Gebrauchsanweisung für Stuttgart Gebrauchsanweisung für Stuttgart - eBook-Ausgabe
„Eine spannende Lektüre: sowohl für die Einheimischen, die einen neunen Blick auf ihre Heimat gewinnen, als auch für die Reisenden, die an Necker und Nesenbach ein schönes Wochenende verleben wollen.“ - Stuttgarter Zeitung
Gebrauchsanweisung für Stuttgart — Inhalt
„Eine spannende Lektüre“ Stuttgarter Nachrichten
„Net g’schempft isch g’nug g’lobt.“ So viel Tiefstapelei ist symptomatisch für die Stuttgarter. Dabei haben sie allen Grund, ihre Stadt zu lieben: Sternegastronomie und Waldheime, das Sommerfestival der Kulturen, die Pünktlichkeit der U-Bahnen, Qualitätsweine und das Understatement der Bewohner – das alles macht hiesige Lebensqualität aus.
Scharfsinnig und mit einem Augenzwinkern erzählt Elisabeth Kabatek von den Herausforderungen der Kehrwoche, einem fast mediterranen Lebensgefühl und von Brezeln, die einfach glücklich machen.
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung für Stuttgart“
Stuttgart
oder: slow love
Heute kann ich es laut sagen. Ich werde dabei nicht rot, senke nicht die Stimme und schäme mich nicht: Ich liebe die Stadt, in der ich seit Ende der Neunzigerjahre lebe. Nicht in jedem Moment und nicht uneingeschränkt. Aber ich möchte nicht mehr weg von hier. Das war nicht immer so.
Stuttgart ist nicht gerade eine Stadt, die die Menschen zum Hyperventilieren bringt. »Neulich war ich in Stuttgart … da ist es vielleicht schön! Diese verwinkelte Altstadt, diese lauschigen Plätze und schnuckeligen Cafés! Was für eine Atmosphäre! Ach, [...]
Stuttgart
oder: slow love
Heute kann ich es laut sagen. Ich werde dabei nicht rot, senke nicht die Stimme und schäme mich nicht: Ich liebe die Stadt, in der ich seit Ende der Neunzigerjahre lebe. Nicht in jedem Moment und nicht uneingeschränkt. Aber ich möchte nicht mehr weg von hier. Das war nicht immer so.
Stuttgart ist nicht gerade eine Stadt, die die Menschen zum Hyperventilieren bringt. „Neulich war ich in Stuttgart … da ist es vielleicht schön! Diese verwinkelte Altstadt, diese lauschigen Plätze und schnuckeligen Cafés! Was für eine Atmosphäre! Ach, und diese offenen, kommunikativen Menschen mit ihrem entzückenden Dialekt, hängen überall ein -le hintendran. Das ist ja soo niedlich!“ Nein, das wird man wohl eher selten hören. Das Stendhal-Syndrom – jener wahnhafte Zustand, in dem die Touristen in Florenz und anderen buchstäblich bezaubernden Metropolen ohnmächtig darniedersinken, weil sie von der Fülle an Kunst- und Kulturschätzen überwältigt werden, ist in Stuttgart gänzlich unbekannt. Der Marktplatz von Stuttgart sucht an Nüchternheit seinesgleichen. Die wenigen Altstadtgässchen, die vom Krieg verschont geblieben sind, beherbergen das Rotlichtviertel. Und was die Sprache angeht, so ermittelte das Institut für Demoskopie in Allensbach, dass Schwäbisch bei siebzehn Prozent der Bevölkerung in Deutschland Aversionen auslöst. Tja.
„Das Schönste an Stuttgart ist die Autobahn nach München“, lautete der wenig schmeichelhafte und leider ziemlich bekannt gewordene Ausspruch von Ex-VfB-Star Thomas Strunz. In der Tat dürften sich Touristen und Zugezogene schneller in die bayerische Landeshauptstadt verlieben als ins spröde Stuttgart.
Stuttgart braucht Zeit. Es braucht Zeit, sich umzusehen in dieser Stadt, es braucht Zeit, sie kennenzulernen. Das liegt auch an der Topografie. Die Kessellage setzt die Rahmenbedingungen fest und zwingt zum stetigen Hinauf und Hinunter. Das ist mit dem Auto nervig, wegen der Staus und Parkplatzprobleme, mit dem Fahrrad schweißtreibend und zu Fuß zwar ganz wunderbar, denn Stuttgart ist grün und waldreich – aber das dauert. Und Zeit braucht es auch, sich einzuleben. Stuttgarter verbrüdern sich nicht am Kneipentresen wie etwa die Rheinländer.
In der Stadtbahn belauschte ich einmal zwei ältere Frauen, die sich offensichtlich nicht kannten.
„Sie sen abr au net vo Schduagerd“, sagte die eine.
„I ben vom Hohelohische, abr scho fuffzig Johr en Schduagerd“, antwortete die andere.
„Ond – hen Se sich gud eiglebt?“, fragte die erste Frau ehrlich interessiert.
Nach fünfzig Jahren gefragt zu werden, ob man sich gut eingelebt hat, nach Jahren zum ersten Mal von den Nachbarn gegrüßt zu werden, das sind Dinge, die einem in Stuttgart passieren können. Es kann aber auch ganz anders laufen.
Ich bin in Stuttgart geboren, aber ein paar Kilometer entfernt in einer Kleinstadt mit sehr dörflichem Charakter aufgewachsen. Stuttgart war immer nur „die Stadt“. Erst die Einkaufsstadt, samstags mit den Eltern, und später die Ausgehstadt, die Stadt der Kinos, Kneipen und Restaurants. Die große weite Welt zunächst, aber das hielt nicht lange vor. Stuttgart war zu eng, zu vermieft, zu spießig, zu pietistisch. Egal wohin, nur nicht nach Stuttgart, sagte ich mir, lebte im In- und Ausland, reiste viel und landete – Ironie des Schicksals – 1997 doch ausgerechnet da, wo ich am allerwenigsten hinwollte. Von Barcelona. Vorübergehend, sagte ich mir. Ähem. Von Barcelona also. Dort war der Himmel blau und das Licht warm, die Menschen lebten auf der Straße, es gab einen Strand mitten in der Stadt, man quatschte mit jedem und traf sich um zehn zum Abendessen in billigen kleinen Restaurants mit großartiger mediterraner Küche. Und dann Stuttgart.
Es war Herbst, der Himmel war grau, ich kannte kein Schwein, und in meinem Mietshaus lebten Kehrwochenfetischisten, die jeden Samstag hemmungslos ihrer Leidenschaft frönten. Dabei konnte ich mich gar nicht daran erinnern, dass es in meiner Kleinstadt die Kehrwoche gegeben hatte! In Barcelona ließen sich die Leute gegenseitig in Ruhe, Diskretion war eine vornehme Tugend. In Stuttgart dagegen lebten hässliche kleine Gnome, die sich hinter Fußgängerampeln versteckten. Ging man morgens um drei bei Rot über die Ampel, sprangen die Gnome hervor, auch wenn kilometerweit kein Auto zu sehen war, und zischten einen auf Schwäbisch an, dass man das Leben und die Moral unschuldiger Kinder gefährdete, weil man ihnen ein schlechtes Vorbild war.
Ich will ehrlich sein: Es dauerte Jahre, bis ich mich in Stuttgart einlebte. Lange Zeit sehnte ich mich zurück ans Mittelmeer und verfluchte meine Entscheidung. Aber dann wurden aus Bekannten allmählich Freunde, gute, enge Freunde, und ich fand mich immer besser zurecht. Ich bekam heraus, wo man toll essen kann und wo es gute Musik gibt, ich entdeckte wunderschöne Spazierwege mitten in der Stadt und lernte ihren unvergleichlichen kulturellen Reichtum schätzen. Dann begann ich Romane zu schreiben, die in Stuttgart spielten, und lernte bei meinen Recherchen auch den letzten und kuriosesten Winkel der Stadt kennen. Ja, und dann kam der Streit um Stuttgart 21 und veränderte die Stadt auf ganz eigene Weise. Aber davon soll später die Rede sein.
Die ersten Jahre lebte ich mit der Gewissheit, dass Stuttgart nur eine Zwischenstation sei. Ständig sagte ich mir, dass ich niemals ausgerechnet an dem Ort hängen bleiben würde, an dem ich nie hatte leben wollen. Und dann entdeckte ich voller Erstaunen, dass sich ganz allmählich, über die Jahre, ein Gefühl von Heimat eingestellt hatte und ich meinen Frieden mit der Stadt gemacht hatte. Und sollte mir der Kessel doch mal wieder auf die Nerven gehen und zu eng werden – hey, ich bin in der Mitte Europas! Frankreich, Schweiz, Österreich, Italien, alles ruckizucki in ein paar Stunden mit dem Zug erreichbar, ein Flughafen liegt vor der Tür und ein zweiter, der Frankfurter, nur eineinviertel Stunden entfernt (der Schwabe würde übrigens „femfviertelschdond“ dazu sagen).
Eines ist sicher: Stuttgart ist momentan eine der spannendsten Städte der ganzen Republik. Das graue Entlein schickt sich an, ein stolzer Schwan zu werden, es schüttelt Tiefstapelei, Minderwertigkeitskomplexe und Nabelschau ab. Die Stuttgarter selber merken das schon lange, in der Wahrnehmung von außen wird es wohl noch ein bisschen dauern. Wenn Sie also dieses Büchlein geschenkt bekommen haben, weil es Sie aus irgendwelchen Gründen nach Stuttgart verschlagen hat oder noch verschlagen wird, und Sie deshalb ziemlich panisch reagieren, weil diese Entscheidung keine freiwillige war, dann tätschle ich Ihnen jetzt mal auf diesem Wege beruhigend den Arm. Don’t panic. Sie werden Stuttgart erst schätzen und dann lieben lernen – immer vorausgesetzt, Sie lassen sich darauf ein und hören nicht auf die Freunde, die Ihnen ihr herzliches Beileid aussprechen.
Wenn Sie sich darauf einlassen, dann entdecken Sie eine Stadt mit allerlei Besonderheiten. Sie richtet eins der größten Schaustellerfeste in Europa aus, das Cannstatter Volksfest. In keiner anderen deutschen Großstadt wird zwischen ganz unten und ganz oben ein solcher Höhenunterschied gemessen. Sie hat mit einer Gesamtlänge von mehr als dreißig Kilometern die meisten Staffeln (das sind Treppenanlagen). Sie ist die einzige Stadt Deutschlands, die ein Schriftstellerhaus ihr Eigen nennt. Auf der Uhlandshöhe entstand die erste Waldorfschule Deutschlands, im Stuttgarter Westen der erste Verkehrsübungsplatz. Der erste Tierschutzverein wurde hier gegründet, der Fernsehturm war der weltweit erste, das Planetarium das europaweit erste. Die Seilbahn in Heslach war 1929 die erste Standseilbahn Deutschlands mit automatischer Steuerung. Die Wilhelma ist der einzige zoologisch-botanische Garten Deutschlands. Der Tagblattturm war einst das höchste Hochhaus Deutschlands und das erste Gebäude, das in Sichtbeton errichtet wurde. Der Schwabtunnel war der erste Innenstadttunnel Europas. Die Zahnradbahn ist die einzige in Deutschland, die nicht touristischen Zwecken dient. Die Württembergische Landesbibliothek besitzt die größte Bibelsammlung Europas. Der erste deutsche Astronaut, der im Space Shuttle ins All flog, kam aus Stuttgart. Das Staatstheater ist mit Ballett, Schauspiel und Oper das größte Dreispartenhaus der Welt. Stuttgart ist die einzige Großstadt Deutschlands, die ein städtisches Weingut ihr Eigen nennt, die einzige Stadt auf der Welt, in der eine Zahnradbahn die Nächte in einem Theater verbringt, und die Stadt mit dem größten Mineralwasservorkommen in Westeuropa. Außerdem ist Stuttgart die einzige Stadt in Europa, die ein Skateboard-Museum vorweisen kann und seit einiger Zeit das größte Schweine-Museum der Welt! Außerdem stehen die Chancen gut, dass Sie bei einem Besuch in Stuttgart keinen Regenschirm brauchen. Stuttgart wird im Westen vom Schwarzwald und im Süden von der Schwäbischen Alb abgeschirmt und gehört damit zu den sonnenreichsten, wärmsten und niederschlagsärmsten Orten in Deutschland.
Ich habe mich mit Stuttgart längst versöhnt. Sehen Sie es mir also nach, wenn dies ein extrem distanzloses Buch ist, das in keinster Weise den Anspruch erhebt, unparteiisch zu sein. Je länger ich nachgedacht, recherchiert und geschrieben habe, desto mehr ist mir eingefallen, was mir in Stuttgart lieb und wichtig ist. Aus Platzgründen hat es nicht alles ins Buch geschafft. Das müssen Sie dann eben für sich entdecken: Hoppenlau-Friedhof und Lapidarium, Wagenhallen und „Kultur unterm Turm“ mit Theater tri-bühne, Figurentheater FITZ und Jugendtheater JES, die Jazztage im Theaterhaus, die Kinothek in Obertürkheim, das Café Weiss, die Karlshöhe. Die Krimi-Hochburg Stuttgart mit Lehmann, Schorlau, Steinfest, die Migrantenstadt Stuttgart.
Meine Lieblingszeit in Stuttgart ist der Mai, wenn die Kastanien im Schlossgarten und auf den Plätzen blühen. An einem lauen Sommerabend vor dem Staatstheater, das bei uns nur „Großes Haus“ genannt wird, geht mir bei den letzten Sonnenstrahlen das Herz auf. Ich warte das ganze Jahr ungeduldig auf das Sommerfestival der Kulturen auf dem Marktplatz, auf die Konzerte, die tanzenden Menschen vor der Bühne, die Multikulti-Atmosphäre und das leckere Essen an den Ständen der Migrantenvereine, wo man sich durch die halbe Welt futtern kann. Im Herbst gehe ich an den Bärenseen spazieren, freue mich am bunten Laub und hoffe, dass es einen strengen Winter gibt und man auf den Seen Schlittschuhlaufen kann.
Und ich denke : Ja, es ist schön in Stuttgart. Und deshalb : Leserin oder Leser, kommst du nach Stuttgart, so gebrauche diese Stadt. Gebrauche sie nach Herzenslust, und möge dir dieses Büchlein dabei von Nutzen sein. Und wenn dir im Zuge dessen ein paar Vorurteile und Klischees über uns Schwaben verloren gehen, umso besser. Herzlich willkommen!
Ich stelle mir jetzt einfach mal vor, ich sei Amerikanerin oder Chinesin oder Afrikanerin und hätte noch nie in meinem Leben von Stuttgart gehört und nicht die geringste Vorstellung, wie es dort aussieht. Beim Kelleraufräumen kommt mir eine verstaubte Weinflasche in die Hände, der Name auf dem Etikett sagt mir gar nichts, er lautet vielleicht „Cannstatter Zuckerle“ oder „Rotenberger Riesling“, ich öffne die Flasche neugierig, und schwuppdiwupp kommt ein Flaschengeist mit Kittelschürze herausgezischt. Der Geist verbeugt sich ehrfürchtig vor mir und sagt: „Du hosch mi befreit on zom Dank schenk i dir jetz a subbr Wochaend.“ Beam-me-up-mäßig lande ich im sommerlichen Stuttgart, ohne zu wissen, wo ich bin. Der Geischt würde mit mir über die Königstraße schlendern, wir würden das Kunstmuseum besuchen und anschließend, auf den Treppen neben dem gläsernen Kubus sitzend, ein riesiges Eis schlotzen (übrigens „schlotzt“ man nicht nur Eis, sondern auch Viertele, also Viertele Wein, was aber nicht bedeutet, dass man am Weinglas leckt). Von dort spaziert er mit mir durch den Schlossgarten zum Mineralbad Leuze am linken Neckarufer, wo wir uns ins prickelnde Mineralwasser legen, danach essen wir irgendwo afrikanisch, türkisch oder italienisch und ziehen uns dann fürs Ballett um, und natürlich haben wir mindestens Karten im zweiten Rang, wenn nicht sogar im Parkett. In der Pause stehen wir mit einem Glas Sekt auf dem Balkon der Oper und schauen inmitten der fröhlich plaudernden, festlich gekleideten Menschen hinaus auf den Eckensee, der gerade im warmen Licht der Abendsonne schimmert. Die Ballettvorstellung hat wie immer Weltklasseniveau, und das Publikum applaudiert warmherzig und frenetisch. Anschließend führt mich der Geischt in eine Weinstube im Bohnenviertel oder auf die Terrasse eines Cafés am Schlossplatz, ohne dass wir auf dem Weg dorthin überfallen werden, und dort fragt er mich: „Ond, wie hot dir jetz die Stadt gfalla?“, und ich antworte: „Was für eine wunderschöne, spannende Stadt mit einer großartigen Kultur! Sicher ist dieser Ort berühmt in der ganzen Welt, und die Menschen, die dort leben, sind voller Stolz.“
Sie ahnen es bereits, denn davon, dass Stuttgart vom Stendhal-Syndrom nicht betroffen ist, war ja bereits die Rede: Im richtigen Leben kommt das so gut wie nie vor. Im richtigen Leben wird man so gut wie nie hören, dass jemand aus Stuttgart seine eigene Stadt lobt, womöglich noch ohne jede Bescheidenheit. „Frisch hierhergezogen? Und, wie findest du Stuttgart? Toll, nicht?“ Nein. Man hält den Ball flach. Man könnte ja als Lokalpatriot gelten, und den Eindruck will man auf jeden Fall vermeiden. Zu viel Selbstbewusstsein verdirbt den Charakter. Eigenlob stinkt. Bescheidenheit ist eine Zier. Das färbt natürlich auch auf diejenigen ab, die aus beruflichen Gründen nach Stuttgart kommen. Man wird sehr selten hören: „Ich wollte unbedingt nach Stuttgart, weil die Stadt so toll ist. Das Kulturangebot ist unglaublich. Und dann noch der ganze Wald drumrum, die Nähe zum Schwarzwald und zur Alb.“ Nein. „Ich bin nach Stuttgart gekommen, weil man mir hier ein gutes Jobangebot gemacht hat. Super Aufstiegschancen, und das Geld stimmt auch. Blöd nur, dass es ausgerechnet Stuttgart ist. Viel lieber wäre ich in meiner Heimat geblieben. Aber an den Wochenenden fahre ich zu meiner Familie und den Freunden.“ Niemand wird so in München reden. In München würde man sagen: „Ich bin wegen des Jobs hier, und dann hatte ich noch das Riesenglück, dass es München ist! Super Stadt, und am Wochenende fahre ich an den Starnberger See oder in die Berge.“
Vor Jahren machte ich Urlaub in Irland. Fast jeder Ire, den ich traf, und es waren eine Menge, fragte, „How do you like Ireland?“, und wartete dann gespannt und schon fast ein bisschen ängstlich auf meine Reaktion. Natürlich rechnete der Ire oder die Irin mit einer positiven Antwort, und natürlich würde man niemals sagen: „Tja, das Guinness schmeckt ganz lecker, und wenn man zwei oder drei getrunken hat, kann man großzügig darüber hinwegsehen, dass es eigentlich ein ziemlich scheußliches Land mit überwiegend doofen Leuten ist, ihr auf der falschen Seite Auto fahrt und es meistens regnet.“
In Stuttgart fragt man Touristen oder Besucher nicht, ob sie Stuttgart schön finden, weil man die Antwort ja bereits kennt. Heidelberg ist schön, Freiburg ist schön, Esslingen (mittelalterlich) oder Ludwigsburg (barock) ist schön. Aber Stuttgart? Stuttgart ist reich. Stuttgart ist mächtig. Stuttgart ist in den Schlagzeilen. Ansonsten muss man sich ein bisschen dafür entschuldigen, ein bisschen dafür schämen. Diese Wahrnehmung kommt von außen, teilweise aber auch von innen. Warum viele Stuttgarter so eine negative Wahrnehmung von ihrer Stadt haben? Warum sie ihr Licht so unter den Scheffel stellen? Die Antwort mag mal wieder mit der schwäbischen Mentalität zusammenhängen. „Net gschempft isch gnug globt“ – hochdeutsch: nicht geschimpft ist genug gelobt.
Symptomatisch hierfür: Der Stuttgarter Tatort, der den behäbigen und dauerschwäbelnden Bienzle vor einigen Jahren ablöste. Da ermitteln der Hamburger Thorsten Lannert und der Stuttgarter Sebastian Bootz in einem seltsam unwirklichen Stuttgart. Die Fernsehkritikerin Sybille Simon-Zülch schrieb nach der Ausstrahlung der ersten Folge: „Der Ruch des behäbig Schwäbischen weht hier nicht. Aber es wird auch kein Versuch unternommen, Stuttgart mit selbstironisch-liebevollem Blick für die regionale Unverwechselbarkeit ins Visier zu nehmen“, und prophezeite für weitere Folgen „Dutzendware ohne eigenes Profil“, womit sie dann leider recht hatte. Ein schwäbelnder Quoten-Pathologe ist alles, was man sich an Ortsbezug gestattet. Sogar das Polizeipräsidium ist Kulisse. Auch hier gilt also: Man steht nicht so wirklich zu dieser Stadt.
Langsam, ganz langsam ändert sich allerdings das Bild. Das fing mit der Fußball-WM an und setzte sich mit dem Widerstand gegen Stuttgart 21 fort. Bei der Fußball-WM wurde durch den gleichnamigen Song der Spruch „Stuttgart ist viel schöner als Berlin“ geprägt. Das klang aber schon fast trotzig. So, als ob man selber nicht so richtig dran glaubt.
Stuttgart und Berlin, das ist denn auch ein schwieriges Verhältnis. Wer in Stuttgart etwas geworden ist, der bleibt nicht hier, sondern geht in die Hauptstadt, weil hierbleiben mit dem Selbstbild und Erfolg auf Dauer nicht zu vereinbaren ist. Stuttgart ist provinziell, Berlin ist aufregend. In Stuttgart wird gekehrt und geschippt, in Berlin können sich Hunde- und Schneehaufen frei entfalten. Stuttgart ist spießig, Berlin ist große weite Welt und wahre Freiheit ohne Nachbarschaftskontrolle. Die „Fantastischen Vier“, Pioniere des deutschen Hip-Hop, gaben im Jugendhaus Heslach unter dem Namen „Terminal Team“ ihr erstes Live-Konzert und hoppelten dann, als sie bekannt wurden, ab nach Berlin. Auch der Rapper Max Herre von „Freundeskreis“ stammt aus Stuttgart und ging – nach Berlin. Selbst der Drehbuchautor Eberhard Hungerbühler, besser bekannt unter dem Namen Felix Huby, zog Ende der Achtzigerjahre nach Berlin. Der schwäbischste aller prominenten Exilschwaben erfand den schwäbischsten aller Kommissare, den bereits erwähnten Bienzle, und schrieb unzählige Tatort-Folgen.
Nicht nur Menschen – ganze Institutionen übersiedeln nach Berlin, der Hauptstadt mit dem großen, eben auch politischen Sogfaktor. Das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche hatte bisher seinen Hauptsitz in der Stuttgarter Stafflenbergstraße. Seit 2005 verlagert die Diakonie immer mehr Stellen nach Berlin und zwingt so unzählige Mitarbeiter, sich zwischen schwäbischem Häusle und Lebensmittelpunkt und Umzug nach Berlin zu entscheiden. Dort beziehen Diakonie und Evangelischer Entwicklungsdienst im Herbst 2012 ein neues Haus und fusionieren zum „Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung“, dem auch die Hilfsorganisation „Brot für die Welt“ und die „Katastrophenhilfe“ angehören. Konkurrenz auch hier, denn es gibt kritische Stimmen, die befürchten, dass sich der Umzug negativ auf die Spendenbereitschaft Stuttgarter Großspender auswirken wird, die bisher stolz auf „ihr“ Diakonisches Werk waren.
Leider sind die Migranten mit dem schwäbischen Hintergrund aus Berliner Sicht gänzlich unerwünscht und saumäßig unbeliebt, luchsen sie doch den armen, arglosen Berlinern ihre alten Häuser am Prenzlauer Berg für ein Äpfele und ein Ei hinterhältig ab, um diese daraufhin von ausnahmslos schwäbischen Handwerkern zu superschicken Lofts umbauen zu lassen, in denen sie dann entweder selber wohnen und sie nach und nach mit einer grauenhaft schwäbisch schwätzenden Kinderbrut füllen, oder für eine schweinemäßige Miete an die bettelarmen Berliner zurückvermieten. Mit dem Geld, das sie dabei machen, hocken sie faul in den Cafés am Prenzlberg herum, trinken Latte macchiato, blicken wohlwollend auf ihre Brut und verpesten die gute Berliner Luft mit ihrem schlimmen Dialekt.
Dafür werden sie dann aber auch bestraft, was mehr als gerecht ist, mit bösen Sprüchen an den Häuserwänden zum Beispiel, „Stoppt die Besetzung des P-Bergs durch Schwaben“. Ja, im August 2011 wurde gar ein Zeitungsausträger aus Berlin-Neukölln festgenommen, der elf Brandanschläge auf unschuldig in Hausfluren abgestellte Kinderwägen verübt haben sollte. Bei seiner Vernehmung sagte der Mann: „Diese ganzen Schwaben kotzen mich an.“ Es ist doch erstaunlich, was für ein Feindbild die Schwaben offensichtlich abgeben, und man fragt sich, wofür diese platte Projektion letztlich eigentlich steht, für Sozialneid, für das Herabschauen auf die zweifelsfrei identifizierten Spießer? Oder liegt es einfach nur daran, dass die Schwaben mit 34 Prozent die größte Gruppe der aus anderen Teilen Deutschlands Zugewanderten stellen? Die Berliner Journalistin Katja Bauer relativiert es ein wenig. Sie sieht das Wort „Schwaben“ als Synonym für „eine Gruppe solventer Zuzügler, die günstige Szenebezirke mit Altbausubstanz und lauten Clubs in sanierte und von der Szene befreite Kieze verwandelt“. Ihrer Meinung nach könnten die Schwaben ebenso Hamburger oder Bayern sein.
Wie einfach es offensichtlich ist, in die Klischeefalle zu stürzen, bewies sogar der in Berlin lebende Autor Wladimir Kaminer, der sich in einer Kolumne in der in weiten Teilen Baden-Württembergs erscheinenden Sonntagszeitung Sonntag Aktuell genüsslich darüber ausließ, dass seine neuen schwäbischen Nachbarn die total spontane, lässige Berliner Hausgemeinschaft mit ihrer Ordnungsliebe, ihrer Putzwut und ihren permanenten Reorganisationsvorschlägen auf dem Anzeigenbrett tyrannisierten. › Was wunderst du dich, das sind die Kehrwochen, die ihr durchmacht‹, klärte mich ein Freund auf, der in Stuttgart gelebt hatte «, schreibt Kaminer. Da frage ich mich doch, ob jemand, der das offensichtlich arg luschdig findet, sich darüber im Klaren ist, dass die, die das lesen, die angeblichen Kasperle sind, über die er schreibt.
Gerne würde ich Herrn Kaminer auch von dem Gespräch berichten, das ich einmal in Österreich in einer Sauna belauschte. Nackte Menschen, nackte Tatsachen: Eine nicht mehr ganz junge Berlinerin erzählte ihrer ebenfalls aus Berlin stammenden Freundin, vor einiger Zeit sei eine indische Familie über ihr eingezogen. Erst sei sie ja gar nicht begeistert gewesen. Aber dann habe die indische Frau bei ihr geklingelt, sich sehr freundlich vorgestellt und höflich nachgefragt, ob es im Haus irgendwelche Sitten gebe, die es zu beachten gelte, weil sie als Ausländerin schließlich nichts falsch machen wollte. Die Berlinerin lobte das Bestreben der Inderin, sich kulturell anzupassen, als moralisch einwandfrei und erzählte ihrer Freundin, sie habe der Frau gesagt, eigentlich sei es ein tolerantes Haus, bloß zwischen eins und drei habe absolute Mittagsruhe zu herrschen, und da sie ja drei kleine Töchter habe … Und in der Tat, zwischen eins und drei sei kein Mucks von oben zu hören!
Ich stellte mir daraufhin vor, wie die indische Mutter ihre drei Töchter jeden Mittag um eins ins Wohnzimmer aufs Sofa scheuchte, ihnen den Mund mit Klebeband verschloss und sie zu viert zwei Stunden lang bewegungslos verharrten, um nur ja nichts falsch zu machen.
Wundern kann man sich auch, dass sogar Menschen, denen man theoretisch einen etwas weiteren Horizont zutraut, wie zum Beispiel dem Berliner Volksbühnen-Intendanten Frank Castorf, anlässlich des 3. Oktobers 2011 in einem Interview verlauten lassen, dass Berlin vor dem Mauerfall „heiß und cool“ war, sich dies aber leider grundlegend geändert habe, woran allein die Schwaben Schuld haben: „Jetzt aber ist die Stadt durch ihre Verschwäbelung lau geworden.“ Das tut uns jetzt aber ganz arg leid, Herr Castorf, vielleicht wünschen Sie sich ja auch die Mauer zurück?
Noch mehr leid tut uns der designierte Stuttgarter Schauspielintendant Armin Petras, der seinen Dienst am Stuttgarter Staatstheater zur Saison 2013/14 antreten wird. Petras, Ossi wie sein Vorgänger Hasko Weber, kommt vom Maxim Gorki Theater in Berlin, und als sein Wechsel bekannt wurde, ging ein Aufschrei durch die Republik. Mit Verlaub, Herr Petras, man macht sich nicht besonders beliebt an seinem neuen Dienstort, wenn man auf die Frage der Berliner Zeitung, warum man nach Stuttgart geht, antwortet: „Vielleicht bin ich einfach verrückt.“ Ja, nach Stuttgart zu gehen, das ist ungefähr so, wie wenn man zu den Hottentotten geht, auch wenn man ein sauber bestelltes, frisch renoviertes und gut finanziertes, deutlich größeres Haus bekommt, und ich habe laut „Bravo!“ gebrüllt, als ich die Replik der Stuttgarter Journalistin Adrienne Braun las: „Genau deshalb wollen wir ihn – weil er verrückt ist. Das fehlt uns Stuttgartern, da wir immer nur Geld scheffeln, Häuser bauen und nie über Schiller hinausgekommen sind. So sind wir halt, nichts als Trollinger trinkende Trolle, Schwäbischschwätzer, Kesselfurzer. Das große Theater haben wir nur durch Zufall.“
Da fragt man sich doch sehr ernsthaft, wie Stuttgart im Rest der Republik wahrgenommen wird. Und grinst sich gleichzeitig einen.
So bleiben wir mit unserem grandiosen Kulturleben ein Geheimtipp, und die Berliner kommen nicht nach Stuttgart, um in Stuttgart-West oder -Ost Lofts aufzukaufen und uns gnadenlos zu verberlinern. „Die Schwabenkinder wohnen in Prenzlauer Berg, jetzt gehe ich mal die Eltern in Stuttgart besuchen.“ Tun Sie das, Herr Petras, und am besten helfen Sie diesen Eltern gleich noch bei der Kehrwoche.
Stuttgart ist nicht cool. Und ist es gerade deshalb, weil es nicht cool sein will und es keinem auffällt, dass es cool ist, zumindest nicht, wenn er von außen kommt. Irgendwie also eine Insel der Glückseligen. Alles klar? Ach, und glücklicher als die Berliner sind wir sowieso. Im ersten Glücksatlas Deutschlands liegen die Württemberger auf Platz 8 der Glücksskala. Okay, die Badener sind noch glücklicher, was die alte Konkurrenz belebt, aber Berlin liegt ganz weit hinten auf Rang 15 von insgesamt 19 Plätzen. In der Bürgerumfrage 2011 sagten 85 Prozent der Befragten, sie würden gerne in Stuttgart leben, nur sieben Prozent würden gerne woanders wohnen. Irgendwann wird es eine Rückreisewelle aus Berlin geben, da bin ich ganz sicher. Es gibt sie ja schon, die umgekehrte Bewegung.
„Ein gelungener Einblick in die schwäbische Seele, die einige Vorurteile bestätigt, aber auch mit Neuem überrascht. Dazu kommt die lockere Schreibweise der Autorin, die dafür sorgt, dass man nach Verschlingen des Buches am liebsten sofort in die baden-württembergische Hauptstadt am Neckar reisen möchte.“
„Eine spannende Lektüre: sowohl für die Einheimischen, die einen neunen Blick auf ihre Heimat gewinnen, als auch für die Reisenden, die an Necker und Nesenbach ein schönes Wochenende verleben wollen.“
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