Gebrauchsanweisung für Sardinien Gebrauchsanweisung für Sardinien - eBook-Ausgabe
„Ein sehr persönliches Buch, das es großartig versteht, die Sehnsucht nach der so gar nicht protzigen, liebenswerten Insel zu wecken!“ - Bibliotheksnachrichten Österreich
Gebrauchsanweisung für Sardinien — Inhalt
Ferien auf dem Juwel unter den Mittelmeer-Inseln
Eine Insel, die gegensätzlicher nicht sein könnte: ob in der Universitätsstadt Sassari oder in den vom Wind gebeugten Eichenwäldern des Nordens; an den Badestränden des Westens oder bei Schäfern in den Gebirgsdörfern des Inneren; bei den Schönen und Reichen an der Costa Smeralda im Osten, in den Olivenhainen der Ebenen oder unter Palmen im südlichen Cagliari.
Henning Klüver, verheiratet mit einer Sardin, kennt viele Winkel Sardiniens und legt mit seiner Gebrauchsanweisung dem Leser eine faszinierende Mittelmeerinsel zu Füßen. Er berichtet von Feengräbern und Banditenhöhlen, Modedesignern und Literaturpreisträgern, Trockenmauern und Betonsünden, schillernden Festen und einer kulturellen Vielfalt, die auch Lust auf Wein und Küche macht.
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Sardinien“
Die Insel der Sehnsucht -
ein Vorwort
Es war einer jener Tage im Juni, die typisch sind für die Norddeutsche Tiefebene. Der Himmel hing tief, aber am Horizont hatte er sich geöffnet und zeigte einen Streifen milden Abendlichts. Ich wollte ihr meine Heimat zeigen, wir waren in Hamburg gewesen und jetzt an die Küste gefahren. Vom Deich aus hatte man einen weiten Blick in die Wattlandschaft der Nordsee. „Wo ist das Meer?“, fragte sie, und ich erzählte von Ebbe und Flut, von Strudelwürmern und Furten, vom Schimmelreiter und von Krabbenfischern, und das [...]
Die Insel der Sehnsucht -
ein Vorwort
Es war einer jener Tage im Juni, die typisch sind für die Norddeutsche Tiefebene. Der Himmel hing tief, aber am Horizont hatte er sich geöffnet und zeigte einen Streifen milden Abendlichts. Ich wollte ihr meine Heimat zeigen, wir waren in Hamburg gewesen und jetzt an die Küste gefahren. Vom Deich aus hatte man einen weiten Blick in die Wattlandschaft der Nordsee. „Wo ist das Meer?“, fragte sie, und ich erzählte von Ebbe und Flut, von Strudelwürmern und Furten, vom Schimmelreiter und von Krabbenfischern, und das Abendlicht legte sich wie ein goldener Teppich unter den grauen Himmel aufs Wattenmeer. Ein kühler Wind wehte, sie strich sich die Haare aus dem Gesicht und fragte: „Ist dir nicht kalt?“ Man sah ihr jedoch an, dass sie etwas anderes sagen wollte: „Das soll Meer sein?“
Ein paar Wochen später fuhren wir auf der Küstenstraße von Alghero nach Bosa. Schroffe Gebirgszüge, nur mit der buschigen Macchia und hier und da mit Olivenbäumen bedeckt, fallen steil zum Meer ab. Die wenig befahrene Straße windet sich auf und ab und lässt immer wieder den Blick auf das Wasser frei, das an diesem Septembernachmittag tiefblau unter uns leuchtete und im Sonnenlicht glitzerte, als würden Tausende von Brillanten auf der Oberfläche schwimmen. Eine leichte Brise hinterließ kräuselnde Spuren auf dem sonst ganz ruhigen Meer. Vor einer Bucht lag ein Segelboot, und weiter draußen konnte man mit etwas Glück einen Schwarm Tümmler springen sehen. „Siehst du“, sagte sie, als hätten wir unser Gespräch erst kurz zuvor unterbrochen, „das ist Meer.“
Es ist nicht leicht, einer Sardin zu erklären, dass man beides mögen kann: die wattbraune Herbheit der Nordsee und die brillantenblaue Schönheit des Mittelmeers. Wohingegen es verhältnismäßig leicht ist, jemanden von den sommerlichen Vorzügen des Südens zu überzeugen. Unsere Tochter Gianna lebt zurzeit in Kopenhagen – gleichsam am Meer, aber spätestens im Juni, wenn am Öresund die Temperaturen kaum 18 Grad übersteigen, Regenwolken tief hängen und ein kalter Wind durch Islands Brygge weht, hört man sie am Telefon stöhnen: „Ich will hier raus, ich brauche Sonne, Wärme, Meer ! “
Sehnsucht nach Meer
Sardinien und seine Nebeninseln berühren mit einer Küstenlänge von 1849 Kilometern das Mittelmeer in allen natürlichen Spielarten – vom sanften Ufer bis zur gebirgigen Steilküste. Da ist für viele Urlauber Platz, auch wenn man Klippen und schroffe Felsen abziehen muss, und manche Traumstrände nur mit einem Boot zu erreichen sind. Die Sehnsucht nach einer stillen Bucht, kristallklarem Wasser und einem warmen Strand wächst wie die Liebe mit dem Zunehmen der Entfernung (und dem Wechsel der Klimazone). „Wenn ich mir einen Strand erträume“, heißt es in einem Internetchat (siehe Seite 61), „dann eben Spiaggia Rosa auf Budelli mit einigen lieben Menschen, wolkenlos, 30 Grad mit leichter permanenter Brise, das reicht, Essen und Trinken haben wir dabei.“ Man wird ja noch mal träumen dürfen. In der harten Wirklichkeit bleibt der rosa Strand von Budelli nämlich eine verbotene Zone. Die kleine vorgelagerte Insel zwischen Sardinien und Korsika, auf der Michelangelo Antonioni 1964 einige Szenen seines Filmes „Il Deserto rosso“ (Die rote Wüste) drehte, ist Teil eines nationalen Schutzgebietes, welches das ganze Archipel der Maddalena umfasst. Auf Sardinien gibt es nur noch zwei weitere solcher nationalen, das heißt staatlich verwalteten Naturschutzgebiete: auf der nördlich gelegenen Insel Asinara und – allerdings bei der Bevölkerung und den Lokalverwaltungen umstritten – am Gennargentu-Massiv im Zentrum Sardiniens. Dazu kommen weitere von der Regionalregierung eingerichtete Schutzgebiete. Die Insel Budelli wurde rund um den Strand mit dem berühmten rosa Sand zur Sperrzone erklärt, nachdem der Fremdenverkehr dort wie eine Heuschreckenplage eingefallen war und den Sand tonnenweise in Flaschen und Eimern weggeschleppt hatte. Aus der Traum.
Die meisten suchen schöne Strände, ganz wenige suchen sie ab. Zu Letzteren gehört Alberto, ein Italiener von der Adriaküste, der seit zwanzig Jahren jeden Sommer mit einem Camper nach San Teodoro fährt und sich dort sein Urlaubsgeld auf eigenwillige Art verdient. Gegen sieben Uhr abends, wenn die Menschen gegangen sind und die Möwen kommen, prüft er mit einem Metalldetektor, ob sich im Sand Geldstücke, Uhren oder sogar Schmucksachen versteckt haben. Ganz große, wertvolle Funde gibt er ab, das Geld behält er, der Kleinkram wird verkauft. Früher kamen so an die 100 Euro pro Woche zusammen, inzwischen sind es, wenn es hoch kommt, nur noch 25 Euro, berichtete er der L’Unione Sarda, der auflagenstärksten Zeitung der Insel. Die Finanzkrise ist schuld. Warum aber kommt er zum Strandbesuch nach Sardinien, hat nicht die Adria auch lange Strände ? Schon, aber der Sand auf Sardinien, so Alberto, sei sauberer. Und er muss es ja wissen.
Irgendwann wird aber auch der schönste Strand langweilig, ist auch der dickste Roman auf dem Kindle gelesen, und kann man auch den Kellner in der Pizzeria nicht mehr hören, wenn er zum dritten Mal von seinen Erfahrungen als Gastarbeiter in „Dortomundo“ erzählt. Dann steigt aus der Macchia ein betörender Duft, und man fragt sich, was eigentlich hinter den Hügeln liegt, die die Küste säumen. Woher kommt der aromatische Käse, den man hier manchmal jung und säuerlich-frisch als Vorspeise, dann wieder gereift und leicht nussig im Geschmack nach dem Hauptgericht auf den Tisch bekommt? Wieso knistert das Brot so dünn wie Papier? Was haben die Bäume den Menschen getan, dass man ihre Stämme nackt abschält? Woher weht dieser nervige Wind? Und warum scheint hier so vieles anders zu sein als auf Mallorca, Sizilien oder Kreta?
Sardinien ist einfach anders. Die zweitgrößte Insel des Mittelmeers ist zwar nur unwesentlich kleiner als Sizilien. Doch leben hier weniger Menschen (1,6 Millionen auf Sardinien, 5 Millionen auf Sizilien), die entsprechend viel Platz haben – im Durchschnitt teilen sich 69 Personen einen Quadratkilometer. Allein in der Regionalhauptstadt Cagliari und ihrem Einzugsgebiet konzentriert sich ein Drittel aller Einwohner, das heißt, der Platz für den Einzelnen ist im restlichen Teil der Insel sogar noch größer. Einsamkeit und Stille ziehen sich durch merkwürdige Naturräume, und man fühlt sich wie auf einem fremden Stern. Einzigartig im ganzen Mittelmeerraum sind auch die sonderbaren kegelartigen Steintürme aus der Vorzeit: die Nuraghen. Für die altlateinische Sprache der Einwohner gibt es im restlichen Italien keinerlei Entsprechungen. Und der Verlauf der Geschichte hat hier ganz eigene Bahnen genommen.
Melancholie und Verzauberung
Aus der Insellage erklärt sich vieles. Man wird hier keine extrovertierten Charaktere vorfinden, die bei der Arbeit singen, immer einen Scherz auf den Lippen haben und das Leben leichtnehmen. Schweigen, so schreibt die Autorin Michela Murgia, ist hier der meistgesprochene Dialekt. Und wie die Sarden die Außenwelt eher fremd empfinden (was für andere Regionalkulturen sicher auch gilt), werden sie umgekehrt von dieser als ebenso fremd empfunden (was anderswo weniger der Fall ist). Auf Sardinien spürt man mehr als auf anderen großen Inseln im Mittelmeer, dass man sich „weit ab vom Schuss“ bewegt. Isola lautet das lateinische (wie italienische) Wort für Insel. Isol-iert zu sein, Inselbewohner zu sein, gehört zum Grundgefühl eines jeden Sarden.
In früheren Generationen war der Lebensraum eines jeden Bewohners nicht vom Meer umgeben, sondern vom wilden Bergland und von undurchdringlichen Wäldern. Man igelte sich geradezu ein und kannte die Leute aus dem Nachbardorf nur vom Hörensagen (oder lernte sie bei gewaltsamen Auseinandersetzungen kennen). Das eigene Dorf war eine Insel. Der Schriftsteller Marcello Fois, der aus Nuoro stammt, erzählte mir in einem Interview: „Es scheint paradox, aber bis zu einem gewissen Zeitpunkt haben die Sarden sich nicht auf Sardinien bewegt. Und es gab viele Sardinien, das war und ist wirklich ein kleiner Kontinent. Der Norden ist mehr urbanisiert, es gibt auch viel Landwirtschaft, man könnte sagen, der Norden ist genuaisiert, dazu kommt die katalanische Enklave Alghero. Dann gibt es das Zentrum, das alte Herz der Barbagia, das weite Land der Hirten. Der Süden wiederum ist mehr industrialisiert, aber auch mehr levantinisch. Er ist, unter verschiedenen Gesichtspunkten, Afrika sehr nah, mit volkreichen Städten, Menschen mit dunklerer Hautfarbe, krausem Haar, einer anderen Küche, anderen Verhaltensweisen und einer ganz anderen Sprache. Diese Teile von Sardinien lebten miteinander, es gab einen gewissen Austausch, aber nur den notwendigsten. Man reiste nicht. Ich glaube, bis zur Generation meiner Urgroßeltern ist niemand ans Meer gefahren, hat niemand das Meer je gesehen. Das Meer, das gab es gar nicht. Welchen Grund sollte man haben, es zu sehen?“
In dem streckenweise autobiografischen Roman Cosima beschreibt Grazia Deledda, die ebenfalls aus Nuoro stammte und 1926 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde, wie die 14-jährige Cosima die Küste erreichte und von einem Felsen herabblickte: „Sie sah ein großes leuchtendes Schwert, das man den Klippen zu Füßen gelegt hatte zum Zeichen, dass die Insel vom Kontinent abgeschnitten war, und so musste es bis in die Ewigkeit bleiben. Es war das Meer, das Cosima zum ersten Mal sah.“ Der Kontinent, das ist Italien. Und wenn ein Sarde vom italienischen Festland spricht, nennt er es auch heute nur continente.
Die Sarden, heißt es in einem deutschen Italien-Reiseführer von 1952, seien „kleine dunkle und gut aussehende Menschen, die sich nicht als zu den Italienern gehörig fühlen. Das ›Festland‹, wie sie es nennen, scheint infolge des unabhängigen Geistes der Insel viel weiter entfernt zu sein, als dies tatsächlich der Fall ist.“ Und der deutsche Journalist und Reiseberichterstatter Eckart Peterich schrieb wenige Jahre später über die Landschaft: „Das urtümlich Phantastische des Gesteins erzeugte, mit der Kargheit der Pflanzenwelt verbunden, erst Melancholie, dann Verzauberung, Entrückung. Wir fühlten uns vereinsamt und vereinzelt, vom übrigen Europa durch viel mehr als nur die tyrrhenische See getrennt.“
In der Zwischenzeit hat sich vieles verändert, auch die Sarden sind einen Schritt aus ihrer Isolierung herausgetreten. Sie suchen heute in ihrer überwiegenden Mehrheit als italienische Staatsbürger ihre reichen lokalen Traditionen in einem Europa der Regionen einzubringen. In Italien haben sie als eine von fünf autonomen Regionen (außerdem Sizilien, Aostatal, Trentino-Südtirol und Friaul-Julisch Venetien) größere Möglichkeiten zur Selbstbestimmung als Regionen mit einem Normalstatut, doch tun sie sich schwer, diese zu nutzen. Marcello Fois sagte dazu: „Unser Problem ist, dass wir, historisch gesehen, daran gewöhnt sind, von außen geleitet zu werden. Wir haben Probleme mit der Selbstverwaltung, trotz aller Rhetorik. Wir sind stolz, wir sind tolle Leute, wir sind manchmal auch Verbrecher, wie überall. Das alles ist richtig. Aber historisch, da gab es die Phönizier, die Römer, die Katalanen, die Spanier, die Genuesen, die Pisaner und die Piemontesen. Der Eindruck hat sich festgesetzt, Sardinien war für alle da, aber nicht für die Sarden.“ Und noch heute pflegen sie irgendwo in einem Hinterstübchen diese Vorstellung, dass sie nicht Herren ihrer selbst sind. Dabei fühlen sich die Sarden ihrer Insel geradezu physisch verbunden, wenn sie sie verlassen müssen, spüren sie einen Schmerz, und im Ausland plagt sie eine „geologische Sehnsucht“ (Giorgio Todde) nach ihrer Heimat.
Ein paar Zahlen und Namen
Sardinien liegt 189 Kilometer vom italienischen Festland entfernt, getrennt durch das Tyrrhenische Meer. Und 184 Kilometer Luftlinie trennen die Mittelmeerinsel von der Küste Afrikas. Sie wird zu 80 Prozent von Hügel und Gebirge bedeckt, die höchste Spitze ist die Punta La Marmora des Gennargentu (1834 Meter). Ebenen, Flüsse und Seen nehmen 18,5 Prozent der Oberfläche ein, das restliche Gebiet gehört zu den vorgelagerten Inseln, unter denen Sant’Antioco die größte ist. Die Regionalhauptstadt Cagliari ist zugleich die größte Stadt mit 164 000 Einwohnern; Sassari, die zweitgrößte, hat 120 000 Einwohner. Insgesamt gibt es 377 Gemeinden. Politisch teilt sich die autonome Region Sardinien in acht Provinzen: Cagliari, Carbonia-Iglesias, Medio Campidano, Oristano, Sassari, Olbia-Tempio, Nuoro, Ogliastra. Zahlreicher sind die „historischen Regionen“, das sind Landschaftsbezeichnungen ( siehe Karte Seite 6 ), die heute noch gebräuchlich sind und auch in vielen Reiseführern auftauchen. So heißt das Land um Nuoro „Barbagia di Nuoro“, das um Fonni „Barbagia Ollolai“, das südlich von Olbia „Baronie“, das zwischen Olbia und Santa Teresa „Gallura“, das an der Nordwestspitze „Nurra“, das zwischen Macomer und Bosa „Planargia“, das um Barumini „Marmilla“, das um Carbonia und Sant’Antioco „Sulcis“ oder das um Cagliari „Campidano di Cagliari“, um nur einige zu nennen.
Das offizielle Wappen Sardiniens, ein rotes Kreuz auf weißem Grund und vier „Mohrenköpfe“ mit einer Stirnbinde, geht auf ein ehemaliges Hoheitszeichen der Könige Aragons zurück, die im 11./12. Jahrhundert die Herrschaft über die Insel erlangten. Im 19. Jahrhundert wurden die vier Köpfe als Symbole der freien Judikate interpretiert, die Sardinien im frühen Mittelalter regierten und sich dabei den Angriffen von Piraten aus dem islamischen Raum (Sarazenen) erwehren mussten. Die schwarzen Köpfe galten so als Sklaven und die Stirnbinde mutierte zur Augenbinde. Diese Form wurde zunächst von der Sardischen Aktionspartei nach dem Ersten Weltkrieg übernommen und bildete dann die Vorlage für das Wappen der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen autonomen Region. Nach langen Diskussionen korrigierte man schließlich im Jahr 1999 durch ein Regionalgesetz den Irrtum, und die Binden rückten von den Augen wieder auf die Stirn zurück.
Erinnerung und Gegenwart
Ich reise seit fast vierzig Jahren immer wieder nach Sardinien. Oft im Schlepptau meiner Frau, die auf der Insel geboren wurde und hier ihre Kindheit verbracht hat. Eigentlich will sie nicht im Buch erwähnt werden, aber ich möchte mich trotzdem bei ihr und ihrer Familie bedanken, denn ohne sie hätte ich Sardinien nie so intim kennengelernt. Sarden sind sehr zurückhaltend, sie achten besonders auf ihre Privatsphäre und lassen Fremde noch weniger gerne in ihre Angelegenheiten gucken als andere. Ihre Gastfreundschaft ist jedoch sprichwörtlich, und Reisende werden das vielleicht in kleinen Hotels oder Pensionen (Bed & Breakfast) spüren, auch wenn sie nicht das Glück haben, von einer Familie aufgenommen zu werden.
In den vierzig Jahren hat sich viel verändert auf Sardinien. Lastwagen donnern über manche Straßen, der Verkehr staut sich nicht mehr nur um Cagliari, und Einkaufszentren belagern die Städte. Die Insel hat sich in einem Tempo modernisiert, das atemberaubend ist. Dennoch, oder vielleicht gerade deshalb, laufen hier mehr als anderswo verschiedene Zeitschichten nebeneinander her. Anders als bei uns zu Hause, wo Gegenwart alles beherrscht, Vergangenheit nur stört und Zukunft sich immer mehr auf die Erfüllung eines Konsumwunsches reduziert. Rückblicke gerieren da oft zur Nostalgie nach einem Gestern, bei dem alles besser war. Das Beispiel Sardinien zeigt deutlich, dass früher nicht alles besser war, ganz im Gegenteil. Es zeigt vor allem, dass es anders war. Wie dieses Anderssein heute noch durchscheint, welche Chancen der Entwicklung genutzt wurden und welche nicht, das ist das Spannende. Und manches, was noch vor vierzig Jahren Alltag war, überlebt heute nur in den schützenden Räumen der Traditionspflege.
Zum Beispiel das Morra-Spiel oder sa murra, wie es auf Sardisch heißt. Das gehörte anfangs für mich zu den Überfahrten mit der Fähre einfach dazu: zwei oder vier Männer – umringt von einer Zuschauergruppe –, die mit ausgestreckter Hand eine Anzahl von Fingern zeigen und sich Zahlen, natürlich in sardischer Sprache, an den Kopf werfen: battoro (vier), nobe (neun), kimbe (fünf ), deghe (zehn) usw. Das spielt sich dann wahnsinnig schnell ab, die Teilnehmer müssen dabei die Gesamtzahl der gezeigten Finger erraten. Wem das gelingt, der bekommt einen Punkt. Gewonnen hat der, der als Erster eine festgelegte Punktzahl erreicht (meistens 16 oder 21). Es ist ein uraltes Spiel, das vermutlich aus Ägypten stammt, bereits von Autoren der Antike erwähnt wird und in ähnlicher Form auch auf Korsika, in Spanien (Aragonien) oder in Italien im Trentino vorkommt. Im Mittelalter war es zeitweise verboten, weil es nicht selten im Streit und in handgreiflichen Auseinandersetzungen endete. Im Faschismus wurde Morra als Glücksspiel eingestuft und das demokratische Italien hat das Verbot (für Spiele in der Öffentlichkeit) übernommen, auf Sardinien wurde es dennoch mit stiller Duldung der Behörden weiter praktiziert. Als ein spontanes Spiel vor der Bar oder in der Trattoria (und auf den Fähren) ist es inzwischen verschwunden, dafür gibt es überall auf der Insel Vereinigungen, die die Tradition hochhalten. In Urzulei, einem kleinen Ort der Ogliastra an den Ausläufern des Gennargentu, werden darin seit 1998 sogar sardische Meisterschaften ausgetragen.
Sehnsucht nach „mehr“
Reisende bewegen sich in der Regel auf den Spuren anderer Reisender. Reiseführer geben Wege vor, die bereits eingefahren sind. Und auch Autoren von Reisebüchern folgen den Texten von anderen Autoren. Das ist bei dieser „Gebrauchsanweisung“ nicht anders. Sie möchte aber als Reisebuch landeskundliche Untersuchung einfließen lassen und eine Ahnung von einer Humangeografie Sardiniens vermitteln, die es in deutscher Sprache noch nicht gibt. Seine Grundlage ist die journalistische, nicht die wissenschaftliche Recherche. Ohne die vielen anderen Reisenden und Autoren, die in der Literaturliste am Ende genannt werden, hätte ich dieses kleine Buch allerdings nicht schreiben können. Ihre Texte haben mir manchmal die Augen geöffnet für das, was ich immer schon gesehen, aber nie wahrgenommen habe. Viele Gedanken anderer sind also mit eingeflossen, auch da, wo sie nicht als Zitate gekennzeichnet sind. Die Zitate wiederum sind über den Namen des Autors leicht den in der Literaturliste aufgeführten Arbeiten zuzuordnen. Weniger leicht zuzuordnen (und damit zu kontrollieren) sind die Interviews, die ich in den vergangenen Jahrzehnten auf Sardinien geführt habe, als ich mich für Zeitungen oder für den Rundfunk mit Themen dieser faszinierenden Insel auseinandergesetzt habe. Viele Aspekte konnten dabei leider nur gestreift werden, gut informierte Leser werden vielleicht gerade ihren Lieblingsort vermissen oder andere Erfahrungen gemacht haben. Ich habe mich bemüht, ein Gesamtbild zu vermitteln und auch die Schattenseiten nicht auszuklammern, jedoch ist dieses Bild gleichsam von Hand gemalt, durch einen ganz subjektiven, manchmal sogar privaten Blick geprägt, so wie man anderen Personen einen guten Freund vorstellt oder einem Besucher beim Rundgang sein Stadtviertel zeigt. Zu großem Dank bin ich all denjenigen Menschen Sardiniens verpflichtet (wo immer sie leben), denen ich begegnet bin, die sich Zeit genommen haben, mit mir zu reden, und die mich mit ihren Ideen unterstützt und mit ihren Kenntnissen bereichert haben.
Die Erfahrungen eines Einzelnen mögen begrenzt sein, doch sie sind Teil einer Reiselust, die andauern wird, solange Menschen Neugier auf fremde Kulturen und für andere Menschen entwickeln, sie in ihrem Anderssein, Fremdsein ernst nehmen und das Reisen als Bereicherung der persönlichen Kultur verstehen. Solange man auf seinen Reisen aber auch als Botschafter der eigenen Kultur auftritt, die man nicht zu verleugnen braucht. Wer schaulustig und neugierig ist, wer mehr will als nur Sonne und kristallklares Wasser, kurz: wer „Sehnsucht nach mehr“ verspürt, den wird Sardinien reich beschenken. Für diese Neugierigen habe ich das Buch geschrieben, um ihnen Wege für eigene Entdeckungen zu öffnen. Die Besserwisser werden vermutlich enttäuscht sein. Macht nichts: Gute Reise auch ihnen!
Henning Klüver, im Frühjahr 2012
Nebel vor Porto Torres -
Annäherungen
Es gibt Tage, da zieht Nebel auf und du denkst, das darf doch nicht wahr sein. Da fährt man nach Sardinien, und das Fährschiff kann in den Hafen von Porto Torres nicht einlaufen, weil der Nebel so dick steht wie sonst in Cuxhaven nicht und auch in Mailand schon lange nicht mehr. Wer frühmorgens, etwa im März oder April, kommt, lernt schnell: Sardinien mag eine Sonneninsel sein, aber auch hier dauert der gewiss lange Sommer keine 365 Tage. Und es gibt Tage, da schlägt das Wetter Kapriolen.
Erste Annäherung: mit der Fähre
Die Anreise über das Meer ist immer noch die schönste und auch die älteste. So reisten Menschen bereits in der grauen Vorzeit, als die vielen Nuraghen-Türme auf der Insel noch keine archäologischen Zeugen waren, sondern lebendiger Ausdruck einer großartigen Kultur. Im Augenblick sieht man aber nichts von ihnen, Sardinien liegt im Nebel, so als wolle es seine Geheimnisse nicht preisgeben. Vielleicht ist alles nur ein Traum? Das schwere Fährschiff zittert leicht, weil die Motoren leerlaufen. Und auf dem Deck vor dem Büro des Commissario di bordo, des Zahlmeisters, kommen immer mehr Menschen zusammen, teils mit ihrem Gepäck, weil die Ankunft ja nicht mehr weit sein kann, teils um zu erfahren, wie lange diese Dümpelei eigentlich noch dauern soll. Andere wiederum nützen die Zeit, um in einer der Bars noch einen Cappuccino zu trinken und eine weitere Brioche zu kaufen. Tonio, einer meiner zahlreichen sardischen Verwandten, glaubt, das sei der einzige Grund für die Verspätung. Die Fährgesellschaft wolle nur noch mal schnell die Morgenkasse auffüllen. Gäbe es nicht heute genügend technische Mittel, um auch bei Nebel in einen Hafen einzulaufen? Tonio denkt wie so viele Sarden (und so viele Italiener) realistisch. Sie haben gelernt, dass sich immer irgendjemand auf ihre Kosten bereichern will. Da ist Misstrauen angesagt, wenn plötzlich etwas nicht so klappt, wie es klappen soll. Aber als romantischer Deutscher gefällt mir dieser Nebel und die Vorstellung, dass Sardinien ein Traum sein kann. Ich gehe nach draußen auf das Bootsdeck, schlage den Jackenkragen hoch und atme tief die salzige Morgenluft ein. Möwen rufen und kündigen das Festland an. Man kann sie zwar nicht sehen, der Hafen muss jedoch ganz in der Nähe sein. Irgendwo hinter dem weißen Vorhang, der ganz lebendig flimmert, als sei er mit Glühwürmchen durchsetzt, liegt die Insel mit ihrer weiten Landschaft, ihrer Geschichte und ihren Geschichten. Und jede Reise zu ihr wird zu einem neuen Abenteuer.
Das erste Mal fuhr ich in meiner Studentenzeit mit der Eisenbahnfähre (die so hieß, weil sie von den Ferrovie dello Stato, der staatlichen italienischen Eisenbahngesellschaft betrieben wurde) von Civitavecchia nach Golfo Aranci. Das war in einem September Mitte der Siebzigerjahre, und ich hatte keine Ahnung, dass dieser Überfahrt noch so viele andere folgen würden. Ich staunte, wie die Autos, die diese Fähre transportierte, nicht über eine Rampe in den Bauch des Schiffes fuhren, sondern mit einem Kran und einer netzartigen Vorrichtung an Bord gehievt wurden. Damals rollte ich mich an einem warmen Sommerabend wie so viele andere Passagiere draußen an Deck in meinen Schlafsack, denn das Geld für einen Platz im Schlafsaal zweiter Klasse mit seinen unbequemen Liegesesseln und dem penetranten „Duft“ von Schweißfüßen konnte man sich wirklich sparen. Draußen atmete man die mit einem leichten Dieselgeruch (aber der schien uns wie Parfüm) durchsetzte Seeluft, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte in einen Himmel voller Sterne. Vom sanften Auf und Ab der Überfahrt und der leisen Melodie der Maschinen ließ ich mich in den Schlaf wiegen. Irgendwann wachte ich mit Salzgeschmack auf den Lippen auf, es war empfindlich kalt und feucht geworden, und es schien, als hätte sich der Dieselgeruch wie ein öliger Film auf die Planken geschlagen. Ich stand auf, die Dämmerung kroch aus dem Meer, und ganz still tauchte mit ihr steuerbord ein riesiges weißes Ungeheuer aus dem Wasser auf. Mein Gott, was war das denn? Das war die Tavolara, eine im Nordosten Sardiniens vorgelagerte, hoch aufgerichtete Felseninsel. Wie von Geisterhand erwachte das Schiff, die Leute strömten an Deck, man rauchte die erste Zigarette, und über Lautsprecher wurde angekündigt, dass die Bar öffnete und die Fähre bereits Kurs auf Golfo Aranci nähme.
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