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Konrad O. Bernheimer
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„Plädoyer fürs Staunen“ - Süddeutsche Zeitung

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Gebrauchsanweisung fürs Museum — Inhalt

Neuer Blick auf Alte Meister
Wohin sollte man bei einem Bild als Erstes sehen? Wie wird ein Gemälde zum Klassiker? Der Autor, einer der größten Kunstkenner, fordert dazu auf, den Blick fürs Detail zu üben. Er verrät, was Bilder erzählen, wenn man sie aufmerksam genug betrachtet. Welche Kunstwerke zu Unrecht unterschätzt werden, welche Museumsstädte eine Entdeckungsreise wert sind. Was Museen in Berlin oder Braunschweig, Neuburg an der Donau oder New York, Paris oder Rom außer Kulturgenuss sonst noch zu bieten haben: von kühner Architektur über originelle Museumsshops und raffinierte Küche bis hin zum besten Blick auf die Stadt. Und was es mit dem „Bilbao-Effekt“ auf sich hat.

€ 15,00 [D], € 15,50 [A]
Erschienen am 14.10.2019
224 Seiten, Flexocover mit Klappen
EAN 978-3-492-27740-2
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€ 12,99 [D], € 12,99 [A]
Erschienen am 14.10.2019
224 Seiten
EAN 978-3-492-99513-9
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„Plädoyer fürs Staunen“
Süddeutsche Zeitung
„Wer sich auf Marien-Verkündigungen, mythologische Szenen oder Stillleben einlassen möchte, der findet eine unterhaltsame Augenschulung.“
Handelsblatt

Leseprobe zu „Gebrauchsanweisung fürs Museum“

Vorbemerkung
Sicher werden mich viele Hinweise erreichen, ich hätte im vorliegenden Buch dieses oder jenes bedeutende Bild oder Museum beziehungsweise diesen oder jenen wichtigen Künstler vergessen. Ich bitte darum, es mir nachzusehen, wenn ich vollkommen subjektiv vorgegangen bin und tatsächlich nur Bilder beschreibe, die ich gut kenne, und Museen, die ich auch selbst besucht habe. Ich weiß, dass jeder Weltreisende in Sachen Kunst seine eigenen Prioritäten haben kann – und sicherlich andere als meine.

Der Besuch im Museum
Wahrscheinlich können nicht viele [...]

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Vorbemerkung
Sicher werden mich viele Hinweise erreichen, ich hätte im vorliegenden Buch dieses oder jenes bedeutende Bild oder Museum beziehungsweise diesen oder jenen wichtigen Künstler vergessen. Ich bitte darum, es mir nachzusehen, wenn ich vollkommen subjektiv vorgegangen bin und tatsächlich nur Bilder beschreibe, die ich gut kenne, und Museen, die ich auch selbst besucht habe. Ich weiß, dass jeder Weltreisende in Sachen Kunst seine eigenen Prioritäten haben kann – und sicherlich andere als meine.

Der Besuch im Museum
Wahrscheinlich können nicht viele Menschen von sich behaupten, sie seien im Museum aufgewachsen. Bei den meisten Bewohnern einer Großstadt, die ein mehr oder weniger bedeutendes Kunstmuseum beherbergt, verhält es sich in der Regel so: Als Schüler werden sie (wenn sie das Glück haben, einen guten Kunstlehrer zugeteilt zu bekommen) ab und zu in das Museum ihrer Stadt geführt werden. Dort wird der Lehrer versuchen, der verlangten Allgemeinbildung des bürgerlichen Bildungsideals gerecht zu werden und seinen Schülern die ausgestellte Bilderwelt des Abendlandes näherzubringen. Oder man führt sie in Ausstellungen der örtlichen Kunsthalle, je nach Neigung des Erziehungspersonals. Das kann Erfolg haben oder auch nicht. Die meisten Schulklassen, die man im Museum beobachtet, zeigen sich nur mäßig interessiert. Sie umlagern einzelne Bilder und versuchen Skizzen davon anzufertigen, was manchem gefällt, den anderen verzweifeln lässt und manchen sogar für immer von der Kunst fernhalten wird. Aber die frühe Saat kann durchaus auch aufgehen, und es wachsen Künstler oder Kunsthistoriker heran.

Die meisten Zeitgenossen jedenfalls „entdecken“ das Museum erst dann, wenn sie ihr touristisches Programm auf einer Auslandsreise in das dortige Museum führt, weil es zur obligatorischen Stadtbesichtigung gehört. So mancher Italienurlauber war schon öfter in den Uffizien als in seinem heimischen Museum.

Mir war ein anderes Schicksal beschieden.

Als ich sechs Jahre alt wurde und eingeschult werden sollte, befand mein Großvater: Jetzt, da ich lesen und schreiben konnte (irgendwie scheint er nicht daran gedacht zu haben, dass man mit dem Schuleintritt erst damit beginnt, Lesen und Schreiben zu lernen; er ging einfach davon aus, dass man es bereits kann), sei es an der Zeit, mit der Arbeit zu beginnen. Damit meinte er, ich solle das Geschäft des Kunst- und Antiquitätenhandels, wie er es betrieb, von der Pike auf lernen.

Unter der Woche musste ich mehrmals am Nachmittag in Großvaters Geschäft antreten, um von seinen Abteilungsleitern in den verschiedenen Disziplinen des Hauses unterrichtet zu werden, von den antiken Möbeln zu den Porzellanen über die Skulpturen zu den antiken Orientteppichen. Und an den Wochenenden ging es regelmäßig in eines der Münchner Museen. Meistens in das Bayerische Nationalmuseum, mit dessen Direktor mein Großvater befreundet war, seltener in die Alte Pinakothek. Das änderte sich jedoch, als ich meinen eigenen Willen durchsetzen konnte. Denn mich interessierten mehr die Gemälde, wohl auch deshalb, weil es im großväterlichen Kunsthaus keine Bilder gab. Jedenfalls hatte ich als kleiner Bub das Gefühl, ich hätte mich durchgesetzt, wenn wir statt der Möbel und Skulpturen im Nationalmuseum die Gemälde in der Pinakothek aufsuchten. Mein Großvater ließ mich in dem Glauben, ich hätte einen Sieg errungen.

In der Pinakothek angekommen, wurde ein Saal ausgesucht, auf den wir uns konzentrierten – eine Stunde lang, dann war es auch genug. Mein Großvater wusste genau, was und wie viel er seinem kleinen Enkel zumuten konnte. Ich wuchs ganz natürlich und ohne Berührungsängste mit den regelmäßigen Museumsbesuchen auf, sie gehörten von Anfang an zu meinem Leben. Und so ist es bis heute geblieben. Vor allem hat sich mir vieles von diesen frühen Besuchen unauslöschlich eingeprägt – wie der Satz meines Großvaters: „Wenn du ins Museum gehst, schau dir nicht das Museum an, sondern überlege dir vorher, was du dir ansehen willst.“

Das ist natürlich leicht gesagt, wenn man in einer fremden Stadt zu Besuch ist und zum ersten Mal das Kunstmuseum besuchen will. Da wird man sich zunächst einen Überblick darüber verschaffen wollen, welche Schätze das Museum birgt. Man ist versucht, gegen das Postulat des Großvaters zu verstoßen – das gilt auch für mich. Aber man kann, ja man sollte Schwerpunkte setzen. Ohnehin wird einen auch nicht alles auf die gleiche Weise interessieren. Der Satz des Großvaters bedeutet im Grunde genommen, dass man einige Bilder oder Kunstgegenstände genauer betrachten sollte statt sehr viele nur oberflächlich.

Man kann dieses Postulat aber auch auf die Spitze treiben: Einmal war ich mit dem Freundeskreis der Londoner National Gallery in Florenz unterwegs. Gleich am ersten Abend genossen wir das Privileg, abends, nach der offiziellen Schließung der Uffizien, in die heiligsten Hallen der italienischen Kunst eingelassen zu werden. Am nächsten Morgen rief ich meine Frau an, um ihr begeistert von diesem Erlebnis zu berichten. Wir seien über dreieinhalb Stunden in den Uffizien gewesen.

„Und, was habt ihr alles gesehen?“

„Vier Bilder!“

Meine Frau konnte es nicht glauben, aber genau so war es. Wir sahen die Verkündigung von Simone Martini, die große Ognissanti-Madonna von Giotto, die Primavera von Botticelli und die Geburt der Venus, ebenfalls von Botticelli. Vier Gemälde – aber die sehr intensiv. Einer der Kuratoren und der Direktor der National Gallery referierten abwechselnd vor einem dieser vier Bilder, und zwar so gründlich und so spannend, dass es mir ein unvergessliches Erlebnis blieb. Ich weiß nicht, wie oft ich in meinem Leben schon vor der Primavera oder der Geburt der Venus gestanden habe, aber so wie an diesem Abend hatte ich die Bilder noch nie wahrgenommen. Wir kamen in den folgenden Tagen noch einmal wieder, und es lief ähnlich ab. Diesmal konzentriert auf Caravaggio und Artemisia Gentileschi.

Man mag einwerfen: „Das ist ein Luxus, den ich mir nicht leisten kann, ich will ja vom Museum so viel wie möglich mitbekommen!“ – Ja, ich gebe zu, ein solcher Museumsbesuch, bei dem man viele Bilder auslässt, ist ein Luxus. Aber, und das ist die andere Seite der Medaille, die Bilder, die man derart intensiv betrachtet hat, bleiben unvergessen.

Und ich gebe auch gerne zu, dass diese Vorgehensweise hauptsächlich für Wiederholungstäter sinnvoll ist. Wenn man weiß, man wird wahrscheinlich nicht so schnell wiederkommen, erliegt man viel leichter der Versuchung, die Quantität der Qualität vorzuziehen.

Beobachten Sie in einem beliebigen Museum die Besucher: Die meisten verbringen viel Zeit damit, die Label, also die Bildbeschreibungen, zu lesen, statt sich die dazugehörigen Kunstwerke anzusehen. Ganz zu schweigen von der relativ neuen Angewohnheit vieler Museumsbesucher, mit ihren Smartphones filmend durch die Säle zu eilen und überall Selfies zu schießen, als seien die Bilder, vor denen sie sich ablichten, Trophäen, die man damit abgehakt hätte. Immerhin gehen mehr und mehr Museen dazu über, Selfiesticks zu verbieten, und in etlichen Museen sind mittlerweile Fotografieren und Smartphones generell untersagt.

Als Kunsthändler war ich beruflich viel in den Museen unterwegs, und manchmal steuerte ich ganz gezielt ein einzelnes Gemälde an, weil ich den unmittelbaren Vergleich zu einem Bild suchte, mit dem ich mich gerade in meiner Galerie beschäftigte. In diesen Momenten erinnerte ich mich immer wieder an meinen Großvater, der mir als kleinem Jungen das Sehen beizubringen versuchte.

Die Kunst der Kunstbetrachtung

Mit Professor Willibald Sauerländer zu reisen war eine einzige große Freude. Der berühmte Kunsthistoriker und langjährige Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München war ein wundervoller Lehrer, und er beherrschte die Kunst der Kunstbetrachtung in Perfektion. Er war in allen Disziplinen der Kunst zu Hause (wovon in seinen letzten Jahren insbesondere die Leser der Süddeutschen Zeitung profitieren konnten, wo seine unvergleichlichen Ausstellungsrezensionen erschienen). Aber es war doch etwas ganz Besonderes, mit ihm die großen Kathedralen Frankreichs zu besuchen. Von tiefem Wissen zeugten seine Bücher über die gotischen Kathedralen und die gotische Skulptur in Frankreich, die heute in der Kunstgeschichte als Standardliteratur gelten.

Wenn man mit ihm vor dem Hauptportal einer Kathedrale stand, wurde zuerst der Gesamteindruck gewürdigt, der architektonische Aufbau besprochen, um sich dann dem Skulpturenschmuck des Portals und der Fassade im Detail und Figur für Figur zu widmen und zu diskutieren, wie die Heiligengeschichte jeder einzelnen Figur in das Gesamtkonzept des Fassadenschmucks zu integrieren sei. Das konnte gut und gerne zwei Stunden dauern, bevor man auch nur einen Fuß in das Innere der Kirche gesetzt hatte. Sauerländers Kenntnis der Heiligenlegenden war unerschöpflich – und das, obwohl er bekennender Agnostiker war!

War die Kirche dann nur von einem Seitenportal aus zu betreten, musste man zunächst ganz nach hinten gehen, um den Gesamteindruck des Kircheninnern vom Hauptportal aus zu erfassen. Hier wiederholte sich die Vorgehensweise: Zuerst wurde der Gesamtaufbau besprochen: Wie viele Kirchenschiffe waren zu sehen; wie waren diese miteinander verbunden; wie entwickelten sich daraus die Seitenkapellen; und auf welche Weise führte das Hauptschiff auf die Vierung zu und ließ den Raum des Hauptaltars wirken. Dann erst wandte man sich den Details zu.

Diese Vorgehensweise öffnete dem eifrigen Zuhörer die Augen, dem auch nach stundenlanger Einführung nie langweilig wurde, weil der Professor mit einer solchen Begeisterung und Hingabe erzählte. In das Kirchenschiff einfach mal so einzutreten, wie es sich ergab, weil der Eingang sich beispielsweise auf der Seite befand, war von da an nicht mehr möglich.

Betrat man mit Sauerländer ein Museum mit einer Bildergalerie, war seine Methode ähnlich, wenn nicht noch konsequenter. Er stellte sich in die Mitte des Saales und ließ seinen Blick über die Wände streifen, um sich dann nach einer Weile, dabei immer laut denkend, den einzelnen Bildern zuzuwenden. Sich die Texte der Label durchzulesen war verpönt. Man musste sich das Bild erst nach und nach erschließen, vor dem eigenen Auge beschreiben, was man sah, die Geschichte, die das Bild erzählen wollte, zu entziffern versuchen, dabei auf einzelne Figuren eingehen, ihre Haltung, ihren Gesichtsausdruck, ihre Kleidung schildern, um auf diese Weise ihren gesellschaftlichen Stand zu erkennen. Erst ganz zum Schluss, wenn man versucht hatte, alle Details zu würdigen, durfte man sich der Frage zuwenden, wer denn das Bild gemalt haben könnte. Aber ja nicht auf das Label schauen! Man musste versuchen, die Identität des Künstlers herzuleiten, indem man weitere Fragen beantwortete: In welchem Jahrhundert bewegen wir uns? An wen könnte diese Malweise erinnern und warum? Und wenn man schließlich erkannt hatte, wer der Schöpfer war (oder man doch insgeheim das Label gelesen hatte), folgte der Versuch, dieses Bild zeitlich in das Œuvre des Meisters einzuordnen.

Diese Vorgehensweise war der meines Großvaters gar nicht so unähnlich, wenn er sich mit seinem kleinen Enkel in der Pinakothek in die Mitte eines Saales stellte und ich ihm aus der Entfernung die Namen der Künstler nennen sollte. Erst dann durften wir an die einzelnen Bilder herantreten.

Wer schon einmal in Wien im Gartenpalais der Fürstlichen Sammlungen von Liechtenstein war, wird sich erinnern, dass es dort neben den Kunstwerken keine Labels gibt, sondern nur kleine Nummern. Das bedeutet zwangsläufig, dass der Besucher die Exponate intensiver betrachtet; er kann auch das Informationsblatt, das in jedem Saal ausliegt, zu Hilfe nehmen. Mir ist dort einmal etwas Peinliches passiert: Anlässlich einer Veranstaltung wurde ich gebeten, eine Gruppe von Gästen in den Rubens-Saal zu führen. Das war im Prinzip kein allzu großes Problem; ich dachte, über den Rubens-Zyklus von der Geschichte des Decius Mus würde mir bestimmt irgendetwas einfallen – unvorbereitet, wie ich war.

Dann jedoch holte mich meine eigene Eitelkeit ein. Auf dem Weg in den Saal kamen wir an einem Gemälde vorbei, das ich einige Jahre zuvor an die Sammlungen des Fürsten verkauft hatte. Und ich begann meinen Vortrag mit diesem Gemälde.

Dargestellt war die Geschichte von Atalanta und Hippomenes aus den Metamorphosen des Ovid: Die Königstochter Atalanta, eine hervorragende Läuferin, wollte den Mann heiraten, der sie im Wettlauf besiegte. Wenn der Bewerber aber verlor, würde sie ihn töten. Hippomenes verliebte sich in Atalanta und hatte die Liebesgöttin Aphrodite auf seiner Seite, die ihn mit goldenen Äpfeln ausstattete. Diese sollte er seiner Angebeteten immer dann in den Weg werfen, wenn er sah, dass sie ihn überholte. Da sich Frauen anscheinend – so will es die griechische Mythologie – immer bücken, wenn sie einen goldenen Apfel vor sich liegen sehen, gewann unser Held das Rennen, entging einem grausamen Schicksal und durfte die Prinzessin heiraten. Während ich die Geschichte erzählte, merkte ich, dass mir der Name des Künstlers entfallen war. In jedem anderen Museum hilft in diesem Augenblick ein verstohlener Blick auf das Label, nicht aber hier! Ich erzählte immer weiter, wie sich die Geschichte der beiden entwickelte und dass sich unser Maler von Gemälden von Guido Reni im Prado und in Capodimonte habe beeinflussen lassen, als unweigerlich die Frage aus dem Kreis der Zuhörer aufkam: „Und wie heißt er denn, unser Maler?“

In diesem Moment hielt mir eine Angestellte des Museums, die meine Not erkannt hatte, das Informationsblatt des Saales unter die Nase, und ich war erlöst: „Es ist natürlich von Nicolas Colombel, einem französischen Maler, der nach Rom gegangen war und sich dort von Raffael, Guido Reni und Poussin beeinflussen ließ und einen gemäßigten Klassizismus …“ – und so fort. Ich weiß nicht, ob die Gruppe meine Verlegenheit mitbekam, jedenfalls bescheinigte man mir später, ich hätte diese herrliche Geschichte aus den Metamorphosen ausgesprochen lebendig erzählt. Der puren Not gehorchend, hatte ich sie immer weiter ausgebaut in der Hoffnung, der Name des Künstlers werde mir schon noch einfallen. Und dabei hatte ich, ohne es zu wollen, meinen Zuhörern das Bild und seine Geschichte exakt nach der Sauerländer’schen Methode nähergebracht.

Ernst Gombrich schreibt in der Einleitung zu seiner Geschichte der Kunst sehr treffend:

„Menschen, die ein wenig Kunstgeschichte kennen, erliegen leicht einer … Versuchung. Wenn sie ein Kunstwerk sehen, halten sie sich nicht damit auf, es wirklich anzuschauen, sondern suchen gleich in ihrem Gedächtnis nach dem richtigen Etikett. Sie wissen etwa, dass Rembrandt für sein chiaroscuro berühmt ist – das ist der Fachausdruck für seine Beleuchtungseffekte –, und wenn sie einen Rembrandt zu sehen bekommen, nicken sie weise mit dem Kopf, sagen irgendetwas Tiefsinniges über sein chiaroscuro und wandern dann zum nächsten Bild. Es liegt mir viel daran, auf diese Gefahr ganz offen hinzuweisen, denn keiner von uns ist gegen eine solche Versuchung gefeit, und ein Buch wie dieses könnte noch anfälliger dafür machen. Ich möchte aber lieber, dass es die Augen öffnet, als dass es Zungen löst. Gescheit über Kunst zu orakeln ist gar nicht besonders schwer, denn Kunstkritiker verwenden viele Ausdrücke in so widerspruchsvollen Zusammenhängen, dass sie jede klar umrissene Bedeutung verloren haben. Es ist viel schwerer, ein Bild mit neuen Augen anzusehen und darin auf Entdeckungsreisen zu gehen, aber es ist auch weitaus lohnender. Es lässt sich gar nicht sagen, was man von so einer Reise mit heimbringen kann.“

Dem lässt sich kaum etwas hinzufügen.

Alte Meister oder Die Schule des Sehens
Wenn wir Museumsgänger sind und uns Bilder näher ansehen wollen, müssen wir zuerst eine Unterscheidung treffen: Ich spreche in dieser Gebrauchsanweisung vor allem von der Malerei der Alten Meister, die einen anderen Zugang erfordert als die Malerei des Impressionismus, des Expressionismus und anderer Stilrichtungen, die wir heute als „Moderne“ Kunst bezeichnen – die jedoch im weitesten Sinne ebenfalls bereits den Klassikern oder, aus der Sicht der Zeitgenossen, den Alten Meistern zuzurechnen sind. Im Gegensatz dazu erfordert die Zeitgenössische Kunst vom Betrachter eine andere Herangehensweise, um das Werk verstehen oder zumindest einordnen zu können.

Die Kunstgeschichte hat immer in Hierarchien gedacht. Über Jahrhunderte hinweg, von der Antike bis zur Renaissance, haben es Kunsttheoretiker und Künstler geliebt, sich an dem Wettstreit der verschiedenen Künste, dem „Paragone“, zu beteiligen. Von Leon Battista Alberti, dem großen Denker und Humanisten der Frührenaissance, bis hin zu Leonardo da Vinci und vielen anderen haben sich Künstler und Kunsttheoretiker darüber ausgelassen, ob nun der Skulptur oder der Malerei das Primat gebühre. Auch innerhalb der Malerei hat man mehrere Gattungen unterschieden – die Historienmalerei, das Porträt, Genremalerei, Landschaftsmalerei und das Stillleben – und darüber gestritten, in welcher Rangfolge diese zueinander stehen. Aus heutiger Sicht scheinen diese Bemühungen eher sinnlos und vielleicht sogar überflüssig, zumal seit Anbruch der Moderne der Kunstbegriff als solcher immer wieder neu interpretiert und erweitert worden ist.

Gombrich, dessen Lektüre ich immer wieder empfehlen muss, weist in seiner Geschichte der Kunst darauf hin, dass der herkömmliche Kunstbegriff populärerweise mit technischer Finesse, Können und Fingerfertigkeit zu tun hatte. Das größte Vergnügen bei der Betrachtung eines Gemäldes kann die Entschlüsselung der Geschichte sein, die uns der Künstler erzählen wollte oder vielleicht auch versteckt auf dem Bild hinterlassen hat. Das Verschlüsseln von Botschaften gehörte über viele Jahrhunderte hinweg zum Handwerk des Künstlers, vor allem in der Zeit des Barock. Zur Entschlüsselung wiederum – und somit zum Verständnis des Kunstwerkes über die reine Lust an der Ästhetik hinaus – bedarf es eines Wissens, über das der gebildete Betrachter früherer Jahrhunderte selbstverständlicher verfügte als wir heute. Dazu gehört die Kenntnis einer relativ kleinen Anzahl von Schriften: die Bibel mit dem Alten und Neuen Testament; die Heiligenlegenden, wie sie etwa in der Legenda Aurea des Jacobus von Voragine erzählt werden; die Metamorphosen des Ovid, um Kenntnis zu erlangen über die Verwandlungen und die Liebschaften der antiken Götter; und schließlich die Iconologia des Cesare Ripa: Wenn es um die Entschlüsselung von Symbolen und Allegorien geht, ist dieses Werk seit seiner Entstehung Ende des 16. Jahrhunderts das ikonografische Lexikon schlechthin.

Die Kenntnis dieser Bücher verhilft dem Betrachter der Alten Meister, die Geschichte hinter dem Bild zu verstehen, und das in nahezu allen Fällen. Aber selbstverständlich gilt auch hier der alte Spruch meines Französischlehrers, der zu sagen pflegte: „Du musst nicht alles wissen, du musst nur wissen, wo du nachschlagen kannst!“ Heute hat es der Suchende dabei viel einfacher, er braucht nur Wikipedia zu konsultieren. Zumindest mag das für das schnelle Nachschlagen unterwegs gelten; in meinen Augen ist das gedruckte Buch mit seinen optischen und haptischen Eigenschaften und Vorzügen schwerlich zu überbieten. Ganz abgesehen davon, dass die konzentrierte Atmosphäre einer Bibliothek, ja schon der schiere Anblick von mit Büchern gefüllten Regalen der Arbeitslust und Konzentration nur guttut.

Was ich allerdings tatsächlich empfehlen möchte: Wenn in dieser Gebrauchsanweisung auf bestimmte Bilder hingewiesen wird, mag es durchaus hilfreich sein, sich dazu eine Abbildung aus dem Internet zu holen. Ich werde der Einfachheit halber zu den jeweiligen Bildern einen Link zur Website hinzufügen, die das beschriebene Bild zeigt.

Lassen Sie uns also einige herausragende Bilder der verschiedenen Gattungen der Malerei betrachten mit Tipps, wie sie zu „lesen“ sind. Viele von ihnen zählen zu den großen Meisterwerken ihres Faches, in jedem Falle gehören sie zu meinen Lieblingsbildern. Ich will nicht behaupten, dass man sie alle gesehen haben muss, aber mein Leben wäre sicherlich ärmer ohne sie. Sie alle erzählen ihre eigene Geschichte – eine Schule des Sehens.

Historien und Geschichten
Unter Historienmalerei dürfen wir uns nicht nur Bilder mit der Darstellung historischer Begebenheiten vorstellen. Es gehören auch Mythologien und religiöse Darstellungen dazu.

Die Hinrichtung der Lady Jane Grey
Ein Gemälde aus der Londoner National Gallery mag hier am Anfang stehen, nicht nur weil es eine historische Begebenheit auf einen exakten Moment verdichtet, sondern auch weil es in der National Gallery von Anbeginn zu den populärsten Bildern zählte und auch heute noch ständig umlagert ist: Die Hinrichtung der Lady Jane Grey von Paul Delaroche von 1833.[1]

Die Gründe für die nicht enden wollende Popularität dieses großformatigen Historienbildes sind vielfältig: Zunächst wird man feststellen, dass Delaroche, einer der bekanntesten französischen Historienmaler der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in beeindruckend realistischem Stil eine brutale Szene abbildet. Lady Jane Grey war 16 Jahre alt, als sie im Jahr 1554 für genau neun Tage Königin von England war, bevor sie im Tower von London hingerichtet wurde. Als Spielball der Politik zwischen den Katholiken und Protestanten Englands wurde sie zunächst als Nachfolgerin von Edward VI. auf den Thron gesetzt. Doch schon wenige Tage später wurde sie wieder abgesetzt, um ihrer Cousine Mary Tudor Platz zu machen, jener Mary, die als „Bloody Mary“ in die Geschichte einging, die Tochter Heinrichs VIII. und Vorgängerin Elisabeths I. Die kleine Jane endete grausam auf dem Schafott. Die Tragödie dieses unschuldigen Kindes ist ergreifend und ebenso herzzerreißend dargestellt. Es ist ein gutes Beispiel für ein Historienbild, das den beschriebenen Augenblick aus dem großen geschichtlichen Kontext herauszulösen vermag und auf die Ebene einer individuellen menschlichen Tragödie übersetzt.

Drei Verkündigungen
Auch religiöse Themen gehören in diese Kategorie, und eine der beliebtesten Darstellungen zu allen Zeiten ist die Verkündigung Mariens. Die großen Meister vermochten es, die Geschichte immer wieder gänzlich anders zu interpretieren.

Eine meiner Lieblings-Verkündigungen befindet sich in München in der Alten Pinakothek, ein Gemälde, mit dem ich sozusagen aufgewachsen bin: die Verkündigung von Fra Filippo Lippi (um 1443/45).[2]

Fra Filippo Lippi war – wie man aus dem Präfix „Fra“ für Frater erkennen kann – ein Mönch. Er lebte und arbeitete in der Florentiner Frührenaissance. Ihm sind einige der schönsten Bilder zu verdanken aus der Zeit, als die Renaissance noch im Entstehen war und sich dann in der Mitte des 15. Jahrhunderts von einem Höhepunkt zum nächsten entwickelte. Florenz, das vom Reichtum und der Großzügigkeit der führenden Familien der Stadt, allen voran der Medici, profitieren konnte, war ihr Zentrum. In den Künstlerwerkstätten nutzte man die neuen Möglichkeiten der Maltechnik, um „nicht nur die heiligen Geschichten packend nachzuerzählen, sondern damit auch ein Stück Welt zu spiegeln“, wie es Gombrich treffend beschreibt. In der Stadt wimmelte es nur so von großen Künstlern, die ansehnliche Aufträge erhielten – von den Florentiner Familien, den Zünften und Innungen und natürlich von den Kirchen und Klöstern. Diese Konkurrenz war ungeheuer beflügelnd. Jedem Künstler war es wichtig, seinen eigenen, unverkennbaren Stil zu entwickeln und dabei einen eigenen Kreis von Schülern aufzubauen. Jeder einzelne von ihnen wollte unverwechselbar sein, was vielen auch gelang. Masaccio, Uccello, Fra Angelico, Benozzo Gozzoli wetteiferten dabei mit den großen Bildhauern, mit Donatello, Ghiberti und vielen anderen.

Fra Filippo Lippi erhielt den Auftrag für das Hochaltarbild eines Frauenklosters in Florenz. Er bemühte sich auch hier, seinen eigenen Stil auszudrücken, auch ikonografisch etwas Neues zu schaffen: Statt wie bisher in den meisten Darstellungen der Verkündigung Mariens, verlegt er den Ort aus der Stube, der Intimität des Zimmers, in eine prachtvolle, offene Loggia, die alle Vorzüge der in Florenz gerade in Mode gekommenen Architektur aufweist. Man fühlt sich in den Kreuzgang eines Klosters versetzt und blickt in einen angrenzenden Garten. Der Erzengel Gabriel, der in der Engelshierarchie für die Verkündigung zuständig ist und sich auch sonst als Bote Gottes und Erklärer von Visionen anbietet, tritt der Jungfrau Maria in Lippis Darstellung als demütiger Engel entgegen, er kniet vor ihr, während sie von ihrem Betpult aufgestanden ist, ihren blauen Mantel rafft und ebenso scheu und demütig zu Boden schaut. In vielen anderen Darstellungen gibt es zwischen dem Engel und Maria Blickkontakt, hier jedoch scheuen beide den direkten Blick. Lippi hat einen ganz bestimmten Augenblick eingefangen. Die meisten anderen Darstellungen der Verkündigungsgeschichte zeigen dem Betrachter den Moment der Enthüllung der göttlichen Mitteilung, Maria werde vom Heiligen Geist den Sohn Gottes empfangen; entsprechend gestenreich wird der Engel dargestellt, und entsprechend erschrocken reagiert die arme Jungfrau. Hier jedoch scheint alles bereits gesagt. Möglicherweise hat Maria schon geantwortet, sie sei die Dienerin des Herrn und füge sich in ihr Schicksal. Jetzt ist nur noch Ruhe, Feierlichkeit und Demut. Der Strahl Gottes, auf dem der Heilige Geist in Form einer weißen Taube einschwebt, ist bereits auf der Brust Mariens eingetroffen, während links oben am Bildrand der bärtige Gottvater, gütig hinunterblickend und umgeben von einer Gruppe von kleineren Engeln, seinen Segen erteilt. Das Gefieder der großen Flügel des Erzengels, der mit seiner Linken die weiße Lilie der Unschuld hält und in Demutshaltung seine rechte Hand auf die Brust legt, ist ganz außerordentlich: Es besteht aus unendlich vielen Pfauenfedern. Es ist der wohl luxuriöseste Erzengel Gabriel, den ich je gesehen habe.

Es ist ein Bild, das trotz der großen Ruhe, die es ausstrahlt, die ganze Dramatik der Situation einfängt – immerhin der Beginn einer neuen Heilslehre.

Ganz anders wird die gleiche Situation in der Verkündigungsszene von Carlo Crivelli von 1486 in der National Gallery in London dargestellt.[3]

Carlo Crivelli stammt aus Venedig, lebte in etwa zur selben Zeit wie Filippo Lippi, blieb aber wohl im Veneto, in Padua, und wirkte später in Dalmatien. Die Verkündigung von Crivelli ist ein Bild, das in seinem Reichtum kaum zu übertreffen ist. Die Jungfrau Maria kniet in ihrer Kammer an ihrem Betpult, aber diese Kammer, die den Blick auf eine schmale Gasse lenkt, befindet sich in einem reich ausgeschmückten Palazzo mit Friesornamenten und Pilastern mit vergoldeten korinthischen Kapitellen. Über ihrer geöffneten Kammer sieht man auf einer Balustrade unterhalb einer sich öffnenden Loggia einen Pfau sitzen, neben ihm ist ein wertvoller orientalischer Teppich über die Brüstung gelegt, der im Wind flattert. Darüber ein Vogelkäfig, in dem ein kleiner Vogel sitzt. Man sieht in Untersicht die prachtvoll ausgestattete Kassettendecke der Loggia, die sich im Obergeschoss an der Ecke des Palazzo befindet.

Vor dem Palazzo, in einer schmalen Gasse und vor der Außentreppe des nachbarlichen Gebäudes, das von mehreren Einwohnern des Städtchens belebt wird, kniet der Verkündigungsengel. Er sieht mehr wie ein ungewöhnliches Fabelwesen aus, mit seinen bunten Flügeln und seiner aufwendigen Kostümierung. Er kniet vor dem Fenster, mit der Linken die unvermeidliche weiße Lilie tragend und mit der Rechten einen segnenden Gruß beschreibend. Mit ernstem Gesicht schaut er durch das vergitterte Fenster auf die Jungfrau, die entweder bescheiden ihren Kopf gesenkt hat, nachdem sie die Worte des Engels vernommen hat, oder vielleicht noch in ihr Buch vertieft ist und den Besucher gar nicht bemerkt hat.

Aber der Besucher, und dies ist nun ganz ungewöhnlich, ist nicht alleine gekommen. Er ist in Begleitung eines Bischofs in vollem Ornat, das Modell einer Stadt in Händen haltend. Wir erfahren, dass dies der heilige Emidius ist, der Stadtheilige von Ascoli Piceno, für deren Kirche der Santissima Annunziata das Bild in Auftrag gegeben war.

Neben der Thematik der Verkündigung ging es Crivelli ganz offensichtlich um etwas ganz anderes. Er wollte die neuesten Errungenschaften seiner Kunst zeigen: Er beherrschte die damals entstehende Kunst der Perspektive in Perfektion. Die für seine Zeit ungewöhnlich gut gelungene und komplex angelegt Architektur, die Fluchtpunkte zwischen den angrenzenden Palazzi, die sich nach hinten stark verjüngenden Gebäudeteile; dazu das Einstreuen von allerlei Symbolik wie der vermeintlich achtlos auf dem Boden liegende Apfel, der natürlich nur deswegen hier liegt, weil er an Adam und Eva und die Erbsünde erinnern soll, oder der auf der Balustrade stehende Pfau, der für die Unsterblichkeit steht, da man glaubte, sein Fleisch würde niemals verwesen: All dies zeugt von außergewöhnlichem Können und Intellekt.

Ganz anders ist hier der Gottesstrahl dargestellt: Gottvater ist nicht zu sehen, aber im Himmel hat sich wie bei einem kleinen Tornado ein kreisförmiges Loch gebildet, von Wolken umkreist, aus dessen Mitte der goldene Strahl Gottes durch eine eigens dafür geschaffene Öffnung in der Fassade direkt auf die Stirn Mariens trifft. Auf dem goldenen Strahl gleitend, nähert sich die weiße Taube des Heiligen Geistes. Den Segen Gottes für all das, wofür sie auserkoren wurde, scheint Maria bereits erhalten zu haben, denn sie trägt einen Heiligenschein.

Dieses Gemälde von Carlo Crivelli gehört sicherlich zu den ungewöhnlichsten Bildern dieser Zeit, und man kann bei jeder neuen Betrachtung immer wieder neue Details entdecken.

Und noch eine dritte, wiederum ganz andere Interpretation dieser Geschichte möchte ich dem Leser nicht vorenthalten. In dem kleinen Ort Recanati, mitten in den Marken, nicht weit von Loreto und südlich von Ancona, befindet sich eines der schönsten Werke des großen Meisters Lorenzo Lotto: die Verkündigung aus Recanati (um 1527/29).[4]

Lorenzo Lotto, in Venedig geboren, stand am Anfang seiner Karriere unter dem Einfluss von Giovanni Bellini. Er schuf für die Kirche San Domenico in Recanati ein großes Altarbild und für eine der Bruderschaften des Ortes eben jene Verkündigung.

Die Interpretation Lottos ist gänzlich anders und mehr als überraschend:

Wieder befinden wir uns in Marias Stube. Diesmal zeigt sie auf eine offene Loggia mit einem schönen Garten dahinter. So weit, so gut – doch der Rest ist vollkommen neu und höchst dramatisch: Der Erzengel Gabriel ist soeben im eiligen Flug vor Maria auf dem Boden gelandet, sein blondes, gelocktes Haar ist vom Fahrtwind zerzaust. Er hebt seine Rechte nicht zum Gruß, sondern weist mit dieser nach oben, zu Gottvater, der sich aus einer Wolke heraus, ebenfalls quasi im Sturzflug, in Richtung Maria bewegt, mit ausgestreckten Armen, beide Hände gefaltet, auf die Jungfrau deutend, und zugleich mit einem grimmigen Gesicht seinen Befehl erteilt. Dieser Gott hier akzeptiert keinen Widerspruch. Er scheint es eilig zu haben; für gemessene Erhabenheit, wie bei anderen Darstellungen der Verkündigung, bleibt hier gar keine Zeit. Maria ist durch den so plötzlich eingedrungenen Engel tief erschrocken, hat sich vom Betpult abgewandt und sucht mit ihren beiden bis zur Brusthöhe erhobenen Händen und in leicht gebückter Haltung Schutz suchend Augenkontakt mit uns, den Betrachtern der Szene. Hinter ihr ergreift eine Katze in panischer Angst die Flucht. Sie wird die einzige sein, der möglicherweise die Flucht gelingt. Wir wissen ja, wie die Geschichte ausgeht.

Lorenzo Lotto komponiert hier etwas vollkommen Revolutionäres, und man muss sich schon wundern, dass die den Auftrag gebende Bruderschaft der Kaufleute von Recanati das Gemälde mit dieser fast ketzerischen Interpretation als Altarbild akzeptiert hat. Vielleicht weil es dennoch, oder auch gerade deshalb, ein großartiges Bild ist.

[1] https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/paul-delaroche-the-execution-of-lady-jane-grey

[2] https://www.sammlung.pinakothek.de/de/artist/fra-filippo-lippi/verkuendigung-mariae

[3] https://www.nationalgallery.org.uk/paintings/carlo-crivelli-the-annunciation-with-saint-emidius

[4] http://www.lorenzolottomarche.it/en/annunciazione-15271529/

Konrad O. Bernheimer

Über Konrad O. Bernheimer

Biografie

Konrad O. Bernheimer, 1950 in Rubio, Venezuela, als Sohn eines deutsch-jüdischen Vaters und einer venezolanisch-katholischen Mutter auf einer Kaffeeplantage geboren, Kunstsammler und -händler. Schon als Kind wurde er von seinem Großvater Otto Bernheimer in die Geschäfte des bekannten Münchner...

Im Gespräch mit Konrad O. Bernheimer

Wenn man in München aufgewachsen ist, hat der Name Bernheimer einen besonderen Klang. Der Ursprung des Erfolgs der Kunsthändler-Dynastie war das große Palais am Lenbachplatz, das Konrad O. Bernheimer in vierter Generation übernahm und hinter sich ließ, um in London ein international angesehener Händler für Alte Meister zu werden. – Nun hat Konrad Bernheimer eine Gebrauchsanweisung fürs Museum verfasst: eine kundige Handreichung für Museumsgänger.

Wovon handelt Ihre Gebrauchsanweisung?

In erster Linie möchte ich dazu beitragen, dass der Museumsbesucher die Augen öffnet und sich wirklich mit dem einzelnen Gemälde befasst, statt nur die Bildbeschreibungen zu lesen. Es geht mir um die Intensität der Kunstbetrachtung, die gerade die Alten Meister so spannend in den Fokus setzen kann – und um deren Einbettung in ihre jeweilige Zeitgeschichte.

Was machen Sie in einem Museum als Erstes?

Den Überblick versuche ich mir vorher zu verschaffen, entweder durch das Blättern in einem Bestandskatalog oder durch den Blick auf die Website des Museums. Dann suche ich mir ein Gebiet aus, auf das ich mich konzentriere. Alles kann man nicht anschauen, man muss Schwerpunkte setzen, sonst ist man am Ende zwar viel gelaufen, hat aber nichts wirklich gesehen. Auch Audioguides können sinnvoll sein, um eine Auswahl zu treffen. Wenn Sie öfter ins Museum gehen, lohnt es sich, dem Freundeskreis beizutreten, weil Sie dann von fachkundigen Führungen profitieren.

Wenn Sie zurückdenken an Ihre Kindheit: Was ist Ihre früheste Erinnerung an einen Museumsbesuch beziehungsweise an ein bestimmtes Gemälde?

Es war mit meinem Großvater in der Alten Pinakothek, und ich muss etwa sechs Jahre alt gewesen sein. Am meisten beeindruckt haben mich: das Porträt Karls V. von Tizian, weil ich mir Sorgen machte wegen der kränklichen Gesichtsfarbe des Kaisers; die Entkleidung Christi von El Greco, weil sich das rote Gewand so schön in der Rüstung des Soldaten spiegelte; und die Alexanderschlacht von Albrecht Altdorfer! Dieses Bild muss einen kleinen Buben einfach begeistern, wie ein Wimmelbild im Kinderbuch.

Was ist Ihre Lieblingsfi gur in der Malerei?

Keine einfache Frage. Ich denke jedoch, es sind wohl die Engel, die in jeder Epoche der Kunstgeschichte in verschiedenen Rollen auftauchen und immer faszinierende Wesen sind. Zum Beispiel bei einer Verkündigung von Fra Angelico oder bei einem genial hinskizzierten Engel von Paul Klee.

Mit welchem Künstler würden Sie gern ein Wochenende verbringen?

Am liebsten mit Peter Paul Rubens, weil er nicht nur wusste, wie man das Leben genießt, sondern auch als Diplomat ein faszinierendes Leben führte. Ich hätte ihn gerne begleitet, als er 1628/29 in Madrid weilte, um dort in geheimer Mission die Friedensverhandlungen zwischen Spanien und England voranzutreiben. Gleichzeitig hat er auch viel gemalt, er hat einige wichtige Porträts geschaffen, aber auch von den Werken Tizians in der königlichen Sammlung Kopien (oder man sollte sagen: seine eigenen Versionen) erstellt. Und er hatte zur Unterstützung in seiner Werkstatt, die ihm König Felipe IV. einrichten ließ, keinen Geringeren als den jungen Diego Velázquez zum Assistenten! Das waren sicher extrem spannende Zeiten.

Welche drei Bilder muss man unbedingt gesehen haben?

Das ist fast so schwierig, wenn nicht unmöglich zu beantworten wie die Frage: Welches Bild würden Sie als erstes retten, wenn die Welt unterginge? Ich versuche es dennoch:

1. Diego Velázquez, Las Meninas, Prado, Madrid:
Für mich eines der bedeutendsten großen Gemälde, die je geschaffen wurden. Velázquez gelingt mit diesem großen Familienporträt der spanischen königlichen Familie etwas vollkommen Neues. Er bezieht den Betrachter des Bildes mit ein ins Geschehen, man wird Teil der dargestellten Szene.

2. Peter Paul Rubens, Selbstporträt mit seiner jungen Frau Isabella Brant in der Geißblattlaube, Alte Pinakothek, München:
Dieses Selbstbildnis als junger glücklicher Ehemann mit seiner frisch angetrauten Braut ist nicht nur eine einzige Liebeserklärung, sondern zeigt auch das Selbstbewusstsein des jungen Meisters, der bereits am Anfang seiner großen Karriere überzeugt. Ein Bild, mit dem man leben möchte.

3. Pablo Picasso, Guernica, im Museo Reina Sofía in Madrid.
Das bedeutendste Gemälde der Moderne. Der Einfluss dieses unglaublichen Bildes auf die Kunstgeschichte ist immens. Picassos laut aufschreiender Protest gegen die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica im Spanischen Bürgerkrieg, mit der Darstellung des Leides und der grauenvollen Vernichtung, gehört zu den bewegendsten Kunstwerken.

Welche Ausstellung der letzten Jahre hat Sie besonders begeistert und weshalb?

Auch das ist nicht so einfach zu beantworten, weil es gerade in letzter Zeit eine ganze Reihe von wichtigen und sehr beeindruckenden Schauen gegeben hat. Eine Auswahl:

Leonardo da Vinci in der National Gallery London, Hieronymus Bosch im Prado in Madrid, Pieter Brueghel im Kunsthistorischen Museum in Wien, Florenz und seine Maler in der Alten Pinakothek in München.

Leonardo, weil man dort zum ersten Mal beide Versionen der Felsgrottenmadonna des Meisters – die aus London und aus Paris – in einem Raum zusammen vergleichen konnte. Und wegen vieler anderer Bilder wie z.B. der Dame mit dem Hermelin aus Krakau, die weitaus aufregender ist als die Mona Lisa. – Hieronymus Bosch, weil noch nie zuvor eine so große Ansammlung von Bosch zu erleben war, dem verrücktesten Maler aller Zeiten. – Pieter Brueghel, da wir zu unseren Lebzeiten noch nie fast das ganze Oeuvre sehen konnten. Und es wird auch nie mehr möglich sein. – Die Florentiner Malerei in der Alten Pinakothek, denn dieser Ausstellung liegt eine umfassende Forschungsarbeit zur Malerei jener Zeit zugrunde, die sehr beeindruckt hat. Und weil wir dort erstmals die großartige Grablegung von Sandro Botticelli nach der Restaurierung in all ihrer Pracht bewundern durften.

Pressestimmen
Süddeutsche Zeitung

„Plädoyer fürs Staunen“

Handelsblatt

„Wer sich auf Marien-Verkündigungen, mythologische Szenen oder Stillleben einlassen möchte, der findet eine unterhaltsame Augenschulung.“

BR "nachtlinie"

„Wirklich ein interessantes Buch“

Landshuter Zeitung

„unterhaltsame, anregende Museumstour“

Deutschlandfunk Kultur „Buchkritik“

„Museumsbesuche können anstrengend sein – wenn man nicht weiß, wie man es richtig anstellt. Konrad O. Bernheimer hat einen Museumsführer geschrieben, der einem nicht nur erklärt, wie man Kunst richtig liest, sondern auch wie man Warteschlangen meidet.“

Abendzeitung München

„Eine unterhaltsame, anregende Museumstour“

Aichacher Nachrichten

„Bernheimer plaudert ganz nonchalant auf seiner unterhaltsamen, anregenden Museumstour.“

Hannoversche Allgemeine

„Der frühere Galerist Konrad O. Bernheimer erklärt unterhaltsam, worauf es bei einem Museumsbesuch ankommt.“

Südwest Presse

„Anregende Lektüre von einem Fachmann“

Die Rheinpfalz

„Ein unterhaltsamer Spaziergang durch die großen und kleinen Museen der Welt“

bn Bibliotheksnachrichten (A)

„Bestens gerüstet für den nächsten Museumsbesuch mit dieser kleinen Anleitung.“

musenblaetter.de

„Der Vorteil Bernheimers ist, dass er nicht kunstwissenschaftlich verkopft daherkommt, sondern es versteht, anregend zu plaudern. Das macht sein Buch so ungemein lesenswert“

Generaldirektor der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen

„Jüngst habe ich dieses eben erst erschienene Buch gelesen und mich daran erfreut, wie nahe der Autor den Bildern kommt, wie treffend er schreibt und sie beschreibt, namentlich etwa bei unseren Münchener Murillos. Eine der prägnantesten und erfrischendsten Thesen ist die Passage, in der Konrad Bernheimer die Frage stellt, ob das Dresdner >Schokoladenmädchen< von Liotard ein Porträt, Genrebild oder gar ein Stillleben sei. Gerade diese Fragestellung macht ja die Modernität des Werkes spürbar, weil hier die klassischen Gattungsgrenzen hinterfragt und unterlaufen werden. Sehr trefflich!“

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