#GermanDream — Inhalt
German Dream statt German Angst
Was ist Deutschland heute? Wie wollen wir als Gesellschaft zusammenleben? Vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen als Kriegsberichterstatterin und Menschenrechtsaktivistin macht sich Düzen Tekkal stark für eine neue Art von Verfassungspatriotismus: für ein Bewusstsein der Kostbarkeit unserer demokratischen Werte, gepaart mit der Bereitschaft, für sie einzustehen, wenn sie bedroht werden. Für dieses Buch führte sie Gespräche mit prominenten Vertretern aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Und sie erzählt Geschichten von Menschen, die sich ihren Traum von einem freien Leben verwirklicht haben und nun prägender Teil unserer Gesellschaft sind. Ein engagierter Aufruf, für die Werte des Grundgesetzes einzustehen und sich für das Gemeinsame in der Vielfalt starkzumachen.
Enthält Gespräche mit Janina Kugel, Cem Özdemir, Wolfgang Schäuble u. a.
Leseprobe zu „#GermanDream“
Vorwort
Seit ich denken kann, habe ich es als Privileg betrachtet, in einem Land wie Deutschland leben zu können. Nichts ist selbstverständlich auf dieser Welt, und Frieden und Freiheit sind es schon gar nicht. Deutschland hat es mir ermöglicht, als eines von elf Kindern einer kurdisch-jesidischen Familie Bildung zu erwerben und den Beruf zu ergreifen, den ich wirklich ergreifen wollte. Nicht zuletzt durch meine Arbeit als Kriegsberichterstatterin ist mir immer wieder bewusst geworden, wie wertvoll dieser „deutsche Traum“ ist. Wir müssen ihn beschützen, [...]
Vorwort
Seit ich denken kann, habe ich es als Privileg betrachtet, in einem Land wie Deutschland leben zu können. Nichts ist selbstverständlich auf dieser Welt, und Frieden und Freiheit sind es schon gar nicht. Deutschland hat es mir ermöglicht, als eines von elf Kindern einer kurdisch-jesidischen Familie Bildung zu erwerben und den Beruf zu ergreifen, den ich wirklich ergreifen wollte. Nicht zuletzt durch meine Arbeit als Kriegsberichterstatterin ist mir immer wieder bewusst geworden, wie wertvoll dieser „deutsche Traum“ ist. Wir müssen ihn beschützen, denn er ist gefährdet. Viele der Werte, die unser Zusammenleben und damit unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung definieren, werden zunehmend infrage gestellt, wenn nicht sogar bewusst abgelehnt – von Rassisten und Rechtsextremisten ebenso wie von religiösen Extremisten.
Vielleicht bemerken es Migranten und Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte besonders früh, wenn in diesem Land die Dinge ins Rutschen geraten. Unsere Sinne sind geschärft. Wir wissen, wie kostbar, aber auch wie zerbrechlich vieles von dem ist, was manche Alteingesessene kaum mehr wahrnehmen, weil es schon so lange zu ihrem Alltag gehört. Wir wissen, was es heißt, wenn sich Mehrheiten im Namen der Nationalität oder der Religion gegen Minderheiten wenden, wenn Hass entfesselt und Spaltung betrieben wird.
Überlegungen wie diese veranlassten mich dazu, dem Buch, das ich 2016 veröffentlichte, den Titel Deutschland ist bedroht zu geben. Ich wollte aufrütteln und zum Gegenhalten auffordern. Damals legte man mir den Titel häufig als Alarmismus aus, als populistischen Versuch, Angst zu schüren und dadurch mehr Leser anzulocken. Dabei lag mir nichts ferner. Möglicherweise hätte ich an meiner ersten Idee festhalten und den Titel Mein Deutschland ist bedroht wählen sollen. Vielleicht wäre so deutlicher geworden, dass es sich bei diesem Buch, in dem ich aus meinem Leben und damit nicht zuletzt von den Chancen erzählte, die sich mir eröffnet hatten, eigentlich um eine Liebeserklärung an Deutschland handelte. Eine sorgenvolle Liebeserklärung, gewiss. Aber eben auch eine, die sich nicht in düsteren Zustandsbeschreibungen erschöpfte, sondern, so hoffte ich, in die Zukunft wies.
Ein Kapitel lag mir dabei besonders am Herzen. Es hieß „German Dream statt German Angst“ und skizzierte die Richtung, in die ich wollte: weg von Zögerlichkeit, Verzagtheit und eben Angst, hin zu Zuversicht, Mut und Entschlossenheit. Der Historiker Frank Biess hat erst unlängst in seiner Studie Republik der Angst die Geschichte der Bundesrepublik neu und anders erzählt, nämlich als „Geschichte aufeinanderfolgender Angstzyklen“. Er konnte zeigen, dass es sich bei der spezifisch bundesrepublikanischen Version der Angst nicht um eine „nationale Pathologie“ handelte, sondern um eine wohlbegründete Reaktion auf die zurückliegende Barbarei des Nationalsozialismus. Die Erinnerung an das Vergangene prägte die Wahrnehmung der Gegenwart und beförderte die vielfältigen Formen von Angst im Lauf der Jahrzehnte: Angst vor Vergeltungsmaßnahmen der Alliierten, vor Wiederbewaffnung und Kaltem Krieg; Angst vor dem Freiheitsstreben der Studenten und dem Terrorismus der RAF.
Der Begriff German Angst, wie er im Englischen „Karriere“ gemacht hat – einer der wenigen deutschen Ausdrücke neben kindergarten, wanderlust und blitzkrieg –, meint dagegen tatsächlich einen den Deutschen kollektiv zugeschriebenen Gefühlszustand. Er ist, auch das lässt sich bei Frank Biess nachlesen, noch gar nicht so alt. Erst in den 1980er-Jahren wurde er zum ersten Mal verwendet, als die Angst vor der atomaren Nachrüstung, dem Waldsterben und, etwas später, vor dem ersten Irakkrieg die Deutschen in der internationalen Wahrnehmung als besonders angstbehaftet erscheinen ließ. Seitdem ist die German Angst zum geflügelten Wort geworden und gilt als Synonym für Bedenkenträgertum, Mutlosigkeit und übergroße Besorgtheit.
Ich finde mich in diesem Bild eines engstirnigen Deutschlands, eines Deutschlands voller Ängste, Grenzen und Mauern nicht wieder. Das ist nicht das Land, das ich erlebe. Das ist nicht mein Deutschland. Schlimm genug, dass viele diese negative Selbsteinschätzung zu teilen scheinen. Aber ich muss da ja nicht mitmachen. Ich will dem etwas anderes, Positiveres entgegensetzen. Wo ist das Narrativ von einem chancenreichen Deutschland? Von einem Land der Werte, der Selbstbestimmung und Gleichberechtigung? Von einem Land, in dem sich Träume erfüllen können? Wo ist die Erzählung vom German Dream?
Viel zu oft fragen wir uns, was uns unterscheidet, nur ganz selten, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Dabei ist es heute wichtiger denn je, einen emotionalen und zugleich vernünftigen Diskurs, der sich auf die gelebte Wirklichkeit der großen Mehrheit beruft, zu etablieren und dann auch selbstbewusst zu vertreten. Denn wenn wir es nicht tun, wenn wir diesen Raum in der Öffentlichkeit nicht besetzen, dann werden das Extremisten jeglicher Couleur übernehmen.
Am Ende meines Buches schrieb ich: „Der German Dream ist stärker als die German Angst. Damit der Traum in Erfüllung gehen kann, müssen alte und neue Deutsche weiter gemeinsam daran arbeiten. Mit dem German Dream ist ein Patriotismus verbunden, der sich nicht an der Herkunft der Deutschen, sondern an gemeinsamen Werten festmacht. Dass dieser Traum eines Tages Wirklichkeit wird, dafür lebe ich.“
Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und doch ist seitdem einiges passiert. Viele Menschen haben mir dabei geholfen, das, was 2016 nur ein Entwurf von wenigen Seiten war, in etwas weitaus Größeres zu verwandeln – in die überparteiliche und gemeinnützige Bildungsinitiative German Dream. Sie verfolgt vor allem zwei Ziele: Zum einen möchte sie eine Debatte darüber anstoßen, wie wir in Zeiten großer Herausforderungen künftig als Gesellschaft zusammenleben wollen. Zum anderen sollen die Werte des Grundgesetzes vor allem jungen Menschen wieder und neu nahegebracht werden.
Wie beides und damit der German Dream gelingen kann, davon handelt dieses Buch. Es enthält persönliche Geschichten von Emanzipation, Gemeinsinn und Engagement, aber auch ganz konkrete Vorschläge zu einer neuen Integrationspolitik oder eine Kritik identitätspolitischer Vereinzelung. Immer steht dabei das im Mittelpunkt, was uns verbinden könnte, über alle politischen, ideologischen oder religiösen Gräben hinweg: das Ergreifen der Möglichkeiten, die uns dieses Land mit seinen demokratischen Werten bietet.
Dazu kommen Gespräche, die ich für dieses Buch geführt habe: mit Frauen in Führungspositionen wie Magdalena Rogl und Janina Kugel; mit Politikern wie Cem Özdemir und Wolfgang Schäuble, aber auch mit einem 17-jährigen Schüler oder einer in Deutschland lebenden Jesidin, deren Familie dem Völkermord durch den IS zum Opfer gefallen ist. Sie alle verkörpern, jeweils auf ihre ganz eigene Weise, den German Dream und stehen damit – trotz aller Herausforderungen, die es zu bewältigen gilt – für ein Deutschland der Chancen und der Zuversicht.
Düzen Tekkal
im Januar 2020
Es geht doch immer um das Leben
Eine Art Heimkommen
Er hatte es wieder gesagt: „Die mutige Kurdin ist da!“ Das war fast schon ein Ritual geworden. Wann immer ich das Dilshad Palace Hotel in Dohuk betrat und der Hotelchef mich erblickte, begann er zu lachen und mich auf seine ganz eigene Weise zu begrüßen. Ich freute mich, ihn zu sehen. Er war mit allen Wassern gewaschen, ihm machte niemand so schnell etwas vor. Auf mich wirkte er wie jemand, der seine Furcht vor der Welt bereits vor längerer Zeit begraben hatte. In seinem Haus war schon so mancher Politiker, so mancher Journalist abgestiegen, und fast immer in den letzten Jahren war es in ihren Gesprächen um den Krieg gegangen. Mossul, die nordirakische Stadt, in der der IS-Anführer Abu Bakr al-Baghdadi im Juni 2014 die Gründung seines Kalifats ausgerufen hatte, liegt nur gute siebzig Kilometer entfernt.
Hier war ich also wieder, in der Autonomen Region Kurdistan, in diesem Hotel, das sich auf Luxus geschminkt hatte, die Risse in der auf den ersten Blick so glatt wirkenden Oberfläche aber zum Glück nicht verbergen konnte. Ich mochte die schon leicht verblichene Eleganz und das etwas Ramponierte. Es zeugte von Leben. Wie immer waren es auch hier die Risse und Sprünge, durch die das Licht hereinkommen konnte, das einem dabei half, die Dinge klarer zu sehen.
Es fiel mir leicht, sofort wieder in diese kurdische Welt einzutauchen. Gemeinsam Erlebtes und Durchgestandenes verbindet. Mit den Leuten hier hatte ich zusammen geweint und zusammen gelacht. Hier hatte ich so oft zu hören bekommen: „Bist du verrückt? Das kannst du doch nicht machen!“ Doch immer hatte man mir dann trotzdem den Rücken frei gehalten bei allem, was ich tat. Irgendwann hatten mich sogar die Entscheidungsträger der Stadt zu sich gerufen. Im Herrenzimmer des Hotels saßen der Bürgermeister, der Uni-Präsident, der Gesundheitsminister und noch einige andere zusammen am Tisch. Natürlich waren es ausschließlich Männer, natürlich wurde Whisky gereicht. Aber sie hörten mir zu, und wir überlegten und diskutierten auf Augenhöhe. Und nach einer Weile hob einer der Männer sein Glas, sah mich an und sagte: „Wir sind stolz auf dich und auf das, was du hier machst.“ Beinahe war es, als hätte er gesagt: Willkommen in der Familie.
Und jetzt, im März 2019, betrat ich mein Hotelzimmer, wie schon so oft, und kehrte zurück in ein längst vertrautes Bild: das holzverkleidete Bett, die schweren Brokatvorhänge, der braune Teppich. Hinter mir fiel die Tür ins Schloss. Plötzlich war alles still. Niemand wollte mehr etwas von mir. Manchmal braucht man solche Momente, in denen man kurz innehalten und Bilanz ziehen kann; in denen man sich fragen kann, auf welchem Abschnitt des Weges man sich gerade befindet. An der Wand hing ein großer Spiegel. Ich stellte mich vor ihn und sah mir ins Gesicht.
„Wenn du hierherkommst, bringst du das Leben mit!“, hatte mir unser Projektleiter vor Ort einmal gesagt, und ich hatte mich sehr darüber gefreut. Aber man kann nicht ewig das Leben mitbringen, ohne Gefahr zu laufen, dass es einem selbst nach und nach abhandenkommt. In diesem Hotel hatte ich so viel erlebt, hier war so viel passiert. Nun sah ich, dass all das einen Preis gekostet hatte. Ich war nicht mehr die, die 2014 zum ersten Mal in den Nordirak gekommen war. Damals waren die Kämpfer des IS nur wenige Kilometer entfernt gewesen. Fünf Jahre lagen diese Tage nun schon zurück, es würden wohl für immer die traurigsten, die heftigsten, aber auch die wichtigsten Tage meines Lebens bleiben. Sie hatten alles verändert. Beim Blick in den Spiegel wurde mir klar, dass ich bei dem, was sich seitdem ereignet hatte, nicht ungeschoren davongekommen war. Die letzten fünf Jahre hatten ihre Spuren hinterlassen.
Weg von hier – das ist mein Ziel
Ich war noch nicht in der Grundschule, als mein Vater mich eines Tages in den niedersächsischen Landtag mitnahm. Von unserem Platz auf der Besuchertribüne aus wollte er mir zeigen, wie die Politiker debattierten und um die Lösung von Problemen rangen. Ich sollte sehen, wie die Demokratie in der Bundesrepublik funktionierte, auf die er selbst so große Stücke hielt, weil sie uns allen ein neues Leben in Freiheit ermöglicht hatte. Beim Verlassen des Landtags sagte er zum ersten Mal einen Satz zu mir, den ich später noch des Öfteren von ihm hören sollte: „Ich möchte, dass du eines Tages einmal Politikerin oder Journalistin wirst.“
Ich fragte zurück: „Warum, Papa?“
„Damit du die Geschichte deines Volkes erzählen kannst.“
„Dein Volk“, damit waren die Jesiden gemeint. Ich bin mir fast sicher: Bis vor ein paar Jahren hätten nicht einmal meine engsten Freunde viel über die Jesiden gewusst. Über diese Religionsgemeinschaft, die eine der ältesten der Welt ist und, im Gegensatz etwa zum Christentum oder dem Islam, keine heilige Schrift kennt – die Glaubensinhalte werden ausschließlich mündlich weitergegeben. Man kann zum Jesidentum nicht konvertieren, Jeside ist man von Geburt. Auch aus diesem Grund herrscht bis heute strikte Endogamie, sprich: keine Ehe mit Nicht-Jesiden. Andernfalls droht der Ausschluss aus der Gemeinschaft.
Die Jesiden siedelten sich in ihrer Geschichte hauptsächlich im Norden des Irak, in Syrien und in der Türkei an. Dort, genauer gesagt in einem kleinen Dorf in Südostanatolien, sind auch meine Eltern zur Welt gekommen. Dort lernten sie sich kennen, dort heirateten sie, und von dort brach mein Vater 1968 auf, um wie viele andere Gastarbeiter in Deutschland sein Glück zu versuchen. Über Umwege landete er in Hannover, und einige Jahre darauf konnte er meine Mutter und meine beiden ältesten, noch in der Türkei geborenen Geschwister nachholen. Aber auch in der Fremde verlor mein Vater die Sache der Jesiden nie aus dem Blick, die in ihren ursprünglichen Siedlungsgebieten immer wieder Unterdrückung und Verfolgung ausgesetzt waren. Daran, dass in den 1990er-Jahren die deutsche Bundesregierung unter Helmut Kohl die Jesiden als verfolgte und asylrechtlich zu schützende Religionsgemeinschaft anerkannte, hat auch mein Vater seinen Anteil.
Ich konnte ihm seinen Wunsch erfüllen. Ich wurde Journalistin. Beim Privatsender RTL lernte ich nicht nur das Handwerk des Filmemachens, sondern auch, mit Belastung und Druck umzugehen. Ausflüchte zählen nicht, wenn ein Beitrag fertig werden muss. Besser lässt man sich erst gar keine einfallen, sondern sorgt dafür, dass man alles bis zur Sendung hinbekommt. Den Stoff für meine Beiträge fand ich auf der Straße. Ich dachte mir nichts aus, und ich beschönigte nichts. Ich zeigte das Leben. Aber ein Leben, das man in großen Teilen Deutschlands vielleicht noch nicht kannte, in manchen migrantischen Communitys dafür umso besser. Es ging um Polygamie und Zwangsheirat, um Intensivtäter und Friedensrichter, um Gewalt und um Ehrenmorde.
Nur um die Jesiden, so wie es sich mein Vater einst erhofft hatte, ging es nie. Das Thema schien einfach nicht quotenträchtig genug. Je mehr Zeit verging, desto stärker spürte ich, dass meine Zukunft nicht beim Privatfernsehen lag. Ich wollte mehr und anderes. Als ich 2013 schließlich kündigte, konnte das keiner verstehen, am allerwenigsten meine Eltern. Auch mein Vorgesetzter war irritiert. Er fragte mich nach den Gründen für meinen Entschluss. Schon in der Schule war mir durch meinen Deutschlehrer eine kleine Geschichte von Franz Kafka nahegebracht worden, die mir seitdem so manches Mal dabei geholfen hat, mich wieder aufs Wesentliche zu besinnen und meinem eigenen Weg zu folgen. Die Geschichte trägt den Titel „Der Aufbruch“ und handelt genau davon, vom Zurücklassen des Alten und der Suche nach Neuem. Sie fiel mir auch im Gespräch mit meinem Vorgesetzten bei RTL wieder ein. Als er mich fragte, wohin ich nun vorhätte zu gehen, gab Kafka mir die Antwort in den Mund: „Weg von hier – das ist mein Ziel.“
Obwohl ich für gewöhnlich eher wenig für Esoterik übrighabe, glaube ich doch daran, dass es für jeden Einzelnen von uns einen Grund gibt, warum er oder sie auf der Welt ist. Ich glaube an Aufgaben, die auf uns warten und die nur von uns allein und von keinem anderen erfüllt werden können. Ich wollte, nein, ich musste die Geschichte meines Volkes erzählen. Ich würde zum Ursprung meiner Religionsgemeinschaft reisen, in die jesidischen Siedlungsgebiete im Nordirak, und meine Eindrücke anschließend in einem Dokumentarfilm verarbeiten. Mein Vater würde mich begleiten, und es würde, wie es bei Kafka heißt, eine „wahrhaft ungeheure Reise“ werden.
Es sollte anders kommen.
Chronistin eines Völkermords
Am 3. August 2014 überfielen IS-Kämpfer die Gebiete der Jesiden im Nordirak. Ihr Ziel war die Auslöschung aller Angehörigen dieser Religion, die auch eine ethnische Minderheit bilden – der Völkermord. Mehrere Tausend Männer und Jungen ab vierzehn Jahren wurden, oft vor den Augen ihrer Familien, getötet. Etwa siebentausend Frauen und Kinder wurden gefangen genommen und verschleppt. Mädchen, manche von ihnen noch nicht einmal zehn Jahre alt, wurden vergewaltigt, zwangsverheiratet und auf Sklavenmärkten verkauft. Wie sie mussten auch die Jungen zum Islam konvertieren. Anschließend wurden sie dazu gezwungen, dem IS als Kindersoldaten zu dienen.
Wer fliehen konnte, schlug sich im Sindschar-Gebirge nahe der syrischen Grenze durch, ohne Wasser und Nahrung in extremer Hitze. Mütter mussten ihre toten Kinder zurücklassen. Schwangere, Alte und Kranke verdursteten. Insgesamt flohen Hunderttausende. Menschen, die niemandem etwas getan hatten, die einfach nur leben wollten, deren Angehörige der IS umgebracht oder entführt hatte, nur weil sie Jesiden waren.
Am 5. August 2014 sah ich auf dem Display meines Telefons zum ersten Mal eine exotische Vorwahl. Von diesem Moment an hörte es nicht mehr auf zu klingeln. Es hatte sich bis in den Irak herumgesprochen, dass es im fernen Deutschland eine jesidische Journalistin gab. Die Menschen, die mich anriefen, fürchteten um ihr Leben. Sie schrien und flehten um Hilfe. Und sie erzählten mir, was der IS ihnen angetan hatte. Das Leid, das diesen Menschen widerfahren war, überstieg all meine Vorstellungskraft.
Was sollte ich tun? Hinfahren oder wegsehen? Einfach wegsehen, wie es fast die ganze Welt gerade tat? Das Leben um mich herum ging weiter, als wäre gar nichts passiert. Ich konnte das nicht verstehen. Ich musste versuchen, etwas dagegen zu tun. So lange schon hatte ich den Film über meine jesidischen Wurzeln drehen wollen. Wie würde ich es vor mir selbst rechtfertigen können, wenn ich jetzt, da das Jesidentum ausgelöscht werden sollte, zu Hause blieb und meiner Aufgabe als Filmemacherin nicht nachkam? Meine Oma hatte mir des Öfteren von der Unterdrückung der Jesiden erzählt, immer war mir das wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht erschienen. Bis jetzt.
Ich flog in den Irak, und mein Vater begleitete mich; genau wie wir es geplant hatten. Nur dass wir jetzt beide zu Chronisten eines Völkermords wurden. Ich bin keine Hasardeurin. Ich hänge an meinem Leben. Und ich wusste, wie gefährlich der Ort war, an den wir reisten – genau eine Woche nachdem der IS den US-amerikanischen Journalisten James Foley enthauptet und Bilder seines toten Körpers ins Netz gestellt hatte. Ja, ich verspürte große Angst, größere als jemals zuvor in meinem Leben. Aber da war auch noch etwas anderes, nämlich der Wille, Zeugnis abzulegen, Öffentlichkeit herzustellen, zu berichten und es nicht zu akzeptieren, dass scheinbar keiner Notiz nahm von dem, was die Menschen, die mich anriefen, erlitten hatten.
Obwohl ich ihre Erzählungen gehört hatte, traf mich das, was ich im Irak erlebte, dennoch vollkommen unerwartet. Wie hätte ich mich auch wappnen können? Niemand vermag sich auf einen Schrecken vorzubereiten, der so fundamental ist, dass er sich letztlich gegen das Begreifen sperrt. Von Erbil aus, der Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan, fuhren wir in die Flüchtlingslager. Ich sah riesige Zeltstädte voller Menschen, die gezeichnet waren von dem, was der IS ihnen angetan hatte; die aber auch wütend waren, weil sie sich im Stich gelassen fühlten. Die Bilder, die sie durch ihre Berichte heraufbeschworen, haben sich genauso in mein Gedächtnis eingebrannt wie das, was ich mit eigenen Augen sah. Jeder Journalist hat den Ehrgeiz, „ganz nah am Thema dran“ zu sein. Aber vielleicht kann man seinem Thema manchmal auch zu nahe kommen. Während dieser Tage kam es mir oft so vor, als würde ich innerlich in Stücke gerissen.
Gleichzeitig stellte sich aber auch eine Art Urvertrauen zu den Menschen ein, die uns vor Ort begleiteten und beschützten. Sie riskierten Leib und Leben für uns, etwa als wir einen jesidischen Kämpfer aus Deutschland an die Front begleiteten. Sie hätten nicht gezögert, sich als lebende Schutzschilde vor uns zu stellen, denn auch sie wollten, dass die Weltöffentlichkeit hinsah und wahrnahm, was geschah. In einer derartigen Ausnahmesituation, in der es buchstäblich um Leben und Tod geht, verliert sich jeder Zweifel. Alles wird ganz klar und eindeutig, und man muss, ob man will oder nicht, zu einer radikalen Ehrlichkeit finden, auch sich selbst gegenüber.
Zuvor hatte die Religion keine allzu große Rolle für mich gespielt. Ich war viel eher damit beschäftigt gewesen, meine Chancen wahrzunehmen für ein Leben in Selbstverwirklichung und Freiheit. Doch der Völkermord an den Jesiden konfrontierte mich auf die denkbar brutalste Weise mit meinen eigenen Wurzeln. Dass Menschen umgebracht worden waren, die wie meine Eltern ausgesehen und dieselbe Sozialisation erfahren hatten wie sie; dass die jesidische Religionsgemeinschaft mit Waffengewalt verteidigt werden musste, ließ auch meine eigene Religiosität nicht unberührt. Ich entdeckte eine Verbundenheit zum Jesidentum, die vielleicht schon immer bestanden hatte, die mir aber erst jetzt wirklich bewusst wurde.
Back to Life
Es klingt makaber, doch es ist leider die Wahrheit – der IS hat den Jesiden zu trauriger Berühmtheit verholfen. Erst als es schon beinahe zu spät war, begann sich die Welt für dieses Volk und sein Schicksal zu interessieren, weil die Bilder von der Flucht der Jesiden aus dem Sindschar-Gebirge keinen, der sie sah, unberührt gelassen haben. Und doch: Was blieb wirklich im Gedächtnis außer ein paar dramatischen Momentaufnahmen? Wen interessiert schon das furchtbare Leid eines vergewaltigten Mädchens, dessen Sprache man nicht versteht und das Tausende von Kilometern von einem entfernt lebt, in einer Region, die der durchschnittliche mitteleuropäische Nachrichtenschauer längst schon abgeschrieben hat, weil er sie nur noch mit Krieg, Mord und Aussichtslosigkeit assoziiert?
Ich möchte mich selbst da gar nicht ausnehmen. Ob ich mich auch in anderen Konflikten, in anderen Fällen von Unterdrückung, Vertreibung und Mord ähnlich engagiert hätte? Vermutlich nicht. Wenn ich vor Schülern stehe und ihnen von meiner Arbeit und vom Jahr 2014 erzähle, dann schäme ich mich immer ein bisschen dafür, dass ich die Reise in den Irak damals nur aus einem Grund unternommen habe: weil ich Jesidin bin. Gleichzeitig möchte ich ihnen dadurch aber auch vermitteln, dass man irgendwann an einen Punkt kommen kann, an dem Wegschauen und Nichtstun keine Optionen mehr sind – weil zu viel von dem auf dem Spiel steht, was Menschen friedlich und in Freiheit und Würde zusammenleben lässt.
Der Dokumentarfilm, den ich aus dem Material, das wir unterwegs gedreht hatten, zusammenstellte, ging aufs Ganze. Es sollte kein Film sein, der auf die Quote schielt; keiner, der die Zuschauer nur kurz packt, bevor sie sich dann schnell wieder ihrem Gespräch über das Abendessen oder den bevorstehenden Wochenendausflug zuwenden. Mir ging es um viel mehr. Mit diesem Film wollte ich jedermann vor Augen führen, was den Jesiden angetan worden war; was es bedeutet, einen Völkermord erleiden zu müssen. Die Stimme der Jesiden war viel zu lange nicht gehört worden, und noch immer drang sie nicht genug an die Öffentlichkeit. Dass sich das änderte, dazu wollte ich beitragen. Daher gab ich dem Film den Titel HÁWAR, was in der kurdischen Sprache nichts anderes bedeutet als „Hilferuf“.
Die über das Internet verbreiteten Bilder und Propaganda-Videos der Täter kannte die ganze Welt. Mit meinem Film wollte ich von den Opfern erzählen. Den Überlebenden sollte eine Stimme gegeben, ihr Leid sollte fassbar werden, zumindest in dem Maße, wie es ein Film zu leisten vermag. Noch beim Drehen im Irak hatte ich mich von allen journalistischen Neutralitätsgeboten verabschiedet. Ich konnte nicht so tun, als gingen mich die Klagen der Frauen in den Flüchtlingslagern oder die Berichte der jesidischen Kämpfer nichts an. Ich war mittendrin, und der Film sollte meine Gedanken und Gefühle auch gar nicht aussparen. Um diesen subjektiven Ansatz von vornherein deutlich zu machen, entschloss ich mich zu dem Untertitel Meine Reise in den Genozid.
Der Film begründete meine Arbeit als Menschenrechtsaktivistin. Seine Wirkung hält bis heute an. Er wurde im Bundestag gezeigt, im Europäischen Parlament, bei den Vereinten Nationen. Er eröffnete uns die Möglichkeit, auf Missstände hinzuweisen, und er gab auch den jesidischen Frauen, die der IS-Gefangenschaft entkommen waren, erstmals die Gelegenheit, ihre Geschichte zu erzählen. Damit wurde ein Tabu gebrochen. Doch das war nötig, denn ich bin fest davon überzeugt, dass das Verschweigen eines Unrechts das Unrecht nur noch größer macht. Eine der Frauen, die im Film zu sehen sind, ist Nadia Murad. Einige Jahre später, im Dezember 2018, sollte sie für ihren Einsatz gegen sexuelle Gewalt als Waffe in Kriegen und Konfliktgebieten mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet werden.
Der Film öffnete so manche Tür, die mir ansonsten verschlossen geblieben wäre. Aber vor allem erlaubte er es mir, mit der Unterstützung von Politikern und Privatpersonen, die Menschenrechtsorganisation HÁWAR.help zu gründen. Sie steht für das Bestreben, eine Welt zu schaffen, in der sich jeder Mensch unabhängig von Geschlecht, Ethnie oder Religion selbstbestimmt und in Sicherheit entfalten kann; in der die Menschenrechte geachtet und in gegenseitiger Toleranz gelebt werden; in der Menschen durch Bildung und eine offene Gesellschaft Chancen ergreifen können.
Konkret heißt das unter anderem, dass wir in vielen Veranstaltungen, beispielsweise in Schulen, über den Völkermord an den Jesiden informieren. Dadurch wollen wir ein allgemeines Bewusstsein schaffen für die Lebenssituationen von Verfolgten. Ihre Chancen auf Bildung und Teilhabe an der Gesellschaft müssen gefördert werden.
Aber wir helfen auch vor Ort, im Irak, wo sich derzeit etwa drei Millionen Menschen auf der Flucht befinden. Ihnen fehlt es an allem. Daher verteilen wir Lebensmittel, Kleidung, Decken und Spielzeug an Frauen und Kinder, die in Flüchtlingslagern leben. Und drittens wollen wir dazu beitragen, Frauen aus IS-Gefangenschaft zu neuer Kraft und Stärke zu verhelfen. Etwa indem wir Räume und Ressourcen zur Verfügung stellen, die es ihnen ermöglichen, neue Fertigkeiten zu erlernen und ihr eigenes Geld zu verdienen. Frauen können als agents of change maßgeblich den Wandel patriarchalischer Gesellschaften vorantreiben. Wenn sich eine Frau emanzipiert, verändert das die ganze Familie und auf lange Sicht auch die Gesellschaft. Im Moment bieten wir knapp neunhundert Frauen – nicht nur Jesidinnen, sondern auch Musliminnen und Christinnen – in unserem „Back to Life“-Center im Irak unter anderem Alphabetisierungs- und Nähkurse an. Die Frauen sollen ermächtigt werden, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. So können sie zu Vorbildern werden, nicht zuletzt für ihre Kinder, denen sie zeigen, dass ein anderes, freieres Leben möglich ist.
Als ich aus dem Irak zurückkam, nahm ich Deutschland mit anderen Augen wahr. Ich hatte gesehen, was passiert, wenn der Pfad der Zivilisation, der Menschlichkeit und des Friedens verlassen wird. Immer beginnt es mit Spaltung und Ausgrenzung, damit, dass man mit dem Finger auf „die anderen“ zeigt. Und dann wird es sehr schnell sehr dunkel. Die jesidischen Frauen unterschieden sich nicht von mir. Wäre ich nicht in Deutschland zur Welt gekommen, sondern im Irak, wäre ich eine von ihnen gewesen. Am falschen Fleck dieser Erde geboren zu sein, kann ausreichen, um zur Zielscheibe zu werden. Die Süße der eigenen Freiheit wird einem zumeist erst dann bewusst, wenn man Menschen begegnet, denen die Freiheit genommen worden ist.
Was für ein Glück, morgens aufzuwachen und frei zu sein. Was für ein Glück, in einem Land zu wohnen, in dem man seine Meinung äußern darf, ohne dafür ins Gefängnis zu wandern; in dem man machen kann, was immer man möchte, wenn man sich an gewisse Spielregeln hält; in dem Frauen und Männer gleichgestellt sind; in dem man seine Wünsche formulieren kann und träumen darf. Was für ein Glück. Dieses Glück ist mein German Dream. Ein Traum von Solidarität, Toleranz und Chancengerechtigkeit. Nie geht es nur um ein Ich, immer auch um ein Wir, um die Gesellschaft als ganze. Ich habe unsere ureigenen bundesrepublikanischen Werte noch einmal neu kennengelernt, als ich aus der Ferne auf Deutschland schaute. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Werte infrage gestellt, bedroht oder mit Füßen getreten werden. Wir müssen uns wehren, gegen dumpfen Nationalismus ebenso wie gegen religiösen Extremismus.
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