Gefährliche Gischt (Deutsch-dänische Ermittlungen 1) Gefährliche Gischt (Deutsch-dänische Ermittlungen 1) - eBook-Ausgabe
Kriminalroman
— Spannender Küsten-Krimi mit ungewöhnlichem deutsch-dänischen Ermittlerinnen-Duo„Ein packender Kriminalroman, der Lust auf weitere Fälle mit diesem Ermittlerduo macht.“ - Hellweger Anzeiger
Gefährliche Gischt (Deutsch-dänische Ermittlungen 1) — Inhalt
Aufwühlend und rau wie die Nordsee
Malerische Dünen, kilometerlange Strände, kreischende Möwen … Das verschlafene Dorf Billersby an der deutsch-dänischen Nordseeküste lockt nur wenige Touristen an, und die Einheimischen lieben ihre Ruhe.
Doch mit der ist es schlagartig vorbei, als ein Bernsteinsammler in den frühen Morgenstunden am Strand qualvoll an Weißem Phosphor verbrennt. Sofort zieht der Unfall mediale Aufmerksamkeit auf sich. Die Ermittlerinnen Connie Steenberg und Nora Boysen bemerken schnell: Sie haben nicht viel gemeinsam, sie sind eher wie Feuer und Wasser. Trotzdem müssen sie zusammenarbeiten, um den Fall zu lösen.
Der Debütroman von der preisgekrönten Drehbuchautorin Anne-M. Keßel verspricht jede Menge Spannung und fieberhafte Ermittlungen mit einem ganz besonderen Ermittlerinnenteam.
Leseprobe zu „Gefährliche Gischt (Deutsch-dänische Ermittlungen 1)“
PROLOG
Die Nacht war stürmisch gewesen. Und noch immer zogen die letzten Ausläufer des Frühjahrssturms über die Küste. Wie eine dicke, ausgebeulte Decke hetzten die Wolken über die Dünen, weg vom Meer, hinein ins Land.
Sein Oberkörper stemmte sich gegen die ihm entgegenschlagenden Böen, während ihm der Wind dünnen Nieselregen quer ins Gesicht spie. Seine Brille war regenblind, aber er kannte den Weg. Unbeirrt stapfte er weiter den schmalen Sandpfad entlang durch die Dünen. Am Set oder auf dem roten Teppich trug er ausschließlich Kontaktlinsen, da war er [...]
PROLOG
Die Nacht war stürmisch gewesen. Und noch immer zogen die letzten Ausläufer des Frühjahrssturms über die Küste. Wie eine dicke, ausgebeulte Decke hetzten die Wolken über die Dünen, weg vom Meer, hinein ins Land.
Sein Oberkörper stemmte sich gegen die ihm entgegenschlagenden Böen, während ihm der Wind dünnen Nieselregen quer ins Gesicht spie. Seine Brille war regenblind, aber er kannte den Weg. Unbeirrt stapfte er weiter den schmalen Sandpfad entlang durch die Dünen. Am Set oder auf dem roten Teppich trug er ausschließlich Kontaktlinsen, da war er eitel. Aber hier, weit weg vom Scheinwerferlicht, konnte er sich ein wenig gehen lassen.
In der schwarzblauen Dämmerung des heraufziehenden Morgens war kein anderes Lebewesen zu sehen. In der Landschaft verstreut standen ein paar Ferienhäuser, aber in keinem brannte Licht. Alle schliefen noch. Es war, als wäre er der einzige Mensch auf Erden.
Das Tosen hinter den Dünen schwoll an. Durch ein Dünental hindurch konnte er kurz das Meer aufblitzen sehen. Rau und aufgewühlt, gestaffelte Wellenreihen in einem dunklen Graublau, gekrönt von weißer Gischt. Er lächelte. Das war gut! Der Sturm wirbelte den Meeresboden auf, und mit etwas Glück würde er vielleicht Bernstein finden, den die Flut an den Strand spülte. Das Frühjahr war zwar bereits fortgeschritten, aber die salzige Nordsee immer noch winterkalt. Nur unter diesen Bedingungen gab sie das Gold des Meeres frei.
Bei dem Gedanken glaubte er plötzlich, die wärmende Hand seiner Mutter zu spüren. Sie war eine leidenschaftliche Bernstein-Sammlerin gewesen. Seine frühesten und schönsten Kindheitserinnerungen waren geprägt von kalter Gischt, die über seine nackten Füße spülte, während er – kaum groß genug, um selbst zu laufen – an ihrer Hand den Strand entlangtapste, auf der Suche nach den goldenen Klumpen.
Sie würde sich bestimmt freuen, wenn er ihr die diesjährige Ausbeute mit ins Heim brachte. Dann, so hoffte er, würde vielleicht wieder der alte Glanz in ihre Augen treten, das Erkennen und die Freude, die seit Jahren hinter dem Vorhang grausamen Vergessens verborgen lagen.
Nur deswegen war er an diesem stürmischen Tag in aller Herrgottsfrühe aufgebrochen. Denn wenn es nach Asta gegangen wäre, hätten sie im Warmen bleiben können. Obwohl: Einmal draußen, kannte sie kein Halten mehr. Er schob sich Daumen und Zeigefinger in den Mund, die nach Salz und Urlaub schmeckten, und stieß einen kurzen Pfiff aus. Sofort ruckte ein kleiner Hundekopf hinter einem Sandhügel hervor, die braunen Klappohren aufgestellt, die Knopfaugen begeistert aufgerissen. Das Fell um das linke Auge war kreisrund und pechschwarz, wie eine Augenklappe. Die braunen Ohren und das schwarze Auge stachen aus dem ansonsten schneeweißen Fell heraus. Asta war wirklich etwas ganz Besonderes. Er lächelte seine Hündin liebevoll an.
Als sie sich beide der Gegenwart des anderen vergewissert hatten, sprang Asta wieder herum und rannte schwanzwedelnd auf das Tosen hinter den Hügeln zu. Er schaute dem kleinen weißen Punkt hinterher, der fröhlich über den Dünenpfad flitzte. Wieder musste er lächeln. Nie hatte er nur eine der Frauen in seinem Leben so sehr geliebt wie dieses kleine Fellknäuel! Und keiner Frau war er nur annähernd so treu gewesen. Er wusste nicht, ob das traurig war oder normal in einer Welt, in der die wenigsten noch eine Verbindung bis zum Lebensende eingingen, sondern immer nur Seilschaften für eine kurze gemeinsame Wegstrecke. In der man sich gegenseitig nützlich sein konnte und eine gute Zeit zusammen hatte, bis andere den Weg kreuzten und man neue Gelegenheiten ergriff.
Asta hingegen liebte ihn um seiner selbst willen. Bei den Frauen war er sich da nie so sicher. Dafür verdiente er zu viel Geld und generierte zu viele Klicks auf den Social-Media-Kanälen. Insofern waren seine Beziehungen immer ehrlich gewesen: Er sonnte sich in Jugend und Schönheit seiner Lebensabschnittsgefährtinnen und gab ihnen dafür ein wenig Aufmerksamkeit, verlieh dem Leben dieser Frauen ein kleines bisschen Bedeutung. Was er dafür hinter verschlossenen Türen wollte, war klar. Und das hatten auch alle gewusst, die sich auf ihn eingelassen hatten. Fast alle …
Zum Schutz gegen den Wind senkte er schnell wieder den Blick und schaute stur auf seine Schuhe, die Schritt um Schritt dem Meer entgegengingen. So traf ihn die Stimme völlig unvorbereitet.
„Dieser Wind! Heftig, oder!?“
Er sah auf und erkannte durch seine besprenkelten Brillengläser eine Frau, die wie aus dem Nichts auf einmal vor ihm stand. Ihr rundes Gesicht war durch die festgezurrte Kapuze einer neonfarbenen Funktionsjacke umrandet. Ungeschminkt, wie sein kennender Blick feststellte. Ende vierzig, Anfang fünfzig, den Fältchen und Grübchen nach zu urteilen. Durch den flatternden Stoff des Discounter-Anoraks zeichnete sich eine füllige Figur ab. Das knallige Pink würde den Rettungskräften im Falle eines Unglücks zwar eine schnelle Bergung ermöglichen, war aber ebenso wie der Schnitt eher unvorteilhaft und verlieh ihr das Aussehen eines dicken, freundlichen Bonbons.
Er hatte schon lange auf keiner Dicken mehr gelegen. Mit denen konnte er sich öffentlich zwar nicht sehen lassen, aber sie waren so schön dankbar. Und offen für Neues. Er hatte immer viel Spaß mit ihnen.
„Sie müssen mit dem Hund raus, nicht wahr? Ich bin ja immer so früh auf. Und das Wetter macht mir nichts aus. Aber heute ist es schon sehr stürmisch. Finden Sie nicht auch?“
Die Frau sprach Deutsch mit ihm. Offenbar hielt sie ihn für ihresgleichen. Doch selbst wenn er nicht mit Brille und Windbreaker, sondern mit Kontaktlinsen, von der Maskenbildnerin perfekt frisierten Haaren sowie in einem Maßanzug vor ihr stünde, würde sie ihn nicht erkennen. Wahrscheinlich noch nicht einmal, wenn ihm die eisgläserne Krone Mythopias auf dem goldgelockten Perückenhaupt sitzen und er laut brüllend Schild und Schwert schwingen würde, so wie in seiner bisher bedeutendsten Rolle. Er spürte einen Stich im Magen, ein kleiner Gruß seiner gekränkten Eitelkeit. Die Deutschen liebten zwar Dänemark, die „hyggelige“ Gemütlichkeit, Pølser und Lakritz – aber sie interessierten sich weder für die Sprache noch für die Politik und schon gar nicht für die Kultur des Landes. Das pinke Bonbon hatte keine Ahnung, wer da vor ihm stand.
Er spürte den Zwiespalt, der sich in seine Eingeweide bohrte. Genau deswegen kam er eigentlich so gerne nach Billersby, in dieses verschlafene norddeutsche Provinznest; weil er hier unerkannt entspannen konnte und schnell genug zurück in Dänemark war, wenn der Job oder das Heim seine Präsenz erforderten. Aber es kränkte auch jedes Mal sein Ego, wenn er realisierte, dass sein Prominentenstatus außerhalb Dänemarks bei null lag. Dabei war doch erst vor wenigen Wochen ein Interview mit ihm in einem der größten deutschen Hochglanzmagazine veröffentlicht worden. Der Versuch seines PR-Managers, ihn über die Landesgrenzen hinaus bekannt zu machen, hatte – ganz offensichtlich – nicht funktioniert.
Die Frau schaute ihn immer noch mit ihren freundlichen Maus-Augen an. Sie erwartete offenbar eine Antwort. Also knipste er sein Filmstarlächeln an, das hoch bis zu den Augen reichte, obwohl es reine Fassade war. Er nickte der Frau zu, dann zwängte er sich an ihr vorbei. Er wollte weg, bevor sie ihn mit weiteren Monologen aufhielt. Eilig stapfte er auf den Dünenkamm zu. Er meinte, den Blick der Frau in seinem Rücken zu spüren, drehte sich aber nicht mehr um, sondern folgte zielstrebig den kleinen, frischen Löchern, die Astas Pfoten in die nasse Sanddecke gestanzt hatten. Sie war den steilen Sandpfad, der eher einer Abbruchkante glich, bereits hinunter zum Strand gerannt. Nun wartete sie schwanzwedelnd darauf, dass er ihr endlich folgte. Doch er verweilte noch einen Moment auf dem Dünenkamm und betrachtete das aufgeschäumte Meer, das sich scheinbar endlos vor ihm ausbreitete.
Er schloss die Augen und ließ seinen Oberkörper langsam nach vorne fallen, der Schwerkraft folgend. Für den Bruchteil eines Augenblicks erlag er dem kindlichen Wunsch, die Arme auszubreiten und einfach davonzufliegen, bis er in letzter Sekunde seinen Fall abfing, entschlossen einen Fuß nach vorne setzte und mit weit ausholenden Schritten den steilen Sandpfad hinunterstakste. Asta umsprang ihn bellend, und gemeinsam liefen sie zum Meer, dorthin, wo die Nordsee mit gischtigen Zungen am Strand leckte.
In einiger Entfernung, versteckt zwischen den Dünen, starrte ein Augenpaar auf den Mann, der mit dem kleinen weißen Hund den Spülsaum entlangging, den Blick suchend zu Boden gesenkt, sich ab und zu bückend. Immer wieder betrachtete der Mann prüfend kleine Gegenstände in seiner hohlen Hand, um sie dann entweder zurück ins Meer zu schleudern oder in seiner Hosentasche zu versenken.
Perfekt! Es lief alles nach Plan.
Der Beobachter nestelte ein klobiges Handy aus seiner Tasche. Mit einem langen Daumendruck auf das Tastenfeld aktivierte er die jungfräuliche SIM-Karte, dann schaltete er auf Videomodus. Während in einer Ecke des Displays ein roter Punkt zu blinken begann, fokussierte der Kamerasucher den Mann am Strand.
Die langsam aufgehende Sonne brach durch die Wolken und tauchte die Regenkulisse am Horizont in einen silbrig hellen Saum. Doch wesentlich heller als der anbrechende Tag war die grellweiße Stichflamme, die plötzlich aus der Hosentasche des Strandspaziergängers schoss!
Der Beobachter wandte seinen Blick nicht vom Display, in dem die Silhouette des Mannes hektisch zu strampeln und um sich zu schlagen begann. Der Regen schien keine löschende Wirkung zu haben, denn innerhalb weniger Sekunden breitete sich das Feuer aus, hatte bereits vom gesamten Hosenbein Besitz ergriffen und sprang nun auf die Jacke über. Die ganze rechte Körperhälfte des Mannes stand in Flammen! Er schrie und rannte panisch ins Meer. Das Bellen des ihn umspringenden Hundes wurde lauter, schriller. Das Tier spürte die Todesangst seines Herrchens und folgte ihm bellend in die Wellen. Dort fiel der Mann auf die Knie, die Fluten brachen über ihm zusammen – aber er brannte einfach weiter!
Die Überraschung ließ ihn schlagartig verstummen. Doch schon kurz darauf wehte der Wind neben dem hysterischen Gekläffe auch wieder seine markerschütternden Schmerzensschreie über den Dünenkamm. Der Mann brannte lichterloh und schrie wie von Sinnen – weil er verstanden hatte, dass das Meer ihm nicht die erhoffte Rettung brachte. Und weil niemand kam, um ihn zu retten.
Der Beobachter lächelte und filmte weiter die menschliche Fackel im Meer, bis die Schreie schließlich verstummten und der brennende Mann im seichten Wasser zusammenbrach.
DIENSTAG
1
Der Morgen war noch jung und die Luft vom nächtlichen Sturm wie gewaschen: frisch und feucht. Nora joggte über das nasse Kopfsteinpflaster, die dunkelblaue Wollmütze mit dem Polizei-Schriftzug tief über Ohren und Stirn gezogen. Neben Noras gleichmäßigen Laufschritten war nur das Aufklatschen der Wassertropfen zu hören, die von den noch regennassen Reetdächern auf die Straße perlten. Und in einiger Entfernung das leise Tuckern von Dieselmotoren.
Nora genoss diese morgendliche Einsamkeit, in der Billersby noch schlief und sie die leeren Straßen und den weiten Himmel für sich alleine hatte. Sie sog die kühle Luft tief in ihre Lungen ein und lächelte. Der Morgen roch nach Salz und Meer. Nach Heimat.
Nora kannte jede Straße, jedes Haus. Sie war hier aufgewachsen. Zwar waren auf Wikipedia stolze viertausendachthunderteinunddreißig Einwohner notiert, aber im Grunde war Billersby ein sehr überschaubarer Mikrokosmos, ein Dorf; die meisten Einwohner waren einander bekannt, wenn nicht sogar miteinander verwandt.
Nach und nach gingen in den Wohnstuben die ersten Lichter an. Der Schein glomm warm und weich durch die Ritzen der Fensterläden, und es kam Nora so vor, als wollten die Billersbyer freundlicherweise den Weg ihrer Joggingrunde beleuchten.
An der Post mit dem altertümlichen Briefkasten, der nur einmal täglich geleert wurde, bog sie in einen kleinen, kaum sichtbaren Querweg ab. Die Abkürzung zum Hafen. Die Gasse war so eng, dass Autos hier nicht fahren konnten. Aber die meisten Wege in Billersby legte man eh zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurück. Die holprigen Kopfsteinstraßen wurden hauptsächlich von Lieferanten oder fußfaulen Touristen befahren.
Ohne ihr Tempo zu verlangsamen, wich Nora einem von der Hauswand hängenden Rosenzweig aus und sprang leichtfüßig über ein vom Sturm verwehtes Fahrrad. Dann endete die Gasse, und der Vorplatz des Hafens tat sich vor ihr auf.
Das kleine Hafenbecken war umrahmt von alten, roten Backsteinbauten mit Treppengiebeln, deren Spitzen vereinzelt mit Wetterfahnen in Form von Dreimastern oder Fischen gekrönt waren. Diese Häuserfront bildete schon seit über hundert Jahren das Herzstück von Billersby. Hier war der Marktplatz, hier wurde gekauft, gelebt, geschnackt und getratscht, hier kamen Jung und Alt zusammen. Nora konnte sich an kaum einen Tag ihres Lebens erinnern, an dem sie den Hafen von Billersby nicht gesehen hatte, und doch erblickten ihre Augen den Glanz dieser friesischen Schönheit jeden Morgen wie zum ersten Mal.
Nora lief die Promenade entlang, vorbei am Deichgraf mit seinen acht Gästezimmern und der Windsbraut, wo – so wurde gemunkelt – unter der Theke ein Selbstgebrannter ausgeschenkt wurde, der ungeübte Trinker kurzzeitig erblinden ließ. In Töven’s Backstube nebenan brannte schon Licht, das Enna Tövens groß gewachsene Silhouette auf das nasse Pflaster warf. Noras Fuß federte durch den Schatten der Bäckerin, dann hatte sie auch schon das Café Möwe erreicht, das allerdings noch in völliger Dunkelheit lag.
Früher war dort ein kleines Buddelschiffmuseum gewesen. Doch als der olle Jansen mit über dreiundneunzig starb, hatte sich keiner gefunden, der das Kleinod weiterführen wollte. Also hatte ein Burn-out-Banker aus Frankfurt den Laden gekauft und die Buddelschiffe liebevoll als Deko für sein ansonsten sehr modern eingerichtetes Café übernommen. Nora war unsicher gewesen, ob sich das Café Möwe in Billersby lange halten würde. Aber offenbar hatte sie den Bedarf an Soja-Latte-macchiato, Vanilla-Chai und veganen Cupcakes unterschätzt. Nach nur einem Jahr war das Möwe aus Billersby nicht mehr wegzudenken. Einheimische wie Touristen liebten das Café, wohl auch wegen der unzähligen Buddelschiffe, in denen der kinderlose Jansen irgendwie weiterlebte.
Sie joggte weiter, vorbei an einem über die Grenzen von Billersby hinaus bekannten Fischrestaurant, dem kleinen Teekontor sowie dem Büro des Hafenmeisters und erreichte schließlich, im äußersten Giebelhaus, die winzige Polizeiwache. Nora stemmte einen Fuß auf die ausgetretenen Stufen des Aufgangs und dehnte ihre müden Beine. Wie oft sie hier schon hinaufgegangen war, konnte sie gar nicht mehr zählen. Und wie oft sie bis zur Pensionierung noch hier hochgehen würde, auch nicht …
Für einen Wimpernschlag überfiel Nora Wehmut. Wäre alles nach Plan gelaufen, wäre sie jetzt in Flensburg, als festes Mitglied eines Ermittlerteams und mit einem Stern mehr auf den Schulterklappen. Nie würde sie Joosts Gesicht vergessen, als sie ihn über ihr Versetzungsgesuch unterrichtet hatte. Er hatte es zwar nie ausgesprochen, aber sie hatte auch so gewusst, dass er sie sich als seine Nachfolgerin wünschte. Doch mit Anfang dreißig hatte Nora sich zu jung gefühlt, um in Billersby schon ihre Endstation zu sehen. Sie wollte zeigen, dass sie mehr draufhatte, als falsch parkende Touristen zu ermahnen oder den Tathergang der sich alljährlich zum Edda-Fest häufenden Körperverletzungen zu ermitteln.
Die Ausschreibung der Kriminalpolizei in Flensburg war ihr wie ein Zeichen vorgekommen. Wie eine Einladung, ein bisschen mehr aus ihrem Leben, aus ihren Möglichkeiten zu machen. Und nachdem sie sich einem anspruchsvollen Aufnahmeverfahren gestellt hatte, war ihr aus einer Vielzahl an Bewerbungen die Stelle tatsächlich zugesprochen worden.
Noras Glück war grenzenlos gewesen. Auch wenn Joosts entgeisterter Gesichtsausdruck sie getroffen hatte. Doch ihr Chef und Ziehvater hatte seine persönliche Enttäuschung schnell wieder in den Griff bekommen und sich schon kurz darauf ehrlich für sie gefreut. Er kannte ihre Ambitionen, und natürlich wünschte er ihr nur das Beste für den weiteren Karriereweg.
Mit Menkes Reaktion umzugehen war für Nora schon schwieriger gewesen. Die beiden waren nicht nur Arbeitskollegen, sondern auch seit Ewigkeiten enge Freunde, sie kannten sich seit Kindertagen. Doch als Nora ihm von ihrem Weggang nach Flensburg erzählt hatte, hatte Menke ihr panisch seine Liebe gestanden! Er hatte geglaubt, sie so halten zu können. Aber auch das hatte Nora, die seine über eine Freundschaft hinausgehende Zuneigung schon lange gespürt, aber immer wieder sanft zurückgewiesen hatte, von ihrem Entschluss, nach Flensburg zu gehen, nicht abrücken lassen.
Mit Joosts anfänglicher Enttäuschung und Menkes Liebesschmerz hatte sie noch irgendwie umgehen können, aber nicht mit der Sache mit Niklas. Das traf sie völlig unvorbereitet – und mitten ins Herz.
Wie er zitternd vor ihrer Tür gestanden hatte. Mit dem Überlandbus aus Berlin nach Hamburg, dann weiter per Anhalter in Richtung Norden, den Rest zu Fuß. Neunzehn Kilometer. Im Regen. Nicht mehr wirklich drauf, aber auch noch nicht richtig clean. Mit jedem Schritt schleppte er sich durch eine Realität, in der er zu schwer zum Schweben, aber zu leicht für Bodenhaftung war.
Natürlich war Nora nicht nach Flensburg gegangen. Sie hatte keine Sekunde gezögert und war geblieben.
Dass ausgerechnet Thies ihr ins Gewissen geredet und geraten hatte, auf ihre eigenen Bedürfnisse zu achten, war ihr wie Hohn vorgekommen. Und hatte sie in ihrem Entschluss nur bestärkt. Sie war nicht wie Thies. Sie rannte nicht weg, sie stellte sich den Anforderungen, die das Leben an sie stellte.
Der ganze Ärger darüber, dass Niklas nicht mal zur Beerdigung ihres Vaters gekommen war, dass er sie mit allem allein gelassen hatte, weil er sich in Berlin selbst verwirklichte und zu wissen glaubte, dass sie stark war und allein klarkam, er aber tatsächlich keinen Schimmer davon gehabt hatte, wie sehr sie ihn gebraucht hätte – all das war schlagartig vergessen. Jetzt brauchte er sie, und sie war da. So, wie es immer gewesen war. Und immer sein würde.
Ein Jahr war das jetzt her. Joost hatte sich so sehr gefreut. Doch er war nicht dumm; er wusste, dass Nora auf der kleinen Wache in Billersby unter ihren Möglichkeiten blieb. Deswegen hatte er ihr den Fall des ausgebrannten Autowracks übertragen.
Vor vier Wochen hatte plötzlich das schwarze Metallgerippe des ehemaligen Opel Kleinwagens auf der Landstraße zwischen Billersby und Locklund gestanden, wie das Skelett eines gestrandeten Wals. In einer fast schon absurden Ernsthaftigkeit hatte Joost so getan, als sei das eine Ermittlung, die den Kapitalverbrechen der Kripo Flensburg ebenbürtig war. Nora wusste, dass er es nur gut meinte, dass er ihr eine Nuss zu knacken geben wollte. Und daher ärgerte es sie umso mehr, dass sie bisher weder den Halter des Fahrzeugs noch die Vandalen, die es abgefackelt hatten, hatte ermitteln können. Da das Auto komplett ausgebrannt war, gab es keinerlei Fingerabdrücke oder andere verwertbare Spuren. Noch hatte Nora den Fall nicht zu den Akten gelegt. Auch wenn es keine weiteren Hinweise mehr gab und Joost ihr signalisiert hatte, dass er den Vorfall lediglich für eine asoziale Form der Müllentsorgung hielt. Aber sie wusste, dass sie diese Akte nicht schließen würde, bevor sie das Rätsel gelöst hatte. Und wenn es bis zu ihrer Pensionierung dauern würde. Sie konnte wahnsinnig hartnäckig sein. Niklas nannte das verbissen, sie selbst bevorzugte den Terminus ausdauernd.
Und solange sie diesen Fall nicht aufgeklärt hatte, durfte sie überhaupt nicht von größeren Ermittlungsaufgaben träumen! Nora wusste, dass diese Selbstgeißelung auch eine Ausrede war, um mit ihrem Verbleib in Billersby demütiger umzugehen.
Aber der Wunsch nach einer beruflichen Perspektive war in den letzten Monaten ohnehin erst von ihren Sorgen und dann von ihrer Dankbarkeit, dass Niklas endlich von seinem Drogen- und Medikamentenmissbrauch losgekommen war, in den Hintergrund gedrängt geworden. Ihr Bruder hatte sich wieder komplett gefangen. Und war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten. Mit der Marleen fuhr Niklas nun regelmäßig zum Krabbenfischen hinaus. Kein schlechtes Geschäft, wenn man sich darauf verstand. Und liebte, was man tat. Für beides hatte er Flint.
Nora wechselte das Bein und dehnte die andere Seite, während ihr Blick das Hafenbecken entlangwanderte. Wenn vor der prächtigen Promenadenfront die bunt beflaggten Krabbenkutter lagen, war der Hafen von Billersby ein fast schon kitschiges Fotomotiv. Jetzt allerdings war das Hafenbecken leer.
Fast leer …
Nora zog überrascht die Brauen hoch. Warum lag die Marleen noch an ihrem Ankerplatz? Niklas und Flint müssten doch längst draußen sein!
Nora straffte sich und lief quer über den Platz auf den kleinen roten Kutter zu. Hinter dem Führerhaus kam Flint zum Vorschein. Der alte Seebär saß missmutig an Deck, eine kalte Pfeife im Mundwinkel, und flickte Netze.
„Moin!“
Ein stummes Nicken war seine Antwort. In den über dreißig Jahren, die der Bootsmann mit ihrem Vater auf der Marleen zum Fischen gefahren war, hatte er größtenteils nonverbal kommuniziert.
Nora schaute suchend über das Deck.
„Ist Niklas nicht hier?“
Flints Antwort: ein ärgerliches Pfeifenzucken.
Noras Blick wanderte über die Netze, die durch Flints rissig raue Hände glitten. Trocken. Ihre Hoffnung, dass die Marleen von einem Nachtfang schon wieder zurück im Hafen war, zerbröselte wie alter Seetang. Der Kutter hatte ganz offensichtlich schon seit geraumer Zeit keine Krabben mehr aus der Nordsee gezogen.
Ihre Sportuhr piepte. Der Timer! Sie musste nach Hause, duschen, sich umziehen. Bald begann ihre Schicht. Aber heute Abend würde sie bei Niklas vorbeischauen. Mal nachfragen, wie er sich seine weitere Krabbenfischer-Karriere vorstellte.
Seit ihrem Streit hatte sie sich fest vorgenommen, ihm eine längere Leine zu lassen. Seine Vorwürfe hatten sie getroffen. Weil sie zutrafen. Mit vierundzwanzig konnte er selbst auf sich aufpassen. Er war ihre Beschützerhaltung leid. Sie musste aufhören, immer die Kontrolle haben, immer alles wissen und planen zu wollen. Vertrauen, Nora! Lange Leine!
Nora nickte Flint freundlich zu, dann wandte sie sich zum Gehen.
„Wenn Niklas nich’ mehr fischen will, soll er’s sagen. Ich komm auch woanders unter.“ Nora hatte fast vergessen, wie Flints Stimme klang. Das letzte Mal hatte sie sie am offenen Grab ihres Vaters gehört. Damals war sie leise und brüchig gewesen, von ehrlicher Trauer um einen alten Kameraden fast erstickt. Jetzt hingegen färbte Zorn sein Timbre dunkel.
Überrascht drehte sich Nora zu ihm um.
„Wie meinst du das?“
Flint stand auf, spuckte über die Reling ins Hafenbecken, ohne dass ihn die Pfeife dabei irgendwie störte, und schaute Nora aus alten, klugen Augen an.
„Als ich heute Morgen kam, war der Motor noch warm. Keine Ahnung, was er nachts mit der Marleen macht. Aber mich versetzt er immer wieder. Das is’ nich’ fein!“
Eine steile Falte grub sich zwischen Noras Brauen. Doch sie zwang sich zu einem freundlichen Gesicht.
„Das tut mir leid, Flint. Ehrlich. Ich rede mit ihm.“
Der Alte quittierte Noras Versprechen mit einem Nicken, dann wandte er sich wieder den Netzen zu.
Lange Leine am Arsch! Nora zückte ihr Handy. Doch noch während sie Niklas’ Nummer wählte, sprintete sie los.
2
Das aggressive Klopfen ließ keinen Zweifel daran, wer vor seiner Haustür stand.
Niklas sprang aus dem Bett, in das er sich erst vor einer Stunde gelegt hatte, und hastete zu dem Wäscheknäuel, das in einer Ecke auf dem Boden lag. Nora durfte auf keinen Fall seine nassen Klamotten sehen! Sonst würde sie wieder ihre nervigen Fragen stellen. Hastig stopfte Niklas die nassen Sachen in den Schrank und drückte die alte Holztür so fest zu, dass die Scharniere ächzten.
Ein Schlüssel knirschte im Schloss. Die Haustür schwang auf. „Niklas? Bist du da?“
Wütend stürmte Niklas auf seine Schwester zu. „Der Schlüssel ist für Notfälle!“ Nora hob beschwichtigend die Hände: „Hätte ja einer sein können.“
Eilig fuhr Noras Blick Niklas vom Scheitel bis zur Sohle ab. Die Muskeln an Brust und Oberarmen, die sich selbst unter dem zerknitterten Schlaf-T-Shirt abzeichneten, dazu die zerwühlten blonden Haare, der aufgrund einer seit Tagen hinausgeschobenen Rasur immer dichter werdende Stoppelbart sowie die von dunklen Ringen verschatteten, aber dennoch – oder gerade deshalb – strahlend blauen Augen: Selbst in völlig ramponiertem Zustand machte ihr Bruder noch eine gute Figur. Er wirkte zwar völlig übernächtigt, aber zumindest schien er unversehrt.
„Wieso gehst du nicht ans Handy?“
„Weil ich geschlafen habe!“
„Und wieso schläfst du noch? Die Tide war um vier.“
„Hat die Polizei in Billersby wirklich nichts Besseres zu tun, als meine Arbeitszeiten zu kontrollieren?“
Niklas’ Sarkasmus saß! Tatsächlich hatten Joost, Menke und sie kaum etwas Besseres zu tun … Sofort musste sie wieder an das ausgebrannte Autowrack denken. Das einzige ungelöste Rätsel in Billersby.
„Nora, warum bist du hier?“
„Flint wartet am Hafen auf dich.“
Niklas seufzte hörbar. „Das ist ein Ding zwischen Flint und mir. Misch dich da nicht ein!“
„In Ordnung.“ Nora nickte bedächtig und drehte sich langsam zur Tür. „Ich frage mich einfach, wann du das letzte Mal mit der Marleen draußen warst.“ Ruckartig krallten sich ihre blauen Augen an Niklas fest. „Zum Fischen, meine ich.“
Der Schreck durchfuhr Niklas wie ein Stromstoß!
Fuck! Wusste sie etwas?
Er spürte, wie Nora ihn fixierte. Jetzt nur nicht nervös werden.
Gleichgültiges Achselzucken. Dann schaute er sie an.
Doch Noras Blick war weitergewandert und richtete sich starr auf etwas unter seinem Bett. Niklas sah, was Nora sah: den Zipfel einer aufgerissenen Kondompackung. Jackpot! Seine Unordentlichkeit rettete ihm den Arsch. Musste Nora ja nicht wissen, dass das schon seit einer Woche da lag …
„Weißt du, man kann auf so einem Boot auch noch was anderes machen, als immer nur beschissene Krabben aus dem Meer zu holen. Etwas, was wirklich Spaß macht.“
„Kenn ich sie?“
Noch bevor Niklas entrüstet schnaufen konnte, hob Nora schon entschuldigend die Hände. „Das geht mich jetzt wirklich nichts an.“
Doch Noras herausfordernder Blick stand in krassem Gegensatz zu ihren Worten. Es war klar, dass sie über kurz oder lang einen Namen hören wollte. Die altbekannte Wut kroch Niklas’ Rücken hoch, kribbelte durch seine Arme und sammelte sich in seinen zu Fäusten geballten Händen. Hatte sie aus ihrem letzten Streit denn gar nichts gelernt? Wieso hatte sie ihren beschissenen Beschützerinstinkt und ihre professionelle Neugierde nicht besser im Griff? Wieso konnte sie nicht einfach Ruhe geben? Warum machte sie es ihm verdammt noch mal so schwer?
Das schrille Klingeln von Noras Handy zerriss die angespannte Stimmung. Ein kurzer Blick aufs Display, dann nahm sie den Anruf an. Sofort schallte eine aufgeregte Stimme aus der Lautsprechermuschel. Niklas verstand nichts von dem, was aus Menke heraussprudelte, erkannte aber auf Noras Gesicht den Ernst der Lage.
„Ich bin in zehn Minuten da!“
Nora beendete das Telefonat und steckte das Handy wieder in die Reißverschlusstasche ihrer Joggingjacke. Dann wandte sie sich Niklas zu. „Ich muss los.“
Noras ernste Miene passte so gar nicht zu dem, was sonst in Billersby in den Aufgabenbereich der Polizei fiel.
„Was Schlimmes?“
Niklas hatte plötzlich Angst, dass sie jetzt eine Autokollision erwähnen würde, deren Todesopfer sie seit Kindertagen kannten. Oder einen tödlichen Treppensturz. Irgendetwas in der Art, das einem wieder vor Augen führte, wie klein Billersby und wie endlich das Leben war.
„Am Strand … ist jemand verbrannt.“
„Was?“
Niklas starrte Nora fassungslos an. Die ging entschlossen zur Haustür.
Doch dann drehte sie sich noch einmal ruckartig um, zog ihn an sich und drückte ihn so fest, dass er glaubte, ihr Herz in seinem Brustkorb schlagen zu spüren. Die Wärme ihres Körpers und der vertraute Geruch von Geborgenheit, der in den Haaren seiner Schwester hing, ließen ihn kurz weich werden. Nora war Familie. Nora war Sicherheit. Sie würde sich für ihn in Stücke hauen lassen. Wofür er im Gegenzug zu feige wäre. Er schämte sich für diesen Gedanken und schwor sich, ihr in Zukunft ein besserer Bruder zu sein.
Ihre Lippen kitzelten sein Ohr.
„Ich hab dich lieb.“
Ihr Flüstern war wie Wasser in der Wüste.
Und sofort tat es ihm wieder leid.
„Ein packender Kriminalroman, der Lust auf weitere Fälle mit diesem Ermittlerduo macht.“
„Der flüssige Schreibstil, die flotten Dialoge und die moralische Frage, wie weit ›frau‹ gehen kann bzw. darf, um der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen, machen ›Gefährliche Gischt‹ zu einem lebhaften, spannenden und sehr lesenswerten Krimi.“
„Fesselnd von der ersten bis zur letzten Seite.“
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