Gebrauchsanweisung für Slowenien Gebrauchsanweisung für Slowenien - eBook-Ausgabe
„Man liest sich fest an diesem pointierten Länderporträt und erfährt dabei so viel über das kleine Land, dass man es nie mehr übersehen kann.“ - Augsburger Allgemeine
Gebrauchsanweisung für Slowenien — Inhalt
Grüner wird's nicht
Slowenien: nah, grün und vielseitig!
Noch ist Slowenien ein Geheimtipp, wird aber als Reiseland immer angesagter. Es besteht zu sechzig Prozent aus Wäldern und ist so grün wie kaum ein anderes Land – und es setzt auf nachhaltigen Tourismus. Slowenien verbindet unterschiedlichste, touristisch reizvolle Regionen mit kurzen Distanzen: traumhafte Seen und Meer, Julische Alpen, Karawanken und Karstgebirge. Auch die Küche ist reich an Einflüssen; auf den Speisekarten treffen Wiener Brösel auf den Fleischspieß vom Balkan, Bärenkeulen auf vegetarische Buchweizentaschen.
Aleš Šteger, der bekannteste slowenische Autor seiner Generation, bereist per Zug, wandernd und mit dem Fahrrad seine Heimat. Mit dem Blick des Insiders zeigt er uns, wo Slowenien am schönsten ist, und macht Lust, gleich hinzureisen.
Er erkundet die pulsiernde Hauptstadt Ljubljana, den Charme der Seen und Thermalbäder, der Dörfer und Täler im Hinterland. Pointiert und mit feiner Ironie stellt er seine Landsleute vor, deren Selbstverständnis zwischen vitalem Nationalstolz und sympathischer Bescheidenheit oszilliert. Und die ihrer Leidenschaft für Wassersport und Open-Air-Events, Musik- und Literaturfestivals frönen.
„Jedes seiner Bücher ist ein Ereignis für sich.“ Durs Grünbein über Aleš Šteger
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Slowenien“
TEIL 1: ALLGEMEINES ÜBER DAS BESONDERE
Das Kleine, das Große und das Wenige: Zur Einleitung
Sie lieben Berge? Sie möchten in die Berge? Fahren Sie nicht nach Slowenien. Fahren Sie lieber in die Schweiz, dort hat man Berge im Überfluss und dazu noch höhere. Sie wollen ans Meer? Nein, Slowenien ist dann auf keinen Fall eine gute Wahl, fahren Sie lieber nach Griechenland oder Kroatien, dort gibt es reichlich Meer, ja, und Inseln und Sandstrände gibt es dort auch. Sie lieben Religion? Fahren Sie nach Österreich, nach Bayern, dort trifft man den lieben Gott in [...]
TEIL 1: ALLGEMEINES ÜBER DAS BESONDERE
Das Kleine, das Große und das Wenige: Zur Einleitung
Sie lieben Berge? Sie möchten in die Berge? Fahren Sie nicht nach Slowenien. Fahren Sie lieber in die Schweiz, dort hat man Berge im Überfluss und dazu noch höhere. Sie wollen ans Meer? Nein, Slowenien ist dann auf keinen Fall eine gute Wahl, fahren Sie lieber nach Griechenland oder Kroatien, dort gibt es reichlich Meer, ja, und Inseln und Sandstrände gibt es dort auch. Sie lieben Religion? Fahren Sie nach Österreich, nach Bayern, dort trifft man den lieben Gott in jedem zweiten Satz, oder besuchen Sie den Vatikan, aber fahren Sie nicht nach Slowenien, bitte. Sie mögen Metropolen, lange Einkaufszeilen oder Boulevards, Sie lieben das Urbane und möchten nach – wohin? Sie werden enttäuscht sein, in Slowenien gibt es nicht einmal richtige Wolkenkratzer, und Leute, nun ja, Menschenansammlungen sind in Slowenien seltener als Safran. Leute gibt es in Slowenien zu wenige für jemanden, der Menschenansammlungen mag und nichts lieber tut, als sich durch die Menschenaufläufe der Ginza in Tokio, auf der New Yorker 5th Avenue oder in der Londoner New Oxford Street zu zwängen. Sie werden fragen: Slowenien, ist das überhaupt ein Land? Ist es nicht eher eine Zumutung, einen kleinen Flecken von der Größe Los Angeles’ einen Staat zu nennen, dazu noch ohne Päpste, Könige, Billionäre und ohne, dass zumindest ein historisches Stück von Shakespeare dort spielen würde oder wenigstens mal ein fetter Krieg von dem Land angezettelt worden wäre? Sie haben absolut recht: Diejenigen, die die große Welt lieben, die von Zahlen, langen Einkaufsmeilen, höchsten Stockwerken, schwindelerregender Statistik und unendlichen Stahlbetonmengen, vom Unzugänglichen und Unerreichbaren fasziniert sind, sollten das Land höchstens vom Café an der Autobahnraststätte aus erkunden, auf der kürzestmöglichen Durchreise.
Denn früher oder später wird es Ihnen passieren: Sie werden den kleinen Flecken mitten in Europa durchstreifen müssen. Das ist geradezu unumgänglich. Slowenien ist nämlich ein Land, das man ohne Weiteres übersieht, ganz umgehen kann man es aber kaum. Denn es liegt an einer europäischen Nahtstelle oder, wie es die Slowenen gerne von sich sagen, we are the nation on the best location. Nun, das schier unsichtbare Land hat in den letzten Jahrzehnten einiges von seiner Unsichtbarkeit eingebüßt. Noch immer ist es das Land, das weit oben erscheint, wenn Sie „sicheres Reiseland“, „problemloses Reisen mit Kindern“ oder ähnliche angstgetriebene Suchoptionen bei Google eingeben, vor allem, wenn es um die geringe Zahl an Überfällen, Diebstählen, Entführungen oder Aggression im Straßenverkehr geht – ohne dass dahinter ein gewiefter Werbetrick des slowenischen Tourismusverbandes stecken würde. Es ist eben so – und hoffentlich bleibt es noch eine Zeit lang dabei.
Die Wahrheit ist eher: Nirgends findet man so viel Europa auf kleinstem Raum. Man muss nur behutsam und langsam genug den Kopf drehen und hinschauen. Denn die Perspektive, um das Land zu erfassen, beruht eher auf der Sicht eines Bonsaibeschneiders, eines Briefmarken- oder Schmetterlingsammlers, eines Dichters von kürzesten Versformen. Das kleine Detail steht für das meist nicht physisch vorhandene, sondern nur erträumte Große. Vielen genügt das nicht, sie fahren das ganze Land in zwölf bis höchstens 36 Stunden ab und glauben, schon alles erlebt und erkundet zu haben. Nein, so klein ist der Flecken der nation on the best location nun auch wieder nicht. Wenn man sich aber nicht eine gewisse metaphorische Lesekunst aneignen kann, die besagt, dass man beim Bereisen eines Landes nicht bloß das Gesehene, sondern auch das dabei Vermisste und Erträumte mitnehmen und erleben soll, dann ist man in Slowenien ohne Zweifel fehl am Platz.
Es ist gewöhnungsbedürftig: Man sieht die schneebedeckten Alpen, und schon ist man am Meer. Man fährt durch toskanaartige Weinhügelidyllen, und ganze zwanzig Minuten später ist man gefangen im eintönigen Horizont der Pannonischen Tiefebene.
Slowenien zeichnet sich durch die dynamische Intensität der größten Unterschiede auf kleinstem Raum aus, die jeden umhaut, der es nur anders kennt und bei sich zu Hause weit, weit verreisen muss, um dieses andere zu erfahren. Es ist ein Land für diejenigen, die die kleinen Unterschiede zu schätzen und zu lesen wissen, die im Detail nicht nur einen kläglichen Anfang sehen, sondern den versteckten Schlüssel, den nur mit Geduld und Aufmerksamkeit lesbaren Plan vom Ganzen.
Slowenien ist ein Land der kleinen, aber für die Einwohner überaus wichtigen Gegensätze, eine Anhäufung an Mikrokosmen, eher eine Bienenwabe als ein Ameisenhaufen. Es kann durchaus ein Honigland sein, wenn man sich für den Zuckergenuss Zeit nimmt und die Zeit verfließen lässt, so wie es der Zeit angemessen ist – der Zeit und nicht uns, den Immer-mehr-und zu-viel-Wollenden.
Wer man in Slowenien zu sein meint und wer man sein möchte: Sprache und Identität
Man wird es ihm nie verzeihen, dem amerikanischen Präsidenten Bush, der 1998 bei einem Staatsbesuch Slowenien mit der Slowakei verwechselt hat, vor laufenden Kameras und im Beisein des slowenischen Regierungschefs. Auch Sarkozy wird man nicht verzeihen, Berlusconi und den vielen anderen, die es ihm nach- oder vorgemacht haben. Es mag schon stimmen, dass die zwei nicht weit voneinander entfernt liegenden Länder für das für slawische Sprachen ungeschulte Ohr ähnliche Namen tragen, ähnliche Fahnen haben, gar nicht so unterschiedliche Wappen in den Fahnen, dass sich auch die zwei südslawischen Sprachen in vieler Hinsicht ähneln, dass in beiden Ländern kein schlechtes Eishockey gespielt wird und Bier kein unbeliebtes Getränk ist, aber damit enden die Parallelen auch schon. Es ist ein Prüfstein, über den viele stolpern, mit dem man sich als Reisender etliche Plus- oder Minuspunkte holen kann. Wenn man jung ist – und Slowenien ist ein sehr junger Staat –, möchte man ernst genommen werden. In ein paar Jahrhunderten werden unsere Nachfahren über geschwänzte Geografiestunden der Besucher schmunzeln, heute ist man aber nach wie vor auf die eigene Selbstbehauptung und auf die Anerkennung durch die anderen aus.
Mit dreißig Jahren seit der Staatsgründung ist das Land zwar aus den Windeln raus, aber oft steckt es sich noch insgeheim den Schnuller in den Mund. Schreien tut es nicht oft, denn dazu ist es ein viel zu introvertiertes Wesen, das Frustrationen lieber mit sich herumträgt und sogar Formen gefunden hat, wie man sich mit Frust spielend die Zeit vertreiben kann. Eigentlich ist man in Slowenien ein freier Bürger in einem Land der Grenzen. Stellen Sie sich vor: Sie sitzen, patriotisch gestimmt, an einem großen runden Holztisch unter der historischen Linde, dem Nationalbaum der Slowenen, im geografischen Zentrum des Landes, Geoss genannt. Sie trinken ihren Kaffee aus, setzen sich ins Auto und fahren in eine x-beliebige Himmelsrichtung los. Falls Sie keine Panne haben und kein Stau ist, und falls nicht gerade aufgrund einer Pandemie die Grenzen abgeriegelt sind, wenn also alles mit einer gewissen Normalität verläuft, werden Sie nach einer zweistündigen Fahrt mit großer Gewissheit irgendwo sein, wo niemand mehr Ihre Sprache spricht, wo man keine Ahnung hat, wie Ihr Staatschef heißt, ob der 25. Juni ein Staatsfeiertag ist und wie man auf Slowenisch flucht. Man kann zu Fuß gehen oder mit dem Fahrrad fahren, man kann kriechen oder sich langsam voranwälzen – das Land wird dadurch kaum größer, als es die gut 20 000 Quadratkilometer hergeben.
Die Slowenen – viele unter ihnen stolz auf das Faktum, dass sie nie in der bislang bekannten Geschichte ihre Nachbarn angegriffen, einen Eroberungskrieg angezettelt oder geführt haben, in einer aus ausbeuterischem Kolonialismus gestrickten Welt überdauert haben nur mit Widerstand und Abwehrkampf, der eigenen Hartnäckigkeit vertrauend, der Gewieftheit und dem Stumpfsinn –, sie mussten sich etwas anderes zur Erweiterung des Landes ausdenken. Sie haben das Land nach innen ausgedehnt – in der Sprache, in den Mikroidentitäten und in den verschiedensten Umgangsformen, die sich in all den von Gott vergessenen kleinen Tälern und Hügeln Sloweniens durch die Jahrhunderte eingestellt haben.
Linguistisch gesehen ist die slowenische Sprache ein Festmahl. Die gut zwei Millionen Sprecher haben sich so viele Dialekte ersprochen, dass Slowenisch unter allen slawischen Sprachen die dialektal am dichtesten gegliedertste ist. Jedes Kaff hat seinen eigenen Dialekt, die Sprache teilt sich in acht Dialektgruppen und in über dreißig Hauptdialekte auf, und wenn ein Film im östlichen Prekmurjedialekt läuft, dann wird er selbstverständlich im Rest des Landes mit Untertiteln gezeigt. Auf der einen Seite hat das Slowenische, das seit dem neunten Jahrhundert, also viel früher als zum Beispiel das Russische, eine Schriftsprache ist, einige linguistische Spezialitäten beibehalten, die aus anderen Sprachen meist zum Zweck der Vereinfachung verbannt wurden. Allen voran den Dual, eine besondere grammatikalische Form für zwei. Man könnte daher das Slowenische schnell zu einer Sprache der Liebe oder wenigstens der Intimität küren, einer Sprache, die das Zweisein in ihrer Grammatik demonstrativ vor sich herträgt und preist, wäre nicht die Anzahl an Personen, die man üblicherweise benötigt, um eine dritte zu zeugen, auch die, die mindestens notwendig ist, um einen Zwist anzuzetteln. Deshalb unterlassen wir lieber die sich anbietende Heroisierung des Duals im Slowenischen, der eine Seltenheit unter den indoeuropäischen Sprachen darstellt. Auf der anderen Seite kennt das Arabische auch einen Dual, viele Sprachen aus dem pazifischen Raum haben neben dem Dual noch zusätzliche grammatikalische Zahlformen, und das Chinesische kommt ohne all das aus.
Es bleibt aber festzuhalten, dass es in schwierigen Zeiten, in denen nicht klar war, ob das Slowenische und die Slowenen historisch Bestand haben würden, die slowenische Sprache war, in die man flüchtete, sei es im Gebet oder
im Volkslied, im Revoltieren oder indem man sich zu dem einen oder anderen bekannte. Wenn man sich die Lage der Sorben und der Slowenen Ende des 17. Jahrhunderts anschaut, ihre Bevölkerungszahl, das Territorium, das sie besiedelten, das Buchwesen und Kulturleben vergleicht, dann zeigen sich zu diesem Zeitpunkt viele Parallelen. Heutzutage nicht mehr. Kulturen sterben aus, und die Slowenen werden heute von klein auf in der Idee erzogen, dass sie als kulturelle Entität aufgrund ihrer Sprache überlebt haben. Aus diesem Glauben heraus entwickelten sich viele Besonderheiten der Slowenen, zum Beispiel ein romantischer Dichterkult, nach Dichtern benannte Partisanengruppen im Abwehrkampf im Zweiten Weltkrieg, ein arbeitsfreier Kulturnationalfeiertag am 8. Februar, dem Todestag des Nationaldichters Prešeren, wohl die dichteste Dichte an Lyrikschreibenden (leider weniger Lyriklesenden) in Europa und Gesetzesverordnungen, die die slowenische Sprache im öffentlichen Gebrauch, vor allem an Schulen und Universitäten, schützen sollen.
Das Slowenische ist unter den slawischen Sprachen eine besonders sanfte und melodische, mit einem Hauch von Dante-Italienisch und der Kantigkeit des Deutschen durchzogene. Lange Zeit war es die Sprache mit den wenigsten Sprechern, für die Microsoft seine Produkte herstellen ließ, und der Ortstafelturm im österreichischen Kärnten, der im Jahr 1972 gewalttätig entfernt wurde, die Beschmierung von slowenischen Ortstafeln im ethnisch gemischten Gebiet und schließlich die Wiederaufstellung des Ortstafelturms vierzig Jahre später zeigen, wie Sprachgebrauch und Regulierung bis in unseren europäischen Alltag wichtige Instrumente der Politik bleiben.
Die Sprache ist für die Slowenen wie eine zweite Haut, und wenn man keine Schlange ist, ist es schwer, sich zu häuten. Die Sprache ist die Grenze der Slowenen. Daher schauen wir am Ende dieses womöglich für den einen oder anderen Leser viel zu übertriebenen Hohelieds auf das nicht selbstverständlich Alltägliche vor allem auf die Sprache, auf ein slowenisches Wort. Nicht das für den touristischen Gebrauch praktische hvala („danke“) oder das lebendigste und universelle živijo (zhivijo), das als informelles Grußwort wie auch beim Anstoßen gut einsetzbar ist. Nein, werfen wir einen Blick auf das slowenische Wort für „Grenze“, meja. Meja hat sein etymologisches Echo in der Mitte, das deutsche „mittig“ ist mit ihm verwandt. Die Augen gingen mir aber vor ein paar Jahren auf, als ich bei einem Bauern aus Vipava hörte, er gehe in die Grenze. Wie geht man in die Grenze, fragte ich. In die Grenze, v mejo, sagte er erneut und zeigte auf den Wald. Dass Grenze und Wald eben dort, wo das Besiedelte aufhört, in ein und demselben Wort übereinstimmen und damit ein unpräzises Territorium, wo die andere, grünere und luftigere Welt beginnt, bezeichnen, freute mich und machte meinen von Grenzen in den Köpfen der Slowenen umzäunten Alltag viel erträglicher und entspannter.
Die Slowenin, der Slowene
Der Slowene, die Slowenin – falls es ihn oder sie überhaupt gibt – ist bestenfalls ein(e) Scheinheilige(r). Slowenen sind meist pflichtbewusst, vor allem, wenn es darum geht, das System, die Gesetze, den Chef legal auszutricksen. Wir arbeiten, rühmen uns gern der eigenen Arbeit und verstehen als Teil dieser Arbeit auch das Jammern über das Arbeiten. Der Slowene/die Slowenin trinkt, ohne jemals zuzugeben, dass es ihm oder ihr schadet. Er beziehungsweise sie feiert gern, um dabei heftig mit anderen in Streit geraten zu können. Vor allem in der Familie ist das ein beliebter Sport, und es gibt nichts Größeres und Wichtigeres für einen Slowenen, für eine Slowenin als die Familie, auch wenn er oder sie es nie so offen zeigen würde wie ein Italiener oder eine Griechin.
Er flucht – aber meistens auf Serbisch oder Englisch, slowenische Flüche kennt er fast keine, zumindest keine deftigen; dafür hat er eine Doppelmoral verinnerlicht, die ihn untertänig und hochnäsig zugleich erscheinen lässt. Dem Balkan und dem Ostblock gegenüber fühlt er sich überlegen, obwohl sich ein solches Gefühl nicht aus Realität speist, sondern aus Vorurteilen. Und ebenso wird er schnell still, wenn der Westen spricht. Oder er wiederholt brav, was eben gerade gesagt wurde. Das Hauptziel ist, wenig vom Eigenen nach außen dringen zu lassen, der Welt nichts Schlechtes über sich zu verkünden, strahlend und zugleich verkannt dazustehen, ohne Grund und Effekt. Das verleiht ihm eine gewisse Steifheit und Verkrampftheit im Umgang mit Fremden. Er leidet unter dem Druck, immer einen Besseren vorspielen zu müssen, obwohl er eigentlich nicht weiß, wozu und warum. Es ist dieser Drang in ihm, ein Besserer als er selbst zu sein. Eine unerfüllbare Aufgabe, die ihn oft ratlos und fremd an der Seite stehen lässt. Er ist der geborene Außenseiter im eigenen Land.
Deshalb verreist er so gerne und so oft er nur kann. Anderswo wird er zum fröhlichen Menschen, zum Weltenbummler, wissbegierig, innovativ und schlau. Wo immer Sie in der Welt hinreisen sollten, Sie werden nicht weniger als einen (aber auch kaum mehr als zwei) Slowenen antreffen. Ich habe Slowenen auf dem Machu Picchu sprechen gehört, auf Feldern nahe Sapporo und in Tungusien. Auch die touristischen Daten sprechen dafür, im Durchschnitt reist der Slowene öfter und weiter als andere Mitteleuropäer. Er muss reisen, denn er ist auf der Flucht. Und gerade diese Flucht macht seine Existenz im eigenen Land nicht nur ertragbar, sondern ab und zu sogar zu einem Genuss. Bei offener Käfigtür bleibt er lieber freiwillig eingesperrt zu Hause, erkennt die Schönheit, die ihn umgibt, genauer und lernt sie zu schätzen.
Was wir Slowenen im Vergleich zu anderen slawischen Brüdern und Schwestern nicht mögen, sind Verkleinerungsformen. Die russischen und polnischen Verniedlichungen der brutalen Realität haben nie den Weg in die slowenische Sprache gefunden. Man ist klein, man betont es immer wieder, auch wenn es unangebracht und unnötig ist. Wenn man auf den Straßen Ljubljanas den Fremdenführern zuhört, ist jedes zweite Wort small, smaller, smallest. Man will es also selbst erledigen, allen im Voraus sagen, okay, hier haben Sie es nicht mit einem Schwergewichtler zu tun, das ist kein Land mit achtstelliger Einwohnerzahl – aber bitte sehr, zeigen Sie Respekt und machen Sie das Ganze nicht noch peinlicher, als es ist. Also keine Diminutive, kein zusätzliches Verkleinerungs-Origami und keine Verniedlichung im Sprachgebrauch. Denn für Verkleinerungen ist man dann doch wieder zu stolz und bemüht sich, alles so herzurichten, wie die ganz Großen es tun.
Zugleich ist die Seelenrezeptur, die der Slowene in sich trägt, nicht logisch flach zugeschnitten wie beim südlichen Nachbarn und noch weniger so barock verschnörkelt wie beim nördlichen.
Die Portugiesen kennen Saudade, in Brasilien gibt es diesem Gefühlszustand zu Ehren sogar einen Feiertag. Die Deutschen kennen von der Romantik her hoch gepriesene Sehnsuchtsgefühle, und es bedurfte eines Schweizer Doktors, um den Nostalgiebegriff zu schmieden. Alle bezeichnen besondere Seelenzustände, ganz eigene Formen eines melancholischen Zustands der Nichtganzheit, der Unerfüllbarkeit.
Ähnlich ist es bei den Slowenen, die sich ihren Seeleninnenraum durch das Hrepenenje-Gefühl ins Unermessliche erweitert haben. Denjenigen, die hrepenenje fühlen, schwebt ein schwer oder ganz unerfüllbares Konkretes vor Augen, das aber nur um ein viel tieferes Ungenügen kreist. Am besten, man liest den slowenischen Prosagroßmeister Ivan Cankar, in dessen Werk es vom Hrepenenje-Gefühl des Unerreichbaren nur so wimmelt. Die Interpreten haben sich lange damit auseinandergesetzt, ob hrepenenje in den Romanen, Dramen und Prosaskizzen Ivan Cankars eher ein körperliches Verlangen ist, den Gefühlszustand eines heimlich Gottsuchenden bezeichnet oder gar ein soziale Befreiung anpeilendes Gefühl ist. Dass man es nicht festmachen kann, ist schon der erste geglückte Versuch, die hrepenenje der Slowenen zu verstehen, also zu verstehen, dass man nicht alles verstehen kann. Man kann ihn auch nicht restlos verstehen, denn der Slowene, so gewieft und in sich verbissen er auch sein mag, versteht sich selbst nicht. Wenigstens nicht ganz. Das Ganze ist nie vor seinen Augen ausgebreitet, in seiner Seele bleibt immer etwas verhüllt, ein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit in der Welt und im Kosmos, das ihn in diese hrepenenje zurückzieht.
Wenn er aus dem Käfig der hrepenenje ausbricht, dann sieht er vor sich eine Welt, die ihn nicht unbedingt bemerkt. Das will er ändern, was er oft außerordentlich tollpatschig anstellt, denn er stellt nicht das zur Schau, was er ist und was er kann, sondern eher sein Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit.
Nehmen wir zum Beispiel die Heuharfe. Heuharfen, aus Holz gezimmerte und überdachte traditionelle Einrichtungen zum Heutrocknen, findet man nicht nur in Slowenien, doch prägen sie woanders kaum so markant das Landschaftsbild wie im nordwestlichen Landesteil. Die Slowenen lieben ihre Heuharfen, man fühlt sich zu Hause, wenn man, aus dem Auto blickend, die Alpen durch die Heuharfen hindurch wie auf Notenlinien wahrnimmt, als wollte die Landschaft nun sagen, dass sie nichts anderes als eine Symphonie ist. In den frühen Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, als Slowenien als selbstständiger Staat aus Jugoslawien hervorging und man versuchte, die internationale Sichtbarkeit des Landes zu erhöhen, verschickte man ein paar dieser Heuharfen ins Ausland. So kam es dazu, dass eine von ihnen auch unweit der britischen Houses of Parliament in Victoria Tower Gardens aufgestellt wurde und mit der traditionellen Süßspeise Potizza, die von trachtengekleideten Slowenen verteilt und von slowenischer Volksmusik begleitet wurde, für Verblüffung bei den Einwohnern Westminsters und den vorbeigehenden Touristen sorgte. Heute sieht man das Objekt, das das neu gegründete Land Slowenien auf der Weltkarte platzieren sollte, im botanischen Garten in Cambridge stehen, wo es auch gut hinpasst.
Mit der eigenen Unsichtbarkeit ringen wir Slowenen noch immer. Die richtigen Verse beziehungsweise Slogans sollten dabei behilflich sein. Dem einst auch im zerfallenden Jugoslawien politisch wackeren „Slowenien, mein Land“-Slogan, der durch den unter den Menschen sehr beliebten Landesslogan „Auf der sonnigen Seite der Alpen“ ausgewechselt wurde, folgte vor einigen Jahren der Globalisierungsslogan „I feel sLOVEnia“. Man möchte also Liebe signalisieren (aber auch nicht zu viel) und was man dabei fühlt. Hrepenenje hat da keinen Platz, ist zu ungreifbar, zu wenig aggressiv, zu sophistisch für Plakatwerbung und die Tourismusindustrie.
Seit jeher waren die Slowenen ein Völkchen außergewöhnlicher Charaktere, von der Bora in alle Ecken der Welt verweht. Nehmen wir nur das letzte Jahrhundert. Meist kennt man Slowenen als Mitläufer an der Seite von beliebten und auch weniger beliebten historischen Figuren; ich meine jetzt nicht nur Melania Trump an der Seite von Donald oder den jugoslawischen Chefideologen Edvard Kardelj an der Seite Titos (der mütterlicherseits auch Slowene war). Slowenen waren immer wieder Konstrukteure, Künstler, Sportler, Erfinder und Erbauer, Menschen, die ihre Imagination mit Ehrgeiz und harter Arbeit verbanden. Der Architekt Viktor Sulčič, der das Stadion der Boca Juniors in Buenos Aires baute, der Architekt Jože Plečnik, der den Burgkomplex von Prag für Masaryk umgestaltete, der Maler Zoran Mušič, der im Grand Palais ausstellte, der Komponist Hugo Wolf aus Slovenj Gradec, der Philosoph Slavoj Žižek, der all seine Bücher und Kommentare angeblich nur mit den beiden Zeigefingern tippte, der Maler Jurij Šubic der beim Archäologen Schliemann zeichnete, Peter Zobeč, der Winnetou filmte, der Neoavantgardekünstler Dragan Živadinov, der die weltweit erste Performance im schwerelosen Raum aufführte, der Lyriker Tomaž Šalamun, der seinerzeit wohl am meisten übersetzte europäische Dichter in den USA, der Fotograf Stojan Kerbler, der mit Inge Morath tanzte, die Band Laibach
bei ihrem Auftritt in Nordkorea, die Pianistin Dubravka Tomšič Srebotnjak bei Arthur Rubinstein, das Basketballgenie Luka Dončić, das für Dallas das Spiel macht, Tina Maze, die nach ihrer Karriere als Skifahrerin Gedichte schreibt, der Erfinder Peter Florjančič, der unter seinen 400 Patenten auch den Rahmen für Diapositive sein Eigen nennt, den Airbag und das Parfümpümpchen erfand, der Präsident der UEFA Aleksander Čeferin, der den Streit mit Agnelli um die Zukunft des europäischen Fußballs vorläufig gewann, Martin Kušej, der acht Jahre Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels in München war und seit 2019 das Burgtheater in Wien leitet, Tomaž Pandur, der am Teatro Español Kultvorstellungen machte – die Liste ist lang.
Zugleich sind die Slowenen, die es im Ausland geschafft haben, in Slowenien oft nicht wirklich Teil des Betriebs und werden nur unter Vorbehalt angenommen. Der Slowene bewahrt sein Territorium, auch vor dem Slowenen aus dem Ausland, er bewahrt seine eigenen Hierarchien, seine eigenen Präferenzen, man kann noch so viel im Ausland bewirken, zu Hause bedeutet das wenig. Das erzeugt eine ganz eigene Dynamik zwischen den Slowenen im Ausland und den Daheimgebliebenen. Im Vergleich zu anderen Ländern, wo Emigration ein wichtiger Stimulus fürs Land ist, ist das in Slowenien nicht der Fall.
„Man liest sich fest an diesem pointierten Länderporträt und erfährt dabei so viel über das kleine Land, dass man es nie mehr übersehen kann.“
„Ein wirklich spannender und sehr unterhaltsam geschriebener Einblick in ein Land, was viele nach der Lektüre des Buches auf ihre Reise-Bucket List setzen werden.“
„Dass das Land aber noch mehr zu bieten hat, als beeindrucke Berge und einen Zugang zur blauen Adria, erfahren die Leserinnen und Leser auf den 224 Seiten jener Gebrauchsanweisung, der sie gerne umgehend folgen möchten.“
„Ein schönes Porträt des kleinen Landes, dass man nicht nur auf der Durchreise besuchen sollte.“
„Štegers Gebrauchsanweisung macht sehr neugierig auf das Land und weckt Reisefieber.“
„Lohnendes, amüsantes Buch über ein Land, in dem man nirgends ›so viel Europa auf kleinstem Raum‹ findet wie ebendort.“
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