Gebrauchsanweisung fürs Lesen Gebrauchsanweisung fürs Lesen - eBook-Ausgabe
„Das Buch ist eine einzigartige Liebeserklärung an das Lesen sowie schönerweise auch an das gedruckte Buch.“ - Wiener Zeitung
Gebrauchsanweisung fürs Lesen — Inhalt
Lesen kann klüger oder auch entspannter machen, es regt die Fantasie an, stärkt das Selbstbewusstsein und fördert die soziale Kompetenz. Felicitas von Lovenberg, preisgekrönte Publizistin und ehemalige FAZ-Literaturchefin, Moderatorin, Autorin und Verlegerin, bricht eine Lanze für das Kulturgut Buch. Sie schildert, wie seine Rolle sich immer wieder gewandelt hat und welch ungewöhnliche Lesegewohnheiten es gibt. Bietet einen Überblick, wie und warum wir heute lesen. Geht auf Lieblingsbücher und Entdeckungen ein. Erzählt, wie Romane sich in Freunde und Reisegefährten verwandeln und aus dem Zeitvertreib Lesen eine beglückende, lebenslange Sucht werden kann. Und zeigt, was es mit Trends und Moden wie Deep Reading auf sich hat. Ob zum Verschenken oder Selbstbehalten: Dieser Wegweiser ist der ideale Band für jeden Buchliebhaber.
Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung fürs Lesen“
„Ich kenne das Vergnügen des Nichtstuns absolut nicht. Sobald ich kein Buch mehr in der Hand halte oder nicht davon träume, eines zu schreiben, überkommt mich eine solche Langeweile, dass ich laut schreien möchte.“
Gustave Flaubert
Ganz gleich, ob man es als die schönste Haupt- oder Nebensache der Welt betrachtet, ob man lebt, um zu lesen, oder liest, um zu leben, ob man ein Bücherregal hat oder viele, eine ganze Bibliothek sein Eigen nennt oder lediglich einen Reader, ob man ein selbst erklärter Bücherwurm ist oder eher ein [...]
„Ich kenne das Vergnügen des Nichtstuns absolut nicht. Sobald ich kein Buch mehr in der Hand halte oder nicht davon träume, eines zu schreiben, überkommt mich eine solche Langeweile, dass ich laut schreien möchte.“
Gustave Flaubert
Ganz gleich, ob man es als die schönste Haupt- oder Nebensache der Welt betrachtet, ob man lebt, um zu lesen, oder liest, um zu leben, ob man ein Bücherregal hat oder viele, eine ganze Bibliothek sein Eigen nennt oder lediglich einen Reader, ob man ein selbst erklärter Bücherwurm ist oder eher ein Ich-wünschte-ich-hätte-mehr-Zeit-zum-Lesen-Leser: Wenn dieses Büchlein Sie angelacht hat und Sie danach gegriffen haben, muss man Sie wahrscheinlich nicht erst von der Notwendigkeit und dem Glück der Lektüre überzeugen. Ein Buch übers Lesen, das wäre auch mir bis vor Kurzem ähnlich überflüssig erschienen wie ein Sandkasten in der Sahara.
Doch während das Lesen in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts seinen historisch gesehen gewaltigsten Boom erlebte, weil immer mehr Menschen immer mehr Zeit im Alltag hatten, die sie bevorzugt mit einem Buch in der Hand verbrachten, weil Bücher unter und in den Leitmedien eine Vorrangstellung einnahmen und das Gespräch über wichtige neue Titel ein nahezu gesamtgesellschaftliches war, weil die Auswahl an passenden Büchern für jede Art von Leser stetig zunahm und weil sogar das Fernsehen Büchern und dem ernsthaften Gespräch über Literatur Raum und zuschauerfreundliche Sendezeiten einräumte, erscheinen Gegenwart und erst recht Zukunft des Lesens deutlich unsicherer. Statt zum Buch greifen Menschen zum Smartphone, von wo sie immer weniger Schrift- und immer mehr Sprach- und Videonachrichten verschicken, ihre freie Zeit verbringen sie bevorzugt mit dem Anschauen aufwendiger Fernsehserien, und wenn sie sich Büchern und Autoren widmen, tun sie das zunehmend lieber im Pulk als allein. Während Literaturfestivals und Literaturhäuser sich immer größeren Zulaufs erfreuen, Lese-Communitys im Netz und privat organisierte Lesezirkel wachsen und immer mehr Menschen in Blogs und Posts andere an ihren Lektüren teilhaben lassen, scheint das Buch isoliert von dieser Betriebsamkeit und allein mit seinem Leser in der Defensive zu sein. Weil immer weniger Menschen immer weniger Bücher kaufen, gehen Auflagen zurück, Buchhandlungen tun sich vielerorts schwer, und in den Medien werden Buchbesprechungen zunehmend von aufmerksamkeitsstärkeren Disziplinen verdrängt. Schon wird öffentlich die Frage gestellt, ob das Buch womöglich am Ende sei, nachdem es sich über Jahrzehnte der größten Beliebtheit in seiner langen Geschichte erfreut hat. Sicher ist: Wir werden das Bücherlesen nur retten, indem wir es groß machen und essenziell, und nicht, indem wir Grabgesänge darauf anstimmen. Insofern ist das Nachdenken übers Lesen, darüber, was es bewirkt und auslöst, wo und wie wir es tun und mit welchen Büchern wir das Zwiegespräch suchen, kein beschaulicher Selbstzweck, sondern lustvolle Notwendigkeit. Betrachten Sie dieses Büchlein also als eine Art Beipackzettel einer äußerst gesunden Tätigkeit mit Risiken und Nebenwirkungen.
Die Vorzüge des Lesens liegen auf der Hand. Wer liest, ist nicht allein. Lesen bildet, unterhält und informiert. Es macht uns einfühlsamer, trägt zur seelischen Stabilität bei, vergrößert den Sprachschatz und fördert das kritische Denken. Es verankert uns in uns selbst wie in der Welt. Man kann es immer und überall tun, es ist für jedermann erschwinglich und für alle Lebensalter geeignet. Es hilft vielen beim Einschlafen und verbessert die Qualität des Schlafs ebenso wie die Wahrnehmungsfähigkeit im Wachzustand. Aber obwohl das Internet bewirkt, dass rein quantitativ mehr gelesen wird als je zuvor, ist die Kulturtechnik des Lesens, des Sichversenkens in Bücher, in Gefahr. Denn während man beim Bügeln, Kochen, Fernsehen oder Laufen nebenher immer noch anderes erledigen kann, verlangen Lektüren nach Ausschließlichkeit und erlauben kein Multitasking. Das macht die Entscheidung fürs Buch und das Verweilen darin für viele schwerer als früher. Auch darum führen in den Vereinigten Staaten immer mehr Schulen das Fach Deep Reading ein, eine Lernmethode, die Jugendliche dazu befähigen soll, längere Texte ohne größere Unterbrechungen und Ablenkung zu lesen und ihren Inhalt im Kern zu erfassen. Wer da einen Zeitungstext, eine Kurzgeschichte oder Erzählung gemeistert hat, kann sich als Fortgeschrittener an einem ganzen Buch versuchen.
Diese Gebrauchsanweisung hat indes nicht die Lektüre von Gebrauchstexten im Sinn, nicht das rasche Erfassen von E-Mails, Artikeln, Blogs oder Nachrichten, sondern das eigentliche, das gute, wahre, schöne vertiefte Lesen. Das Lesen, das jeder kennt, der schon einmal wegen einer Lektüre das Licht nicht ausschalten konnte oder eine Verabredung unter fadenscheinigem Vorwand abgesagt hat, um nur ja weiterzulesen. Gemeint sind jene intensiven Lektüren, über denen man Zeit und Ort vergisst, die Hunger und Durst unwichtig machen und die einem beim Aufblicken von den Seiten die eigene Welt einen Moment lang fremd und wunderlich erscheinen lassen. Es ist die Art Lesen, die jene praktizieren, die man gern „Buchmenschen“ nennt, also solche, „die im Stehen, Sitzen, Liegen lesen, ihre Brut vernachlässigen, ihre Haltestelle verpassen, die innerlich überbevölkert leben“, wie es Roger Willemsen einmal beschrieb. Es sind Menschen, denen ohne ein gutes Buch in ihrer Nähe etwas fehlt, die unruhig und gereizt reagieren, wenn sie allzu lange nicht zum Lesen kommen, die andere Leute bevorzugt nach ihren Lieblingslektüren befragen und denen ein Leben ohne Literatur weder sinnvoll noch lebenswert erscheint.
„Lesen? Das geht ein, zwei Jahre gut, dann bist du süchtig“, resümiert ein Abhängiger in einer Karikatur von Greser & Lenz. Als jemand, der noch beim Zähneputzen liest, im Stau und an roten Ampeln, der ohne Lektüre schlecht einschlafen kann und morgens extra früh aufsteht, um vor dem Erwachen der Familie etwas Lesezeit zu haben, glaube ich, zu wissen, was er meint. Die Gesellschaft eines guten Buches kann mir fast jede Gesellschaft ersetzen, sorgt für inneres Gleichgewicht, lindert Ratlosigkeit, Angst und Frustration, spendet Trost und Sinn. Lieblingslektüren sind für mich wie ein Zuhause, wo im Kamin das Feuer knistert, die Suppe auf dem Herd steht und der Hund einen freudig begrüßt. Und die großen, wichtigen Werke lösen ein demütig machendes Glücksgefühl aus, ein Entzücken und Staunen über das, wozu ihre Schöpfer imstande sind. Das sind jene Sternschnuppen-Momente, in denen ein Buch mir zuzuflüstern scheint: Schau, so ist es gemeint. Und doch ist es nicht allein dieses Einverständnis und diese Komplizenschaft, die das Lesen so verlockend macht. Wie der Schriftsteller John Green es einmal ausdrückte: „Großartige Bücher helfen uns zu verstehen, und sie helfen uns, uns verstanden zu fühlen.“ Indem uns die Literatur uns selbst vergessen lässt und uns zugleich in Berührung bringt mit anderen Lebensweisen, Eigenschaften, Gefühlen, Überzeugungen und Schicksalen als unseren eigenen, lädt sie uns unwillkürlich zum Abgleich ein. Über den Kontakt mit anderen bringt sie uns so in Verbindung mit uns selbst. Diese Selbsterforschung und Vergewisserung der eigenen inneren Mitte erscheint in Zeiten des „Dataismus“ (so der israelische Historiker Yuval Noah Harari), in denen zunehmend nur noch die Informationen und Erfahrungen zählen, die geteilt und in den globalen Datenfluss eingespeist werden, zentraler denn je. Lesen heißt teilnehmen, aber es ist eine innere Teilnahme. Darum bedeutet Lesen nicht einfach Rückzug und Einsamkeit, sondern es hilft uns, Entscheidungen zu treffen, Verantwortung zu übernehmen, kurz: unser Leben zu gestalten.
Werke übers das Wesen des Lesens und Schreibens, über das Leben mit Büchern, über Literatur und die Freuden, Chancen, Gefahren und ungeschriebenen Gebote der Lektüren zählen zu den Schätzen nicht nur meiner Bibliothek. Jeder Schriftsteller beginnt als Leser, und während es für Autoren so naheliegend wie aufschlussreich erscheint, sich über das, was sie tun, übergeordnete Gedanken zu machen, genügt es den meisten Lesern, sich in ihrer Leidenschaft im Bunde mit anderen zu wissen. Doch warum sollten nicht auch Leser ihre Passion einmal genauer unter die Lupe nehmen?
Das Lesen von Literatur ist keine solche Selbstverständlichkeit mehr, wie man gern annehmen würde. Sich in einen Text voller Komplexitäten zu versenken, sich auf oftmals widersprüchliche Charaktere und sprachliche Finesse einzulassen, kostet Zeit und fordert uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Diese Art von Konzentration fällt vielen zusehends schwerer, auch weil Zeit zur medial meistumkämpften Ressource des Individuums in westlichen Gesellschaften geworden ist. So finden es immer mehr Menschen schwieriger denn je, Muße fürs Lesen zu finden – oder die dafür nötige innere Ruhe und Konzentration. Jedenfalls nimmt die Zahl gewohnheitsmäßiger Buchleser ab. Das Leitmedium Buch verliert an Reichweite. Noch 2012 kaufte der Gesellschaft für Konsumforschung zufolge fast jeder Deutsche mindestens einmal im Jahr ein Buch; vier Jahre später war es kaum noch jeder Zweite. Sei es, weil die Statistik, dass jeder Mensch sein Smartphone durchschnittlich alle elf Minuten zur Hand nimmt, auch von denen gefüttert wird, die es deutlich seltener tun, wir uns also insgesamt immer leichter, öfter und lieber ablenken lassen; oder weil immer mehr Menschen immer weniger gern in Geschäfte gehen, um einzukaufen; oder weil die schiere Masse an Neuerscheinungen die Entscheidung für ein bestimmtes Buch und die schiere Masse der immer neuen Zeiterfüllungsbedürfnisse die Entscheidung fürs Buch insgesamt schwieriger macht; oder weil wir von einem sehr langen, oral geprägten Zeitalter in eine visuell ausgerichtete Ära, die stärker auf Bilder als auf Worte setzt, übertreten – Bücher könnten die Dinosaurier der Zukunft sein. Wie es Die Zeit unlängst ausdrückte: „Das Lesen ist von zwei Seiten gefährdet, von neuer Technologie und alter Ignoranz.“
Es gibt indes neben dem schieren Vergnügen der Lektüre, von dem noch ausführlich die Rede sein wird, viele rationale Gründe, warum wir das lang anhaltende und das vertiefte Lesen nicht verlernen sollten. Zunächst einmal handelt es sich dabei um eine Errungenschaft, für die wir als Spezies in der Evolution weit vorankommen mussten. Das Aufkommen des Lesens und des Erzählens sind für die Geschichte der Menschheit so wichtig wie die Entdeckung des Feuers oder die Erfindung des Rades. Denn Lesen stellt für den Menschen keineswegs ein Grundbedürfnis oder gar eine Grundfähigkeit dar, ja unser genetisches Inventar hat uns nicht einmal zu Lesern bestimmt.
Seit Hunderttausenden von Jahren haben Menschen sich in irgendeiner Form mündlich miteinander verständigt; die Fähigkeit zur Sprache ist uns genetisch ebenso mitgegeben wie Sehen und Hören. Lesen hingegen ist keine solche Selbstverständlichkeit, im Gegenteil: Der Akt des Lesens, also die individuelle Auflösung von etwas Abstraktem in einen konkreten Sinn, vollzieht sich in unserer neuronalen Entwicklungsgeschichte nicht von Natur aus. Das lässt sich schon daran erkennen, dass es sehr lange dauerte, bis aus Sprache Schrift wurde und so jene Technik in die Welt kam, die „es erlaubt zu kommunizieren, ohne da zu sein, zu erinnern, obwohl man vergessen hatte, und Unabänderliches zu behaupten, nur weil es geschrieben steht“, wie der FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube es in seinem Buch „Die Anfänge von allem“ beschreibt. Die früheste Schrift ist erst etwa fünftausend Jahre alt und wurde von den Sumerern erfunden, also in der heutigen Region Iraks und Kuwaits – angeblich, weil die Boten, die von einer Ecke des Reiches zur anderen hetzen mussten, oft so lange brauchten, um bei Ankunft wieder zu Atem zu kommen und die Nachricht verständlich zu übermitteln, sodass ein beschriebener Papyrus sicherer erschien. Je schneller geschrieben werden musste und je rascher verstanden werden sollte, desto näher kamen sich Laut und Schrift, desto abstrakter und weniger bildhaft wurden die Zeichen, die zusehends nicht mehr in Stein- oder Tontafeln gemeißelt oder mit Schilfrohr oder Holzgriffel geritzt, sondern mit dem Pinsel auf Papyrus gebracht wurden. In Ägypten entstand aus Hieroglyphen ein so komplexes wie erfolgreiches Schriftsystem, das fast dreitausend Jahre lang bestehen blieb. Dabei konnte eine Hieroglyphe ebenso ein ganzes Wort ausdrücken wie auch nur einen einzelnen Laut. Der Vorläufer unseres Alphabets hingegen entstand im heutigen Syrien aus der Verschmelzung verschiedener regionaler Schriften und wurde ab 1500 v. Chr. von den Phöniziern verbreitet.
Die frühesten Schriften dienten indes nicht dem Erzählen, sondern der Verwaltung von Macht und Besitz. Sie kommunizierten die Erhebung von Steuern, Ernteabgaben oder waren Tempelquittungen. Sie entstanden vor allem in den Städten und halfen bei der Organisation etwa von Viehzucht und Getreideanbau, dienten also der wirtschaftlichen Buchhaltung. Bis die Schrift nicht mehr nur als Gedächtnis von Handlungen diente, sondern tatsächlich Erzählungen aufkamen, vergingen noch mal gut achthundert Jahre. Es war die Verehrung der Verstorbenen, deren Namen notiert und mit Gebetsformeln versehen wurden, die erst Schrift und Sprache zusammenbrachte und dann den Menschen und seine Taten. Das erste literarische Werk der Menschheitsgeschichte ist nach heutigem Stand das Gilgamesch-Epos, gefolgt von Homers Ilias und Odyssee sowie dem indischen Mahabharata. All diese Dichtungen erzählen von Heldenschicksalen und zürnenden Göttern, handeln von Königtümern, Krieg, Zwist und Niedertracht. Und es sind Entwicklungsgeschichten, die von Wandlungen und Einsichten berichten, von Läuterung und Erkenntnis. Das Erzählen diente jedoch nicht von allem Anfang an der Katharsis, sondern war zugleich ein Weg, das Absolute, also das Göttliche, auf Lebensgröße herunterzubrechen – und bot den Menschen damit selbst eine gewisse Kontrolle über das Geschehen an. Da niemand über Epen und Mythen gebietet, dürfen sich diese „etwas gegenüber den Göttern herausnehmen“ (Kaube). Schließlich muss es „seine Zuhörer und später seine Leser in einer Aufmerksamkeitsspannung halten, was voraussetzt, dass im Verlauf der Erzählung Unerwartetes geschieht“. Schon das Epos setzt außerdem auf jenen Effekt, auf den sich Literatur besser versteht als jede andere Kunstform: die Einladung an das Publikum, sich in seine Protagonisten hineinzuversetzen, deren Ängste, Trübsale, Leiden und Zorn zu durchleben, als wären es die eigenen. Und bereits die frühesten Erzählungen wandten sich an das große Publikum und nicht bloß an die gebildete Schicht. Literatur war von Anfang an für alle da – erst recht seit dem Jahr 1450, nachdem Gutenbergs Erfindung beweglicher Lettern gängige Handschriften ablöste, die Produktion von Büchern revolutionierte und ihre massenhafte Verbreitung in Gang setzte.
Während unsere Spezies rund zweitausend Jahre bis zu jenem kognitiven Durchbruch brauchte, den das Lesen mit einem Alphabet erfordert, müssen unsere Kinder heute in rund zweitausend Tagen zu den gleichen Erkenntnissen gelangen. Das ist nur eine der vielen bemerkenswerten Tatsachen, über die die amerikanische Leseforscherin Maryanne Wolf in ihrem Buch „Das lesende Gehirn“ nachdenkt.
Von unseren Köpfen, genauer: unseren Gehirnen aus betrachtet, sind Texte Landschaften, ist jeder Buchstabe und jedes Wort ein Objekt, das unser Gehirn erfassen muss. Die neuronale Struktur, die sie miteinander in Verbindung setzt und ihren Sinn entschlüsselt, muss jedes Gehirn erst herausbilden. Wer lesen lernt, ganz gleich in welchem Alter, bewirkt daher eine Umstrukturierung seines Gehirns, da sich für diese Fähigkeit bisher unverbundene Gehirnareale auf völlig neue Art und Weise verknüpfen müssen. Diese neue Architektur eröffnet wiederum ihrerseits neue Denkweisen, sodass der Leser nicht nur auf physiologischer, sondern auch auf intellektueller Ebene Fortschritte macht und hinausgeht über das Gewohnte und Bekannte. Betrachtet man das Lesen also einmal fundamental als Ergebnis des Umstands, dass unser Gehirn durch Erfahrungen formbar ist, erscheint Marie von Ebner-Eschenbachs Ausruf „Lesen ist ein großes Wunder“ nicht als emphatische Übertreibung, sondern als adäquate (und im Jahr 1912 überdies prophetische) Beschreibung der Offenbarung des Alphabets: „Was können sie nicht, die kleinen schwarzen Zeichen, derer nur so geringe Anzahl ist, dass jedes einzelne von ihnen alle Augenblicke wieder erscheinen muss, wenn ein Ganzes gebildet werden soll, die sich selbst nie, sondern nur ihre Stellung zu der ihrer Kameraden verändern!“
Zunächst noch unabhängig vom Inhalt, ist Lesen auf jeden Fall gut für den Geist – und für seine Wahrnehmung all dessen, was wir ihm durch die Augen zuführen (weshalb die Sehrinde von Lesern denn auch zahlreiche Zellnetzwerke aufweist, die bei Nichtlesern nicht nachweisbar sind). Die Wirkung zwischen lesendem Gehirn und Lektüre ist wechselseitig: Der Akt des Lesens verändert das Gehirn, indem er immer neue Verbindungen zwischen Strukturen und Schaltkreisen herstellt, und die Art der Lektüre bestimmt, welche neuronalen Nervenbahnen aktiviert werden. Insofern sind wir tatsächlich, was wir lesen.
Die Fähigkeit unserer Gehirne zum semantischen Lesen, also dazu, über die Bedeutung des einzelnen Wortes und Satzes hinausgehendes Wissen und Assoziationen ebenfalls blitzschnell hervorzurufen – beim Wort „Band“ etwa nicht nur die Schleife oder das Haargummi, sondern ebenso das Aufnahmemedium, die Musikgruppe oder das Druckerzeugnis –, führt allerdings auch dazu, dass verschiedene Leser ein und dieselbe Lektüre sehr unterschiedlich erleben. Denn in jede Lektüre bringen wir unseren gesammelten Schatz an Bedeutungen und Metawissen ein – oder eben nicht. Dementsprechend nehmen Menschen, die mit einem großen Repertoire an Wörtern und ihren Assoziationen aufgewachsen sind, Texte und Gespräche intensiver und bewusster wahr als jene, die nicht über einen solchen Fundus verfügen. Dazu muss man sich nur in Erinnerung rufen, dass Kinder zwischen zwei bis sechs Jahren durchschnittlich zwei bis vier neue Wörter pro Tag lernen und Tausende in dem gesamten Zeitraum. Je mehr man mit Kindern spricht und ihnen vorliest, desto ausgefeilter wird ihr Wortschatz – und desto besser werden sie später imstande sein, Texte zu verstehen, selbst zu verfassen und sich auszudrücken. Wer nicht liest, dem fehlen später buchstäblich die Worte. Auch deswegen sind die Ergebnisse der jüngsten IGLU-Studie, nach der jeder fünfte Viertklässler in Deutschland nicht richtig lesen kann, so alamierend. Hier sind nicht nur die Schulen gefordert, sondern vor allem die Eltern, für ihre Kinder eine lesefreundliche Umgebung zu schaffen, in der Texte nicht in erster Linie durchs Starren auf Handy-Bildschirme wahrgenommen werden.
Und noch etwas: Sollten Sie beim Lesen dieses Textes mitunter gedanklich abgeschweift sein, lesen Sie richtig. Das Innehalten und Abzweigen auf eigene gedankliche Pfade ist eine zentrale schöpferische Funktion, die dem Lesen eignet. Denn die vielfältigen Assoziationen, Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, die unser Gehirn beim Lesen aufruft, laden regelrecht dazu ein, bei der Lektüre neue Gedanken zu formen, das Gelesene gewissermaßen individuell zu komplettieren. Für viele Leser ist dieses einzigartige Zwiegespräch das eigentliche Wunder der Literatur. „Lesen heißt doppelt leben“ betitelte der Verleger Klaus Piper in diesem Sinn seine Erinnerungen, und Marcel Proust schreibt in „Tage des Lesens“, seiner Hommage an die Lektüren der Kindheit: „Wir spüren genau, dass unsere Weisheit dort beginnt, wo die des Autors endet, und wir möchten, dass er uns Antworten gibt, während er uns doch nur Wünsche geben kann.“
Unseren Lektüren verdanken wir nicht allein einen Großteil dessen, was wir sind, sondern vor allem auch die Erkenntnis, was wir zu sein vermögen. Dafür bedarf es zwingend unserer Mitwirkung. Jede Lektüre beruht darauf, dass wir das, was aus Buchstaben und Zeichen Wörter formt, im Gehirn dechiffrieren und daraus etwas anderes machen, nämlich Sinn. „Wenn ein Musikstück uns noch immer die Wahl erlaubt zwischen der passiven Rolle des Zuhörers und der aktiven des Ausführenden, so macht die Literatur – eine hoffnungslos semantische Kunst, mit den Worten Montales – jeden zum Mitspieler“, sagte der große Dichter Joseph Brodsky in seiner Nobelpreisvorlesung. Und auch Margaret Atwood hob in ihrer Dankrede zum Friedenspreis 2017 hervor, dass es den Leser braucht, um das Buch zu vervollständigen, ja zu vollenden: „Ein Buch zu lesen ist die denkbar intimste Erfahrung der Gedankenwelt eines anderen Menschen. Schriftsteller, Buch und Leser – in diesem Dreieck stellt das Buch den Boten dar. Und alle drei sind Teil eines Schöpfungsaktes.“
Wenn wir lesen, nehmen wir nicht nur Informationen auf, sondern wir bilden unsere gedankliche Welt aus: Das ist die Überzeugung, für die die Leseforscherin Maryanne Wolf eintritt. Die Notwendigkeit dazu haben zahlreiche Studien belegt, doch am eindringlichsten bleibt die eigene Empirie. So schildert Proust das Lesen ein ums andere Mal als „Initiator, dessen Zauberschlüssel uns in der Tiefe unseres Selbst das Tor zu Räumen öffnet, in die wir sonst nicht einzudringen vermocht hätten“. Lesen macht uns wach und aufmerksam, verleiht Stabilität und Ausgeglichenheit in der großen Erkenntniskrise, in der der Mensch unserer Tage immer wieder glaubt, wählen zu müssen, wer er sein soll unter multiplen Identitäten, Masken und Erwartungen. Womöglich haben viele Leser ihr wahres Selbst oder zumindest ihre innere Mitte schon gefunden – und sind umso besser dafür gerüstet, sich immer mal wieder in den Schuhen eines anderen durchs Leben zu bewegen. Allerdings sollte man aufpassen, dass die Identifikation nicht zu weit geht; man denke nur an die Selbstmordwelle, die Goethes „Werther“ (1774) auslöste.
Nicht nur das Buch der Bücher hat einen Ewigkeitsanspruch. Dieser übersetzt sich zum einen in die Unsterblichkeit von Autoren wie Goethe, Dickens, Stendhal, Tolstoi oder Kafka; die Langlebigkeit des Mediums färbt aber auch auf den Leser ab. Tatsächlich hat eine weitreichende Studie der Yale University 2016 gezeigt, dass Menschen, die mindestens dreieinhalb Stunden in der Woche mit dem Lesen von Büchern verbringen, im Durchschnitt zwei Jahre länger leben als Nichtleser. Schon wer nur eine halbe Stunde am Tag liest – Zeitungslektüre nicht eingerechnet –, hat einen signifikanten Überlebensvorsprung. Das Training von kognitiven Fähigkeiten beim Bücherlesen trägt ebenso zum längeren Leben bei wie die nachweislich stressreduzierende Wirkung eingehender Lektüre (verbunden mit dem Umstand, dass Lesen meist an ungefährlichen Orten stattfindet). Als Nebenwirkung stetiger Lektüre wachsen Vokabular, Konzentrationsfähigkeit und kritisches Denken sowie emotionale Intelligenz. Dass sich in der Gruppe der regelmäßigen Bücherleser überproportional viele Frauen fanden und es sich häufig um Menschen mit höherem Bildungsgrad handelte, überrascht niemanden, der viel mit Büchern zu tun hat.
Romane bewirken aber nicht nur, dass Leser länger leben, sondern sie sind auch gesünder und stabiler. Schon Aristoteles beschrieb die geradezu kneippsche Wirkung der griechischen Tragödie: Durch das Erleben von Mitleid und Furcht in der Handlung erfahre auch der Zuschauer Heilung. In der frühen Neuzeit setzten Ärzte bei seelischen und körperlichen Leiden mitunter auf die Kraft des Humors und verordneten ihren Patienten Narrengeschichten wie die von „Till Eulenspiegel“. Und im 18. Jahrhundert stellte der Psychiater Benjamin Rush (1746 bis 1813), einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten, eine Bücherliste gegen diverse Leiden zusammen. Melancholikern legte er Novellen nahe, Hypochondern eher Gedichte. Heute gibt es die „Romantherapie“ in Buchform (und mittlerweile auch eine charmante „Romantherapie für Kinder“), wo man je nach Selbstdiagnose mögliche Therapielektüren empfohlen bekommt. Die Züricher Autorin und Bibliotherapeutin Karin Schneuwly hat festgestellt, dass gemeinsames Lesen und Schreiben Patienten hilft, ihren eigenen Schmerz zu vergessen und anderen zuzuhören. Eine erfreulich klare Haltung zur Selbstmedikation vertritt Philippe Dijan: „Wenn ich mich schlecht fühle, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern zu meinem Buchhändler.“ Ich kann mich ihm nur anschließen. Meine Notfallapotheke ist das Gedichtregal, wo nicht nur Kästners „Lyrische Hausapotheke“ steht, die genau für solche Situationen geschrieben wurde. Gedichte sind für mich so etwas wie Heftpflaster, die bei Schmerz und Ratlosigkeit rasch Linderung schaffen können. Wenn die Seele eine Lederhaut braucht, greife ich zu Wisława Szymborska („Deshalb leben wir“), zu Mascha Kaléko, Rose Ausländer, zu William Carlos Williams oder, am häufigsten, zu Emily Dickinson. Überreich sind diese Bände an Momenten, in denen Welt, Worte und Leser ganz beieinander sind und eine sinnvolle Mischung ergeben. Diese Erfahrung des Wunderbaren, da die Welt in wenigen Versen so dornig schön erblüht, sprengt allen Kummer und Schmerz. Letztlich beruht jegliche Lesetherapie auf der Erkenntnis, dass Bücher eine anregende, beruhigende oder angstabbauende Wirkung haben können. Probieren Sie es doch einfach einmal aus!
Doch nicht nur Leser profitieren von den mannigfaltigen Nebenwirkungen der Literatur, sondern auch unsere Mitmenschen. Denn Romanleser – hier sticht Belletristik eindeutig Sachbuch – sind überaus versiert im Zwischenmenschlichen und nachweislich freundlicher und einfühlsamer. Da Leser darin geübt sind, sich in andere hineinzuversetzen und die Welt von deren Warte aus zu betrachten, sind Vielleser besonders empathiefähig. Und da sie dank ihrer Lektüren außerdem über einen Wortschatz verfügen, der es ihnen ermöglicht, ihre Gefühle auch auszudrücken, sind sie in der Regel gute Gesprächspartner. Von all diesen erfreulichen Nebenwirkungen profitiert nicht nur die unmittelbare Umgebung. Erst 2015 hat eine Studie des National Endowment for the Arts ergeben, dass Leser dreimal häufiger für gute Zwecke spenden oder gemeinnützige Arbeit leisten als Nichtleser.
Dass Schreiben nicht unbedingt zu größeren Reichtümern führt, weiß man nicht erst seit Carl Spitzwegs berühmtem Gemälde „Der arme Poet“ aus dem Jahr 1839, der in seiner kargen Dachkammer einen Schirm gegen die Lecks im Dach aufgespannt und sich wegen der Kälte die Bettdecke bis zur Brust hochgezogen hat. Lesen hingegen zahlt sich aus. Eine Studie, die das jugendliche Leseverhalten von gut fünftausend Europäern in Bezug zu ihrem späteren Einkommen setzte, kam zu dem Befund, dass all jene Probanden, die in ihrer Jugend freiwillig Bücher gelesen hatten, später über ein um durchschnittlich 21 Prozent höheres Einkommen verfügten als jene, die dem Lesen nichts abgewinnen konnten. Allerdings reichen bereits zehn im Jugendalter freiwillig genossene Bücher, um sich aller Wahrscheinlichkeit nach für den Klub der späteren Besserverdiener zu qualifizieren – was bei allein sieben Bänden „Harry Potter“ ein deutlich steigendes Durchschnittseinkommen der heranwachsenden Generationen geradezu unvermeidlich erscheinen lässt.
Man kann keine Romane lesen, ohne die Welt zu betrachten und ohne sich dabei zu fragen, warum die Dinge so sind, wie sie sind. Lesen, wie Schreiben, ist Margaret Atwood zufolge „zu einem Großteil der Versuch, zu ergründen, warum Menschen tun, was sie tun“. Und je unverständlicher und fremder das Verhalten, desto faszinierender oft die Lektüre.
Ganz im Gegensatz zu früheren Jahrhunderten sind es heute vor allem Frauen, die lesen. Insbesondere die schöne Literatur würde ohne Leserinnen wahrscheinlich aussterben. Längst haben wir entdeckt, dass Liebe, Freundschaft, Zweifel, der kleine und der große Kummer im wahren Leben oft weniger intensiv sind als im Roman – und dass sie sich durch den Umweg über die Kunst besser bewältigen lassen. „Wir würden nicht lieben, wenn wir nicht von der Liebe gelesen hätten“, schrieb der große französische Moralist François de La Rochefoucauld und brachte damit bereits im 17. Jahrhundert auf den Punkt, was uns bis heute im Netz der Bücher und Geschichten hält. Bücher bereichern uns um Erfahrungen, Gefühle und Erkenntnisse, die wir ohne sie nicht hätten – und statten uns damit auch mit Vergleichsmöglichkeiten aus. Wie viele Ehen sind geschlossen worden wie die von Emma und Charles Bovary, weil sich einer der beiden – meistens die Frau – in einer Romanze wähnte, die eines großen Romans würdig wäre (und im Falle der Emma Bovary auch war), während der Mann den Sehnsüchten seiner Frau hilflos gegenüber stand? Und wie viele Frauen haben ein unzugängliches männliches Gegenüber als einen Mr. Fitzwilliam Darcy interpretiert, hinter dessen arroganter Fassade nicht nur ein Vermögen, sondern auch ein durch und durch anständiger Charakter steckt, ganz wie in Jane Austens „Stolz und Vorurteil“? Und wem wäre das Ende der wunderbaren „Anna Karenina“ nicht eine Lehre, was die Belastbarkeit einer verbotenen Liebe durch gesellschaftliche Konventionen angeht? Romane machen die Gefühle groß, mitunter überlebensgroß: Liebe und Angst, Sehnsucht und Verzweiflung. Wer hätte, von einer identifikatorischen Lektüre beflügelt, noch keine Übersprunghandlung begangen, über die er später insgeheim den Kopf geschüttelt hat? Durch Romane können wir uns aber auch in verschiedenen Rollen spiegeln, ohne sie realiter einnehmen zu müssen, und sind dadurch vielleicht mitunter gewarnt.
„Lesen heißt, mit einem fremden Kopfe statt des eigenen denken“, sagte Schopenhauer, der indes keinerlei Sinn darin gesehen hätte, diese Beschäftigung Frauen, die er als das „unästhetische Geschlecht“ abtat, zu empfehlen. Lektüre weckt den kritischen Geist, denn sie drängt uns dazu, Dinge zu hinterfragen. Mit dem Infragestellen wächst die Selbstreflexion und damit das Selbstvertrauen. So kommt die gewöhnliche Ordnung ins Rutschen, ebenso wie der unumstößliche Glaube an Instanzen wie Gott, Gatte, Gesetze, Gewöhnung. Darum ist die Liebe von Frauen zur erzählenden Literatur so oft belächelt und herabwürdigend beschrieben worden, gern auch von Romanciers, während es sich bei lesenden Männern vermeintlich stets um Gelehrte handelt, den Kopf randvoll mit wichtigen Gedanken. Da freut man sich bis heute an Erich Kästners „Marktanalyse“: „Der Kunde zur Gemüsefrau: ›Was lesen Sie denn da, meine Liebe? Ein Buch von Ernst Jünger?‹ Die Gemüsefrau zum Kunden: ›Nein, ein Buch von Gottfried Benn. Jüngers kristallinische Luzidität ist mir etwas zu prätentiös. Benns zerebrale Magie gibt mir mehr.‹“
Für Frauen bedeutete der Zugang zu Büchern und Bildung stets einen wesentlichen Schritt zu Selbstbestimmung und Emanzipation. Eine der erfolgreichsten Emanzipationsgeschichten der jüngeren Zeit, „Unorthodox“ von Deborah Feldman, handelt ebenfalls von verbotenen Lektüren und der Weigerung, diese anzuerkennen. Feldman schildert, wie sie sich in einem kleinen Judaika-Geschäft in Borough Park abseits ihres Williamsburger Wohnviertels unter fadenscheinigen Vorwänden eine Übersetzung des Talmud besorgt. Sie will endlich die Wahrheit wissen, Antworten finden, die ihr in der Schule vorenthalten werden. Und schon auf Seite 56, wo die Rabbiner über David und seine Frau Batseba streiten und die junge Leserin ahnt, dass es mit der Heiligkeit und Vorbildlichkeit des jüdischen Königs nicht ganz so einfach ist wie gedacht, dämmert ihr, warum es Mädchen nicht erlaubt ist, den Talmud zu lesen: „Eines Tages werde ich zurückblicken und verstehen, dass genau dieser Moment, da mir bewusst wurde, wo meine Macht lag, zugleich einen Schlüsselmoment in meinem Leben barg, an dem ich aufhörte, an Autoritäten um ihrer selbst willen zu glauben, und damit begann, meine eigenen Schlüsse über die Welt zu ziehen, in der ich lebte.“
Solche eigenen Schlüsse bereichern und verkomplizieren das Zusammenleben der Geschlechter ungemein. Die leidenschaftliche Leserin Elke Heidenreich stellt im Vorwort zu dem beliebten und schönen Bildband „Frauen, die lesen, sind gefährlich“ die interessante Frage, ob Männer und Frauen sich besser verstehen würden, wenn Männer so viel läsen wie Frauen. „Wüssten sie mehr von unserem Leben, Denken, Fühlen, wenn sie Sylvia Plath, Virginia Woolf, Carson McCullers, Jane Bowles, Annemarie Schwarzenbach oder Dorothy Parker läsen, so wie wir ja auch Hemingway, Faulkner, Updike, Roth, Flaubert und Balzac lesen?“ Lesend fällt der Rollen- und damit auch Geschlechtswechsel leicht. Und Heidenreich bekennt, sie könne überhaupt nur Männer lieben, die läsen, „die plötzlich mit diesem Blick hochschauen, von weit her kommend, weich, mit einem Wissen nicht nur über sich, sondern auch über mich“.
Leider ist diese Liebe nicht unbedingt wechselseitig. Frauen lieben Männer, die lesen, aber Männer lieben in der Regel keine lesenden Frauen. Das erfährt auch Lenù, die Icherzählerin von Elena Ferrante, die mit ihrer Neapolitanischen Saga eine temperamentvolle Emanzipationsgeschichte durch Bildung geschrieben hat, als ihr Freund Antonio ihr auf Lilas Hochzeit entgegenschleudert: „Wie einen Scheißidioten hast du mich aussehen lassen. Weil ich für dich eine Null bin. Weil du ja so gebildet bist und ich nicht. Weil ich nicht kapiere, worüber du sprichst. Und es stimmt ja auch, na und ob, ich kapier’s wirklich nicht.“ Und wie so oft soll auch hier der Zorn und die Anerkennung der physischen Machtverhältnisse den geistigen Unterschied kompensieren, denn Antonio fährt fort: „Aber verdammt noch mal, Lenù, sieh mich an, sieh mir in die Augen. […] Du weißt alles. Aber du weißt nicht, dass ich, wenn du jetzt mit mir durch diese Tür gehst, wenn ich ›jetzt ist gut‹ zu dir sage und wir zusammen weggehen, ich dann aber merke, dass du dich in der Schule oder sonst wo mit diesem Pisser Nino Sarratore triffst – dass ich dich dann umbringe, Lenù. Ich bringe dich um.“
Lesend lässt sich aber auch lernen, dass Klugheit nur denen abgeht, die ohne auskommen müssen – und man sich anderen zuliebe nie dumm stellen sollte, weil man dann die Falschen anzieht. Man nehme nur Jane Austens Heldin Emma, die Mr. Knightley selbstbewusst belehrt: „Kein Mann, der etwas im Kopf hat, wünscht sich eine einfältige Ehefrau, da können Sie sagen, was Sie wollen.“ Austen schuf durchweg Heldinnen, die ihren Kopf nicht nur zur Dekorationszwecken spazieren führen. So heißt es in „Mansfield Park“ über Fanny Price, dass sie „klug war, über eine schnelle Auffassungsgabe ebenso wie über gesunden Menschenverstand verfügte und eine Vorliebe fürs Lesen besaß, die für sich genommen bereits eine Art von Erziehung ausmachte“. Es sind solche Heldinnen, die für Leserinnen Freundin und Vorbild zugleich werden können. Sie zeichnet aus, dass sie nicht leicht zu fassen sind – weder physisch noch geistig. Und wie Proust-Leserinnen wissen: Beginnt ein Mann erst mal über eine Frau nachzudenken, gehört er ihr schon halb.
Das Lesen von Romanen macht uns zwar einfühlsamer und kritischer, hebt aber auch Standards und Erwartungen. So mancher begeisterte Leser wird über seinen Büchern misanthrophisch. „Je mehr sich unsere Bekanntschaft mit guten Büchern vergrößert, desto geringer wird der Kreis von Menschen, an deren Umgang wir Geschmack finden“, bemerkte Ludwig Feuerbach. Ich weiß nicht, bei wie viel Small-Talk-Empfängen ich mich insgeheim nur zurück zu meiner jeweiligen Lektüre gesehnt habe. Ein verflosserer Liebhaber prophezeite mir einmal, ich würde eines Tages unter den Büchern aus einem meiner übervollen Billy-Regale begraben und dann ewig nicht gefunden werden, da ich mich bekanntlich lieber mit Büchern als mit Menschen beschäftigte und mich daher niemand vermissen würde. Papierne Gefährten haben eben enorme Vorteile: Sie schnarchen nicht, ziehen einem nicht die Bettdecke weg und sind immer für einen da, wenn man sie braucht. Kein Wunder, dass sogar Madonna einmal bekannte: „Alle Welt denkt, ich sei verrückt nach Sex. In Wahrheit lese ich lieber ein gutes Buch.“
Und schließlich sorgt Lesen auch noch dafür, dass wir uns gut fühlen. Der „Flow“, den der Psychologe Mihály Csíkszentmihályi in seinem gleichnamigen Bestseller als Geheimnis des Glücks ausmacht, schafft das Gefühl einer Entdeckung, „ein kreatives Gefühl, das das Individuum in eine andere Realität versetzt“. Wenn hohe Konzentration, eine Balance von Herausforderung und Leistung sowie ein Gefühl von Kontrolle und Befriedigung zusammenkommen, spricht man von Flow – ein Zustand der Freude und der geistigen Präsenz, den jeder Leser kennt, der sich indes bei passiven Aktivitäten wie Fernsehen schwer erreichen lässt, auch wenn man dort heute mehr Qualität und Auswahl denn je erleben kann. Studien belegen, dass hoher Fernsehkonsum Menschen unzufrieden macht, ja sogar ein Gefühl von Reumütigkeit weckt, wenn man vor allem einschaltet, um selbst abzuschalten. Dass das Lesen zunehmend vom Schauen verdrängt wird, dass selbst eingefleischte Leser abends immer häufiger zur Fernbedienung greifen statt zum Buch, hat aber womöglich nicht nur etwas mit der Mühelosigkeit und der Geselligkeit zu tun. Die Literaturwissenschaftlerin Marie Stadler ist ihrem eigenen schlechten Gewissen in der Barbara auf den Grund gegangen. Unter der Überschrift „Warum Lesen glücklicher macht als Netflixen“ bricht sie eine Lanze fürs Lesen als Selbstvergewisserung: „Erzählt mir sonst jemand ungefiltert seine Gedanken? Das macht nicht mal meine beste Freundin. Mein Mann erst recht nicht. Nicht mal die Protagonistin meiner Lieblingsserie, denn die sehe ich nur von außen.“ Und sie weist darauf hin, dass das Schauen von Serien nur vermeintlich weniger Arbeit ist: „Geräusche, Kamerabewegungen, schnelle Schnitte, all das flutet unser Gehirn mit einer Menge Daten und ist gerade nach einem Tag vor dem Computer genau das Falsche für unsere geplagten Augen und Ohren. Lesen ist sehr reizarm und dabei letzten Endes viel entspannender.“
Außerdem verarbeiten wir die Informationen, die wir lesend aufnehmen, anders. Wer die Bände der Fantasy-Saga „Das Lied von Eis und Feuer“ von George R. R. Martin liest, wird sich ein ganz anderes Bild von den sieben Königreichen machen als jenes, das die gefeierte opulente Serienverfilmung „Game of Thrones“ entwirft. Vor allem wird er sich viel detaillierter und länger an die Charaktere und die Wendungen der Handlung erinnern, denn Erinnerungen und Eindrücke, die man nicht allein visuell, sondern interaktiv aufgenommen hat, lassen sich später nachweislich besser wieder abrufen – am besten, wenn man das Buch erneut zur Hand nimmt.
Um das eigene Kopfkino anzukurbeln, gilt in unserer Familie die Devise, dass möglichst erst das Buch gelesen und dann der Film geschaut wird, ganz gleich, ob „Pettersson und Findus“, „Asterix und Obelix“, „Tschick“ oder „Harry Potter“. So kommt jeder auf seine Kosten, und es führt hinterher zu spannenden Diskussionen. Andererseits würden viele Bücher kaum mehr gelesen, wenn sie nicht so kongenial verfilmt wären – und gelegentlich sind Filme sogar besser als die Literaturvorlage. Auf Kino- und Literaturportalen finden sich dazu zahlreiche Abstimmungslisten, vom „Herrn der Ringe“ bis „Psycho“, von „James Bond“ bis „Miss Marple“. Insgesamt aber gilt in den meisten Fällen der beliebte Spruch, der auf Instagram Karriere gemacht hat: „Bücher erreichen Stellen, da kommt der Fernseher gar nicht hin!“
Lesend erfahren wir aber nicht nur die Welt und uns selbst auf einzigartige Weise, sondern wir bilden mit Zeit und Übung dabei Eigenschaften und Tugenden aus, die uns im Leben weiterhelfen. So belegt der australische Philosoph Damon Young in seinem Buch „The Art of Reading“, dass versierte Buchleser sich zwangsläufig in Hartnäckigkeit, Neugier, Geduld, Ausdauer, Mut, Stolz, Mäßigung und Gerechtigkeit üben. In seinem mitreißenden Plädoyer für die hohe Kunst des Lesens im Zeitalter des Schreibens erhebt Young das Lesen zu einer eigenen Disziplin, in der es sich keineswegs nur dilettieren, sondern in hohem Maße brillieren lässt. Mit Ausflügen in Philosophie, Psychologie, Literaturwissenschaft, Soziologie und Geschichte ist dies ein Weckruf, der daran erinnert, dass unsere Lektüren auch ein ehrgeiziges Unterfangen sein dürfen, ja sollten.
Wo wir gerade bei Büchern sind, in denen man blättert und nicht scrollt, deren Gewicht man in der Hand wiegt und die im Regal stehen und nicht in einer Cloud, kommen wir zu einem der vielleicht wichtigsten Argumente fürs Bücherlesen. Was die Lektüre von physischen Büchern der auf E-Readern voraus hat, erfahren Sie im zweiten Kapitel (Wie lesen?). Zunächst geht es um die Unüberwachbarkeit von Büchern, um ihre einzigartige, geniale Subversivität, die im Lauf der Geschichte immer wieder dafür gesorgt hat, dass Schriften verboten und ihre Autoren verfolgt wurden. Bücher sprechen Wahrheiten aus, die Autoritäten wie Diktatoren, Parteien, Religionen, Ideologien und zunehmend auch Konzernen unbequem sind, es sind Kassiber, die, über Grenzen geschmuggelt, sich der Kontrolle der Mächtigen entziehen und zu jenen sprechen, die zu lesen bereit sind. Auch heute beeinträchtigen Diktaturen, Kriege, Naturkatastrophen und Wirtschaftskrisen an vielen Orten unserer Welt das Recht auf freie Meinungsäußerung, den Zugang zu und das Entstehen von Literatur. Wer liest, sollte sich darum ab und an in Erinnerung rufen, welch hohes Privileg es ist, Lektüren in Frieden und Freiheit genießen zu können.
Das ist das eine. In unserer Zeit, da der Wert des Individuums zunehmend auf Daten reduziert wird, die es generiert und mit denen das ewig hungrige globale Datenverarbeitungssystem gefüttert wird, ist es eine bewusste Entscheidung, sich beim Lesen nicht dauernd über die Schulter und in den Kopf schauen zu lassen. Wähle ich hingegen ein Lesegerät wie den Kindle, sollte ich mir zumindest darüber im Klaren sein, dass dieses während der Lektüre Daten über seine Nutzer sammelt. Wenn eine Zahnbürste „intelligent“ ist und Daten über ihre Nutzung, Dauer des Putzens und Wirksamkeit sammelt, mag das vielen von uns noch sinnvoll erscheinen, aber wenn mittels eines Readers gescannt wird, welche Passagen eines Buches ich schnell und welche ich langsam lese, was ich überspringe und wo ich zu lesen aufhöre, ist das mehr als Marktforschung. Evgeny Morozov schrieb 2013 in einem viel beachteten Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Amazons ultimativer Teufelspakt dürfte so aussehen: Der Kunde bekommt einen kostenlosen E-Reader mit kostenfreiem, sofortigem Zugang zu allen Büchern der Welt, unter einer Bedingung – er stimmt zu, dass alle seine Lektüren analysiert und ihm entsprechende Werbeanzeigen zugeschickt werden.“ Der Umstand, dass alles, sogar unser Körper, mit einem Sensor plus Internetanschluss ausgestattet werden könne, führe letztlich dazu, dass alles kommerzialisiert werde und die beim Gebrauch generierten Daten verkauft werden könnten. In naher Zukunft, wenn Lesegeräte auch über Gesichtserkennung und biometrische Sensoren verfügen, werden sie wissen, wie sich einzelne Sätze auf unseren Kreislauf auswirken. Sie werden wissen, was uns amüsiert, was irritiert und was zum Weinen gebracht hat. Wie Yuval Noah Harari in seinem visionären Werk „Homo Deus“ schreibt: „Schon bald werden Bücher Sie lesen, während Sie diese Bücher lesen.“ Wer will, dass seine Gedanken frei bleiben und nicht von einem Algorithmus aufgesogen werden, wird dem gedruckten, physischen Buch treu bleiben. Möglicherweise wird das Lesen von gedruckten Büchern auf absehbare Zeit ein geradezu subversiver Akt sein, ein Zeichen des Widerstands gegen die Überwachung durch Maschinen, die uns bald besser kennen werden als wir uns selbst. Solange wir ein gedrucktes Buch lesen, ist und bleibt das eine private, intime Angelegenheit – und ein Vorgang, bei dem wir uns daran erinnern mögen, dass es ein Grundrecht auf diese Privatheit gibt.
Literatur fördert in jedem Menschen das Bewusstsein seiner Einzigartigkeit und seiner Individualität und erinnert ihn so daran, dass es neben dem sozialen Lebewesen noch ein empfindsames Ich gibt. „Viele Dinge können geteilt werden“, schreibt Brodsky. „Ein Bett, ein Stück Brot, Überzeugungen, eine Geliebte, aber nicht ein Gedicht von‚ sagen wir, Rainer Maria Rilke. Ein Werk der Kunst, speziell der Literatur, und ganz besonders ein Gedicht springt den Leser frontal an, sozusagen tête-à-tête‚ und tritt ohne Mittelsmänner direkt mit ihm in Kontakt.“ Diese Art des privaten, direkten Kontakts ist zwar keine Garantie, aber doch eine wirksame Verteidigung gegen jede Form von Versklavung. Eine weitere Nobelpreisträgerin, Doris Lessing, war der Überzeugung, dass Menschen, die Literatur lieben, zumindest in einem Teil ihres Geistes gegen Indoktrinierung immun seien. Ein Mensch mit geübtem ästhetischen Empfinden wird stets weniger anfällig sein für die primitiven Refrains und rhythmischen Beschwörungsformen, die jeder Art von Demagogie eigen sind.
Es gibt aber auch sehr triftige und dabei ganz unpolitische Gründe dafür, die Privatheit von Büchern zu schätzen. Denn ihr Äußeres verrät nicht, welche Stellen in ihrem Inneren uns gerade faszinieren. Der Schriftsteller Alberto Manguel erzählt, wie er einmal als Heranwachsender gerade völlig vertieft war in einen Lexikoneintrag zu den Ursachen und Auswirkungen der Gonorrhö, als sein Vater ins Zimmer kam: Einen Moment war er gelähmt vor Schreck, weil er dachte, sein Vater würde merken, was er da las. Dann aber erkannte er, „dass niemand, nicht einmal der nur wenige Schritte entfernte Vater, in meine Lesewelt eindringen und mir ansehen konnte, welche Schweinereien mir das Buch gerade beibrachte, und dass es einzig von meinem eigenen Willen abhing, ob es überhaupt jemand erfuhr“.
Unter uns: All diese rationalen, objektivierbaren, ehrbaren und guten Gründe, die Wissenschaft, Erfahrung und gesunder Menschenverstand für das Lesen anführen, spielen für den gewohnheitsmäßigen Leser keine Rolle. Seine Motivation sind ganz andere Wünsche und, ja, auch Laster. Der gewöhnliche Leser, wie ihn Virginia Woolf in ihrem gleichnamigen Essay schildert, unterscheidet sich von professionellen wie Kritikern, Gelehrten oder Verlagsmenschen zunächst vor allem dadurch, dass er zu seinem eigenen Vergnügen liest und nicht unbedingt, um Wissen zu vermitteln oder die Meinung anderer zu korrigieren. „Vor allem aber leitet ihn das instinktive Bestreben, eigenhändig aus allem, was ihm zufällig in die Finger gerät, etwas Ganzes zu gestalten.“
Dies ist einer der Gründe für die schöne Notwendigkeit, Bücher nicht bloß zu lesen, sondern auch zu besitzen – und zwar am liebsten möglichst viele von ihnen. „Die Bibliothek schützt vor Feindseligkeiten von außen. Sie dämpft den Lärm der Welt, mildert die Kälte, die ›draußen‹ herrscht, aber sie verleiht auch ein Gefühl der Allmacht“, schwärmt Jacques Bonnet in seinem Bibliomanie-Führer „Meine vielseitigen Geliebten“. Er schildert die ideale Bibliothek als „ein Konzentrat aus Raum und Zeit“, in dem wir „über die bloße Anwesenheit des Buches hinaus mit all dem leben, was es uns zum Menschsein im Allgemeinen zu sagen hat“. Geradezu göttlich findet er die Möglichkeit, binnen Sekunden innerhalb seiner Bibliothek von wahren zu erfundenen Orten und vice versa zu springen. Und Doris Lessing erinnert daran, dass eine öffentliche Bibliothek die „demokratischste Einrichtung der Welt“ ist. „Was man darin findet, hat Diktatoren und Tyrannen besiegt: Demagogen können Schriftsteller zwar verfolgen und ihnen tausendmal befehlen, was sie schreiben sollen, aber was früher geschrieben wurde, können sie nicht verschwinden lassen, auch wenn sie es oft genug versuchen.“
Die Bibliothek als Zusammenfassung der Wirklichkeit, als ein „Mahlstrom“, der „alles verschlingt, was uns widerfährt“, ist eine zunehmend in Vergessenheit geratene Lust, die Sammler wie Jacques Bonnet anspornt. Umberto Eco, einer der profiliertesten und passioniertesten Büchernarren unserer Zeit, der eine riesige, unschätzbare Bibliothek sein Eigen nannte, betrachtete den Besitz von Büchern als Lebensversicherung, als eine kleine Vorwegnahme der Unsterblichkeit. „Wir wissen, dass wir heute Lebenden uns an die Erfahrungen derer erinnern, die vor uns gelebt haben, und dass andere, die uns folgen werden, sich an unsere Erfahrungen erinnern werden.“
Winston Churchill schätzte an Bibliotheken, dass sie uns manche Flause austreiben. Denn dem Besitz von Büchern wohnt, wie allem Besitz, auch eine Eitelkeit, ja Selbstgefälligkeit inne. Ein einziger Tag darin jedoch ist imstande, jede Zufriedenheit oder Selbstgefälligkeit zu vertreiben: „Wenn man dort herumstöbert, ein Buch nach dem anderen aus dem Regal nimmt und den unerschöpflichen, grenzenlos vielfältigen Schatz an Wissen und Weisheit betrachtet, den die Menschheit gesammelt und bewahrt hat, weicht jeder Stolz, auch in seiner unschuldigsten Form, sogleich einem Gefühl von Ehrfurcht, in dem ein Anflug von Bedauern mitschwingt.“
Doch am schönsten schwelgt es sich in – und von – den eigenen vier Bücherwänden, auch wenn diese von den rasant steigenden Mieten in den Städten zunehmend ausgerottet werden. So schreibt Alberto Manguel in seiner „Geschichte des Lesens“: „Jedes Mal, wenn ich mich von einem Buch trenne, stelle ich Tage später fest, dass ich gerade dieses Buch dringend benötige. Oder: Ich kenne kein Buch (oder nur sehr, sehr wenige), in dem nicht wenigstens ein interessanter Satz gestanden hätte. Oder: Ich habe es mir aus einem bestimmten Grund angeschafft, und dieser Grund könnte sich auch in Zukunft als stichhaltig erweisen. Und dennoch weiß ich: Der Hauptgrund dafür, dass ich nicht auf diese ständig wachsende Büchermasse verzichten kann, ist eine Art maßlose Gier. Ich genieße den Anblick meiner vollgestopften Regale, den Anblick der Bücher, die ich alle mehr oder weniger gut kenne. Ich genieße den Gedanken, dass ich von einer Art Inventarverzeichnis meines Lebens umgeben bin, von Vorgriffen auf meine Zukunft.“
Bücher sind alterslos. Die allermeisten von ihnen wurden vor unserer Geburt geschrieben, und viele werden noch nach unserem Tod gelesen werden. Zugleich sind die Bücher, die wir in unsere Köpfe, unsere Herzen und unsere Leben lassen, eine Art ausgelagertes Gedächtnis, eine Bibliobiografie unseres Lebens. Bücher stehen für Zeit, die Zeit ihrer Entstehung und unserer Lektüre, und weil sie uns in ihrer Erscheinung an die Gelegenheiten erinnern, bei denen sie gekauft oder geschenkt, gelesen und wiedergelesen wurden, die Male, die wir sie bei einem Umzug oder neuen Lebensabschnitt in die Hand genommen haben, spiegeln sie auch das Vergehen unserer eigenen Zeit wider.
Wenn Borges heute noch lebte, würden seine fantastischen Erzählungen wahrscheinlich in einer Datenwolke und nicht in einer Bibliothek spielen. Dass wir indes Bibliotheken auch im Internetzeitalter brauchen, beweist nicht nur die vielfach ausgezeichnete Bibliothek im dänischen Aarhus, die sich als Gemeinschaftszentrum etabliert hat und in der das Lesen von Büchern nur eine Möglichkeit von vielen ist, dort Zeit zu verbringen. Doch ganz gleich, ob man im dort untergebrachten Bürgeramt seinen Pass verlängern lässt, in der Cafeteria etwas trinkt oder die Kinder zum Spielen bringt: Die Bücher geben dem Ort seine positive Ausstrahlung und machen ihn vertrauenerweckend. Schon Cicero fand, ein Raum ohne Bücher sei wie ein Körper ohne Seele. Das können Innendesigner ebenso bestätigen wie der Amerikaner Kinsey Marable, der aus dem Einrichten von Privatbibliotheken für seine wohlhabende Kundschaft ein einträgliches Geschäft gemacht hat: „Die Menschen haben keine Zeit, 500 oder 1000 ausgewählte Bücher für eine Sammlung zu finden. Wenn sie genug verdient haben, um sich eine solche Kollektion leisten zu können, haben sie nicht mehr die Muße, sie selbst zusammenzustellen.“
Nun mag man fragen, wozu man sich heute noch eine Bibliothek zulegen soll, da doch längst alle Informationen über die Welt im Internet gespeichert und dort überdies ständig aktualisiert werden. Doch diese nahezu grenzenlose Informationsquelle übt auf Büchermenschen einfach nicht denselben magischen Reiz aus wie eine Bibliothek. Jacques Bonnet bekennt: „Ich sitze vor meinem Computer, der mir Zugang zu allen nur möglichen Informationen verschafft. Mehr noch als vorher werde ich zum Meister der Zeit und des Raumes, doch dem Ganzen fehlt der göttliche Funke. Vielleicht ist dies einfach ein rein sinnliches Problem: Nur die Fingerspitzen sind beteiligt.“
„Das Buch ist eine einzigartige Liebeserklärung an das Lesen sowie schönerweise auch an das gedruckte Buch.“
„Ein kleines Buch zum Verschenken oder Selberbehalten, das große Lust aufs Lesen und auf noch viel mehr Bücher macht.“
„Felicitas von Lovenberg ist eine wahre Meisterin des geschriebenen Wortes.“
„Unheimlich interessant und auch sehr, sehr unterhaltsam.“
„Auf jeder Seite des schmalen Büchleins spürt man von Lovenbergs Liebe zur Literatur, und wenn ich nicht schon seit Kindheitstagen dem Lesen verfallen wäre, wäre ich spätestens nach der ›Gebrauchsanweisung fürs Lesen‹ zur begeisterten Leserin geworden.“
„Auch wenn Sie denken, als passionierte/r VielleserIn keine Gebrauchsanweisung nötig zu haben - diese Hommage an das Lesen begeistert und versorgt mit zahllosen neuen Betrachtungsweisen. Findet Platz in jedem Handgepäck!“
„Mich hat die Gebrauchsanweisung überzeugt – lesen Sie doch selbst!“
„Lovenbergs vehementes Plädoyer für das Lesen ist selbst sehr lesenswert und hilfreich auch für Leseförderer.“
„Eine liebevolle Handreichung.“
„Dieses Buch ist nicht unerwartet ein Plädoyer für das Lesen geworden, aber eines von besonderer Dringlichkeit.“
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