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Gestern auf Hiddensee Gestern auf Hiddensee - eBook-Ausgabe

Lilly Wolf
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Roman

— Ein düsteres Familiengeheimnis an der Ostsee während der letzten Tage der DDR
Taschenbuch (18,00 €) E-Book (5,99 €)
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Gestern auf Hiddensee — Inhalt

Ein Neuanfang, eine alte Schuld und jede Menge Inselcharme an der Ostsee.

„Es ging um einen Teil ihrer Vergangenheit, der tiefer ging als ihre Beziehung zu Marius, der noch weiter zurücklag und noch mehr schmerzte. Sie hatte etwas auf Hiddensee zurückgelassen, das sie nun wiederfinden wollte.“ 

Nach dem Tod ihres Lebensgefährten liegt Jennys Welt in Trümmern. Um wenigstens ihren Job in dessen maroder Werbeagentur zu retten, nimmt sie einen Auftrag an der Ostsee an. Mit Mischlingshund Shadow und unangenehmen Erinnerungen im Gepäck macht sie sich auf zur Insel Hiddensee. Dort trifft sie auf ihren Kindheitsfreund Eric. Jenny gibt sich noch immer die Schuld daran, dass Erics Familie nach einer vereitelten Flucht aus der DDR auseinandergerissen wurde. Zögerlich kommen sich die beiden wieder näher und Jenny entdeckt ein Geheimnis, das ihre Vergangenheit und Zukunft in Frage stellt ...

€ 18,00 [D], € 18,50 [A]
Erscheint am 30.05.2025
296 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-50824-7
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€ 5,99 [D], € 5,99 [A]
Erscheint am 30.05.2025
296 Seiten
EAN 978-3-377-90190-3
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Leseprobe zu „Gestern auf Hiddensee“

Prolog

1988

Am letzten Tag vor der Abreise gingen die Eltern mit Jenny Eis essen. Zwei Kugeln Erdbeereis in einer Muschelwaffel, für das sie lange anstehen mussten. Sie bekam Bauchweh davon. Im Gegensatz zu ihren Eltern erkannte sie trotz ihrer acht Jahre den armseligen Trost darin.

„Jetzt ein letztes Mal an den Strand?“, fragte ihre Mutti.

Die Eltern reagierten nicht auf ihr Schulterzucken, sie hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Lustlos trottete sie hinter ihnen her. Sandkörnchen drückten mit jedem Schritt gegen ihre nackten Fußsohlen. Je näher sie dem [...]

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Prolog

1988

Am letzten Tag vor der Abreise gingen die Eltern mit Jenny Eis essen. Zwei Kugeln Erdbeereis in einer Muschelwaffel, für das sie lange anstehen mussten. Sie bekam Bauchweh davon. Im Gegensatz zu ihren Eltern erkannte sie trotz ihrer acht Jahre den armseligen Trost darin.

„Jetzt ein letztes Mal an den Strand?“, fragte ihre Mutti.

Die Eltern reagierten nicht auf ihr Schulterzucken, sie hatten sich schon in Bewegung gesetzt. Lustlos trottete sie hinter ihnen her. Sandkörnchen drückten mit jedem Schritt gegen ihre nackten Fußsohlen. Je näher sie dem Strand kamen, desto schlimmer pikste es. Das war ihr vorher nie aufgefallen. Jenny fiel zurück, während sie die Füße ausschüttelte.

„Nicht bummeln, es ist unser letzter Tag.“ Ihr Papa stand schon in den Dünen, hinter ihm glitzerte die Ostsee.

Jenny klopfte sich die Füße nach jedem Schritt ab.

„Willst du nicht ins Wasser?“

Ihr war die Lust aufs Schwimmen vergangen.

„Ich komme mit und wir spielen mit deinem neuen Wasserball.“

Jenny schüttelte den Kopf.

„Dann eben nicht.“

„Wie erholsam, wenn sie mal nicht plappert“, scherzte ihr Papa.

„Und besser so“, antwortete Mutti.

Die beiden blickten sich vielsagend an.

Jennys Bauchschmerzen wurden schlimmer, aber sie hielt den Mund.

Eigentlich hatten die Schmerzen schon heute Morgen, lange vorm Erdbeereis angefangen, aber die Eltern hatten ihr verboten, darüber zu sprechen. Immer gab es etwas, das man nicht sagen durfte, vor allem in der Schule. Im Unterricht wurde sie oft ermahnt. Taten die Lehrerinnen das nur, weil sie zu vorlaut war? Jenny dachte darüber nach, während ihre Eltern im Wasser planschten. Sie ließ die warmen Sandkörnchen durch ihre Finger rieseln und grub die Zehen hinein. Wenn es nicht so eklig wäre, hätte sie sich Sand in den Mund gesteckt.

Bald näherte sich die Sonne der Ostsee. Die Eltern kamen aus dem Wasser und ihre Mutter knipste den Film fertig. „Das war wieder schön, oder?“

Der Widerspruch wollte nicht über Jennys Lippen. Die Angst, etwas Falsches zu sagen, schnürte ihr die Kehle zu. Während die Eltern ihre Handtücher ausschüttelten und zusammenpackten, fasste Jenny einen Entschluss. Das kommende Schuljahr wollte sie in der Klasse die meisten Bienchen verdienen. Man bekam eins, wenn man etwas richtig machte und sich gut betrug. Das wollte sie von nun an.

Mit diesem Vorsatz fühlte sie sich besser. Wenn sie es schaffte, würden sie nächsten Sommer nach Hiddensee fahren und alles wäre wieder gut.


Kapitel 1

Gegenwart

Es war der 29. Dezember und Jenny Miller hatte den Eindruck, im Chaos zu versinken. Am Frankfurter Hauptbahnhof drängelten die Reisenden und versperrten ihr die Sicht. Den Wunsch, sich in einem gemütlichen Café von ihrer Tochter zu verabschieden, konnte sie sich abschminken. Ein wenig selbstsüchtig wünschte sich Jenny, Sonjas Zug möge ausfallen oder sich zumindest verspäten.

Die Anzeigetafel sprang um und zeigte den ICE nach Greifswald an. Eine knappe halbe Stunde blieb ihnen noch.

„Können wir nicht zu Starbucks gehen?“, fragte Sonja am Boden hockend. Ihre Finger massierten die Ohren von Labradormischling Shadow, der von den Menschenmassen eingeschüchtert war.

„Was immer du willst, Kleines.“

„Kaffee mit Milch und Zucker plus Sirup, Sahne, Zimt und ein Cookie. Oder zwei.“ Wegen ihres prall gefüllten Reiserucksacks erhob Sonja sich schwankend und führte Shadow zur Schlange vor der Kaffeetheke.

Jenny wollte fragen, ob sie die letzten Tage nicht genug selbst gebackene Plätzchen gegessen hatte, hielt sich aber zurück. Sie war froh, dass ihre Kleine wieder Appetit zeigte.

Das erste Weihnachten ohne Marius hätte wirklich schlimmer verlaufen können. Jenny hatte alles perfekt geplant. Das Appartement in ein gemütliches Winterwunderland verwandelt, nach dem besten Rezept für Entenbraten gesucht, Butterplätzchen, Vanillekipferl und Nusstaler gebacken, zwischendurch Sonja in Anatomie abgefragt und E-Mails aus der Werbeagentur abgearbeitet. Also eigentlich wie letztes Jahr, nur war der Tannenbaum nicht selbstgeschlagen, sondern aus dem Baumarkt. Auch gab es keinen teuren Einkaufstrip auf der Goethestraße und keinen Ski-Ausflug ins Montafon mit ihrem Vater. Sonja schien nichts davon vermisst zu haben.

„Wie wäre es mit einem Chai Tea Latte?“, riss sie Sonja aus ihren Gedanken.

„Das ist doppelt gemoppelt. Chai und Tea bedeutet dasselbe.“

Sonja rollte grinsend die Augen. „Vielleicht ist er doppelt gut?“

„Kann sein.“

„Kannst auch Earl Grey haben.“

„Nein, ich probiere den Chai.“

Sie quetschten sich in die ungemütlich starre Sitzecke, wo andere Reisende an ihnen vorbeiströmten. Shadow liebäugelte mit der Sahnehaube auf Sonjas Café Latte und dem Cookie. Schließlich gab er sich mit einem getreidefreien Leckerli zufrieden und legte sich unter den Tisch. Für eine Unterhaltung war es zu laut, stattdessen musterte sie Sonja über den dampfenden Pappbecher. Jenny fiel auf, dass sie den unvorteilhaften schwarzen Eyeliner weggelassen hatte. Wegen der Tränengefahr oder weil auch diese Phase vorbei war, wusste sie nicht zu sagen. Seit Beginn der Teenagerzeit war Sonja schwer zu durchschauen. Das hatte sich in den Wochen nach Marius’ Tod noch verstärkt.

Sie hatten lange Spaziergänge unternommen und sich im Fernsehen jede einzelne Übertragung von Drei Haselnüsse für Aschenbrödel angeschaut. Wie jedes Jahr hatte Sonja sich über den Prinzen lustig gemacht, weil er nicht erkannte, dass das Aschenbrödel, der zierliche Jäger im Wald und die Prinzessin mit Schleier ein und dieselbe Person waren. Sie war eben erst neunzehn und hatte noch nicht erlebt, dass die Menschen, die man am besten zu kennen glaubte, einen am meisten täuschen konnten.

„Ich würde gern bei den Zeitungen vorbeischauen“, bat Sonja, nachdem sie ihren Becher geleert und ihre Kekskrümel an Shadow verfüttert hatte.

Jenny nickte, erleichtert, aus dem lauten Café fortzukommen. Im Buchladen herrschte zwar Betrieb, aber wenigstens verstand man sein eigenes Wort. Sie umklammerte ihren Becher, während Sonja vor dem Regal mit Arztromanen kniete. Seit dem zwölften Lebensjahr investierte sie ihr Taschengeld in die billigen Hefte. Rasch hatte sie sich entschieden.

„Chefarzt Dr. Holl muss hierbleiben?“, fragte Jenny erstaunt.

„Jep. Koma nach Autounfall muss nicht sein.“

„Nein.“ Es war einer der wenigen Momente, in denen Jenny merkte, dass der Tod ihres Vaters sie doch belastete.

„Papa hat von den Heften nie gewusst. Das war immer unser Geheimnis.“

Die waren ihm zu billig und zu gefühlsduselig, dachte Jenny. Über solche Dinge hatte Marius gerne gewitzelt.

„Ich glaube, die vielen Gefühle waren zu heftig für ihn“, konstatierte Sonja, während sie die bezahlten Hefte rollte und in ihrem Rucksack verstaute. Jenny strich liebevoll über ihren schwarzen Haarschopf.

Ihre Kleine hatte anscheinend mehr mitbekommen, als sie ihr zugetraut hatte. Ahnte sie auch von Marius’ Doppelleben? Das hätte Jenny nicht ertragen. „Er war eben ein Macher. Darin seid ihr euch ähnlich“, versuchte sie abzuwiegeln.

„Ach, ja?“

„Du hast immer gesagt, du wirst Ärztin und jetzt studierst du Medizin. Dein Papa ist … war furchtbar stolz auf dich. Wir beide sind das.“

Sonja schluckte und Jenny schloss sie in die Arme. Sicher standen sie den anderen Reisenden im Weg, aber das war Jenny egal. Am liebsten hätte sie ihre Kleine mit nach Hause genommen, stattdessen löste sie sich von ihr und brachte sie zu ihrem Gleis.

„Ich wünschte, ich könnte hierbleiben“, sprach ihr Sonja aus der Seele, kaum dass sie den Bahnsteig erreicht hatten.

Jenny biss sich auf die Zunge, um nicht zu sagen: Dann bleib doch! Es nützte nichts. Den Abschied aufzuschieben, würde ihn nur erschweren. „Mach dir um uns keine Gedanken. Wir kommen zurecht.“

„Die Uni geht erst nächste Woche wieder los.“ Sonja wirkte ebenso zerknirscht, wie Jenny sich fühlte. „Wenn ich mich nicht mit meiner Lerngruppe verabredet hätte …“

„Je schneller du wieder Anschluss ans Studium findest, desto besser.“

„Hoffentlich pack ich das alles.“

„Ach, für dich ist das ein Klacks.“

Sonja lächelte zaghaft. Jenny hatte den Eindruck, dass sie noch etwas sagen wollte, doch ihre Kleine beugte sich zu Shadow hinab, kraulte erst den weißen Fleck an seinem Hals, die Flanken und schließlich am Rücken entlang Richtung Schwanz. Mit dem Ritual hatte sich Sonja jeden Morgen von ihm verabschiedet, bevor sie in die Schule gegangen war.

Der ICE fuhr ein und sie umarmten sich zum Abschied.

„Pass auf dich auf.“

„Immer doch. Feier schön mit Birgit und Jürgen. Und dass du mir ja nicht ins Büro gehst!“

„Versprochen.“

„Mach einfach mal dein Ding, okay?“

„Mach ich doch immer. Ruf an, wenn du angekommen bist.“

Die Türen schlossen sich und der ICE setzte sich in Bewegung. Jenny lief ein paar Schritte mit, bevor sie in die Hocke ging und das Gesicht in Shadows Fell vergrub. Sie musste sich eingestehen, dass ihr nach den Festtagen die Möglichkeiten zum Kümmern ausgingen, und der Gedanke machte sie unruhig.


Kapitel 2

Auf dem Weg zur S-Bahn fragte sie sich nicht zum ersten Mal, ob Sonja die Romanhefte verschlang, weil sie ihr gefühlsmäßig etwas gaben, das sie sich von ihrer Familie vergeblich erhoffte. Jenny hatte ihr Bestes getan, ihr die Mutter zu ersetzen, nachdem sie mit Marius zusammengekommen war. Hatte gelernt, einen französischen Zopf zu flechten, mit ihr im Krankenhaus geschlafen, als ihr der Blinddarm herausgenommen worden war, und sie getröstet, wenn ihre Mitschüler sie eine Streberin nannten. All die großen und kleinen Dinge, die Jenny nun schmerzlich vermisste.

Grübeln nützte nichts. Sonja war fort. Die Werbeagentur hingegen war nur fünfzehn Minuten entfernt. Bevor sie ihr Ding machte, wie sie es Sonja versprochen hatte, konnte sie dort die Post kontrollieren und ein paar Probedrucke aktueller Projekte mitnehmen, um sie auf der Zugfahrt zu ihren Eltern durchzusehen. Gepackt war später ruckzuck.

Vor dem Gebäude, das die Werbeagentur beherbergte, erwartete sie eine Überraschung. Unter den armlangen Lettern RITTER & MICHEL war ein Gerüst aufgebaut worden. Was hatte das zu bedeuten? In den Flurfenstern brannte außerdem Licht. Dabei machte die Agentur zwischen den Jahren Betriebsferien.

Gab es wieder Probleme mit der Hausverwaltung? Ihr Instinkt, nach dem Rechten zu sehen, hatte sie nicht getäuscht.

Jenny kramte ihren Schlüssel hervor und nahm Shadow zuliebe den Fahrstuhl in den ersten Stock. Der riesige Spiegel darin offenbarte ihr das Grauen. Ihr dunkelblonder Ansatz war mehrere Zentimeter herausgewachsen, ihre Haut sah stumpf aus und dunkle Schatten tilgten das Blau ihrer sonst lebhaften Augen. Nicht mal für Wimperntusche hatte es heute gereicht. In dem unförmigen Pulli sah sie vollends aus wie die verlotterte Zwillingsschwester jener Jenny, die sonst gestriegelt und gebügelt in der Agentur arbeitete.

Durch die Milchglastür zu den Büroräumen drang Licht und beim Eintreten registrierte sie überrascht einen Stapel zusammengefalteter Umzugskartons. Die Tür zu Marius’ Büro stand offen, obwohl sie sich genau erinnerte, sie vor den Festtagen verschlossen zu haben. In seinen Regalen mit Aktenordnern klafften Lücken. Sie war eindeutig nicht allein.

„Soll ich Ihnen einen Cappuccino machen?“ Die Stimme gehörte Marius’ Assistentin Sarah Schopp.

Jenny hielt abrupt inne, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Mit ihr hatte sie am wenigsten gerechnet. Die Absätze ihrer stylishen Stiefelchen kündigten die dunkelhaarige Mittzwanzigerin auf ihrem Weg in die Teeküche an. In knackigen schwarzen Jeans und blütenweißem Seidentop sah sie aus wie aus dem Ei gepellt.

Auch Sarah erstarrte mitten in der Bewegung. „Oh“, sagte sie anstelle einer Begrüßung.

Jenny bemerkte, dass der Gips an ihrem Unterarm fehlte und Sonjas Worte nach der Beerdigung ihres Vaters fielen ihr ein: Ich bin so froh, dass du nicht mit Papa im Auto gesessen hast. Nun, sie vielleicht nicht. Sarah allerdings schon. Dabei hatte Marius gemeint, er wolle allein zum Termin mit einem Neukunden in Hamburg fahren.

Als sie nach seinem Tod in Marius’ Kalender nachgesehen hatte, fand sich darin kein neuer Kunde, weder in Hamburg noch anderswo. Es brauchte nicht viel, um eins und eins zusammenzuzählen. Seitdem hatte sie alle Gedanken daran verdrängt.

Jetzt wirbelten die Bilder in ihrem Kopf herum. Marius’ Lachfalten, sein schwarzer BMW, mit dem sie oft ins verlängerte Wochenende aufgebrochen waren, wie er ihr Blumen mitbrachte und in ihr Ohr flüsterte Was würden wir nur ohne dich machen? Dazwischen schob sich Sarah, wie sie den Männern in der Agentur bei Besprechungen unnötig nahekam, der Ausschnitt immer an der Grenze der Bürotauglichkeit. Jenny waren ihre subtilen Flirts aufgefallen und im Gegensatz dazu das fehlende Funkeln in ihren Augen, wenn sie Aufgaben für sie oder ihre Grafikerin erledigte. Sie hatte darüber hinweggesehen.

Shadow zog an seiner Leine und brachte Jenny zurück ins Hier und Jetzt. Vor Marius’ Tod waren in der Werbeagentur alle per du gewesen, aber jetzt brachte sie die vertraute Anrede Sarah gegenüber nicht mehr über die Lippen. „Gut zu wissen, dass es Ihnen wieder besser geht, Frau Schopp.“

„Danke“, erwiderte die junge Frau und rieb sich den Unterarm. „Kann ich Ihnen auch einen Kaffee machen?“

„Nein, ich will Sie nicht vom Arbeiten abhalten.“ Es tat gut, sie stehen zu lassen, gleichzeitig wunderte sich Jenny, warum sie überhaupt hier war. Hatte Luca sie gebeten, ins Büro zu kommen? Er hatte mit Marius die Werbeagentur gegründet und war für den kreativen Teil zuständig, ihr verstorbener Lebensgefährte für den finanziellen. Luca war für gewöhnlich nur zu Beginn und zum Ende eines Projektes vor Ort. Was lief hier ab?

Energisch betrat sie sein Büro. „Hi, was machst du denn hier?“

Luca sah übernächtigt aus. „Das Gleiche könnte ich dich fragen.“ Sein Blick ließ die kollegiale Kameradschaft vermissen, die während dutzender Kampagnen zwischen ihnen entstanden war.

Luca hatte ihr gegenüber nie den Vorgesetzten herausgekehrt. Sie waren zwei Kreative, die gemeinsam versuchten, die Gedanken ihrer Kunden zu lesen und deren oft konfuse Wünsche in Wort und Bild zu fassen. Wenn der Abgabetermin unbarmherzig näher rückte, hatten sie mithilfe ihrer treuen Kaffeemaschine und diverser Lieferdienste zusammen die Nacht durchgearbeitet.

Jenny setzte ein Lächeln auf. „Hast du nicht gesagt, du verbringst die Feiertage in der Toskana?“

Er ging nicht darauf ein. „Bist du hier, um Marius’ Sachen zu entsorgen?“, fragte er zurück und fuhr sich durchs dunkelblonde, zurückgekämmte Haar, das ihn wie einen der Dichter-Philosophen Anfang des vergangenen Jahrhunderts erscheinen ließ.

„Nein, wieso?“, entgegnete sie irritiert.

„Ich dachte.“

Im Flur waren erneut Sarahs Stiefel zu hören. „Dein Cappuccino. Kann ich sonst noch was tun?“

„Im Moment nicht, danke.“

„Dann mache ich Pause. Bis später.“

Die Assistentin würdigte sie keines Blickes, aber das war Jenny egal. Viel mehr wunderte sie Lucas Distanziertheit. Die Werbeagentur war immer ihr zweites Zuhause gewesen. Doch kaum war ihr Lebensgefährte unter der Erde, gaben ihr alle das Gefühl, ein Fremdkörper zu sein. Von Sarah hatte sie nichts anderes erwartet, aber Marius’ Partner war immer auf ihrer Seite gewesen. Obwohl ihr nicht entgangen war, dass sich Luca einige Freiheiten herausnahm, seit Marius ihn nicht mehr zur Ordnung rief. Sollte sie sich deswegen Sorgen machen? Hatte auch sie das Aschenbrödel nicht durchschaut?

„Hattest du ein schönes Weihnachtsfest?“

„Kann ich nicht behaupten.“

„Oh, ist etwas passiert?“

Luca verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie über seine randlose Brille.

Jenny fühlte sich in die Grundschule zurückversetzt. Sie war in Schwierigkeiten, und es nervte sie, dass Luca anscheinend glaubte, sie müsse wissen, warum.

Lilly Wolf

Über Lilly Wolf

Biografie

Lilly Wolf ist in der Nähe von Leipzig aufgewachsen und war als Lehrerin in Berlin und Ungarn unterwegs. Heute arbeitet sie als Qualitätstesterin in Stuttgart. Sie liest und schaut gern Detektivgeschichten, weshalb sie in ihren eigenen Krimis und Romanen gerne alte Geheimnisse erforscht. Sie möchte...

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