Gebrauchsanweisung für München Gebrauchsanweisung für München - eBook-Ausgabe Gebrauchsanweisung für München - eBook-Ausgabe
Gebrauchsanweisung für München — Inhalt
Millionendorf und Metropole
München: Zwischen Alpenidylle und Hipstertum, Wohnungsnot und Mietwahnsinn, Blechlawinen und Radschnellwegenetz – die nördlichste Stadt Italiens wird von arabischen, russischen und chinesischen Touristen genauso geliebt wie von Biergartengrantlern und „Zuagroasten“. Thomas Grasberger ergründet den Reiz Münchens, das kulturelle Leben jenseits von Oktoberfest, Staatsoper und Tollwood. Er skizziert eine Typologie der Stadtviertel, führt uns in eine Zeit, als Schwabing noch Boheme bedeutete und Giesing noch ein Arbeiterviertel war, und an Plätze, an denen moderne Architektur in den Himmel wächst und neue Subkulturen gedeihen. Er spürt den Mythen der Vergangenheitsbewältigung nach und dem Hang der Münchner zum Eisbachsurfen.
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für München“
Prolog – Versuch über das Nichts oder Von der Schwierigkeit, eine Stadt zu beschreiben, die es so nie gegeben hat
Es gehört nicht zu den bayerischen Eigenarten, allzu viele Worte zu machen. So hat kürzlich ein Herr aus dem oberbayerischen Pfaffenhofen die Bedienung eines Münchner Biergartens gemaßregelt, weil sie sich erlaubt hatte zu fragen, ob er noch ein weiteres Bier wünsche. Sie möge doch bittschön einfach noch eins bringen und nicht so dumm fragen, brummte der Gast. Er würde ihr dann schon mitteilen, wenn er kein Bier mehr haben wolle. Die [...]
Prolog – Versuch über das Nichts oder Von der Schwierigkeit, eine Stadt zu beschreiben, die es so nie gegeben hat
Es gehört nicht zu den bayerischen Eigenarten, allzu viele Worte zu machen. So hat kürzlich ein Herr aus dem oberbayerischen Pfaffenhofen die Bedienung eines Münchner Biergartens gemaßregelt, weil sie sich erlaubt hatte zu fragen, ob er noch ein weiteres Bier wünsche. Sie möge doch bittschön einfach noch eins bringen und nicht so dumm fragen, brummte der Gast. Er würde ihr dann schon mitteilen, wenn er kein Bier mehr haben wolle. Die Geschichte ist nicht ganz untypisch. Bayern – insbesondere Baiern mit ai, also Altbayern südlich der Donau – reden nicht gern und nicht viel über Dinge, die ihnen selbstverständlich erscheinen. Das gilt auch für die Münchner. Sie stehen damit in einem gewissen Gegensatz zu den Zeitgenossen aus den nördlichen Teilen der Republik, die über nichts, aber auch rein gar nichts minuten-, ja stundenlang munter dahinparlieren können. So zumindest wollen es die Ritualbücher zur Verbreitung landsmannschaftlicher Klischees. Und so empfindet es wohl auch manch Bairisch sprechender Mensch. Gerade in München, wo die Bayern mit Preußen jeglicher Provenienz auf engstem Raum zusammenleben.
Wenn jetzt an dieser Stelle vergleichsweise viele Worte gemacht werden, so liegt es nicht daran, dass ein Norddeutscher wieder einmal die Tinte nicht halten konnte. Der Autor, es sei hiermit zur eindeutigen weltanschaulichen Standortbestimmung ausgesprochen, ist gebürtiger und bekennender Altbayer mit Wohnsitz in München. Womit wir schon beim Thema wären. Was heißt hier eigentlich München? Wo liegt es, was ist es, und zu welchem Ende studiert man dieses München? Sie sehen, es wird gleich zu Beginn recht philosophisch. Das bringt der Gegenstand unserer Betrachtungen mit sich. Sollte Ihnen der Blick in die Abgründe bayerischen Philosophierens aber noch zu gewagt erscheinen, blättern Sie jetzt einfach weiter, und lesen Sie dieses Vorwort dann, wenn Sie glauben, die nötige sittliche Reife dafür zu haben. Oder nach zwei Mass Oktoberfestbier.
München macht es erforderlich, in der Einleitung ein paar Zeilen über nichts anderes als das Nichts zu verlieren. Was natürlich nicht heißen soll, dass München nichts ist. Irgendetwas wird es schon sein, weil irgendwo müssen seine mehr als 1,5 Millionen Einwohner ja untergebracht, verpflegt, beschäftigt, transportiert und unterhalten werden. Nichts ist also nie! Möchte man meinen. Nimmt man jedoch den althochdeutschen Ursprung des Wortes „nichts“, der sinngemäß so viel wie „nie etwas“ bedeutet, kommt man München schon ein Stück näher. Das Eigentümliche an dieser Stadt ist nämlich, dass sie nie das ist, was man glaubt, gerade an ihr entdeckt zu haben. Sie ist wie ein Chamäleon, das sich in Sekundenschnelle von Weiß-Blau in Kunterbunt verwandeln kann, um kurz darauf in kräftigem Rot zu schimmern, ohne seine haselnussig schwarzbraunen Flecken ganz aufzugeben. München ist immer vieles. Und das keineswegs nur politisch betrachtet.
Kaum wähnt man sich in einer Weltstadt, bricht auch schon irgendeine lokalpolitische Zwischengröße einen höchst amüsanten Streit vom Zaun und beweist, dass Komödienstadel auch in urbanem Umfeld möglich ist. Kaum glaubt man erkannt zu haben, München sei ein elendes Spießerkaff voller Rauhaardackel, die ihre gamsbartbehüteten Herrchen Gassi führen, kommt auch schon irgendein Schoßhund im Rolls-Royce ums Eck. Seit einigen Jahren freilich ohne Fahrer, ohne Herrchen Rudolph Moshammer und leider nur noch als Kopie der verblichenen echten Daisy.
Oder nehmen wir die Gastronomie: Jahrein, jahraus finden wir in München einen Hort charmanter Gastlichkeit mit mehr oder weniger kultivierten und sittsamen Einheimischen. Bis zu jenem lauen Septemberabend, an dem wir das erste Mal das Oktoberfest aufsuchen. Ein Kulturschock, vergleichbar einer Reise mit der Zeitmaschine, 15 000 Jahre zurück, in die jüngere Altsteinzeit, wo wilde Stammesrituale mit konventionellen zivilisatorischen Maßstäben kaum mehr zu fassen sind.
München bedient viele Klischees und entzieht sich gern, sobald man sich ihrer bedienen will. Wir haben es also mit der Schwierigkeit zu tun, eine Stadt zu beschreiben, die es so gar nicht gibt, nie gegeben hat, nie geben wird. Das macht eine Gebrauchsanweisung zwar nicht unbedingt einfacher, mit Sicherheit aber reizvoll. Und vielleicht finden wir in diesem Reiz ja auch eine Erklärung dafür, dass erfahrungsgemäß mehr Menschen von – sagen wir einmal – Celle nach München ziehen als umgekehrt.
Das soll natürlich nicht heißen, dass ein waschechter und geistig heller Celler dieses geheimnisvolle München nicht ebenso gut und richtig verstehen könnte wie ein gebürtiger Giesinger. Vielleicht sogar besser, bestimmt jedoch anders. Eine banale Tatsache, die letztlich typisch ist für jede Form der teilnehmenden Beobachtung. Mit dem Beobachter ändert sich auch der Gegenstand der Beobachtung. Das ist immer schon das Kreuz aller ethnologischen Forschungsreisenden, seit Menschen auf fremde Kulturen treffen. So gesehen wären also mindestens 1,5 Millionen Gebrauchsanweisungen aus den Federn ebenso vieler Münchner möglich gewesen. Nicht zu reden von all den sinnvollen Erklärungen unserer Freunde aus Norddeutschland und dem Rest der Welt. Dass auf diesen Versuch über das Nichts nur eine einzige und noch dazu recht subjektive Gebrauchsanweisung für München folgt, bitten wir, als lässliche Sünde zu entschuldigen. Mehr war auf gut 200 Seiten beim besten Willen nicht unterzubringen.
Ankunft
Eine Annäherung an München ist zu Wasser, zu Lande und aus der Luft möglich. Welches das günstigste und schnellste Verkehrsmittel ist, vermag derzeit niemand wirklich zu sagen. Was den Wasserweg angeht, müssen wir zu unserem Bedauern feststellen, dass es mit den fahrplanmäßigen Verbindungen auf der Isar, den sogenannten Ordinariflößen, nicht mehr allzu weit her ist. Dabei war es einst eine durchaus gängige Methode der Anreise. Schon Mitte des 17. Jahrhunderts fuhr jeden Montag und jeden Freitag Punkt sieben Uhr früh ein Floß von Mittenwald nach München hinein. Später kam der Fernverkehr hinzu, von München nach Landshut, ja sogar bis nach Wien hinunter. Schade, dass es sie nicht mehr gibt, denn solche Fahrten waren wohl eine recht heitere Angelegenheit. Auf einem einzigen Floß wurde vermutlich mehr Alkohol ausgeschenkt als bei allen zeitgenössischen Airlines zusammen. Was die Sache nicht eben ungefährlich machte, denn so manches Mal knallte ein schwer angeheiterter Flößer mit seinem Gefährt samt Fracht und Passagieren gegen einen Brückenpfeiler.
Vielleicht wurde auch deshalb 1825 der fahrplanmäßige Passagierverkehr aufgegeben. Heute gibt es nur mehr die bierseligen Gaudifloßfahrten, die als zeitgemäßes Verkehrsmittel nicht wirklich zu empfehlen sind. Wer also unbedingt am Wasserweg festhalten wollte, müsste schwimmen. Was beim Wasserstand der Isar mancherorts mit aufgeschlagenen Knien enden würde, auch wenn mit der Renaturierung des Flusses die Restwassermenge größer und die Qualität des Isarwassers besser geworden ist. Für größere Schiffe reicht es aber wohl noch nicht ganz. Der zeitgenössische Besucher nimmt also lieber sein Auto für eine Reise nach München. Doch auch damit kann es an manchen Tagen zu Verzögerungen kommen. Von Norden her, auf der A 9 fahrend, kommt er nämlich in der Regel ungefähr bei Eching zu stehen. Von Süden her, auf der A 8, in der Gegend um Brunnthal. So oder so, er wird viel Zeit haben, sich zu fragen, warum er nicht doch besser geschwommen ist.
Beliebt sind auch die Reisen mit der Eisenbahn. Gleichwohl sind auch dabei gewisse Fallstricke nicht ohne Weiteres auszuschließen. Unerfahrene Reisende könnten aus lauter Vorfreude versucht sein, schon im Bahnhof München-Pasing aus dem Zug zu springen. Sollte Ihnen als Debütant ein solches Missgeschick widerfahren, bleiben Sie ganz ruhig, verlieren Sie nicht die Nerven, und beachten Sie folgenden Drei-Punkte-Notfallplan: 1. Verlassen Sie nie den Bahnhof Pasing! 2. Vergessen Sie alles, was Sie gesehen haben, warten Sie auf den nächsten Zug nach Augsburg, und fahren Sie zurück! 3. Machen Sie von Augsburg aus einen erneuten Anlauf zum Münchner Hauptbahnhof. Sie wissen ja, es ist immer die erste Begegnung mit einer Stadt, die beim Gesamteindruck besonders zählt, weil sich unwiderrufliche Eindrücke im Gehirn einprägen. Heben Sie sich Pasing lieber für später auf!
Wem all dies gleich am Anfang viel zu gefährlich erscheint, der nehme das angeblich schnellste und sicherste Verkehrsmittel unserer Tage. Ein Flug von Hamburg nach München dauert nur eine Stunde. Außer es ist gerade Sommer und es hängen mehrere Gewitter über München. Dann kann so ein Rundflug in der Warteschleife auch schon mal fünf Stunden dauern. Vielleicht sitzen Sie ja gerade in einem Flugzeug, wenn Sie diese Zeilen lesen. Die Maschine fliegt eine steile Kurve, die Stewardess hat Sie soeben freundlich aufgefordert, Ihren Gurt anzulegen, und aus dem Deckenlautsprecher näselt Ihr Kapitän irgendetwas Unverständliches von „Landeanflug“. Sollten Sie einen Fensterplatz haben, dann schauen Sie doch einfach mal hinaus. Mit etwas Glück sehen Sie unter sich die Burg Trausnitz und den größten klerikalen Backsteinbau der Welt, die Martinskirche. Beide gehören unwiderruflich zur niederbayerischen Stadt Landshut. Eindrucksvoll und zum Greifen nah! Man kann schon fast die Menschen erkennen. Aus dem Erdkundeunterricht wissen Sie vielleicht noch, dass Landshut gut 60 Kilometer von München entfernt liegt. Spätestens jetzt dürfte sich bei Ihnen ein leichter Anflug von Panik einstellen. Sie denken an eine Flugzeugentführung? An eine Notlandung? Bleiben Sie gelassen! Zugegeben, die Maschine ist schon verdammt weit unten und die Stadt Ihrer Sehnsüchte noch so fern. Und doch hat alles seine Richtigkeit. Sie befinden sich im Landeanflug auf den Flughafen München. Oder „FJS-Airport“, wie der in der Einflugschneise immer noch tapfer ansässige Niederbayer heutzutage sagen würde. Wenn Sie jetzt ins Grübeln kommen und sich fragen, ob im Begriff Annäherung nicht doch irgendwie das Wort „nahe“ drinsteckt, und wenn Sie sich dann weiter fragen, warum der Münchner Flughafen dennoch so weit von der Stadt weg ist, dann schauen Sie noch einmal aus dem Flugzeugfenster. Mit hoher Wahrscheinlichkeit blicken Sie in eine der ortsüblichen Quellwolkenformationen. Mit etwas Fantasie können Sie zwischen den dichten Wolkenbänken das Konterfei eines hiesigen Stammesheiligen erkennen. Ein schwerer, massiger Schädel mit kleinen, fast zugewachsenen Äuglein, die Ihnen zuzwinkern. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Fata Morgana, sondern um eine noch recht präsente, wenngleich nicht mehr physisch unter uns weilende Persönlichkeit. Was Sie da sehen, ist die Erscheinung Seiner Majestät Franz Josef Strauß des Ersten und Einzigen, seines Zeichens langjährig unumschränkt waltender Stammesfürst der Bayern, verstorben im 88er-Jahr bei einer fürstlichen Jagdgesellschaft, hinaufgefahren gen Himmel, dort droben – so will es die bayerische Mythologie – die Macht im Handstreich an sich gerissen und seither gottgleicher Herrscher der himmlischen Heerscharen, Sektion Bayernland.
Weil seine Untertanen und mehr noch seine politischen Ziehsöhne nicht glauben konnten, dass er für immer von ihnen gegangen sein soll, hat man – ganz in der Tradition altägyptischer Pharaonenkulte – vorsichtshalber einen überdimensionierten Flughafen gebaut und nach ihm benannt. Denn erstens war er zu Lebzeiten passionierter Sportflieger und somit prädestiniert für die Rolle des Schutzpatrons der Fliegerei und des steuerbefreiten Flugbenzins. Und zweitens: Man weiß ja nie, ob er vielleicht nicht doch eines Tages wieder runterkommt, der heilige Franz Josef. Dann braucht er eine geräumige Landebahn, weshalb das Mammutprojekt mitten im Erdinger Moos gerade groß genug erschien.
Zugegeben, das ist nur eine der Theorien über den Münchner Flughafen. Eine andere besagt, dass der Stammesfürst Strauß selbst das Renommierstück aus quasi niederen Beweggründen in die Welt setzen ließ. Motiv Rache! Das würde gut erklären, warum der Franz-Josef-Strauß-Flughafen so weit von München entfernt ist und in 2000 Jahren kein noch so gescheiter Archäologe wird sagen können, ob dieser kultische Ort nun zur Siedlung Salzburg, Nürnberg oder doch zu München gehört hat. Unser tapferer Altertumsforscher wird vielleicht nur aus diesem Buch erfahren können, dass es seinerzeit um die postume Abrechnung eines enttäuschten Namensgebers ging.
Der politische Hintergrund ist eindeutig: Zu gern wäre der Bayernherrscher einst Bundeskanzler der ganzen Republik geworden. Aber die undankbaren Wähler, sie wollten ihn nicht. Und deshalb müssen Sie jetzt jedes Mal bluten, wenn Sie nach München wollen. Immer schön ein paar Scheine fürs Taxi in der Reisekasse bereithalten, sonst heißt es: zu Fuß gehen. Was dann unter Umständen noch länger dauert, als an der S-Bahn-Station herauszufinden, wie viele Streifenkarten Sie für eine Fahrt in die Innenstadt brauchen. Machen Sie sich in solchen Situationen keine ernsthaften Gedanken über Ihre eigene Intelligenz. Auch nach der Reform von 2019 gibt es wohl keinen Eingeborenen, der das Tarifsystem des Münchner Verkehrsverbunds zur Gänze verstanden hätte. Und es gibt keinen, der einen anderen kennt, der über solche Kenntnisse verfügte. Wer was anderes behauptet, der lügt oder arbeitet beim MVV. Und lassen Sie sich um Gottes willen nicht das MVV-Kartenverwirrspiel erklären. So viel Zeit haben Sie nicht. Halten Sie es lieber mit dem Rat eines alten Münchners, der dem Autor auf die Frage nach dem richtigen Ticket einst antwortete: „I woaß aa ned. Nehmans a billigs und lossns Eahna hoid ned dawischn.“
Die erwähnte Tarifreform führte übrigens dazu, dass in den ersten Wochen nach Inkrafttreten oft an die 500 ratlose Menschen gleichzeitig vor den Kundencentern standen, um sich das vermeintlich kundenfreundliche System erklären zu lassen. Es gilt also weiterhin der Grundsatz: Wenn’s einfach gegangen ist, haben Sie vermutlich das falsche Ticket. Und wenn’s billig ist, sind Sie höchstwahrscheinlich gar nicht in München.
Diese Form der mobilen Unwissenheit ist übrigens eine der wesentlichen Gemeinsamkeiten aller Münchner. Eine weitere besteht darin, dass man gern und wortreich über die S-Bahn schimpft, weil sie oft zu spät kommt. Plötzlich entflammen am Haltesteig Gespräche zwischen Wildfremden, was sonst nicht gerade üblich ist in dieser Stadt. Im Fall der Flughafenlinie sind solche Beschimpfungen aber reichlich undankbar. Immerhin gibt es heute diese Bahnverbindung, was auch nicht selbstverständlich ist. In der Frühzeit des Airports machte unter Spöttern das geflügelte Wort die Runde, dass der Münchner Flughafen der einzige der Welt sei, den man nur aus der Luft erreichen kann. Heute können Sie in gepflegten vierzig Minuten in die Innenstadt reisen. Wenn Sie von irgendeinem bundesdeutschen Flughafen gestartet sind, macht das in der Regel nur die Hälfte Ihrer Gesamtreisezeit aus. Und wenn Sie von den Fidschi-Inseln kommen, ist es kaum mehr der Rede wert.
Dafür können Sie sich dann ausgiebig an so idyllisch klingenden Haltestellennamen wie Hallbergmoos, Ismaning und Unterföhring erfreuen. Weil aber S-Bahn-Dörfer im Allgemeinen und vom Zug aus gesehen im Besonderen doch sehr ähnlich wirken und weil die Ortsnamen immer noch ländlicher werden, reißt der Ortsunkundige spätestens bei Englschalking seinen Stadtplan heraus und prüft panisch, ob er auch ja in die richtige Richtung fährt. Bleiben Sie gelassen, eigentlich kann jetzt nicht mehr viel schiefgehen. Lauschen Sie der Stimme Ihres Zugbegleiters: Wenn es irgendwie nach englischer Sprache klingt, dann sind Sie goldrichtig. Freuen Sie sich, Sie sind gerade Ohrenzeuge einer bahnbrechenden Revolution geworden, die der MVV im Zuge der Globalisierung durchgemacht hat. Die Ansagen in den S-Bahn-Linien zum Flughafen sind zweisprachig: Deutsch und Englisch.
Wer jetzt entgegnet, man könne ja die deutschsprachige Ansage schon kaum verstehen, der ist ein unverbesserlicher Zyniker, wenngleich er nicht ganz unrecht hat. Jedenfalls ist die polyglotte Innovation beim MVV durchaus von praktischer Bedeutung. Ein Beispiel: Wer früher von der Innenstadt zum Flughafen wollte, konnte böse Überraschungen erleben. Hatte er die Durchsage nicht verstanden, dass in der S1 bei Neufahrn nur der letzte Wagen zum Flughafen abbiegt, fuhr er gutgläubig bis Freising und musste dort ein teures Taxi nehmen. In einem Anflug von Weltläufigkeit verkündete deshalb ein Bahnsprecher im Mai 2000, es werde jetzt sogar darüber nachgedacht, „auf allen Linien auch die Haltestellen zweisprachig ansagen zu lassen“. Eine Münchner Boulevardzeitung fühlte sich durch diese Modernisierungspläne jedenfalls zu munteren Übersetzungsübungen animiert: Mountain on Glue stünde demnach künftig für den Stadtteil Berg am Laim, Hair für Haar, Ragething für Zorneding.
Jedenfalls wäre es richtig schade, wenn eines Tages ein Schnellzug vom Flughafen direkt in die Stadt führe. Pläne dafür werden immer wieder diskutiert. Eine Magnetschwebebahn sollte zwischen Hauptbahnhof und Flughafen schnellen Anschluss schaffen. Die Kosten für die 36,8 Kilometer lange Verbindung sollten sich auf 1,6 Milliarden Euro belaufen. Allein das zeigt schon, wie unsinnig der Plan war. Die Münchner und ihr Stadtrat waren jedenfalls nicht begeistert davon und mehrheitlich dagegen.
Dafür hat das Projekt zu ungeahnten kulturellen Höhen geführt. Man darf ohne Übertreibung behaupten, dass die Kunst der Rede seit den antiken Tagen des Demosthenes keine solche Blüte mehr erlebte wie am 13. Januar 2006 im Bayerischen Landtag. An jenem geschichtsträchtigen Tag hat der bayerische Ministerpräsident Dr. Edmund Stoiber dem Parlament und Volk von Bayern die Vorteile des Transrapid erklärt. Und weil’s so schön war, möchten wir dieses bedeutende Dokument an dieser Stelle im strengen Wortlaut drucken:
„Wenn Sie vom Hauptbahnhof in München mit zehn Minuten ohne Sie am Flughafen noch einchecken müssen dann starten Sie im Grunde genommen am Flughafen am … am Hauptbahnhof in München starten Sie Ihren Flug zehn Minuten – schauen Sie sich mal die großen Flughäfen an wenn Sie in Heathrow in London oder sonst wo meine s … Charles de Gaulle in äh Frankreich oder in äh in … in Rom wenn Sie sich mal die Entfernungen ansehen, wenn Sie Frankfurt sich ansehen dann werden Sie feststellen zehn Minuten Sie jederzeit locker in Frankfurt brauchen um ihr Gate zu finden – Wenn Sie vom Flug – äh vom Hauptbahnhof starten Sie steigen in den Hauptbahnhof ein Sie fahren mit dem Transrapid in zehn Minuten an den Flughafen in an den Flughafen Franz-Josef Strauß dann starten Sie praktisch hier am Hauptbahnhof in München – das bedeutet natürlich der Hauptbahnhof im Grunde genommen näher an Bayern an die bayerischen Städte heranwächst weil das ja klar ist weil aus dem Hauptbahnhof viele Linien aus Bayern zusammenlaufen.“
Für diesen Quell steter Freude möchten wir dem ehemaligen Ministerpräsidenten von Bayern nochmals ganz herzlich danken. Übrigens, der Transrapid kommt trotzdem nicht. Weil der Bayer aber zur Vergnügungssucht neigt, werden neuerdings Pläne für einen Mini-Transrapid geschmiedet. Der soll am Flughafengelände im Kreis herumfahren. Ob’s das unbedingt braucht? Wahrscheinlich nicht. Aber die Reden wären halt wieder so schön. Und sollte das kleine Transrapiderl dann doch nicht kommen? Auch nicht weiter schlimm.
Es geht auch so. Denn jeder, der einigermaßen guten Willens ist, kann sehen, dass die Anreise nach München im Grunde eine lustige Sache ist. Auch wenn es manchmal ein wenig dauert und recht kompliziert erscheinen mag – angekommen ist noch fast jeder. Wieder abgereist aber sind nicht immer alle. Aus gutem Grund. Sie haben die vermutlich schönste Stadt der Welt glücklich erreicht.
Wo, bittschön, ist München?
München ist eine Siedlung westlich von Wasentegernbach. Das wiederum liegt hinter Thann-Matzbach. Beide sind aus zahlreichen Fahrplänen der Bundesbahn bekannt unter dem Stichwort „hält nicht in“. Durch diesen Umstand sind sie auch relativ gut zu verorten. Was man vom benachbarten München nicht unbedingt behaupten kann, wenngleich hier grundsätzlich alles hält, ja nahezu zwanghaft halten muss, was auf der Durchreise ist. Trotzdem weiß man nie so genau, wo dieses München gerade ist. Nicht, dass man die geografische Breite und Länge des Ortes nicht genau benennen könnte. Das schon. Es geht auch nicht darum, München den Status der Großstadt abzusprechen, wenngleich das für die Lebensverhältnisse nicht immer viel zu sagen hat. Das alte Lied vom Millionendorf soll hier dennoch nicht angestimmt werden. Auch wenn immer noch viel dran ist an der These von der agrarisch geprägten Agglomeration, die als Großstadt nicht wirklich greifbar ist. Und das liegt bestimmt nicht allein an den Bauern, die auf dem Stadtgebiet von München noch ihrer Arbeit nachgehen und mit der Direktvermarktung von Rindfleisch, Kartoffeln, Tomaten, Salat, Lauch und Radieserl dafür sorgen, dass der Grüngürtel um die Stadt herum nicht noch mehr mit Gewerbegebieten zugepflastert wird.
Nein, das Problem mit der Verortung Münchens hat vielmehr etwas mit den Jahreszeiten zu tun. Während der Thann-Matzbacher in der Regel zum Arbeiten nach München hineinpendelt, ansonsten aber in Thann-Matzbach bleibt und nur gelegentlich nach Wasentegernbach hinüberfährt, neigt der gemeine Münchner dazu, seinen Standort dauernd zu verändern. Weil München aber in erster Linie von den Münchnern lebt, ist es schwer zu sagen, wo München gerade ist. Daher hilft nur ein Blick auf den Jahreskalender.
Im Frühsommer zum Beispiel reicht München bis zum Gardasee hinunter. Dieser wird zwar gemeinhin dem Staatsverband Italiens zugerechnet, ist aber nachweislich fest in bayerischer Hand. Kaum ist die winterliche Eisschicht aufgebrochen, bricht auch der Münchner auf, schiebt seinen SUV unter eine Reihe von Mountainbikes und schmettert mit hoher Geschwindigkeit über den Brenner hinweg, um kurz nach dem Pass schön langsam in den Landeanflug zu gehen, weil er sonst an der Autobahnausfahrt Gardasee-Nord vorbeischießen würde. Das Ziel ist nicht eigentlich der See oder sein kultureller Reiz. Was geht den Münchner Goethe an? Oder Catull? Der Weg ist das Ziel. Genauer gesagt die Zeit, die man für den Weg zum Gardasee braucht. Alljährlich geht es also vor allem darum, die Rekordzeit für die Strecke München, Stadtmitte – Riva, Ortsschild um ein paar Minuten zu drücken. Ziel ist es immer wieder, in weniger als drei Stunden die 382 Kilometer von Tür zu Tür zu kommen, ohne dabei auf dieser pickerlpflichtigen Dauerbaustelle namens Österreich irgendwelche gelben Männchen oder hinterfotzige Radarfallen samt dazugehörigen Gendarmen über den Haufen gefahren zu haben. Manchmal klappt das auch. Endlich glücklich am Gardasee angekommen, zischt der Münchner seinen ersten Espresso, atmet tief durch, ganz so, als sei er endlich wieder zu Hause, und verbringt den Rest der Zeit auf dem Mountainbike, mit dem er ununterbrochen zwischen Riva und Torbole hin- und hersaust, bevor er seine Geländelimousine schließlich wieder für den Rückflug anheizt und heimbrettert. So viel zum Frühjahr. Für den Hochsommer gilt das Gleiche. Nur dass der gemeine Münchner dann bis Rimini durchfährt, um dort nächtliches Highlife zu genießen und tagsüber auf dem Algenteppich der Adria seine malignen Karzinome zu pflegen. Der eher gebildete Münchner hingegen fährt nach Umbrien oder in die Toskana, drückt sich ein wenig auf der Piazza del Campo zu Siena herum oder im Dom von Orvieto, um dann möglichst schnell den Kulturteil zugunsten der Weinprobe hintanzustellen. Der ökologisch angehauchte Münchner mit Bildung macht das Gleiche, nur mit seinem ausgebauten Campingbus, der neben dem ganzen Hausstand selbstverständlich auch mehrere Fahrräder zu tragen hat. Denn am liebsten würde man ja gleich ganz in der Toskana bleiben, um zu töpfern und zu batiken und Radl zu fahren.
Im Großen und Ganzen gelten also von Frühjahr bis Herbst die Grenzen des Jahres 1808. Oder noch lieber die von 976, damals gehörte nämlich nicht nur der Gardasee, sondern auch der Zugang zur nördlichen Adria zum Stammesgebiet. Wer jedenfalls im August einen Münchner treffen will, der muss sich auf den Brenner stellen. Dort nämlich steht fast die ganze Stadt im Stau selig vereint. Freilich, man wundert sich jedes Jahr wieder, wo all die anderen plötzlich herkommen, und man sinniert darüber, wie schön kühl es wohl jetzt daheim im Biergarten wäre. Das ändert aber nichts daran, dass der Münchner im kommenden Jahr wieder an derselben Stelle in der Hitze braten wird. Was vermutlich daran liegt, dass er genetisch darauf programmiert ist, eine Urlaubsreise nur dann als eine solche wahrzunehmen, wenn sie mit einer Fahrt über den Brenner beginnt. Außer er fliegt nach Mallorca – wofür hat er denn den schönen großen Flughafen im Erdinger Moos draußen? Von der neuerdings viel zitierten Flugscham wird der Münchner so wenig gebeutelt wie alle anderen auch. Ein Drittel aller Münchner ist im August also ausgeflogen, was dazu führt, dass der geografische Ort »48° 13’ nördlicher Breite und 11° 50’ östlicher Länge«, gemeinhin als München bekannt, auf wundersame und durchaus angenehme Weise entvölkert ist. Erst im September trifft sich dann wieder alles an der Isar, um bald darauf im Herbst gemeinsam zum Törggelen nach Südtirol hinunterzupilgern.
Im Winter, wie sollte es anders sein, zieht es den Münchner wieder in Richtung Süden, allerdings nur bis in die nahen Alpen. Zugspitz, Spitzing oder Brauneck heißen dann die Zauberworte, mit denen er seine Hausberge und Lieblingsskigebiete benennt. Er tut dies nicht nur, um anzuzeigen, dass er gern Ski fährt. Er tut es vor allem auch im Gespräch mit Norddeutschen, um so den Freizeitwert seiner Stadt deutlich zu machen. Meist erwähnt er dann wie beiläufig, dass er zwischen Dezember und März eigentlich jedes Wochenende auf dem Berg ist und dass er oft erst mittags losfährt, wenn sie ihn eben gerade mal so überkommen sollte, die Lust am Skifahren. Sätze, die seinem norddeutschen Gegenüber erfahrungsgemäß schlagartig die Neidesblässe ins Gesicht treiben. Schließlich kommt der geschätzte Skifreund unter Umständen aus dem niederrheinischen Wesel, bucht seine Ferien sechs Monate vor Reiseantritt und hat dann mit einer Nettofahrzeit von etwa acht Stunden zu rechnen. Kein Wunder, dass der blass wird. Freilich, im Gespräch mit anderen Münchnern zieht Brauneck als Geheimtipp hinter vorgehaltener Hand nicht mehr ganz so gut. Der eingeborene Skifreak müsste sich also schon etwas anderes, etwas ganz Besonderes einfallen lassen, um den Münchner Kollegen im Büro immer wieder aufs Neue zu imponieren. Was nicht leicht ist bei so vielen Skiexperten und so wenig Alpen. Das Eigenartige ist nur, dass fast jeder Münchner immer noch einen Geheimtipp drauflegen kann, und zwar jede Saison, sobald die ersten drei Flocken gefallen, respektive von der Schneekanone abgeschossen worden sind. Meist kommt der Tipp mit dem Zusatz: „A supa Schnää und fast koane Leid’!“ Nun, glauben Sie’s oder auch nicht! Es ist ohnehin egal, denn am Ende eines mehr oder weniger amüsanten Skitages treffen sich eh wieder alle auf der Autobahn bei Brunnthal.
An dieser Stelle noch ein praktischer Tipp für den Fall, dass Sie sonntags mal einen kleinen Ausflug in das Umland machen wollen und am selben Abend wieder in die Stadt zurückkehren: Es ist egal, wo der Münchner war und wie lang er schon mit seinem Auto unterwegs ist. Er fährt grundsätzlich immer so, dass er am Sonntagabend zwischen fünf Uhr und sieben Uhr irgendwo zwischen Irschenberg und Holzkirchen zum Stehen kommt. Das hat nichts mit mangelnder Lernfähigkeit des Münchners zu tun, sondern ist eher ein lieb gewonnenes Ritual, das einfach zum Wochenende gehört wie der sonntägliche Tatort. Wenn Sie dessen Anfang also nicht im Stau verpassen wollen, machen Sie Ihre Ausflüge besser mit dem Zug.
Von solchen wiederkehrenden Verkehrsinfarkten einmal abgesehen, kann man ruhig behaupten, dass München ein lebendiger, pulsierender Organismus mit recht unterschiedlichen Ausbreitungsgebieten ist. Es entgrenzt sich andauernd und lässt, wenn auch nicht immer seinen Geist, so doch immerhin die rußgeschwärzten Fahnen seiner Kraftfahrzeuge über die Lande wehen. München ist mobil. Und der Münchner an sich eigentlich ein Nomade.
München von Kopf bis Fuß
Bei aller Liebe des Münchners zur Mobilität gibt es auch so etwas wie eine Kernzone. Jene Ansammlung von Häusern, Straßen und Grünzonen, die der Eingeborene oder Zugereiste mit Leben erfüllt, wenn er nicht gerade in Italien oder beim Skifahren am Spitzing ist. Von Großstadt wollen wir in diesem Zusammenhang aber nicht reden. Der Berliner Schriftsteller, Philosoph und Kritiker Ludwig Marcuse hat einmal den Begriff „dörfliche Großstädter“ geprägt und über diese recht treffend gesagt: „Auch der Großstädter wohnt nie in einer großen Stadt, sondern in irgendeinem Dörfchen innerhalb von New York, London, Paris, Berlin.“
Das gilt auch für München. Es besteht aus vielen kleinen Dörfern, die mehr oder weniger lose zusammenhängen und dabei doch organisch miteinander verbunden sind. Sie alle haben nicht nur verschiedene Größen, sondern auch unterschiedliche Funktionen, die für das Gesamtgefüge mehr oder weniger bedeutend sind. Sie können sich das wie einen menschlichen Körper vorstellen. Die Kernzone München ist im Großen so aufgebaut wie ein einzelner Münchner im Kleinen. Diese Behauptung macht eine anatomische Untersuchung notwendig. Beginnen wir mit der Visite:
Stellen Sie sich einen echten Münchner vor. Nackt. Auch kein schöner Anblick, werden Sie jetzt vielleicht sagen, zumindest nicht beim ersten Hinschauen. Das macht nichts. Die Stadt München ist auf den ersten Blick, nämlich oberflächlich und an ihren Rändern betrachtet, auch nicht besonders reizvoll. Es bedarf eines genaueren Hinsehens. Also, ein echter, nackter Münchner: mit Hand und Fuß und Kopf und einer sauberen Wampn, einem von Hopfen und Schwein wohlgeformten Bauch. Nur den gamsbärtigen Trachtenhut und ähnlich folkloristischen Zierrat müssen wir ihm vorher noch abnehmen. Auf die Stadt bezogen heißt das, wir kümmern uns nicht weiter um das Hofbräuhaus und vergleichbare Touristeneinrichtungen. Was anatomisch nicht zwingend ist, wird weggelassen und an die nächstbeste japanische Reisegruppe verschenkt.
Fahren wir fort mit der medizinischen Untersuchung. Und zwar oben am Kopf. Wo der beim Münchner idealtypisch ungefähr zu verorten ist, dürfte klar sein. Aber wo hat die Stadt ihren Kopf?
Die bayerische Staatskanzlei, sagen viele, scheide für die Rolle schon mal aus, weil ein Kopf per definitionem etwas ist, das in irgendeiner Form Intelligenz beherbergen muss. Das ist arg polemisch, und dennoch: Die Staatskanzlei eignet sich schon rein architektonisch viel besser für eine rustikale Schulter- und Nackenpartie samt kräftig entwickelten Oberarmen. Mia san mia!
Vielleicht ist der Kopf eher ein wenig randständig, zum Beispiel draußen im Südwesten, in Martinsried-Großhadern. Das Forschungszentrum für Biotechnologie als das Gehirn Münchens? Klingt eigentlich vernünftig, andererseits: ein gentechnischer Kopf? Zum Schluss wird unser Modell-Münchner noch ein g’spaßiger Mutant. Dann hat er vielleicht bald zwei Köpfe oder drei? Schaut auch nicht gut aus. Nicht einmal bei einem Bayern.
Ebenso wenig ist das boomende Informationstechnologiezentrum im Nordwesten Münchens als Kopf geeignet. Unser Anatomie-Münchner hätte dann einen Bildschirm auf. Das würde zwar gut zur Laptop- und Lederhosen-Philosophie der Nackenpartie, also der bayerischen Staatskanzlei, passen, verträgt sich aber nicht so gut mit den Erfordernissen des Fremdenverkehrs. Unser Münchner hätte dann statt eines Gesichts nur mehr eine Mattscheibe. Und so was ist in München nur ausnahmsweise erlaubt, nämlich bei Föhn.
Wir einigen uns lieber darauf, dass sich der Kopf Münchens in der Maxvorstadt befindet. Ein schöner Kopf, ein bisschen massig vielleicht, gravitätisch und etwas großspurig, genau richtig für Odeons-, Wittelsbacher-, Karolinen- und Königsplatz. Gewiss, es ist ein strenger Kopf, der prachtvoll, aber auch abweisend wirkt, wie die Ludwigstraße. Kunstsinnig ist er in jedem Fall, mit all den Pinakotheken, der Glyptothek, der Antikensammlung, der Grafischen Sammlung, dem Lenbachhaus. Es ist aber auch ein kühl berechnender Kopf, mit Banken, Versicherungen, Konzernen, mit Post und Bahnverwaltung, Finanzämtern. Und es ist ein wissensschwerer Kopf, ein Zentrum der Forschung und Lehre, mit all seinen Universitäten. Das Gehirn Münchens wären demnach die Bibliotheken, Antiquariate und Archive in der Maxvorstadt.
Meistens ist es ein Segen, wenn ein Kopf noch Haare hat. Manchmal aber auch nicht. Der Schopf am Ende der Maxvorstadt, jenseits des Siegestors, heißt Leopoldstraße und reicht bis über die Münchner Freiheit hinaus: eine Art Föhnfrisur, die ein wenig aus der Mode gekommen ist und vorzugsweise von jungen BMW-Fahrern aus agrarisch strukturierten Umlandgemeinden bewundert wird. Ansonsten dient die Leo manchmal als Partymeile für grölende Fußballfans oder als Flaniermeile für Schwabing-Touristen. Der architektonische Schuppenbefall ist dort jedenfalls nicht zu übersehen.
Wenden wir uns lieber schöneren Körperpartien unseres Münchners zu. Dem Gesicht zum Beispiel. Es ist altehrwürdig, ebenmäßig und reich an optischen Feinheiten. Man kann sich gut vorstellen, dass es ein schönes Gesicht war. Früher einmal. Aber von Schicksalsschlägen wie Krieg und Bombenangriffen ist es nicht verschont geblieben. Manches Reizvolle an diesem Gesicht ist dabei ganz verschwunden, und ein paar Narben sind lange Zeit geblieben: der Jakobsplatz hinter dem Stadtmuseum zum Beispiel. Dort steht jetzt glücklicherweise das jüdische Zentrum mit Synagoge, Gemeindesaal, Schule, Kindertagesstätte, Restaurant und Museum.
Freilich, auch ein paar richtig hässliche Warzen und Beulen hat dieses Gesicht. So als hätten die Bomben nicht gereicht, hat man ihm architektonisch gleich noch mal eins drübergebraten. Solche Beulen stehen immer noch und heißen zum Beispiel Galeria Karstadt Kaufhof. Trotz alledem, der architektonische Reichtum der Altstadt schafft nach wie vor ein Antlitz Münchens, das die ganze Welt kennt und liebt.
Seit einiger Zeit gibt es mitten in der Stadt wieder eine große Halle aus Glas und Eisen, die Schrannenhalle. Auf den Wiederaufbau dieses überdachten Marktplatzes aus dem 19. Jahrhundert haben die Münchner lange gewartet. Als die „Schranne“ dann eröffnet wurde, war die Enttäuschung bei vielen groß. Nix Kultur, nix Ambiente! Fressen, Saufen, Champions League auf Großleinwand und Trachtenloden-Ringelpiez mit Anfassen. Schnell machte das böse Wort vom Proletenfresstempel die Runde. Und eine Münchnerin im badischen Exil meinte bestürzt: „Wie kann man sein historisches Architekturerbe so verschleudern. Das ist die reinste Prostitution in Glas.“ Das schon. Aber keiner konnte mehr sagen, dass in der Innenstadt nichts los wäre. Nach mehreren Zwangspausen und Neueröffnungen wird die Schranne seit 2015 von einer italienischen Feinkostkette bespielt. Aus der guten alten Getreidehalle ist also ein Pasta-Paradies geworden. „Va bene! Auch recht!“, sagt der Einheimische und schlendert weiter.
Denn vor allem abends ist in Münchens Innenstadt einiges los. Manchmal sogar zu viel. Das Münchner Nachtleben hat sich in den vergangenen Jahren von den Rändern in die Mitte hinein verlagert, an den Altstadtring. Die knapp zwei Kilometer lange Partymeile entlang der Sonnenstraße zwischen Sendlinger Tor und Maximiliansplatz schafft es mit ihren Clubs und Discos immer wieder in die örtlichen Gazetten. Als Problemzone. Zu viel Lärm, zu viel Alkohol, zu viel Drogen- und Gewaltkriminalität, sagt die Polizei. Also eher Katerstimmung nach durchzechter Nacht!
Abends werden auch Kehlkopf und Stimmbänder unseres Münchners richtig aktiv. Kräftig ausgebildet sind sie bei unserem bayerischen Barden, dessen musikalisches und schauspielerisches Geschick in ganz Deutschland einen guten Ruf genießt: Nationaltheater, Kammerspiele, Marstall-, Cuvilliés- und Residenztheater.
Richtig cool und hip wird das ach so adrette Gesicht zwischen Altstadt und Gärtnerplatzviertel, dort arbeitet nämlich Münchens neue Mitte. Wo einst die kleinen Leute hausten und seit den späten 1960er-Jahren Münchens Schwulenszene beheimatet war, ziehen jetzt vorzugsweise die Kreativen mit Rollkragenpulli und Hornbrille ein. Wie das unserem Münchner steht? Nun, er schnauft und flucht! Denn je heißer die Werbesprüche, desto eisiger die Netto-Kaltmieten! 20 Euro für den Quadratmeter? Echt cool!
Dafür hat er schöne, kräftige Lungen, unser Münchner. Den Englischen Garten, den Luitpoldpark, die zahlreichen Wälder rundherum. Sie sorgen dafür, dass er die schlechte Luft der Autos besser verträgt: Immerhin sind 700 000 in der Stadt zugelassen, und zusätzlich kommen täglich 400 000 von außen dazu. Wenn der Straßenverkehr für München wirklich das sein sollte, was der Blutkreislauf beim Menschen ist, dann hat er Bluthochdruck, unser Münchner. Und das ist auf Dauer alles andere als gesund. Deshalb braucht er auch immer neue Medikamente. Seit Ende 2008 zum Beispiel eine Umweltzone, und seit 2012 die grüne (Feinstaub-)Plakette. Nur wer die auf der Scheibe kleben hat, darf innerhalb des Mittleren Rings noch mit dem Auto fahren. Übrigens, auch Touristen benötigen sie. Sonst heißt es: Zahlen!
Die Seele unseres Münchners ist die Isar. Eine wilde, reißende Seele soll es einmal gewesen sein. So zumindest übersetzten einst die Ortsnamenforscher den keltischen Eigennamen des Flusses, der früher auch gern mal über die Ufer trat und ganze Stadtviertel überschwemmte. Heute ist es mit der Wildheit nicht mehr weit her, übrig geblieben ist allenfalls ein Seelchen. Vielleicht übersetzt man deshalb Isar neuerdings lieber mit „fließendes Wasser“.
Dafür reicht es allemal, auch wenn Naturschützer schon seit Langem mehr Wasser für die Isar fordern. Weil man aber aus Wasser Strom und aus Strom Geld machen kann, haben sich die bayerischen Strom- und Gelderzeuger seit Jahren lieber für den Verkauf der Münchner Seele entschieden.
Ganz in der Nähe der Seele kann man bei unserer anatomischen Untersuchung auch das Tier im Münchner verorten: In Hellabrunn befindet sich einer der schönsten Zoos der Welt, der in München allerdings nie Zoo, sondern immer Tierpark genannt werden muss. Eigentlich sollte er besser Menschelpark heißen, weil sich der Münchner gern dorthin zurückzieht, wenn es einmal richtig menscheln soll: mit einer neuen Liebe zum Beispiel. Oder mit der mehr oder weniger lieben, alten Verwandtschaft.
Apropos alte Verwandtschaft: Unser Münchner Modellathlet hat stellenweise schon einen leichten Buckel, einen Rundrücken wegen partieller Überalterung. Im bürgerlichen Lehel und im herrschaftlichen Altbogenhausen hat man manchmal den Eindruck, dass es viel mehr Alte als Junge gibt. Und in Laim ist laut Statistik schon jeder fünfte Einwohner Rentner.
Ein Blick in die Innereien unseres Münchners verrät uns etwas über seine Ernährungsgewohnheiten. Der Magen ist zweifelsohne ein sogenannter Saumagen, wie er bei Allesfressern mit Priorität auf Fleischgerichten recht typisch ist. Auf die Stadtkarte Münchens übertragen, liegt dieser Saumagen im Schlachthofviertel. Bis 2006 gab es hier noch einen Pferdemarkt. Wer heute eine feine Rossmetzgerei sucht, wird immerhin noch auf dem Viktualienmarkt fündig. Hier und in den Markthallen von Sendling gibt’s auch jede Menge vegetarische Beilagen. Überhaupt haben der Markt und auch die Gegend zwischen Schlachthof und Großmarkt immer noch viel Charme. Sendling war früher ein Bauerndorf südlich der Altstadt; und wer die Lindwurmstraße hinausfährt und hinter der Sendlinger Pfarrkirche den Bauernhof stehen sieht, der ahnt es noch. 1877 wurde das Dorf aber eingemeindet und industrialisiert. Es entstand ein Arbeiterviertel, das Anfang des 20. Jahrhunderts riesige Markthallen beherbergte und der drittgrößte Umschlagplatz für Obst und Gemüse in Europa war. Auch heute noch spielt der Handel, vor allem der Großhandel, dort eine Rolle.
Was den Konsum angeht, muss man sagen: Manchmal übertreibt es der Münchner. Zu viel Fett, zu viel Fleisch, zu viele Hendl, aber vor allem zu viel Bier: Der Münchner ist inwendig völlig übersäuert, es kommt zu Magendrücken und Übelkeit. Das geschieht meist einmal im Jahr, im Spätsommer, und dauert knappe drei Wochen. München hat dann Sodbrennen. Man nennt es auch Oktoberfest.
Wir wenden unseren Blick ab vom Innenleben unseres Münchners und betrachten seine physische Erscheinung. Dabei fällt auf, dass er stellenweise etwas unproportioniert ist. So ist zum Beispiel seine Unterarmmuskulatur ein wenig verkümmert. Dieses proletarische Element war früher in den Vorstädten stark ausgeprägt, wo die Handwerksburschen und Industriearbeiter ihre Quartiere hatten. In Haidhausen und in der Au oder in Giesing draußen. Für viele war dies der Inbegriff des echten München. Aber ganz schleichend sind aus den Arbeitervierteln Dienstleistungsgebiete geworden, die nur noch erahnen lassen, wie es einmal gewesen sein könnte, dieses viel beschworene authentische München. Die Wohnungen waren unsaniert, die Mieten günstig, das Flair groß. Doch irgendwann entdeckte auch das Geld den Charme dieser Stadtteile, sie wurden Schritt für Schritt luxussaniert, und die Mieten stiegen kräftig an. Angefangen hat das mit Schwabing und Haidhausen, die beide schon in den Siebzigerjahren zu sogenannten In-Vierteln wurden. Dann folgten Neuhausen, das Glockenbachviertel, Sendling und die Au. Neuerdings strecken skrupellose Spekulanten ihre Fühler auch nach Giesing aus und – hoppla! – prompt fällt 2017 ganz aus Versehen das erste denkmalgeschützte Haus einem Bagger zum Opfer. Der illegale Abriss des sogenannten Uhrmacherhäusls an der Oberen Grasstraße erregte die Gemüter. Und während die Stadt noch mit dem Eigentümer stritt, schusterte ihm eine kommunale Tochtergesellschaft einen Millionenauftrag zu. Aus Versehen natürlich. Eh klar. Wie lange wird es wohl dauern, bis auch in Giesing schicke Läden und energetisch modernisierte Luxuslauben aus dem Boden sprießen und die Monatsmieten um 500 Euro erhöht werden? Erhaltungssatzungsgebiete hin, „Bündnis Bezahlbares Wohnen“ her. Die Situation wird nicht leichter in München. Doch dazu später mehr.
Die kräftigen Unterarme unseres Münchners findet man allenfalls noch am Industriestandort Obersendling oder in Neuperlach. Ansonsten sitzt unser IT-Spezialist mit seinen zarten Ärmchen natürlich vor allem vorm Bildschirm.
Noch vorhanden, wenngleich schon ganz schön verkümmert, sind die Waden unseres Münchners, als Synonym für die bayerisch-bäuerlich-traditionellen Elemente des Schuhplattelns, samt Haferlschuh unten dran. In Aubing, in Unter- und Obermenzing, in Fürstenried und Forstenried zum Beispiel, überall dort, wo früher die alten Bauerndörfer standen, sind noch Reste vom Dorfkern zu sehen. Und stellenweise geht es dort noch ganz schön ländlich zu. Viel typischer für unseren Münchner ist aber der Bauch, den er vor sich her trägt. Und der wird immer größer und schwerer. Es ist der Speckgürtel der Stadt, zusammengesetzt aus den bürgerlichen und wohlhabenden Umlandgemeinden. Dieser Bauch prägt den anatomischen Gesamteindruck ganz wesentlich. Unser Münchner erscheint daher als ein etwas behäbiger, gut genährter Bürger, der seine Ruhe haben will und Bewegung in jeder Form scheut. Mit Ausnahme der Nahrungsaufnahme und des Geldzählens. Man könnte sogar sagen, dieser Bauch hängt so weit herunter, dass man ganz vergessen könnte zu fragen, ob direkt unterhalb dieses ausgeprägten Wohlstandszeichens auch noch so etwas wie Leben stattfindet.
Eine Stadt ohne Unterleib also? Darüber schweigt er lieber, der Münchner. In der Zeitung aber kann man lesen, dass es knapp 3000 Prostituierte und 200 Bordelle gibt. Die meisten weit draußen, denn 90 Prozent der Stadt sind Sperrbezirk. Einschlägige Dienste in privaten Wohnungen gibt es freilich auch hier. Das Gewerbe boomt also – fast wie früher. Denn im späten 18. Jahrhundert, so kann man nachlesen, lebte die Münchner Bevölkerung angeblich nur, um zu schmausen und zu huren: „Alle Abende ertönen die Straßen von dem Gesumse der Saufgelage in den unzähligen Schenken, welches hie und da mit einem Hackbrett, einer Leier oder einer Harfe begleitet ist. Wer nur ein wenig den Herrn machen kann, muss seine Mätresse haben, die Übrigen tummeln sich um einen sehr wohlfeilen Preis auf den Gemeinplätzen herum“, schreibt Johann Kaspar Riesbeck in Briefe eines reisenden Franzosen über Deutschland.
Um 1900, sagen die Kritiker, habe es wenigstens noch Schwabing gegeben mit seiner Franziska von Reventlow, seiner Bohème und den rauschenden Atelierfesten. Und in den Sechzigerjahren habe man immerhin noch den Mythos vom „Mythos Schwabing“ aufgekocht und sich erotisch ein bisschen dran gewärmt. Aber heute? Tote Hose? Nun, vielleicht läuft doch mehr, als man gemeinhin vermutet. Gemäß dem altbairischen Grundsatz: Mit der körperlichen Liebe ist es wie mit der Wahrheit – wer sie hat, braucht nicht darüber zu reden.
Wir sind damit fast am Ende unserer anatomischen Untersuchung des Patienten. Nur eine Frage brennt uns noch unter den Nägeln. Sie ist nicht wirklich wichtig für den medizinischen Befund. Und doch ist sie spannend. Wo hat München eigentlich seinen Hintern? Die Antwort ist leicht. Sie lautet: In Pasing.
Bevor es jetzt Proteste aus dem Westen Münchens hagelt, sei gesagt, dass das nicht abwertend gemeint ist. Ein schöner Hintern ist schließlich eine Zierde, und man lässt sich gern darauf nieder. Dennoch muss der Vergleich kurz erklärt werden:
Pasing ist eine eigenständige Stadtgemeinde: Eigener Bahnhof, eigener Marienplatz, eigener Viktualienmarkt, es ist eigentlich alles sehr eigen in Pasing. Viel „Geschosswohnungsbau“ aus der Nachkriegszeit gibt es da und dazwischen immer wieder all die putzigen Ein- und Zweifamilienhäuser. Es ist nicht unbedingt urban, hat kein städtisches Flair, aber es ist praktisch und sehr gut durchmischt, was die Sozialstruktur angeht.
Von vielem etwas, ja eigentlich alles, was man so braucht – der Pasinger ist sich in der Regel selbst genug. Und daher kommt es wohl auch, dass Pasing irgendwie mehr ist als ein Stadtteil. Es ist eine Weltanschauung, eine Art Wegscheid im Leben eines Münchners. Man könnte auch sagen, es ist die Pärchenfalle für den jungen oder auch nicht mehr so ganz jungen Mittelstand. Auch das muss kurz erklärt werden.
Wer in München studiert und dann anfängt zu arbeiten, der wohnt in einer lichten, hohen Altbauwohnung in Haidhausen oder in Neuhausen oder in Schwabing. Er ist ein sogenannter Single, geht viel aus, zum Essen, zum Tanzen, in Konzerte. Eines Tages passiert es dann. Unser junger Münchner paart sich, gründet eine Familie. Über kurz oder lang wird er vor der Frage stehen, ob er und seine Lieben in München bleiben wollen. Wegen der Kinder und des Gartens und der Luft und der Miete. Und überhaupt. Also wird er eines Tages hinausfahren aufs Land, nach Herrsching oder nach Dorfen, und wird dort Dutzende von Eigenheimen besichtigen, um schließlich eines Tages zu merken, dass er doch in der Stadt bleiben will, weil er es da draußen einfach nicht aushält. Zu viel Landluft! Weil aber schöne, große Vierzimmerwohnungen in der Innenstadt unbezahlbar sind, wird bei den langen abendlichen Diskussionen im jungen Familienkreis irgendwann das Wort „Kompromisslösung“ fallen. Kurz danach kommt immer der Begriff „Reihenhausendstück“ und danach unweigerlich der Ortsname Pasing. Weil junger Mittelstand per definitionem kompromissbereit ist, werden sie also hinausziehen nach Pasing, wo man alles hat und alles kriegt, fast wie in der Stadt, und einen Garten unter Umständen noch dazu. Beim Hineintragen der ersten Möbelstücke ins neue Heim wird unser junger Münchner sich die Worte „Pasing“ und „Reihenhaus“ noch einmal vorsagen, und spätestens dann wird er wissen: Sein Leben hat sich verändert. Das vorläufige Endstück ist erreicht. Er lässt sich nieder. Und deshalb ist Pasing der Hintern von München.
Weil aber heute kaum mehr jemand seine Restlaufzeit in ein und demselben Endlager verbringen will, trennen sich unsere Kompromiss-Pasinger nach ein paar Jahren wieder und paaren sich neu mit einem anderen Kompromiss-Pasinger-Pärchen, das ebenfalls gerade seine Lebensabschnittsvereinbarung aufgekündigt hat. Es entsteht dadurch eine neue, größere Familie, die aus praktischen Gründen zwei oder drei oder mehr nahe beieinanderliegende Reihenhausendstücke anmietet, damit Kinder und Mütter und Väter und Neukinder, Ex-Frauen und Ex-Männer einander so oft wie möglich sehen und füreinander da sein können. Man nennt das dann eine Pasinger Patchworkfamilie. Am Hintern Münchens ändert sich dadurch nichts. Er ist nur ein wenig dicker geworden.
Wenn wir am Ende unserer anatomischen Studie eine Art Fazit über den Zustand unseres Münchners ziehen wollen, dann kommen wir auf folgendes Ergebnis: Er hat einen großen, majestätischen Kopf mit einem erstaunlich leistungsfähigen Gehirn und einem schönen, nur leicht vernarbten Gesicht, mit leider etwas pomadigem Haar und einem allzu kräftigen Stiernacken, ist aber mit einer schönen Stimme und relativ gesunden inneren Organen gesegnet. Seine etwas zu dünnen Arme und Beine stehen im Gegensatz zu einem weit überhängenden Bauch und einem dicken Hintern. Überhaupt scheint er wild in alle Himmelsrichtungen zu wachsen – nach oben, unten, vorne und hinten. Nun, man muss zugeben, schön ist er nicht, zumindest nicht überall. Aber eigen ist er. Und sympathisch. Ein echter Münchner eben.
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