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Gebrauchsanweisung für Mexiko

Gebrauchsanweisung für Mexiko - eBook-Ausgabe

Peter Burghardt
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„Sehr informative und wohldosierte Zugänge, die auch die persönlichen Vorlieben und Erfahrungen des Autors anschaulich thematisieren. Sprachlich pointiert und korrekt.“ - bn Bibliotheksnachrichten (A)

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Gebrauchsanweisung für Mexiko — Inhalt

Feuerberge, Regenwälder und Tauchparadiese, magische Pyramiden und prächtige Haziendas – der langjährige Mexiko-Kenner Peter Burghardt geht mit uns auf Entdeckungstour: von der Westernstadt Los Mochis bis zum Wüstenort Chihuahua; von Tulum, wo uralte Ruinen und weiße Sandstrände aufeinandertreffen, bis nach Mexiko-Stadt, wo zwischen Wolkenkratzern und kolonialen Zaubervierteln das Nachtleben pulsiert. Fundiert und voller Neugier erkundet er die unzähligen Facetten eines Landes, in dem mehr Sprachen gesprochen werden als in Europa und das Alejandro González Iñárritu ebenso wie Frida Kahlo zu seinen prominenten Kindern zählt. Dessen Nationalgetränk aus Agaven hergestellt wird. Das neben duftenden Straßenküchen mit einer weltbekannten Spitzengastronomie aufwartet und in seinen Liedern die unsterbliche Liebe heraufbeschwört.

€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 02.10.2017
224 Seiten
EAN 978-3-492-97755-5
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Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Mexiko“

Wo fängt man an in diesem sagenhaften Land? In Tulum im mexikanischen Südosten, wo Freunde der Archäologie gleich unter den Ruinen der Maya am weißen Sandstrand in der Karibik baden können? Mehr Postkarte geht kaum. In der Eisenbahn namens Chepe, die sich jeden Tag durch den Kupfercanyon und das Reich der indianischen Wunderläufer im Nordwesten windet? Auf dem Kopfsteinpflaster von San Miguel de Allende mit seinen kolonialen Plazas und US-amerikanischen Rentnern? Auf der Sonnenpyramide von Teotihuacán, einst Hort der Götter und Zentrum Amerikas? Auf dem [...]

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Wo fängt man an in diesem sagenhaften Land? In Tulum im mexikanischen Südosten, wo Freunde der Archäologie gleich unter den Ruinen der Maya am weißen Sandstrand in der Karibik baden können? Mehr Postkarte geht kaum. In der Eisenbahn namens Chepe, die sich jeden Tag durch den Kupfercanyon und das Reich der indianischen Wunderläufer im Nordwesten windet? Auf dem Kopfsteinpflaster von San Miguel de Allende mit seinen kolonialen Plazas und US-amerikanischen Rentnern? Auf der Sonnenpyramide von Teotihuacán, einst Hort der Götter und Zentrum Amerikas? Auf dem Zócalo von Mexiko-Stadt, dem Riesenquadrat in einer der größten Städte der Erde, erbaut auf den Trümmern aztekischer Hochkultur?

Man kann sich natürlich auch erst mal in den Innenhof des Restaurants „Los Danzantes“ von Oaxaca setzen und den goldgelben Mezcal der Hausmarke bestellen. Passt ausgezeichnet zur krossen Tortilla Huarache (nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Sandale) mit Feigenkaktus Nopal, Huitlacoche-Pilzen, gerösteten Grashüpfern und geschmolzenem Käse der Region. Chili und Agavenschnaps brennen majestätisch im Rachen. Oder man liegt mit tief gekühltem Bier an der Playa Zicatela von Puerto Escondido und schaut den Monsterwellen mit den Surfern zu. Oder man trinkt in der hauptstädtischen Colonia Roma, dieser Variante des Prenzlauer Bergs, mit der Boheme Espresso aus Bioplantagen in Chiapas. Und sieht in der Zeitung nach, was in den Kinos und Theatern läuft oder wie sich der Fußballklub América blamiert.

Mexiko hat 128 Millionen Einwohner auf einem Gebiet, in das Deutschland fünfeinhalb Mal hineinpasst. Oben die reiche Supermacht USA. Unten das arme Guatemala. Links und rechts zwei Ozeane, dazwischen Strände, Städte, Urwälder, Berge, Wüsten, Schluchten, Seen. Von der schattenlosen Hitze bis zum Frost der Fünftausender. Das perfekte Roadmovie. Mexiko besitzt mehr UNESCO-Welterbe als die USA, Ägypten oder Griechenland. Palenque, Chichén Itzá, Monte Albán und so weiter. 34 Adressen. Monumente, Museen und Historie an jeder Ecke. Eines der beliebtesten Ziele des Planeten. 35 Millionen Touristen 2016 – trotz zahlreicher Horrormeldungen in den vergangenen Jahren.

Ich entdeckte Mexiko vor mehr als zwei Jahrzehnten, also knapp ein halbes Jahrtausend nach den Konquistadoren. Ich staunte zunächst wie die meisten Debütanten. Bereits der Anflug auf diese Ciudad de México alias D. F., de effe (Distrito Federal, Bundesdistrikt) – ein Spektakel. Das Flugzeug fliegt am Ende eine kleine Ewigkeit lang über Häuser, Straßen, Plätze. Mehr als 20 Millionen Menschen leben allein auf diesem ehemaligen See und Imperium der Azteken, umringt von Vulkanen. Bei Nacht ist es ein Meer der Lichter. An guten Tagen zeigen sich über den Ausdünstungen des Molochs die Feuerberge, manchmal sendet der Popocatépetl Rauchzeichen. Dann geht die Maschine mehr oder weniger mitten in diesem urbanen Versuchslabor nieder. Auf 2300 Metern dröhnt Flachländern im Smog der Schädel, und das Taxi steckt im Monsterstau. Ruhe bewahren. Es lohnt sich.

Andere erreichen diese Estados Unidos Mexicanos aus dem Norden. Über die Grenzen von San Diego in den Vereinigten Staaten von Amerika nach Tijuana oder von El Paso nach Ciudad Juárez, zwei der meistbenützten Übergänge weltweit. Oder über Baja California und den Golf von Kalifornien. Europäer oder Nordamerikaner füllen eine dieser neuen Einreisekarten aus, zeigen ihren Pass vor – Stempel rein, das war’s. Mexikaner und Mittelamerikaner ohne Visa lassen sich in der anderen Richtung irgendwo durch die Steppe schmuggeln. Über den Río Bravo alias Rio Grande und Zäune, die Donald Trump im Rahmen seiner monumentalen Idiotie in eine Mauer verwandeln möchte. Millionen Urlauber betreten Mexiko in Cancún, dieser Kopie von Miami Beach auf der Halbinsel Yucatán. Vor der Landung sehen sie bei passender Route und Sicht die Isla de Mujeres, die Fraueninsel, und die aparte Isla Holbox. Freunde der Feldbegehung gelangen von der guatemaltekischen Seite aus in den Süden Mexikos. Besonders bei Immigranten ohne Papiere aus Honduras oder El Salvador ist diese Strecke notgedrungen populär, ein Drama.

Schon diese Lage zwischen den Welten erzählt viel. Geografisch, politisch und wirtschaftlich gehört Mexiko zu Nordamerika, obwohl Mr. Trump diese Verbindung offenbar kappen will. US-Bundesstaaten wie Kalifornien oder Texas und US-Metropolen wie Los Angeles (Die Engel) oder San Francisco (Heiliger Franziskus) waren mexikanisch. Mexiko verbindet eine Hassliebe mit den Gringos, unter denen Millionen Mexikaner leben. Die Wurzeln der Republik allerdings liegen woanders. Die Azteken nannten sich Mexica, daher der Name Mexiko; México soll in der Aztekensprache Náhuatl der „Nabel des Mondes“ gewesen sein und nach einer anderen Theorie der Ort des Gottes Huitzilopochotli. In Mexiko-Stadt gibt es die Plaza de las Tres Culturas, den Platz der Drei Kulturen, mit Resten des präkolumbischen Tlatelolco, Kirche und Konvent der Spanier und modernen Gebäuden der Mestizen. Große Symbolik.

Hipster feiern ihre Partys auf Resten eines versenkten Weltreichs, das hat Stil. Schon die spanischen Invasoren waren verzückt, ehe ihr Kreuzzug seinen Lauf nahm. Damals verschleierte noch keine Wolke aus Abgasen die Hochebene. Noch immer ist Mexiko ein Fest für alle Sinne, auch wenn die Augen brennen. Das Licht. Die Farben. Die Gerüche. Der Geschmack. Die Geräusche. Die mexikanische Melange ist das Ergebnis einer irren Geschichte. Sie handelt unter anderem vom Aztekenkaiser Moctezuma, vom Spanier Hernán Cortés und dem Verrat der Malinche, von schnauzbärtigen Revolutionären und einer unvergänglichen Revolutionspartei.

Mexiko brodelt und wackelt, es hat Aufstände erlebt und Erdbeben, Wirbelstürme und Überschwemmungen, Währungskrisen und Politchaos. Der Drogenkrieg dauert an. Unbeteiligte betrifft das in der Regel nicht, doch das macht die Sache nicht besser. Auch kleben an kaum einem anderen Land so feste Etiketten. Sombrero, Mariachis, Tequila. Nicht jeder Fremde weiß, dass Tequila kein billiger Fusel sein muss, sondern ein teurer Tropfen sein kann. Und dass unterdessen Mezqual in Mode ist, ohne Wurm. Es kann einem am kommenden Morgen so oder so erbärmlich gehen, ich spreche aus Erfahrung.

Die Agavenlandschaft von Tequila bei Guadalajara gehört genauso zu den UNESCO-Denkmälern wie das Reservat der Schmetterlinge in Michoacán. Auf keinem anderen Territorium der Welt wird mehr Spanisch gesprochen als in Mexiko mit seinen mehr als 125 Millionen Bewohnern. Andererseits sprechen ungefähr zwölf Millionen mexikanische Ureinwohner mehr als 60 indigene Sprachen. Eine meiner besten Freundinnen ist Grafikerin und trägt den wunderbaren Namen Xóchtil, das heißt im Idiom der Azteken Blume. Als Trump begann, die Mexikaner zu beleidigen und mit der Mauer zu drohen, schrieb ich ihr auf Whatsapp. Sie antwortete: „Schön, dass wir uns noch mal grüßen, bevor die Welt untergeht.“ Eine andere Freundin, die zwischendurch einen baskischen Meisterkoch heiratete und nach Spanien zog, ist ebenfalls stolz auf ihre Gesichtszüge. Sie stammen auch von ihrer Großmutter, einer Tarahumara.

Mexiko zählt zu den 20 führenden Industriestaaten, bei der Handelskammer waren 2017 allein 1900 deutschstämmige Betriebe gemeldet. Einer der reichsten Menschen unter dieser Sonne ist Mexikaner: Der Magnat Carlos Slim hatte zwischenzeitlich noch mehr Geld als Bill Gates, laut Forbes 77,1 Milliarden Dollar. Man kann seinen Telefonlinien, Restaurants, Kaufhäusern oder Kunstwerken kaum entkommen. Gleichzeitig müssen ungefähr 50 Millionen Mexikaner mit ein paar Pesos am Tag auskommen. Die einen machen an der Börse ein Vermögen, die anderen schrauben in Fabrikhallen US-Fernseher zusammen, machen Penthäuser sauber oder verkaufen geschnittene Mangos mit Chilipulver. Indigene werden häufig behandelt wie folkloristische Statisten, die putzen, an Garküchen stehen oder irgendwelchen Schmuck verscherbeln.

Mexiko hat rasend schnelles Breitbandinternet und beherbergt Scharen von Analphabeten. Mexiko ist magisch und konfus, überfüllt und leer, heiß und kalt, bunt und grau, sanft und brutal, konservativ und tolerant, katholisch und bizarr. Der französische Schriftsteller André Breton nannte Mexiko das surrealste Land der Welt, und er hatte den Surrealismus immerhin erfunden.

Mexiko hat der Menschheit den Mais beschert, die Schokolade, die Avocado. Mexiko isst gut und viel und oft scharf, süß, fett; Übergewicht ist inzwischen häufiger als Unterernährung. Mexiko war die Bühne des filmreifen Malerpaares Frida Kahlo und Diego Rivera, vor deren Haus die Fans Schlange stehen. Mexiko ist verrückt nach Seifenopern, Klatsch und Kitsch – und hat tiefsinnige Schriftsteller wie Carlos Fuentes hervorgebracht, wie Juan Rulffo und Octavio Paz. Mexiko ist die Heimat von Filmemachern wie Alejandro González Iñárritu, dem Regisseur von „Amores Perros“, „Babel“ und „Birdman“. Der Gitarrist Carlos Santana ist gebürtiger Mexikaner, die Sängerin Chavela Vargas war Mexikanerin. Luís Buñuel oder Gabriel García Márquez fanden in Mexiko ein neues Zuhause.

Mexiko hat Kunsthandwerk jeder Art zu bieten und brillante Architektur. Uralte Kultstätten, Meisterwerke des Kolonialismus, Bauhaus, Futurismus. Mexikos Botschaftsgebäude fällt in Berlin nicht zufällig auf. „Die Hände der Mexikaner wie die der Chinesen sind unfähig, etwas Hässliches zu schaffen, gleich ob aus Stein, aus Ton oder Nelken“, schwärmte in seinen Memoiren der chilenische Dichter Pablo Neruda. Das ist aus heutiger Sicht nur leicht überzeichnet, mexikanische oder chinesische Massenproduktion verwässert den Eindruck gelegentlich. Neruda war Anfang der wilden Vierzigerjahre als Generalkonsul entsandt worden. „Mexiko mit seinem Feigenkaktus und der Schlange“, schrieb er, „blühendes, stachliges Mexiko, trocken und orkanreich, gewaltig in Entwurf und Farbe, gewaltig in Eruption und Kreation, Mexiko hüllte mich ein in seine Zauberei und sein überraschendes Licht.“

Unangenehm fielen ihm seinerzeit die vielen Pistolen auf und angenehm die „stahlblaufarbigen, gelbstacheligen Agaven“ und „die schönsten Märkte der Welt“. Da lässt sich nach wie vor noch manches bestätigen. Nachvollziehbar ist auch Nerudas Bekenntnis, dass ihn die Vielfalt und die Geheimnisse überfordert hätten: „Als ich in mein Land zurückzukehren beschloss, verstand ich das mexikanische Leben weniger als bei meiner Ankunft.“

Staunenswertes, mysteriöses Mexiko. Einige Mexikaner verehren die maskierten Freistilkämpfer der „Lucha Libre“ und träumen davon, dass ihre Fußballauswahl doch irgendwann Weltmeister wird. In keinem anderen Stadion der Welt fanden mehr WM-Spiele statt als im Estadio Azteca. In Mexiko peitschen sich gläubige Büßer an Ostern die Rücken blutig, schleppen Kreuze oder schleifen Ketten über den Asphalt. Die Jungfrau von Guadalupe empfängt mehr Pilger als Mekka, dennoch hält sich mancher an Schamanen oder glaubt an eigene Wahrheiten. Mexiko feiert das Leben und huldigt dem Tod, lässt Skelette tanzen und mag Totenköpfe aus Zuckerguss.

Bei meinem ersten Besuch ging es gerade etwas widersprüchlich zu. 1994 unterschrieben die USA, Kanada und Mexiko den nordamerikanischen Freihandelsvertrag NAFTA. Im selben Jahr erklärte die Zapatistische Befreiungsarmee unter Leitung des vermummten Subcomandante Marcos der Regierung im Süden den Krieg. Die Busfahrt nach San Cristóbal de las Casas in Chiapas wurde von diversen Militärkontrollen mit Leibesvisitationen unterbrochen. Seither war ich viele, viele Male in Mexiko als Urlauber und Gast bei Freunden, monatelang als Stipendiat bei der Zeitung Reforma, fast jedes Jahr als Berichterstatter für die Süddeutsche Zeitung. Müsste ich nach etlichen Jahren als Korrespondent für Lateinamerika die möglicherweise sinnlose Frage beantworten, welches das interessanteste und reichhaltigste Land der Region ist, so würde ich trotz meiner Liebe zu Argentinien und Brasilien sagen: Mexiko.

Ich erlebte in Mexiko, wie die VW-Käfer verschwanden, die geliebten „Vochos“, die nirgendwo sonst so sehr Volkswagen waren. Ich hüpfte über unendlich viele Topes, die nervigen Bremsbuckel auf den Straßen. Ich lernte, dass mexikanische Redakteure so richtig loslegen, wenn deutsche Redakteure bereits Feierabend haben. Dass „Tacos al Pastor“ ohne Weiteres auch um vier Uhr morgens zu kriegen sind und benutztes Toilettenpapier den Abwasserleitungen zuliebe möglichst in den Papierkorb zu werfen ist. Dass Bier außer cerveza auch chela heißt, dass ahorita keineswegs sofort bedeutet und auch ein Fünfzigjähriger ein joven sein kann, ein junger Mann.

Ich fuhr mit Patrouillen den Grenzzaun ab, besuchte Migranten und Opfer der Rauschgiftmafia, Hutmacher in Kalkhöhlen, einen Priester auf der Müllhalde. Ich traf den Enkel des russischen Revolutionärs Leo Trotzki, der in Coyoacán erschlagen wurde, den tottraurigen Lyriker Javier Sicília, eine Starköchin. Ich sprach traumatisierte Polizeireporter und einen Freizeit-Jesus. Ich saß vor einem Staatspräsidenten, der Cowboystiefel trug, einen Sattel im Büro hängen hatte und vorher Manager bei Coca-Cola gewesen war, dem nationalen Lieblingsgetränk. Oft ging es um diese verdammte Schlacht.

Ja, die Gewalt ist eine Katastrophe. Es geht um Rauschgift, Routen, Märkte, Macht und Geld. Staat und Kartelle sind dabei nicht immer zu unterscheiden, das organisierte Verbrechen wuchert seit Jahrzehnten. Das Geschäft schuf Figuren wie den „Herrn der Lüfte“ oder Joaquín „El Chapo“ Guzmán, als Kokainkönig Thronfolger des Pablo Escobar. Der Schrecken nährt Bücher und Mode. Das Thema sollte jedem zu denken geben. Aber Mexiko ist für Gäste nicht gefährlicher als viele andere Reiseländer. Sie werden außer in den Nachrichten und womöglich bei einer vorbeifahrenden Polizeipatrouille wenig von der Tragödie mitbekommen. Reisen in Mexiko ist einfach, ob pauschal oder individuell. Es gibt preiswerte Herbergen, bezaubernde Kolonialhotels und abgedrehte Ressorts der Luxusliga. Einmal wohnte ich in der dampfigen Wildnis unweit von Mérida in einer Hacienda aus dem 17. Jahrhundert, Schauplatz einer Telenovela. Im steinernen Maya-Pool kam ich mir vor wie ein adliger Großgrundbesitzer. Politisch sicher nicht korrekt, aber sehr angenehm. Ein anderes Mal stand ich vor der Casa Tarzan, der Suite von Johnny Weißmüller.

WLAN ist in Mexiko häufiger zu finden als im digitalen Entwicklungsland Deutschland, gebucht werden kann lässig am Smartphone in der Kneipe. Mehrere Fluggesellschaften fliegen in Mexiko fast überall hin, sie heißen Aeroméxico, Interjet oder Volaris. Bargeld kommt wie überall aus Automaten, Kreditkarten akzeptiert fast jeder Kiosk. Nur bei manchen Geräten ist Vorsicht geboten. Busse fahren in jedes Kaff und haben bei den besseren Linien breitere Sitze als ein deutscher ICE. Die Bahnhöfe sind in Mexiko meistens Busbahnhöfe. Wobei sich niemand wundern darf, wenn Passagiere beim Einstieg nach Waffen durchsucht oder gefilmt werden.

Die mexikanische Gastronomie ist Weltklasse und übertrifft bei Weitem das, was man aus Tex-Mex-Kneipen mit Quesadillas und Guacamole kennt. Etliche Lokale sind Teil der Gourmetliga und auch Straßenstände oft eine Entdeckung, das Angebot speist sich aus vielen Provinzen und Epochen. Selbst eine Limonade aus frischen Limetten kann eine Köstlichkeit sein, wenn sie nicht überzuckert ist. Zur Gegenwehr: Con poco azúcar, por favor, „Bitte mit wenig Zucker“. Schlecht essen kann man in Mexiko auch, nicht nur in den zahlreichen US-Ketten. Wer mit dem eigenen Auto vorfährt, der sucht keinen Parkplatz, sondern drückt einem Angestellten den Schlüssel in die Hand. Valet parking nennt sich das. Dekadent. Praktisch. Das Personal ist in der Regel zuvorkommend bis unterwürfig, für Europäer bisweilen zu viel des Service.

Ich fühle mich mit Mexiko praktisch verwachsen. Über dem Mittelfinger meiner linken Hand steckt seit 20 Jahren ein billiger, aber irgendwie schöner Silberring aus San Ángel, der sich kaum mehr abziehen lässt. Und eine Reisetasche im Keller riecht auf ewig nach der mexikanischen Katze des Sohnes von Freunden. Sie hieß Nube, Wolke, und ließ sich zur Reinigung und Erholung gerne in meinem Gepäck nieder. Haustiere genießen in Mexiko große Freiheiten, ein multinationaler Konzern aus der Schweiz hat bereits seine zweite Haustierfutterfabrik in Mexiko eröffnet. Nube ist längst bei den Katzengöttern im Katzenhimmel, aber ihre Duftmarke hält sich hartnäckig. Mexiko lässt einen nicht mehr los, so oder so.

 

Vor meiner zweiten Reise nach Mexiko kaufte ich mir einen guten Anzug, ein neues Hemd sowie eine Krawatte. Das klingt jetzt für Urlauber eventuell ein bisschen abwegig, aber so musste es sein, denn ich durfte damals ein paar Monate bei der mexikanischen Tageszeitung Reforma verbringen. In deutschen Redaktionen ist es eher unüblich, dass die Mitarbeiter dermaßen geschniegelt im Büro erscheinen, sofern sie nicht besonders bedeutende Chefredakteure, Karrieristen oder Nachrichtensprecher sind. Doch bei Reforma gehört sich das so, außer freitags und am Wochenende, was mir gleich einiges über Mexikos Etikette beibrachte. Nebenbei bemerkt entsteht das seriöse Blatt in einer nach außen fensterlosen Festung: Das Gebäude sieht aus wie eine Mischung aus Palast und Gefängnis, was allerdings niemanden stört. Fenster sind hier nicht so wichtig – die Sonne scheint draußen schließlich regelmäßig, da hetzt nicht jeder ab 14 Grad ins Straßencafé wie beispielsweise in Hamburg.

Das bedeutet nicht, dass Mexikos Besucher ihre allerschicksten Klamotten einpacken müssen – außer vielleicht man hat mondäne Pläne. Doch ordentliches Aussehen kann im einen oder anderen Fall nichts schaden. Es hat abgesehen vom Mangel an anderen Jobs auch seinen Grund, dass es in diesem Land noch professionelle Schuhputzer gibt. Selten hatte ich so blitzblanke Schuhe wie nach einem Besuch auf den bequemen Hochstühlen dieser ehrwürdigen Berufsgruppe. Man erfährt dort außerdem eine Menge, wenn man einen gesprächigen aseador de calzado alias bolero erwischt, so heißen die Experten für sauberes Leder. Die Verbreitung von Turnschuhen macht ihnen leider das Leben schwer, aber selbst dem Papst Franziskus wurden auf dem Flug nach Mexiko-Stadt mit Bürste und Tuch die Schuhe gewienert. An Bord war ein mexikanischer Reporter, der sich als Kind in Tijuana auf diese Weise seine ersten Pesos verdient hatte. Umgekehrt sind das beruhigende Aussichten, falls es mit dem Journalismus schwierig wird.

Äußerlichkeiten spielen in Mexiko jedenfalls mancherorts keine unwichtige Rolle. Es fällt einem auch nicht sofort jeder um den Hals wie in meinem geliebten Argentinien, wo sich auch Männer auf die Wange küssen, sobald sie sich schon mal irgendwo gesehen haben. Mexikanern gibt man im Zweifel erst mal verklemmt mitteleuropäisch die Hand, was bei näherer Bekanntschaft dann in eine Umarmung mit herzhaftem Schulterklopfen münden kann. Bei Mexikanerinnen ist ein Küsschen nie verkehrt, in manchen Fällen werden es dann viele mehr. Komplimente: beliebt. Fotos: kommt drauf an. Besser fragen, vor allem viele Ureinwohner nervt das unverschämte Geknipse, sie fürchten um ihre Seele. Einen Knigge braucht es für den zwischenmenschlichen Umgang aber nicht, allenfalls ein wenig Gefühl.

Nettigkeiten wie Qué bueno verte! (Schön, dich zu sehen!) oder Mucho gusto! (Angenehm!) sind Standard. Cómo estás, cómo está la família, cómo están los niños? – „Wie geht’s, was macht die Familie, wie geht’s den Kids?“ Überhaupt die Familie: sehr wichtig. Von Kellnern, Verkäufern oder Taxifahrern wird man ergebene Formeln wie a sus órdenes hören oder para servirle, „zu Diensten“ oder „gern geschehen“. Ein üppiges Trinkgeld, propina, ist bei den schlecht bezahlten Bedienungen willkommen beziehungsweise ein geiziges Trinkgeld eine Beleidigung.

Wer kein Spanisch spricht: Es ist keine schlechte Idee, nicht ungefragt auf Englisch loszulegen wie viele Nordamerikaner, sondern erst mal zu erkunden: Habla inglés? Ratgeber weisen darauf hin, dass Respekt, Zurückhaltung und Floskeln am Anfang geeigneter seien als zu viel Ehrlichkeit, ansatzlose Hinweise auf Korruption und Drogenkrieg oder die argentinische Vorliebe, die Lage psychoanalytisch zu erörtern. Das mag stimmen, allerdings bin ich bei unangenehmen Themen immer wieder mit der Tür ins Haus gefallen, ohne dass mir das jemand merklich übel nahm. Ohnehin gibt es reichlich Grund, Mexikos Schönheit und das gute Essen zu preisen oder zumindest die Klassiker Fußball und Wetter zu besprechen. Kinder? Stören im Prinzip nie und nirgends, anders als zuweilen in Alemania. Und man kann praktisch jeden joven (junger Mann/junge Frau) nennen, der noch keine Rente bezieht.

Geduzt wird nicht immer, das Usted (Sie) hält sich jenseits von Freundeskreisen wacker. Die Ansprache Señor (Herr) und Señora (Frau) beziehungsweise Señorita ist bei nicht ganz jungen Unbekannten eine sichere und manchmal hartnäckige Sache. Zwei meiner Freunde siezten ihre Haushälterin Alejandra noch, als sie nach Jahren schon fast zur Familie gehörte, und die gute Alejandra nannte die Hausherren zuverlässig Señor und Señora, mit deren Vornamen. Eine empleada, eine Angestellte, gehört bereits ab der gehobenen Mittelklasse zum mexikanischen oder besser lateinamerikanischen Standard. In Europa ist schon eine gelegentliche Putzhilfe ein kleiner Luxus, aber keine Klagen an dieser Stelle.

Ein Hoch dafür auf Alejandra, die jeden Morgen mit den vollgestopften Bussen aus Iztapalapa kam. Sie hatte auch mir als Besucher die Klamotten schon gewaschen und gebügelt, kaum hatte ich sie irgendwo fallen lassen. Meine Gastgeber begleitete sie sogar mal in den Urlaub. Stets ordentlich bezahlt, was in Mexikos Kastensystem keineswegs die Regel ist. Ohne empleadas würde das klassenbewusste Mexiko zusammenbrechen, hilflose Menschen würden mit Bettlaken, Bügeleisen und Waschmaschinen kämpfen. Die empleadas schmeißen den Laden der Besserverdienenden. Und nebenbei ihren eigenen. Insgeheim ist die vermeintliche Machorepublik Mexiko vielleicht eher ein Matriarchat mit dem einen oder anderen Mamasöhnchen, das nur am Rande.

Ich dagegen nenne meinen Freund Homero bereits seit ungefähr 20 Jahren bevorzugt „Licenciado“ und er mich auch, Rituale wollen gepflegt werden. Ich sah mal, dass abgekürzt „Lic.“ auf Briefen und Zeitungen an ihn stand, das gefiel mir. „Licenciado“ steht für studiert, ein Ingenieur wie der Milliardär Carlos Slim wiederum ist el ingeniero, ein Lehrer el profesor, theoretisch zumindest. Wie in Österreich der „Herr Magister“ oder in Italien der „Dottore“. Herrlich schrullige Titel, hoffentlich nicht im Aussterben begriffen. Andererseits kenne ich Leute, die einen unauffälligen Nachnamen wie González erfinden, wenn sie am Telefon einen Tisch im Restaurant bestellen oder ein Taxi, weil sie nicht wollen, dass Fremde ihren richtigen Namen kennen, man weiß ja nie. Wobei im Falle González die Gefahr besteht, dass noch weitere 20 González reserviert haben. Es gibt auch keine Klingelschilder, auf denen steht, bei wem man gerade vorstellig wird. Das ist Gewohnheit und Vorsichtsmaßnahme zugleich.

Pünktlichkeit ist trotz tendenzieller Förmlichkeiten oft eher Kür als Pflicht, man kennt das Klischee. Mañana, morgen. Einerseits. Wenn es gegen Nachmittag ums anstehende Mittagessen ging, bekam ich häufig al rato oder al ratito zu hören. Das kann bald oder irgendwann bedeuten. Ein biegsames Wörtchen ist auch ahorita, die Verkleinerungsform von jetzt. Mir kommt der flexible Umgang mit der Uhr entgegen, denn ich bin mehr oder weniger von Geburt an unpünktlich. Andererseits gehört Mexiko zu den Ländern, in denen ich ein Flugzeug verpasst habe. Es flog einfach zu pünktlich ab. Genauso wie Mexikos Busse ihren Fahrplan häufig pingeliger einhalten als die Deutsche Bahn.

Nicht immer ganz eindeutig sind Formulierungen wie Nos ponemos de acuerdo, „Wir machen was aus“. Oder Estamos en contacto. Das ist wie „Ich meld mich“. Kann sein. Oder auch nicht. Es ist auch die freundliche Art mitzuteilen, dass man mit der Kontaktaufnahme bestimmt keine Eile hat. So lässt sich ein denkbares Ereignis in eine unbestimmte Zukunft versetzen, statt es abzusagen, genial. Ein klares Nein, no, wird in Mexiko gerne elegant umschifft. Die Option, dass es doch noch klappen könnte, bleibt offen. No, gracias, „Nein, danke“, ist grober als gracias, „Danke“.

Alternative: quizá, vielleicht. Auch ein schnelles Ja, sí, muss nicht in jedem Fall wörtlich genommen werden, es handelt sich oft um eine Absichtserklärung. Ausländer müssen sich an solche Eigenheiten erst gewöhnen, obwohl so was natürlich auch in vergleichsweise starrköpfigen Nationen vorkommt.

Die mexikanische Bürokratie treibt auch Einheimische in den Wahnsinn. „Ich werde als Mexikaner sterben“, twitterte der verzweifelte Schriftsteller Juan Villoro, „aber bei einem Behördengang habe ich den Eindruck, dass ich sterben werde, weil ich Mexikaner bin.“ Geduld, Gelassenheit und ein guter Schluck helfen. Was Restaurantrechnungen betrifft, so konnte ich noch nie bezahlen, wenn mein Freund Roberto dabei war, er ist einfach schneller. Einladungen sind Ehrensache, kaum würden Mexikaner die Beträge aufdröseln wie das Deutsche mit Vergnügen tun.

Gefahren? Ist Mexiko nicht furchtbar gefährlich, wie man überall hört und liest? Ich könnte Gruselgeschichten anderer erzählen, es gibt sie, aber mir ist in Mexiko praktisch nie etwas passiert. Außer dass mir beim letzten Besuch offenbar an einem Geldautomaten in Tulum die EC-Karte kopiert und Wochen später in den USA Geld abgehoben wurde, das fiel meiner Bank zum Glück schnell auf. Bei Wertsachen wird die übliche Vorsicht empfohlen und im Falle eines Raubüberfalls keine Gegenwehr. Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine Freundin war so geschockt, als ihr an einer Ampel ein Halbwüchsiger mit einer Pistole an die Scheibe hämmerte und ihren Geländewagen übernehmen wollte, dass sie einfach Gas gab. Wohlhabende Mexikaner mauern sich ein, manche fahren in gepanzerten Autos und viele hinter getönten Scheiben. Begüterte Ortsansässige scheinen ängstlicher und bequemer zu sein als neugierige Gäste. Etliche Mexikaner waren noch nie in einem Slum oder würden sich kaum in die Metro und gar einen Stadtbus quetschen, einen klapprigen pesero, oder mehrere volle Einkaufstüten heimschleppen. Bewahre! Taxis ordern achtsame Zeitgenosse mit dem Telefon (radio taxi) oder allenfalls am Taxistand (sitio), aber kaum auf der Straße. Unter den taxistas verbergen sich Freibeuter, die einen wild durch die Gegend kurven oder Überfälle einfädeln, sie sind aber eine letztlich winzige Minderheit.

Gebissen oder böse gestochen zu werden ist auch nicht wahrscheinlich, trotz Schlangen und Haien. Ein deutscher Schulfreund hatte mal das Pech, auf einen mexikanischen Stachelrochen zu treten, sehr schmerzhaft offenbar, kommt auch eher selten vor. Häufiger zu spüren ist dagegen la mordida, der Biss. Das ist der erfolgversprechende Versuch, ein Problem mit einem kleinen oder größeren Betrag zu lösen. Wozu das hässliche Wort Bestechung? Gerade Verkehrspolizisten gelten als empfänglich und nehmen die Geldbuße gerne persönlich entgegen. Laut Statistik haben sieben von zehn Mexikanern schon mal einen Hüter des Gesetzes entlohnt und drei von zehn einen der zahlreichen Funktionäre des öffentlichen Dienstes. Auch diese Versuchung blieb mir bisher erspart, selbst Moctezuma hat sich nur vereinzelt an meinem Magen gerächt.

Um die Häuser ziehen kann man in Mexiko ganz ausgezeichnet, zugeknöpft ist das Land dann überhaupt gar nicht mehr. Über meine Arbeitskleidung aus meiner lehrreichen Zeit bei Reforma machen sich meine Freundinnen Irma und Xóchitl übrigens bis heute lustig. El traje gris. Der graue Anzug. Hängt noch bei mir im Schrank.

Peter Burghardt

Über Peter Burghardt

Biografie

Peter Burghardt, 1966 in München geboren, studierte Politikwissenschaft. 1994 wurde er Sportredakteur der Süddeutschen Zeitung, und 1997 wohnte er im Rahmen eines Stipendiums mehrere Monate in Mexiko-Stadt. Der Autor war zudem als Kriegsreporter in Mazedonien und Kosovo im Einsatz und arbeitete...

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