Gebrauchsanweisung fürs Laufen Gebrauchsanweisung fürs Laufen - eBook-Ausgabe
„Kein typisches Laufbuch, aber spannend zum Lesen: Auf originelle Weise erzählt der Autor unter anderem, weshalb Laufen die Sinne stärkt und glücklich macht.“ - Was ist los (Oberöstereichische Nachrichten)
Gebrauchsanweisung fürs Laufen — Inhalt
Ich laufe, also bin ich
Vorfuß, Mittelfuß oder Ferse – welche Laufstile gibt es? Wann und wo läuft es sich am besten? Und was sagt die Familie zum Lieblingshobby? Jochen Schmidt, der im Schulsport eigentlich Angst vorm Ausdauertraining hatte, wurde dennoch vor über 25 Jahren zum passionierten Läufer. Heute joggt er im Wald und in Städten, am Strand und im Stadion, in Hochhaustreppenhäusern und auf dem Laufband. In seinem originellen wie ansteckenden Band erzählt er von persönlichen Rekorden und warum Laufen glücklich macht. Vom Kampf um das Idealgewicht ebenso wie von Achillessehnenreizungen und Hundebissen. Er berichtet von seinem Weg zum Marathon, schreibt über das Feilen an der perfekten Ausrüstung und verrät, was man von Karl May über das Joggen lernen kann.
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung fürs Laufen“
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Viermal um die Mülltonnen
Zermorscht in Strumpfhosen
Harry-Sprünge
Der lange Weg zur Schule
Knorpelglatze und Schneiderballen
The Schuh must go on !
Ein Rumäne erfindet den New-York-Marathon
Genusslaufen oder Verdrusslaufen ?
Versuch über den geglückten Lauf
Laufen und Schreiben
Die ewige Wiederkunft des Gleichen
Age Performer
So geht’s
Literatur
Beobachtung täglicher Vorgänge lehrt,
dass möglichste Beherrschung der Fähigkeit,
den eigenen Körper fortzubewegen,
für jeden Menschen von größtem Nutzen ist.
Eugen Seybold,
»Der Lauf als Leibesübung [...]
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Viermal um die Mülltonnen
Zermorscht in Strumpfhosen
Harry-Sprünge
Der lange Weg zur Schule
Knorpelglatze und Schneiderballen
The Schuh must go on !
Ein Rumäne erfindet den New-York-Marathon
Genusslaufen oder Verdrusslaufen ?
Versuch über den geglückten Lauf
Laufen und Schreiben
Die ewige Wiederkunft des Gleichen
Age Performer
So geht’s
Literatur
Beobachtung täglicher Vorgänge lehrt,
dass möglichste Beherrschung der Fähigkeit,
den eigenen Körper fortzubewegen,
für jeden Menschen von größtem Nutzen ist.
Eugen Seybold,
„Der Lauf als Leibesübung und Wettkampf“, 1911
Gehen die Leute auf der Straße
Eigentlich absichtlich so langsam
Wollen sie verhindern
Dass wir vorwärtskommen
Manchmal könnte man meinen
Ihr blödes Schlendern wäre Absicht.
Tocotronic, „Es ist egal, aber“, 1997
Vorwort
Vorworte sind bei Lesern wahrscheinlich so beliebt wie das Aufwärmen beim Freizeitsportler. Der Unterschied ist, dass Vorworte meist gar nicht vor dem Buch geschrieben werden, sondern erst ganz zuletzt, wenn die Arbeit endlich geschafft ist und wenn man sich darüber klar geworden ist, was man im Buch eigentlich sagen wollte. Ich habe ein anstrengendes und aufregendes Jahr hinter mir, in dem sich für mich alles ums Laufen gedreht hat: Lektüren, Reisen, Gespräche, Nachdenken, Schreiben und viele Läufe. (Natürlich stimmt das nicht, ich bin ja leider kein Profi. In Wirklichkeit musste ich in der Zeit jede Menge andere Arbeiten erledigen und gleichzeitig versuchen, für meine Familie da zu sein.) Ich wollte auf eine möglichst persönliche Art beschreiben, wie ich das Laufen erlebe und was mich daran fasziniert; niemand muss diese Sicht der Dinge teilen, aber ich hoffe natürlich, dass sie für andere von Interesse ist, sie zu eigenen Gedanken anregt oder zum Laufen verführt. Laufen und Schreiben sind, das ist mir inzwischen klar, die beiden Beschäftigungen, denen ich am liebsten nachgehe (meine Freundin würde hier vielleicht noch Schlafen hinzufügen), und es war ein naheliegender Gedanke (der mir aber nie gekommen ist), übers Laufen zu schreiben. Ich bin mir sicher, dass dieses Buch nicht frei von Fehlern und Ungenauigkeiten ist, so wie mein Laufstil alles andere als perfekt ist. Beim Laufen gibt es zu fast jeder Frage eine Ansicht, die sich durchgesetzt hat, und eine gegenteilige Ansicht, die sich ebenfalls durchgesetzt hat. Wir wissen nicht einmal genau, warum ein Sieger im Ziel die Arme in die Luft wirft oder welche Ursache Seitenstiche haben (oder irre ich mich?). Ich bitte deshalb alle Läufer, Mediziner und Sporthistoriker um Nachsicht, dieses Buch kann keines ihrer Bücher ersetzen, was aber, so hoffe ich, auch im umgekehrten Sinn gilt.
Viermal um die Mülltonnen
Don’t call it a comeback / I’ve been here for years
LL Cool J, „Mama Said Knock You Out“, 1990
Es ist Januar, und ich laufe wieder, nach einer monatelangen Pause wegen beruflicher und familiärer Überlastung, aber vor allem wegen einer ganzen Serie von Infekten. „Emsige Geistesanstrengung und fortdauernde Leibesruhe können den stärksten Körper allmählich zermorschen“, schreibt der deutsche Pädagoge Johann Christoph Friedrich GutsMuths 1793 in „Gymnastik für die Jugend“. Ich traute mich gar nicht mehr, mich zu wiegen; das war wie bei der Marmelade im Kühlschrank, bei der ich nicht nachzusehen wage, ob sie schon verschimmelt ist, und einfach lange genug warte, um sie dann wegzuwerfen. Es wundert mich nicht, dass Männer während der Schwangerschaft ihrer Frauen zunehmen; es würde mich eher wundern, wenn sie danach wieder abnähmen. Meine Freundin hat mein periodisches Schwarzsehen, dass ich wahrscheinlich nie wieder laufen werde, nur weil es sich schon nach drei Wochen Pause so anfühlt, als sei ich nie laufen gewesen, ziemlich satt. Für meine Neugeburt als Läufer hatte ich ausgerechnet am Silvesterabend Zeit; es war natürlich schon dunkel, deshalb konnte ich nicht in den Park und bin auf die Idee gekommen, einfach durch die Straßen Richtung Stadtzentrum zu laufen, vielleicht käme ich bis zum Brandenburger Tor. Es ist sehr befriedigend, auf diese Weise einen großen Teil der Stadt zu Fuß erreichen zu können, und es fühlt sich trotzdem ein bisschen abenteuerlich an. Meine Knochen schmerzten, und ich kam mir fett vor, obwohl sich Nichtläufer immer provoziert fühlen, wenn ich behaupte, Übergewicht zu haben, ich sei doch schlank. (Ich weiß es besser, ich könnte mit dem Fett, das ich gespeichert habe, zweimal um die Erde laufen!) Schlank war ich nur jeweils am Abend nach einem Marathon. (Björn Borg fühlte sich schon mit 100 Gramm über seinem Kampfgewicht aufgebläht und bei 100 Gramm darunter ausgezehrt.) Wie immer, wenn ich wieder anfange, schmiedete ich sofort große Pläne; ich überlegte, ob ich mich für einen Hochhauslauf in Neukölln anmelden sollte, der Mitte Januar stattfinden wird, 465 Treppenstufen. Oder wenigstens für den Oderturmlauf in Frankfurt (Oder) im Sommer? Ich bin immer gerne Treppen gelaufen, weil die Strecke nicht so lang ist und man seine Oberschenkel förmlich explodieren fühlt, während die Gelenke geschont werden, zumindest auf dem Hinweg. Außerdem ist man in Treppenhäusern vom Wetter unabhängig. Man muss, wenn man länger dort trainiert, nur damit rechnen, anschließend einseitig Muskelkater zu bekommen.
Das ganze Zentrum war voller frierender Touristen, viele davon aus Spanien, schien mir. Vor allem die Älteren absolvieren ihr anstrengendes Tagesprogramm der Bequemlichkeit halber gerne in Laufschuhen mit gedämpften Sohlen. Unter den Linden hat zwar breite Bürgersteige, aber sie reichen trotzdem kaum aus, ich musste ständig ausweichen. Ich stellte wieder fest, wie selten ich nur noch im Zentrum meiner Stadt bin; ich hatte keine Ahnung, wie viel vom Stadtschloss schon steht, oder handelt es sich um eine „temporäre Schlossinstallation“? Ein Riesenrad war auch noch aufgebaut. Die Gegend um das Brandenburger Tor sieht nicht mehr aus wie 1989, als ich hier zu Silvester stand, die Menschen kletterten spontan die Blitzableiter hoch, um sich in die Quadriga zu setzen, es schien niemanden mehr zu geben, der einem etwas verbieten konnte. Wenn ich an so etwas denke, komme ich mir immer vor wie ein Zeitzeuge, den man eigentlich dafür bezahlen müsste, sich an früher zu erinnern. Ich lief auf dem Rückweg noch einen Schlenker die Karl-Marx-Allee hoch bis zum menschenleeren Strausberger Platz; von überall hörte man Detonationen, ein etwas makabres Gefühl in einer Stadt, die einmal fast vollständig zerbombt war. Zurück ging es in den Prenzlauer Berg, ein Bezirk, der nicht umsonst nach einer topografischen Gegebenheit benannt ist, was beim Laufen erfahrbar wird. Ich sah die Stadt an diesem Abend auf eine Weise, die nur beim Laufen möglich ist; wenn ich zu Hause geblieben wäre, wäre dieser Film, den ich jetzt im Kopf hatte, nie gedreht worden. Auf der Prenzlauer Allee Ecke Danziger Straße standen Krankenwagen, ein Motorrad war mit einem Pkw kollidiert, da hatte sich jemand den Jahresausklang sicher anders vorgestellt.
Im Winter trage ich unterwegs einen Halsmuff, den ich mir in einer chinesischen Änderungsschneiderei durch ein Dreiecks-Halstuch habe verlängern lassen, sodass ich den Muff über die Nase ziehen kann und den ganzen Lauf über eine Mischung aus meiner schon benutzten Atemluft und von meinem Körper angewärmten Ausdünstungen einatme, nur um mich nicht schon wieder zu erkälten, was sonst alle paar Wochen passiert. (Der amerikanische Trainerpionier Michael C. Murphy, der den Tiefstart erfunden hat, empfahl in seinem Buch „Athletic Training“ 1914 etwas Ähnliches: „Ich würde die Athleten, die bei kaltem Wetter laufen, ausdrücklich warnen, den Kragen ihres Sweaters gut über den Mund zu ziehen, um ihre Lungen vor der kalten Luft, die sie einatmen, zu schützen.“)
Man ist natürlich auch viel langsamer, wenn man nach dem Zwiebelprinzip drei und mehr Schichten Kleidung übereinander trägt, und hinterher stellt sich die Frage, welche dieser Schichten man waschen muss. Jedes Mal alle drei? Dann müsste ich praktisch jeden Tag die Wäsche machen. Reicht es bei den äußeren beiden Schichten nicht, sie auszulüften? Aber wo? Meine Freundin behauptet, meine Laufkleidung würde so stinken, dass ihr schlecht wird, wenn sie das Bad betritt, wo ich sie trocknen lasse (aber auch noch, nachdem sie – natürlich separat und mit Hygienespüler Wäschedesinfektion – gewaschen wurde, so verschmutzte Textilien könnten nie wieder ganz sauber sein). Manfred Steffny schreibt zwar: „So gilt es auch unter Läufern als große, freundschaftliche Geste, das verschwitzte Trikot mit einem Mitläufer zu tauschen und überzustreifen“, aber meiner Freundin würde solch eine freundschaftliche Geste nicht in den Sinn kommen. (Immerhin wasche ich mich und schabe mir nicht nur den Schweiß mit einem Strigilis von der Haut, wie es die griechischen Athleten getan haben.) Wenn ich ihr erkläre, dass es einen entscheidenden Evolutionsvorteil dargestellt hat, dass wir Menschen schwitzen können (weil wir kein Fell mehr haben) und dass wir nur deshalb in der Lage waren (und sind), Antilopen zu Tode zu hetzen (wenn wir das auch selten tun), rümpft sie nur die Nase; ihr wäre es wahrscheinlich sogar lieber, ich hätte ein Fell und würde dafür nicht schwitzen. Es ist eine technologische Meisterleistung unseres Körpers, Wärme abgeben zu können, selbst wenn die Außentemperatur über der Körpertemperatur liegt. (Außerdem hält mein Gestank Fressfeinde fern, das ist viel praktischer, als wegrennen zu müssen.)
Laufen als freiwillige Beschäftigung hat mich als Jugendlichen noch nicht interessiert; ich kann mich nicht erinnern, je Jogger in den Straßen unseres Ostberliner Plattenbauviertels gesehen zu haben, es gab noch keine attraktive Laufmode, man lief in hässlichen Trainingsanzügen oder mit Turnhose über einer langen Unterhose durch den Wald oder betrieb „Dauerlauf“ im Stadion auf einer Aschenbahn (der Begriff sagt alles über ihre Anziehungskraft auf einen Jugendlichen). Unsere Schulstrecke führte um das Schulgebäude, durch die Fenster schauten einem die anderen Klassen zu und amüsierten sich schadenfroh. Im Osten hieß es „Eile mit Meile!“ (man sollte möglichst oft die „Festivalmeile“ von 1973 Metern laufen, zu Ehren der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten, die in Berlin im Jahr 1973 stattfanden), und im Westen quälte man sich auf „Trimm-dich-Pfaden“, um die Krankenkassen zu entlasten. Wie anders sah das in amerikanischen Filmen aus, vor allem wenn sie in New York spielten, da gab es oft Dialoge beim Joggen im Central Park, wobei die Akteure bedruckte Sweatshirts trugen, die mir schon für den Alltag zu schade gewesen wären. In Amerika joggte sogar der Präsident (Erich Honecker machte höchstens Übungen am Barren vor). War Jimmy Carter der Erste, der damit begonnen hat? Die Tradition ist jedenfalls nie abgerissen: Bill Clinton, George Bush (senior und junior) und Barack Obama sind öffentlich gejoggt. Nur Donald Trump, vielleicht weil er ein erklärter Gegner alles Urbanen ist – und Joggen ist im Wesen urbaner Lebensstil –, hält sich hier eher zurück. Joggende Politiker folgen dem Vorbild antiker Leader, nicht nur Achill, Herakles und Odysseus galten als gute Läufer, sondern auch Alexander der Große. Wobei Plutarch über diesen schreibt: „Aber zu den Leuten seiner Umgebung, die die Frage an ihn richteten, ob er wohl Lust habe, in Olympia im Stadionlauf wettzukämpfen – denn er war schnellfüßig –, sagte er: ›Ja, wenn ich Könige als Gegner hätte.‹“
Aus dem Jahr 1979, also genau aus der Zeit, als Joggen als Massenphänomen weltweit populär wurde, stammt „The Jericho Mile“, ein Fernsehfilm mit Kinoqualität von Michael Mann. In der deutschen Version bemühen sich die Sprecher um eine abenteuerlich unglaubwürdige Harte-Jungs-Diktion, ein Verrat an der schneidig-kehligen Stimme des Hauptdarstellers Peter Strauss und am coolen Ebonics-Sound der schwarzen Insassen. Der Film lief in meiner Kindheit jahrelang in DDR-Kinos, damals hielten sich Filme ja viel länger im Programm; ich habe, wenn ich hundertmal das Kinoprogramm in der Zeitung studierte, aber nie Lust bekommen, ihn zu sehen, nur der biblisch anmutende Titel hat sich mir eingeprägt. Es ist schade, dass ich „The Jericho Mile“ damals verpasst habe, vielleicht hätte der Film mich inspiriert, früher mit dem Laufen zu beginnen, dann hätte ich weniger Angst vor den 3000-Meter-Leistungskontrollen haben müssen, eine Strecke, die uns damals mörderisch vorkam (und die man heute zum Aufwärmen läuft). Aber Ausdauer war keine Superheldeneigenschaft, man wollte Superman sein oder Batman, nicht „Ausdauerman“.
Larry Murphy – Namensvetter von Samuel Becketts Murphy, einem meiner Lieblingsromanhelden, der seine schönsten Stunden in einem Schaukelstuhl verbringt – kommt aus der weißen Unterschicht und hat seinen Vater erschossen, weil dieser sich an Murphys Stiefschwester vergangen hat. Dafür sitzt er lebenslänglich in Folsom Prison, dem von Johnny Cash besungenen Gefängnis, wo der Film auch gedreht wurde (die Statisten wirken entsprechend echt): „This picture was filmed among the convict population and within the walls of Folsom State Penitentiary.“ Die meiste Zeit sitzt Murphy aber gar nicht, sondern er läuft, denn er trainiert täglich auf dem Gefängnishof, wo, wie man das aus Gefängnisfilmen kennt, viel Sport getrieben wird: Hantelnstemmen, Baseball, Basketball, Boxen und … Schach! (Wobei sexistische Drohungen an die Dame des Gegners ausgesprochen werden.) Alles Sportarten, die einem Respekt verschaffen beziehungsweise den Körper für den Überlebenskampf, der vor allem auf Abschreckung beruht, fit machen; laufen tun hier nur Murphy und sein schwarzer Freund Stiles aus der Nachbarzelle, der Einzige, mit dem er überhaupt Kontakt pflegt, denn er zieht, wie viele Läufer, die Einsamkeit vor. Stiles träumt von einem außerplanmäßigen Besuch seiner Frau und lässt sich, um den zu organisieren, auf einen Deal mit „Dr. D“ ein, einem der Bosse im Gefängnis, noch dazu einem Weißen, was nur Ärger bringen kann. Murphy stellt ihn zur Rede, und Stiles wirft Murphy vor, dass er keine menschlichen Bedürfnisse habe und ein Lauf-Junkie sei: „Du brauchst doch niemanden. Du rennst, bis du nicht mehr stehen kannst, dann bist du benebelt, wie irgendein Klebstoffschnüffler und vielleicht sogar müde genug zum Schlafen, bis zum nächsten Tag, wenn alles von vorne beginnt … Du bist wirklich ein Glückspilz.“ (Die Abwertung des Laufens zur Droge war damals in den Medien ein verbreiteter Reflex auf den überraschend erfolgreichen neuen Trend. Die Existenz von Endorphinen, körpereigenen Opiaten, wurde Mitte der Siebziger nachgewiesen. Seitdem hält sich bei vielen das Vorurteil, Läufer quälten sich aus Sucht nach diesen Stoffen. Wissenschaftlich ist die Wirkung von Endorphinen umstritten, vom Reiz des Laufens erklärt sie nichts.) Murphy ist in Wirklichkeit ein Unglücksrabe, weil er sich schuldig fühlt, aber überzeugt davon ist, dass er trotzdem wieder so handeln würde. Er ist ein Opfer seines Milieus, ohne die nötige emotionale Abgestumpftheit zu besitzen, mit der er darin klarkommen könnte. Murphy hält sich aus allem raus, er spricht mit niemandem, er geht nicht arbeiten, sieht nicht fern, kauft nichts, empfängt keine Besuche, sitzt beim Essen immer alleine. Er läuft nur täglich, solange der Hofgang dauert, 80 bis 90 Meilen die Woche, wie er schätzt, dabei um 10 Uhr und um 15.30 Uhr jeweils eine „schnelle Meile“. Das Laufen schenkt ihm für Momente so etwas wie Freiheit. Nachts zieht er die Wasserleitung seines Zellen-Waschbeckens aus der Wand und benutzt sie als Klimmzugstange (Krafttraining, viele Läufer vernachlässigen das). Kein Wunder, dass sich der Anstaltspsychologe für Murphy interessiert: „Alles, was du hier tust, ist laufen, warum? Fühlst du dich gut davon?“
„Yeah.“
Murphy will niemandem etwas beweisen und nichts erreichen, er will nur laufen und seine Ruhe haben. Sollte ich spontan beschreiben, worum es mir beim Laufen geht, würde ich nichts anderes antworten. Laufen gegen die Welt, manchmal fühlt sich das richtig an.
Als der Gefängnisleitung zu Ohren kommt, wie beses-sen Murphy läuft, stoppt man seine Zeit und stellt fest, dass er die Meile unter 4 Minuten schafft und damit ein Kandidat für das amerikanische Olympiateam sein könnte. Die 4-Minuten-Meile war bis in die Fünfziger ein leichtathletischer Mythos und eine kollektive Obsession, wie einst die 10 000 Meter unter 30 Minuten, die 100 Meter unter 10 Sekunden und heute der Marathon unter 2 Stunden. Erst 1954 ist der Brite Roger Bannister in Oxford unter 4 Minuten geblieben (um Gewicht zu sparen, schliff er die Spikes seiner Schuhe dünner. Für seinen Rekord wurde er geadelt).
Der Anstaltsleiter hat den Ehrgeiz, Murphy an einem Ausscheidungslauf für die Olympischen Spiele in Moskau teilnehmen zu lassen. Zunächst tritt Murphy im Gefängnis gegen ein paar Athleten der Sacramento University an. Es kommt zu einer klassischen Konfrontation zwischen Collegeläufern, also finanziell abgesicherten und aus Sicht eines Gefängnisinsassen natürlich verweichlichten Athleten, die bestens ausgerüstet sind (Murphy wirft einen Blick auf ihre neuen Adidas-Schuhe, er selbst hat nur Basketballschuhe), und dem Genie von der Straße, dessen Antrieb seine Dämonen sind. Er registriert ihre Irritation, als er ihnen die Strecke erklärt: Viermal um die Mülltonnen sind eine Meile. Natürlich können die Halbprofis mit der Willenskraft und der Leidensfähigkeit eines Gefängnisinsassen nicht mithalten, der, um die Härte des Lebens zu ertragen, härter zu sich ist als das Leben. Der Mythos des „Straßenfußballers“, gewachsen auf Beton.
Der beeindruckte Trainer der Athleten fragt Murphy anschließend: „Wie trainierst du?“
„Gar nicht. Ich laufe einfach.“
Ein auf Leidenschaft, Improvisation und Bodenständigkeit basierendes „natürliches Training“ wird in keiner Filmszene so plakativ gefeiert wie in der Trainingssequenz aus „Rocky IV“, wo wir sehen, wie sich Rocky – der hier mit seiner Naturverbundenheit der eigentliche „Russe“ ist und sich sogar einen Bart wachsen lässt – mit Holzhacken, Steinestapeln, Schlittenziehen und Joggen durch tiefen Schnee auf den Kampf gegen Ivan Drago vorbereitet, während der Körper seines russischen Kontrahenten mit Elektroden versehen und über Monitore kontrolliert wird, weil er nach streng wissenschaftlichen Methoden mithilfe von Trainingsmaschinen unter Laborbedingungen zu einem Kampfroboter hochgezüchtet wird, dem aber natürlich am Ende die Leidenschaft fehlen wird, Rocky zu besiegen. Ein damals schon ziemlich romantisch wirkender Triumph des Menschen über die Maschine, bei dem die Amerikaner seltsamerweise für die menschliche Seite stehen und die Russen für seelenlose Technik.
Vom Style her, Schnurrbart, halblange Haare, und von der Art, wie er läuft, kein Taktieren, immer angreifen und alles geben, erinnert Murphy an Steve Prefontaine, den legendären amerikanischen Mittelstreckler, der bei Olympia 1972 in München den Finnen Lasse Virén herausgefordert hat und, weil er wie immer auf Sieg lief und in der letzten Runde entsprechend aggressiv attackierte, am Ende nur Vierter geworden ist, obwohl Bronze drin gewesen wäre. Prefontaine, der als außergewöhnlich charismatisch beschrieben wird, war damals populär wie ein Rockstar; er starb 1975, bezeichnenderweise bei einem Autounfall, „before the limits of his greatness could be defined“, wie es formuliert wurde. Auch sein „Märtyrertod“ hat zur Popularität des Laufsports in Amerika beigetragen.
Die Olympiakommission setzt eine Befragung an, um zu klären, ob Murphy für die Sponsoren akzeptabel ist (denn sie sei leider nicht staatlich gefördert); er soll die Tat, wegen der er einsitzt, pro forma bereuen. Das kann er nicht, er würde sie ja wieder begehen, und sagt das auch deutlich. Damit ist er raus und wird nicht zu den Olympischen Spielen fahren dürfen (die er, wie wir wissen, wegen des Boykotts der USA natürlich so oder so verpasst hätte). Wahrscheinlich hatte man nie vor, ihn zu nominieren, man hat ihm nur falsche Hoffnungen gemacht und ihn damit geschwächt, denn er kann nur überleben, wenn er nichts mehr für sich hofft. Als später über Lautsprecher die Zeit des Kandidaten, der das Rennen gemacht hat, durchgegeben wird, nimmt sich Murphy die Stoppuhr, die ihm sein Trainer geschenkt hat, und versucht unter den Anfeuerungsrufen der Gefangenen und zu einer Instrumentalversion von „Sympathy for the Devil“ die Zeit zu schlagen, was ihm auch gelingt. Anschließend zerschmettert er die Uhr an der Gefängnismauer, die Schinderei ist vorbei, die Herrschaft der Zeit und damit fremder Werte, jetzt läuft er wieder für sich. (Schon während der Juli-Revolution von 1830 wurde, wie Walter Benjamin in „Über den Begriff der Geschichte“ schreibt, von Aufständischen in Paris an mehreren Stellen auf Turmuhren geschossen, Symbolen von Unterdrückung und Zwang in der aufkommenden Industrialisierung.)
Es geht Murphy natürlich gar nicht um Bestzeiten, es geht darum „zu schweben“. Einer der Gründe, warum Joggen damals so populär wurde, war ja das Versprechen auf eine körperliche Neugeburt und eine seelische Wandlung; wer joggt, wird ein anderer Mensch und wird auch in anderen Bereichen Erfolg haben. 1977 war „The Complete Book of Running“ erschienen (1983 auch auf Deutsch), ein Buch, das ebenfalls maßgeblich zum Laufboom in Amerika und damit auch in der Welt beigetragen hat. Der Autor James Fixx beschreibt darin, wie er mit 36 Jahren zu laufen begann und dadurch fast 30 Kilo abgenommen, dem Alkohol abgeschworen und sich das Kettenrauchen abgewöhnt hat. (Er starb schon mit 52 Jahren beim Laufen an einem Herzinfarkt, allerdings litt er an einer genetischen Disposition.) Es gibt Laufbücher, deren Autoren mit noch größerem Übergewicht einsteigen, auch mit so etwas kann man sich übertrumpfen. Im Gegensatz zu vielen anderen Heilsversprechen funktioniert das Laufen. Es gibt niemanden, der es je bereut hätte, damit begonnen zu haben. Auf paradoxe Art kann sogar das Bekenntnis, früher zu verbissen trainiert und seiner Jagd nach persönlichen Bestleistungen alles untergeordnet zu haben und dadurch ausgebrannt zu sein, die Radikalität einer Wandlung durch das richtige Laufen illustrieren. Laufen heilt sogar vom Laufen.
Murphy ist ein extremes Beispiel für die magische Wirkung des Laufens: Wenn man läuft, braucht man die Welt nicht mehr; man braucht weder Wald noch Strand, ein Gefängnishof reicht. Man braucht keine spezielle Laufkleidung, keine Trainingspläne, keine Pulsuhr, keine Laufgruppe, keine Musik, keine Energieriegel, kein schönes Wetter; die Umstände können noch so widrig sein, das Laufen ist stärker. Murphy demonstriert, wozu ein von der Gesellschaft Ausgestoßener fähig ist (Gefangene sind ein Produkt der Gesellschaft, auch wenn sie sie wegschließt), und er flößt seinen Mitgefangenen so viel Respekt ein, dass vor dem entscheidenden Lauf einer nach dem anderen im Essensaal an seinen Tisch tritt und ihm etwas von seiner Ration hinstellt („Fruit is good for you, man, eat plenty of fruit!“). Eine in diesem hoch aggressiven Milieu bis dahin undenkbare Geste der Solidarität.
Zermorscht in Strumpfhosen
Je schwächer der Körper ist, desto gebieterischer tritt er auf.
Jean-Jacques Rousseau, „Émile oder Über die Erziehung“, 1762
Ich unternehme eine kleine Lesetour, heute bin ich in Hannover, diesem Denkmal des gescheiterten Konzepts der „autogerechten Stadt“, und muss die Zeit bis zur Veranstaltung totschlagen. Die Innenstadt scheint ein einziges Kaufhaus zu sein. Ich habe es leider nie gelernt, ordnungsgemäß zu konsumieren, denn weil es sowieso überall alles gibt, fehlt mir die Lust, etwas davon zu kaufen, außerdem bereitet mir der Umgang mit Verkäufern Stress. Um mich etwas aufzuwärmen, es ist empfindlich kalt, betrete ich einen Laufladen, obwohl mich die durchtrainierten Schaufensterpuppen einschüchtern. Ich will mich unauffällig umsehen, aber sofort spricht mich ein Verkäufer an, der noch dazu sportlich aussieht, was mich unter Druck setzt, weil er, wenn ich die falschen Fragen stelle, denken könnte, dass ich ein Anfänger bin. Ich hasse es, beraten zu werden; haben die Verkäufer mehr Ahnung vom Sport als ich, dann verunsichert mich das, und ich kann nicht richtig hinhören, und wenn nicht, dann ärgere ich mich, dass sie denken, bei mir mit der Nummer durchzukommen. Ich könnte neue Long Tights gebrauchen, finde aber kein Modell, das mir gefällt. Es ist wie bei allen Kleidungsstücken: Wenn es ein Modell gibt, das mir zusagt, wird seine Produktion im nächsten Jahr eingestellt. Long Tights, die mir gefallen, müssten Reißverschlüsse an den Beinen haben, damit ich sie bequem ausziehen kann, sie bräuchten mindestens eine praktische Tasche und sollten kein auffälliges Muster haben, man sieht sonst schnell aus wie der Bezug eines Berliner U-Bahn-Sitzes. Ich bin froh, dass ich heutzutage so ein nützliches Kleidungsstück als Mann beim Laufen überhaupt tragen darf. Franz Stampfl, der aus Wien stammende Trainer von Roger Bannister, schrieb in seinem 1955 erschienenen Buch „Franz Stampfl on Running“: „A better alternative for cold weather training is a pair of full-length ballet-dancer’s tights.“
Nachdem der Verkäufer mir alle anderen Balletttänzerstrumpfhosen für Männer gezeigt hat, nehme ich schließlich widerstrebend ein Modell mit einem Achtziger-Jahre-Muster, das inzwischen anscheinend wieder modern ist. Ich weiß, dass Peter Handke in vielen seiner Bücher bunt angezogene Jogger, die ihn im Wald beim Skizzieren von Laub und Wurzelwerk störten, beschimpft hat. Ihm dürfte ich mit dieser Hose nicht über den Weg laufen. Andererseits haben die grellen Farben der heutigen Laufmode eine lange Tradition. Über die „Running Footmen“, Läufer, die englische Adlige noch bis ins 18. Jahrhundert im Dienst hatten und deren Aufgabe es war, durch lautes Rufen und Austeilen von Schlägen der Kutsche, vor der sie herrannten, den Weg zu bahnen, schreibt Guillaume Depping 1869 in „Die Körperkraft und Geschicklichkeit des Menschen“: „Sie schmückten sich gern mit Tand und Flittern, mit Besatz und Stickereien, mit Spitzen, goldenen und silbernen Franzen, Schellen und silberklingenden Glöckchen. Ihre Kleidung entsprach ihrem Beruf. Der Lauf erinnert an Leichtigkeit und Anmuth; man denkt dabei an Sylphen oder Schmetterlinge, jene flatternden Blumen, die mitten unter Blumen leben. Daher war es natürlich, dass der Läufer auch in seinem Äußeren lebhaft und kokett erschien.“ Der bunte Stoff ist zudem, erfahre ich von meinem Verkäufer, an den Oberschenkeln verengt, was gut für die Durchblutung sei. Also sind es in Wirklichkeit Balletttänzerstützstrümpfe? Mich interessiert vor allem, ob endlich ein Mechanismus erfunden wurde, der verhindert, dass die Schnur am Bauch durch die Öffnung rutscht. Weil ich nicht will, dass es so aussieht, als hätte ich die Long Tights nur aus Verlegenheit gekauft, erkundige ich mich auch noch nach einer Mütze (meine hässliche graue Mütze von Tchibo, die ich zum Laufen benutze, habe ich in den letzten Jahren bei unzähligen Männern gesehen, sie ist einer der unbekanntesten textilen Kassenschlager der Gegenwart). Sie haben nur eine Beanie von Under Armour, was mir als Markenname eigentlich zu militaristisch klingt, außerdem sehe ich damit aus wie DJ Ötzi. Sie scheint mir auch oben etwas dünn. „Da hat man normalerweise Haare“, sagt der Verkäufer. Um das Geld tut es mir schon beim Bezahlen leid. Ich gebe immer zögernder Geld aus, die Scheine beim Spazieren in der Tasche zu befühlen macht mir in meinem Alter mehr Freude. (Obwohl der Verkäufer einen wichtigen Punkt angesprochen hat: Unsere Vorfahren, die von den Bäumen gestiegen sind, verzichteten zugunsten von Schweißdrüsen auf Fell. Dafür waren sie der Sonne ausgesetzt, aber durch das aufrechte Gehen weniger als Vierbeiner. Kopf und Schultern blieben aber behaart, was heutzutage nur noch beim Kopf als Idealzustand gilt. Ironischerweise gewinnt man an Schulter- und Rückenhaaren dazu, was man an Kopfhaaren verliert.)
Nach der Lesung gehe ich mit dem Moderator essen, und wir kommen aufs Laufen zu sprechen, weil ich ihn für morgen nach einer guten Strecke frage. Er reagiert gereizt, er hält Laufen für ein Symptom des neoliberalen Selbstoptimierungswahns. Die nächste Stufe würde sein, dass Arbeitgeber ihre Angestellten zum Fitnesstraining zwingen, wenn sie nicht entlassen werden wollen. Er sieht im Schlendern und Flanieren, wie die Dandys es betrieben – die im 19. Jahrhundert, demonstrativ Schildkröten an der Leine ausführten, um zu zeigen, dass sie sich nicht dem kapitalistischen Zeitdiktat unterordneten –, einen Akt des Widerstands. Flanieren sei heute aber nur noch im Rahmen von Fitnesstraining gesellschaftlich akzeptabel. Man müsse laufen, um klarzumachen, dass man sogar seine Freizeit sinnvoll nutze. Ich hatte gar nicht geahnt, dass es noch Menschen gibt, die sich von den vernünftigen Argumenten, die für das Laufen sprechen, nicht überzeugen lassen. Ich beobachte wieder das uralte Vorurteil vieler Geistesarbeiter gegen den Sport. Wie GutsMuths schreibt: „Leider nur zu wahr, dass viele Gelehrte sich keine gründliche Gelehrsamkeit denken können, wenn sie nicht auf den Ruin des Körpers gebaut ist.“
Ich habe gar nicht so wenige Kollegen, die Läufer sind. Es sind sogar so viele, dass es verwundert, wie wenig Literatur es gibt, die Laufen zum Thema hat. Was es in großer Fülle gibt, sind Ratgeber und Erfahrungsberichte von Orthopäden, Ex-Profis oder ehemaligen Suchtkranken, die von Reisen an körperliche Grenzen erzählen, vor denen wir uns fürchten, auf die wir aber neugierig sind. Vielleicht erhofft man sich als Leser auch Tipps aus der Praxis. Es ist eine Art Abenteuerliteratur, wobei die Wildnis, in die der Held aufbricht, sein Körper und seine Psyche sind.
Eine der wichtigsten literarischen Innovationen des 20. Jahrhunderts ist der „Stream of Consciousness“, den James Joyce 1922 in seinem berühmten und wenig gelesenen Roman „Ulysses“ als formales Mittel eingesetzt hat. Und die Tätigkeit, bei der man, außer in der psychoanalytischen Therapie, solch einen Bewusstseinsstrom am sichersten erlebt, ist das Laufen, das im Geist eine als Fülle erlebte Leere erzeugt. Ich höre beim Laufen schon lange keine Musik mehr, weil mich das davon ablenkt, an nichts zu denken (elende Zeiten, als an meinem Trinkgurt ein CD-Player schlackerte; später kaufte ich einen angeblich schockresistenten MD-Player, der von Anfang an sprang). Seltsamerweise wird man als Läufer immer wieder gefragt, woran man denn unterwegs denke; einem Autofahrer, der 8 Stunden auf der Autobahn verbracht hat, stellt man diese Frage nicht. Wenn es mir schon nicht gelingt, an nichts zu denken, dann möchte ich wenigstens mit meinen Gedanken ziellos wandern. (Bei Tempoläufen muss ich mich darauf konzentrieren, Zwischenzeiten zu vergleichen und hochzurechnen und nicht zu träumen und dabei langsamer zu werden.) Einen gelungenen Lauf zu beschreiben ist genauso schwer, wie eine Reise zu schildern; der intensive Zustand, in den einen das Erlebnis versetzt, entgleitet einem hinterher wie ein Traum. Beim Laufen wird man zum nicht teilnehmenden Beobachter der Realität, wie ein Flaneur, man läuft an allem nur vorbei: Großbrände, Demonstrationen, Unfälle. Im Kopf bildet sich eine Schnittsequenz von Orten einer Stadt, die besonders reizvoll ist, wenn die Orte möglichst gegensätzlich sind: volle und menschenleere Plätze, Brachen, Beton, Hügel, Parks, Müllplätze, Unterführungen, Flussufer, Schulhöfe, Einkaufspassagen, Friedhöfe, Denkmäler, Ausfallstraßen, Treppen. So, wie man die Stadt gesehen hat, gibt es sie nur einmal, genau in dieser Stunde, und nur im eigenen Bewusstsein wurde ein Zusammenhang zwischen den verschiedenen Orten hergestellt. Während man sich bewegt und auf den Untergrund achtet, um nicht zu stolpern, wandert man parallel dazu im Kopf frei assoziierend durch sein Leben, von der Vergangenheit in die Zukunft und zurück, und dabei horcht man ständig in seinen Körper hinein, um das Tempo zu regulieren und auch ohne Pulsfrequenzmessgerät und deprimierende Berechnungen (Trainingsherzfrequenz = Ruheherzfrequenz + (maximale Herzfrequenz [220 – Alter] – Ruheherzfrequenz) * 0,6 … what the fuck?) unter der aerob-anaeroben Schwelle zu bleiben, um ökonomischer zu laufen, um normale Schmerzen von sich anbahnenden Verletzungen zu unterscheiden, um einzuschätzen, wie man in Form ist – besser oder schlechter als vor 1, 10 oder 20 Jahren –, um den Zeitpunkt nicht zu verpassen, wenn man den Rückweg antreten sollte.
Weil ich an nichts denke, fallen mir manchmal Sachen ein, die ich mir merken will. Tatsächlich hatte ich jahrelang – vor allem als ich noch mit einem Trinkgürtel gelaufen bin, der eine Reißverschlusstasche hatte – eine Karteikarte und einen bei IKEA geklauten Minibleistift dabei, um mir Einfälle notieren zu können. Oft genug war die Karteikarte nach dem Lauf vom Schweiß aufgeweicht und nichts mehr zu lesen, oder ich konnte meine Schrift nicht entziffern, oder die Einfälle klangen nach dem Duschen banal. Irgendwann war der Reißverschluss des Trinkgürtels so verrostet, dass er nicht mehr auf- und zuging, dann ließ ich den Trinkgürtel zu Hause, weil Trinken nur durstig macht. Bis zu drei Gedanken kann ich mir problemlos merken, ein interessantes Graffiti („ICH VERSTEHE DAS WIE, ABER NICHT DAS WARUM“), einen Gesprächsfetzen, den ich mitgehört habe, eine schlagfertige Bemerkung (die mir zu spät eingefallen ist) an die Adresse eines Autofahrers, der mir den Weg abgeschnitten und gehupt hat. Wenn mir mehr Gedanken kommen – und manchmal fallen sie, sobald ich sie nicht aufschreiben kann, über mich her wie eine Meute hungriger Wölfe –, dann spreche ich sie wie bei „Ich packe meinen Koffer und nehme mit …“ für den Rest des Laufs im Geist ständig vor mich hin. (Die Inka hatten – vielleicht auch, weil sie keine Pferde kannten – ein komplexes Botensystem. Wenn ein Läufer den nächsten Stützpunkt erreichte, lief er noch eine Weile neben dem neuen Läufer her, bis dieser sich die Botschaft eingeprägt hatte. Wer die Botschaft nicht richtig übermittelte, wurde getötet.)
Es wundert mich nicht, dass der größte Klassiker der Laufliteratur, Alan Sillitoes „Die Einsamkeit des Langstreckenläufers“, erzähltechnisch ein innerer Monolog ist. (Um den Handke-Titel kann man den Autor nur beneiden, er trifft den Punkt, Langstreckenlauf ist eine Art heroische, trotzige, selbst gewählte Einsamkeit, ganz ähnlich dem Langstreckenschreiben.) Als ich das Buch mit Anfang zwanzig zum ersten Mal gelesen habe, reizte mich der formale Kniff, dass ein Lauf als Rahmen für eine Erzählung gewählt worden war. Damals fand ich aber, dass es im Buch zu wenig ums Laufen ging, in Wirklichkeit ist es ja eine sozialkritische Wutrede. Sillitoe war der seltene Fall eines integren, mutigen und uneitlen Schriftstellers, genau wie der Held seiner Erzählung verzichtete er auf Preise, während sein Kollege Pindar im 5. Jahrhundert v. Chr. seine Oden an die Sieger der Olympischen Spiele am liebsten über Wagenlenker schrieb, die reicher waren als Läufer oder Werfer. Sillitoe hatte vier Geschwister, sein Vater war Analphabet und Trinker, die Mutter prostituierte sich, damit die Kinder etwas zu essen hatten. Weil die Familie arm war, musste Sillitoe die Schule mit vierzehn verlassen und arbeiten gehen. Im Zweiten Weltkrieg fälschte er seinen Ausweis, um sich jünger zu machen und Pilot werden zu können; der Krieg war aber zu schnell zu Ende. Nach seiner Entlassung verbrachte er fast eineinhalb Jahre in einer Lungenheilanstalt, weil er an TBC erkrankt war; er gehört also mit Tschechow, Kafka, Bernhard, Proust, Roland Barthes und Siegfried Pitschmann in die lange Reihe lungenkranker Schriftsteller. Im Sanatorium begann Sillitoe zu lesen und beschloss, selbst zu schreiben. In den Sechzigern versuchte die Sowjetunion, ihn als Stimme der unterdrückten Arbeiterklasse zu vereinnahmen; er reiste mehrmals durch Russland und hielt 1968 auf einem Schriftstellerkongress in Moskau eine Rede, in der er in Anwesenheit von Leonid Breschnew Menschenrechtsverletzungen in der Sowjetunion anprangerte, wozu einiges an Mut gehörte.
„The Loneliness of the Long-Distance Runner“ ist 1959 erschienen, der Text wurde 1962 verfilmt und 1967 ins Deutsche übersetzt. (Übersetzungen altern schneller als ihre Originale, Polizei heißt hier noch „Polente“, Geld „Zunder“, Ohren „Flatterlappen“ und Telefonieren „sich an die Strippe hängen“. Man lernt aber auch, was ein „Bäckerdutzend“ und ein „Halbnelson“ ist.) In „The Jericho Mile“ war der Läufer ein Häftling und Einzelgänger, dem das Laufen Momente von Würde, Freiheit und Vergessen geschenkt hat, hier ist es der siebzehnjährige Colin (mit dem sympathischen Nachnamen „Smith“), der nach einem Einbruch in einer Bäckerei in ein Borstal gesteckt worden ist, in Großbritannien eine Art Besserungsanstalt für Jugendliche, die dem Zweck dienen sollte, die Jugendlichen durch Disziplin und Arbeit zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen, aber – wenig überraschend – eher eine Brutstätte für Psychopathen war. Wie in „The Jericho Mile“ kommt der Anstaltschef auf die Idee, seinen Schützling in einem Wettkampf antreten zu lassen.
In England gab es im 19. Jahrhundert schon eine einhundertjährige Tradition des Cross-Country-Laufs, die vor allem an den Internaten gepflegt wurde, als man in Deutschland noch den „Barrenstreit“ um die Frage führte, ob man im Unterricht für Leibeserziehung dem Vorbild der gesundheitsorientierten „schwedischen Gymnastik“ folgen oder sich an das Deutsche Turnen nach Friedrich Ludwig Jahn halten sollte, das eher darauf abzielte, Gesinnung und Charakter zu fördern. Leider hat die Turnfraktion gesiegt, was Generationen von Schülern dem Sport entfremdet haben dürfte, weil Sport beziehungsweise „Turnen“ als Vorbereitung auf den Militärdienst verstanden und auch so praktiziert wurde, statt Freude an der Bewegung Drill, rhythmisches Zählen, Demütigungen durch Lehrer und Mitschüler.
Ein auch international viel beachteter Pionier des Unterrichts in Leibesübungen war der deutsche Pädagoge Johann Christoph Friedrich GutsMuths, der ab 1784 für fünfzig Jahre Lehrer an einer Reformschule im thüringischen Schnepfenthal war und dort einen neuen Gymnastikunterricht entwickelte und lehrte. 1793 erschien sein Buch „Gymnastik für die Jugend“, in dem er, sich auf ärztliche Erkenntnisse seiner Zeit stützend, den Versuch unternimmt, eine Leibeserziehung für die Kinder des Bürgertums zu entwickeln, die sie vor der „Verweichlichung“ und „Verzärtelung“ bewahren sollte, dem Schicksal der Säuglinge und Kinder der besseren Stände, denn diese würden durch Warmhalten, Einhüllen, Purgieren, Schwitzen, Aderlassen, Vermeidung der bösen Witterung, Stubenhüten krank gemacht: „So sinkt der junge Weltbürger vom Mutterleibe in warme Bäder, in Federbetten. Man behandelt ihn wie einen Todkranken.“ Als Gegenmittel sieht er die Gymnastik, die es erlaube, sich der physischen Vollkommenheit des Naturmenschen anzunähern „ohne in seine Wildheit zu verfallen“. Er predigt den „balsamischen Einfluß der Luft“, keine engen Kleider, keine Federbetten, keine Kopfbedeckung, keine warmen Getränke, Brustlätze, wollene Strümpfe, doppelte Hemden, kein „Eiderdunenbett“, sondern spielerische Bewegung, möglichst im Freien. Körperanstrengung verschaffe „dem Blute lustigen Umlauf“. Die von ihm beschriebenen Übungen sind teilweise dem antiken Repertoire entlehnt, er lässt aber auch auf Stelzen gehen, Schlittschuh fahren, den „gesellschaftlichen Sprung“ (also den Bocksprung) praktizieren, den „Sprung in die Tiefe“ üben, alles spielerisch und in möglichst ungezwungener Atmosphäre, wie es Kindern entspricht. („Üben ist: den Körper mit den Gegenständen umher in Collision bringen.“) Dazu kommen handwerkliche Tätigkeiten und Gartenarbeit, es sei schön, die unschuldigen Geschöpfe „sich hier an die Natur und unsere Urbestimmung näher anschmiegen zu sehen“.
Leider liegt für GutsMuths das Ziel dieses Unterrichts in körperlicher Abhärtung und einer Erziehung zur Selbstbeherrschung und „Männlichkeit“ (bis heute geistert die Vorstellung durch Elternhirne, Kinder so auf die Härten des Lebens vorbereiten zu müssen). Er hegt einen ausgesprochen „männlichen Widerwillen gegen weibische Weichlichkeit“. Mehr als deutlich wird, worum es im Kern geht, wenn er schreibt, dass „ein gewisses geheimes Laster durch körperliche Untätigkeit vorzüglich begünstigt werde“. Nichts anderes als das Laster der Onanie soll mit den Mitteln der Gymnastik bekämpft werden! Die zeitbedingte Prüderie und Verteufelung der Sexualität war bis in die Dreißigerjahre des 20. Jahrhunderts ein mehr oder weniger offen behandeltes Thema in allen Trainingsbüchern. Das hatte natürlich schon mit Paulus angefangen, der an die Korinther schrieb: „Jeder Wettkämpfer aber übt gänzliche Enthaltsamkeit; jene tun es, um einen vergänglichen Kranz zu erlangen, wir aber einen unvergänglichen.“ Fast schon skurril klingt es beim Zehnkämpfer, erzkonservativen Weltkriegsveteran, späteren Nazifunktionär (und noch späteren Träger des Bundesverdienstkreuzes) Karl Ritter von Halt, der 1922 empfahl, ein Trainingstagebuch zu führen und mit nur für einen selbst lesbaren Zeichen Eintragungen über „körperliche Unregelmäßigkeiten“ zu machen, das erleichtere dem Sportsmann, „den schädlichen Einfluß von Nikotin, Bacchus und Venus“ zu ersehen. Martin Brustmann will in „Olympisches Trainierbuch“ von 1912 von einem aphrodisierenden Effekt des Wettkampfsports wissen: „Ja, selbst intensiv betriebener Sport hat oft eigenartige Nachwirkungen, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. Wenn nach einer mehr oder weniger langen Zeit sexueller Abstinenz die dadurch gewonnenen Kräfte im Wettkampf ihre Verwendung gefunden haben, dann schlägt bei vielen Leuten die durch den Wettkampf bedingte und für ihn nötige Steigerung der Körperfunktionen auf das sexuelle Gebiet um und sucht dort nach Auslösung.“ Heute wird gerade das in vielen Laufbüchern positiv herausgehoben; Laufen wirke sich positiv auf die Libido aus, was wahrscheinlich alle Läufer gerne hören. Nachgewiesen ist in jedem Fall, dass regelmäßige Bewegung bei Zuchtebern dazu führt, dass die Zeitspanne zwischen Eintreiben und Aufsprung im Absamungsraum sinkt.
Zurück zu Colin Smith, der nicht aus Freude am Sport Läufer geworden ist, sondern aus biografischen Gründen: „Laufen ist bei uns zu Hause immer groß geschrieben worden, besonders das Weglaufen vor der Polizei.“ Wir kennen die Ursprungsmythen, die über das frühe Training großer Läufer erzählt werden. Der eine war als Bäcker oder Ziegelbrenner an harte Arbeit bei hohen Temperaturen gewöhnt und hielt so bei Hitzeläufen besser durch, der andere war als Postbote oder Ziegenhirt viel zu Fuß unterwegs, der Schwede Gunder Hägg hatte sein Grundlagentraining in der Jugend als Holzfäller erworben, und der 1887 geborene Onondaga-Indianer Thomas Longboat fing auf der Ranch, auf der er aufwuchs, ausgebrochene Pferde wieder ein und gewann 1907 den Boston-Marathon in Rekordzeit. Das Talent von Alfred Shrubb, einem der ersten internationalen Laufstars, noch vor Paavo Nurmi, wurde entdeckt, als er einmal, von Neugier getrieben, schneller als ein von Pferden gezogenes Löschfahrzeug eine 3 bis 4 Meilen entfernt liegende Brandstelle erreichte. Paavo Nurmi arbeitete mit zwölf als Laufbursche einer Bäckerei, die Kenianerin Tegla Loroupe war eines von 24 Geschwistern und musste barfuß 10 Kilometer zur Schule laufen, was bei Läufern aus Afrika in keiner Biografie fehlt. „Es ist ein großer Vorteil, wenn die Schule so weit entfernt ist. Dann lässt man es nämlich auf die letzte Minute ankommen und holt den Zeitverlust auf dem Schulweg wieder ein“, sagt der kenianische Mittelstreckenläufer Mike Boit in „Schwarzes Gold“. Otto Peltzer, eine der interessantesten Persönlichkeiten der deutschen Leichtathletik, der in den Zwanzigerjahren ein Weltklasseläufer war, musste morgens einen Kilometer zur Schule laufen: „Der Hauptgrund für diesen Lauf war mein zu spätes Aufstehen.“ (Durch den ständigen Blick auf die Kirchturmuhr lernte er, sein Tempo zu regulieren.) Selbst Waldemar Cierpinski schreibt in seinen Erinnerungen, dass er die 3 Kilometer Schulweg für einen Wettlauf mit dem Bus nutzte, um das Fahrgeld zu sparen und weil er zu Fuß schneller war. (Außerdem habe er durch die harte Arbeit auf dem Bauernhof seiner Eltern früh gelernt, sich seine Zeit einzuteilen.) Colin Smith, für den Laufen nie „hinlaufen“, sondern immer „weglaufen“ bedeutete, liefert eine Variante dieser Geschichten von schwierigen Lebensumständen, die zum frühen Training wurden.
Als sein Talent erkannt wird, bekommt er das Privileg zugestanden, dreimal wöchentlich für den Wettkampf zu trainieren. Morgens um 5 Uhr verlässt er die Mauern des Borstals in Essex, wo er in einen Schlafsaal mit 300 anderen eingepfercht die Nacht verbracht hat, um ohne ein Stück Brot im Bauch in der Eiseskälte in 2 Stunden 5 Meilen durch die Natur zu laufen (was ein bisschen wenig klingt, denn das wären nur 4 Kilometer in einer Stunde). Die Leitung der Anstalt hat den Anspruch, ihn zu einem „ehrlichen Menschen“ zu machen, worüber zwischen Colin und dem Direktor keine Einigkeit herrschen kann, denn er weiß: „daß ich ehrlich bin, daß ich nie was andres als ehrlich war und daß ich immer ehrlich bleiben werde“. Sillitoe steht eindeutig auf der Seite des jungen Kleinkriminellen, die Unterdrückungsverhältnisse waren damals noch übersichtlich, die gerechte Wut der Ausgebeuteten ließ sich noch poetisieren, auch wenn sie nicht im Klassenkampf eingesetzt wurde, sondern sich in kriminelle Energie verwandelte. Der Versuch des Staats, solche Jungen in ihrem Inneren zu verändern, muss scheitern: „Aber unser innerstes Wesen können sie doch nicht röntgen, um rauszufinden, was sich da abspielt.“
Während des Laufens denkt Colin über sein bisheriges Leben nach, was ihm Spaß macht, denn in solchen Momenten dreht er seine Runden wie im Traum: „Manchmal denk ich, ich bin noch nie so frei gewesen wie in den beiden Stunden, wenn ich den Weg draußen vor den Toren lang trotte.“ Die Frage, auf wessen Seite die Moral ist, wird von Sillitoe ziemlich eindeutig beantwortet: „… am Schluß werde ich siegen, auch wenn ich vielleicht mit zweiundachtzig im Kittchen sterbe, weil ich aus meinem Leben mehr Lust und Leidenschaft raushole, als er [der Direktor] je aus seinem rausholen wird.“
Und das tut er nicht zuletzt durch das Laufen, denn jeder Lauf ist ein Leben für sich, aber auch eine schmerzhafte Reise, denn Colin kann das Leben, das er zu leben gezwungen ist, nur durchstehen, wenn er sich keine Gefühle erlaubt, und wie in einer therapeutischen Sitzung kommt er beim freien Assoziieren während des Laufens der verbotenen Kammer seiner kindlichen Seele gefährlich nahe. Kurz vor dem Ziel denkt er daran, wie sein Vater (der ein „Genosse“ war und in jeder Beziehung gescheitert ist) an Kehlkopfkrebs gestorben ist und wie er ihn gefunden hat, bäuchlings auf dem Bett, der Teppich voll Blut. Vom Versicherungsgeld hat seine Mutter einen neuen Teppich und einen Fernseher gekauft, und alle haben ein paar Monate Schinkenbrote und Schokolade gegessen, „Limo“ getrunken und ferngesehen, während die Mutter mit einem Verehrer im neuen Bett lag: „Und ich hab noch keine Familie gesehn, die so glücklich war wie wir in den zwei Monaten, als wir so viel Geld hatten, wie wir brauchten.“
Um dem Direktor eins auszuwischen, verzichtet Colin auf den Sieg, kurz vor der Ziellinie bleibt er stehen und lässt sich von einem Jungen aus einer anderen Anstalt überholen („Häng dich doch mit dem Zielband“) und wird dafür – was ihm schon vorher bewusst ist – die letzten sechs Monate im Borstal Latrinen putzen und natürlich auch nicht mehr im Freien laufen dürfen: „Mit den Fingern reiß ich mir ein Stück Borke ab und stopf’s in den Mund, kau Holz und Staub und vielleicht auch Larven beim Laufen, bis mir fast schlecht wird, schluck aber trotzdem so viel runter, wie ich kann, weil mir mein kleiner Finger sagt, dass ich zwar noch wenigstens eine verdammte Weile länger weiterleben muss, aber für die nächsten sechs Monate werde ich kein Gras riechen und keine staubige Borke schmecken und keinen so herrlichen Weg langkommen.“
Wie für Murphy aus „The Jericho Mile“ hat für Colin der Wettbewerbsgedanke keinen Sinn. Es geht ihm beim Laufen nicht ums Siegen, nicht um Grenzerfahrungen, schon gar nicht um die Gesundheit, ums Abnehmen oder darum, sich für seinen Job fit zu machen oder ein Lebensziel zu erreichen. Seine Motivation ist rein „intrinsisch“ und nicht instrumentell, er läuft, um zu laufen: „Es ist schwer zu verstehn, und ich wußte bloß, du mußt laufen, laufen, ohne zu wissen, warum, aber du läufst weiter durch Felder, die du nicht verstehst, und rein in Wälder, die dir Angst einjagen, über Hügel, ohne zu wissen, dass es rauf und runter geht, und du flitzt über Flüsse, die dir das Herz aus dem Leibe reißen, wenn du reinfällst. Und am Ziel war’s damit nicht zu Ende, wenn dich die Zuschauer auch jubelnd empfangen, weil du weiter mußt, bevor du wieder zu Atem kommst, und du hörst erst richtig auf, wenn du über einen Baumstamm stolperst und dir das Genick brichst oder in einen unbenutzten Brunnen fällst und für immer tot in der Finsternis liegst.“ Genau darum wollte ich ursprünglich Schriftsteller werden, weil Schreiben eine Tätigkeit zu sein schien, für die man keinen Grund brauchte, die so selbstverständlich war wie der Herzschlag und die Atemzüge, eine Tätigkeit, die es einem ein Leben lang erlaubte zu spielen.
„Ein großer Essay über die Freuden und Leiden des Laufens, (…) ein durchaus heiterer Lebensrückblick, ein schillernder Erlebnisbericht und ein anregendes Motivationscoaching.“
„In seinem originellen wie ansteckenden Band erzählt Jochen Schmidt von persönlichen Rekorden und warum Laufen glücklich macht.“
„Der große Reiz des Buches liegt in seinem autobiografischen Charakter: Schmidt … erzählt in vielen Anekdoten von seiner sportlichen Kindheit in der DDR und schildert erfrischend selbstironisch, wie der Zahn der Zeit an Körper und Selbstbewusstsein nagt.“
„Kein typisches Laufbuch, aber spannend zum Lesen: Auf originelle Weise erzählt der Autor unter anderem, weshalb Laufen die Sinne stärkt und glücklich macht.“
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