichts schiefgehen.
Sie sind nun in Lissabon. Bem-vindo, willkommen!
Gute Küche, schlechter Service
Das erste Aufeinandertreffen mit dem Kellner im Santa Rita ist ein wortloses. Schweigend räumt er den Tisch ab, bedeckt ihn mit einem Papiertischtuch so sorgfältig, als würde er ein Kind wickeln, stellt einen Brotkorb, Butter und eingelegte Oliven ab. Wahrscheinlich lächelt er Sie herzlich an.
Dann passiert lange nichts.
Wenn Sie glauben, Sie könnten vorschnell agieren und bei dieser Gelegenheit gleich Ihre Bestellung aufgeben, da Sie – organisiert, wie Sie sind – bereits die Menükarte vorab studiert und ausgewählt haben, was Sie essen möchten: Vergessen Sie es gleich wieder. Der Kellner hört sich Ihre Wünsche an, wenn er dazu bereit ist, nicht, wenn Sie es sind. Irgendwann, wenn Sie nach langem Warten denken, Teil der Einrichtung zu werden, baut er sich vor Ihnen auf, zückt seinen Notizblock und freut sich darauf, Ihre Bestellung aufzunehmen, vielleicht sogar noch mehr als Sie: als ob er ein altes Ritual zelebrieren würde.
Wenn Sie Glück haben, nimmt er auf, was Sie wollen. Vielleicht sagt er Ihnen aber, was Sie essen werden. Einmal erlebte ich, wie ein britisches Ehepaar nach Hamburgern fragte. Der Kellner, es war José, fing an, wild mit den Armen zu fuchteln, und rief: „Hamburger? Estamos em Portugal. Wir sind in Portugal. Sie essen hier sicher keine Hamburger! Sie essen heute Dorade.“ Und damit war die Bestellung abgeschlossen, José wieder fort, die Gäste erstaunt – und zu Recht beschämt.
Mit Sicherheit wird Ihnen José oder sein Kollege Clemente einreden, den Hauswein zu trinken, am besten gleich einen mittelgroßen Krug. Widersetzen Sie sich nicht, lassen Sie es einfach geschehen. Leicht angeschickert lässt sich die Stadt genauso gut erkunden.
Restaurants, Fressbuden und churrascarias, Grillläden, gibt es in Lissabon wie Sand am Meer. Und wie die Strände sich durch die Gezeiten verändern, so wandelt sich die Gastronomieszene dieser Stadt in regelmäßigen Abständen. Zwar nicht im selben Rhythmus, aber ähnlich im Ergebnis: Nichts ist mehr, wie es vorher war. Die tasca ums Eck, Lissabons urtypische Ess- und Trinktaverne, die vor einem Jahr noch gut lief, musste weichen: einer Fast-Food-Kette, einem Investor, der ein überteuertes Café plant, das sich auf selbst gerösteten Bio-Fair-Trade-Kaffee spezialisiert, oder einem anderen hippen Genusstempel. Wo vor Kurzem noch eine Straße abrissreifer Hausruinen stand, protzen nun Szenelokale, Lounges und Bars im Parterre. Bereits existierende Betriebe laufen so gut, dass sie ausbauen, anbauen, umbauen oder sich gar zu einer Kette ausweiten.
Lissabon expandiert rasend schnell. Alfama, Bairro Alto, Chiado und Cais do Sodré, die die längste Zeit als coole Viertel galten, ziehen zwar noch immer die Massen an, treten aber mehr und mehr in den Hintergrund. Die Hipsterfizierung geht munter weiter, sucht und findet alte Orte mit leer stehenden Fabrikgebäuden und Lagerhallen, um ihnen neuen Glanz einzuhauchen. In den vergangenen Jahren wurde es um die LX Factory in Alcântara sehr laut, ebenso um das bairro Príncipe Real. Derzeit mausern sich Beato und Marvila zu den neuen In-Vierteln der Stadt, mit Coworking-Arbeitsplätzen, Kunstevents, Start-ups, Geschäften voll recycelbarer Stoffe oder Vintage-Schmuck, Bartpflegeläden und Restaurants mit veganer Bioküche.
Wohin also gehen, um gut zu essen? TripAdvisor und Lonely Planet vertrauen? Den Empfehlungen der lisboetas folgen? Die Gourmetklassiker wie Ramiro oder José Avillez aufsuchen? Mit der Fähre rüber nach Cacilhas zu O Farol?
Ganz ehrlich: Eigentlich ist es egal!
Selten, aber doch höre ich von Besuchern, dass sie schlecht gegessen hätten in Lissabon. Mir ist das unerklärlich. Selbst die Touristenfallen im Stadtzentrum, deren Kellner mit ausgebreiteten Speisekarten und falschem Lächeln Passanten ins Lokal locken, bieten – wenn auch völlig überteuert und nicht gerade mit Liebe zubereitet – immer noch annehmbare Küche, die schmeckt. Keine Gourmetwunder, aber ordentliche Kost.
Lissabon ist ein Paradies für foodies, also für Liebhaber von Speisen und Getränken – und hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren diesen Titel wahrlich verdient. Allen voran durch Michelin-Sternekoch José Avillez, wenngleich dieser nur die Spitze von Lissabons kulinarischem Eisberg ziert. Mittlerweile gibt es in der Metropolregion acht verschiedene Restaurants mit Michelin-Stern, einige davon tragen sogar zwei.
Olivenöl, Salz, Pfeffer und Knoblauch galten in Portugal die längste Zeit als Standard-Ingredienzen zum Würzen von Speisen. Einfach und traditionell, so wie Diktator Salazar das wollte, um seine Schäfchen nicht auf kulinarische Gedanken zu bringen und zum Aufbegehren zu verleiten. Zwar ist so manches Gericht historisch bedingt französisch, spanisch oder arabisch angehaucht, von den Kochkünsten seiner vielen Kolonien haben sich die Portugiesen allerdings nie wirklich inspirieren lassen. Bis zur Expo 1998, als die Welt in Lissabon zu Gast war. Seitdem hat sich in den heimischen Küchen etwas Neues entwickelt, auch mit ausländischen Zutaten und Techniken. Seitdem kommt es laufend zu Fusionen und eröffnen neue Restaurants. Zahllose Restaurants. Mittlerweile kann man in Lissabon genauso gut essen wie in New York, Lima, London oder Paris – nicht nur in erstklassigen, alteingesessenen tascas und Lokalen, die traditionelle Gerichte servieren, sondern ebenso in modernen Kochstuben, die man noch vor fünfzehn Jahren vergeblich gesucht hätte.
Also, vertrauen Sie Ihrem Instinkt, und betreten Sie Restaurants, die Ihnen auf den ersten Blick nicht ins Auge springen. Auf die Art entdeckte ich vor einigen Jahren das Santa Rita, ein Bilderbuchbeispiel portugiesischer Gastronomie: gute Küche, schlechter Service. Unscheinbar von außen, unspektakulär von innen. Fernab von Michelin und Co. Einst eine Hufschmiede, später eine Zementfabrik, heute ein Raum mit siebzig Sitzplätzen, auf denen mittags wie abends die Gäste Platz nehmen: Bauarbeiter neben Galeristen, Anwälte neben Fotografen, Beamte neben Polizisten, lisboetas neben ausländischen Besuchern. Reichen die Tische nicht aus, zaubern die Kellner von irgendwo Holzplanken her und schaffen zwanzig weitere Plätze, indem sie die Tische zu Tafeln verlängern. Die steinernen Arkadenbögen am Gewölbe haben etwas Altertümliches. Dem gegenüber stehen die Zeichen der Moderne: elektrisches Licht, das in wagenradförmigen Lüstern den hohen Raum erhellt. Das Restaurant ist schlicht und zugleich altmodisch.
Seinen Namen verdankt das Santa Rita einer italienischen Nonne, die zugleich Schutzpatronin der Metzger und jene Heilige ist, zu der die Menschen in aussichtslosen Fällen beten. Rita zu Ehren prunkt eine Statue mitten auf der Theke.
Denn eine ihrer größten Verehrerinnen war Conçeicão Pinto, die als dona, also als Restaurantgründerin, bis vor wenigen Jahren selbst hinter der Bar wankte, bevor sie zu ihrer Angebeteten in den Himmel aufstieg – oder, wie man in Lissabon sagt: Ela fui com os porcos – Sie ging mit den Schweinen. Sie „wankte“ nicht etwa, weil die Besitzerin selbst ihre beste Kundin gewesen und dem Hauswein verfallen war, sondern weil sie ihren kreisrunden Leib bei jedem Schritt im Wiegegang mit sich schleppte, eingepackt in eine weiße Kittelschürze. Ihr Haar versteckte sie unter einer Kochhaube, ihre Beine waren mit Wasser gefüllt und in schwarze Wollstrümpfe gepackt, aber ihre Laune glich der eines heiteren Schulmädchens. Warum auch nicht? Die Bude war stets rammelvoll. Und ist es noch immer, weshalb es sehr laut werden kann: Gespräche, Stühlerücken, Geschirrklappern, Gläserklirren – die Musik der Gastronomie. Dafür bleiben die Gäste mit Liedern aus dem Lautsprecher verschont. Seit Conçeicão Pintos Abgang erinnern einige Fotos an den sonst kahlen Wänden an die Verstorbene, die gute Seele des Lokals.
An ihrer Stelle steht heute die weitaus agilere Schwiegertochter, Teresa Jesus, und wacht über die Kellner im Santa Rita, die bedienen, wann es ihnen beliebt und wenn es ihre Zeit erlaubt. Sie machen das nicht aus böswilliger Absicht, ihr Rhythmus und ihr Tempo sind einfach andere, flexiblere. Lisboetas müssen die Herausforderungen in ihren Leben, egal welche, nicht im Eiltempo erledigen und umgehend ein Resultat sehen. Das wäre völlig unportugiesisch – und gerade diese Eigenschaft macht die Menschen so sympathisch.
Etwa die beiden Kellner José und Clemente, die zusammen 121 Jahre zählen. Für sie gilt es die vorwiegend portugiesischen Gäste, die mit der Dehnbarkeit des Zeitbegriffes bestens vertraut sind und diese ebenso zelebrieren, zu unterhalten. Das gehört zum Spiel. Es sind nur Besucher aus dem Ausland, die sich an der hiesigen Zeitmessung stoßen. Gehen Sie daher niemals hungrig essen – oder bringen Sie zusätzlich zum Hunger am besten eine Portion Geduld mit. Und wenn Sie allein speisen, vielleicht auch ein Buch. Hilft das nichts, können Sie immer noch die Heilige Rita anbeten, ein zeitliches Wunder zu vollbringen. Dafür ist sie ja da.
Vielleicht schwatzen Ihnen die Kellner feijoada de marisco auf, einen Bohneneintopf mit Meeresfrüchten, bacalhau à lagareiro, in Olivenöl getränkten Stockfisch, oder bacalhau espiritiual, den „spirituellen“ Stockfisch, eine Spezialität des Hauses, deren Ursprung in der französischen Küche liegt. Wehren Sie sich nicht gegen diese Empfehlungen – alles ist vorzüglich, Sie können also nichts falsch machen. Egal, wie oft ich bereits im Santa Rita war, ich entdecke jedes Mal aufs Neue ein Gericht, das ich noch nicht probiert habe. Dabei dachte ich, die Karte bereits in- und auswendig zu kennen. Am sympathischsten finde ich jene Speisen, die nicht nur gut schmecken, sondern auch gut klingen wie lulas deliciosas, die „köstlichen Tintenfische“, oder sonhos de camarão, die „traumhaften Garnelen“. Letztere sind übrigens ein portugiesisch-chinesisch fusioniertes Gericht.
Ist die Bestellung, egal welche, einmal durch, geht es gleich zur Sache. Die Köche im Santa Rita arbeiten wesentlich flinker als ihre Kollegen im Service, sind ihnen allerdings numerisch auch weit überlegen, da vorwiegend nur die beiden genannten Kellner arbeiten. José und Clemente sind fleißig, dennoch haben sie, ihrem Alter entsprechend, ein paar Gänge zurückgeschaltet. Das zeigt sich dann, wenn das fertige Gericht auf der Theke vor sich hin dampft, bereit, dem Gast serviert zu werden – während der Kellner allerdings indisponiert ist. Kommen Sie keinesfalls auf die Idee, aufzustehen und den Teller selbst zu holen, auch wenn das verlockend ist, da Ihnen der Magen knurrt! Ihr Essen kommt, wenn der Kellner dazu bereit ist, nicht, wenn Sie es sind.
Vielleicht ist es dann sogar das Gericht, das Sie oder er bestellt haben. Vielleicht ist es aber auch etwas ganz anderes. Wenn Sie Glück haben, erhalten Sie eine Portion mehr, wenn Sie Pech haben, einen Teller weniger. Nehmen Sie es, wie es kommt. Ausgezeichnet wird es in jedem Fall schmecken.
Wenn Sie aufgegessen haben, Kaffee und Dessert in Ihrem Magen arbeiten und Sie eigentlich nur noch auf die Rechnung warten, wird Ihre Geduld noch einmal so richtig auf die Probe gestellt. Sie können diesen Prozess auch nicht abkürzen, indem Sie dem Kellner winken, dreimal „A continha, por favor!, Die Rechnung, bitte!“ rufen, böse zum Personal schauen oder an die Bar gehen, um dort das Geld auf den Tresen zu legen. Sie bezahlen, mittlerweile wissen Sie es bereits, wenn der Kellner dazu bereit ist – und wieder: Er macht das nicht, um Sie zu ärgern, sondern weil er die einfache Formel befolgt, die scheinbar alles entschuldigt – selbst den nicht suchenden Blickkontakt: Estamos em Portugal.
Dafür kann es noch einmal umso unterhaltsamer werden: Einer der beiden kommt, kritzelt irgendwelche Beträge auf das benutzte Einwegtischtuch, nennt die errechnete Summe mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht, nimmt Ihr Geld entgegen und verschwindet damit. Später kehrt er verwirrt zurück, murmelt etwas vor sich hin, während er in seinem Notizblock stöbert und das Gekritzelte auf dem Tisch ausbessert, bis die Summe eine andere ist. Wahrscheinlich zu seinen Gunsten – das suggeriert zumindest sein Lächeln, das nun ein erhabenes, aber freundliches ist. Zahlen müssen Sie dennoch, auch hier bleibt Ihnen keine Wahl.
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