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Gischtgrab (Iwersen und Hansen ermitteln 2) Gischtgrab (Iwersen und Hansen ermitteln 2) - eBook-Ausgabe

Stefanie Rogge
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Ein Föhr-Krimi

— Spannender Nordsee-Krimi mit jeder Menge Inselflair

„Eine wirklich spannende und unterhaltsame Geschichte (..), die von der ersten Seite an zu fesseln versteht.“ - Ruhr Nachrichten

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Gischtgrab (Iwersen und Hansen ermitteln 2) — Inhalt

Ein Mörder geht um auf Föhr
Die Nordseeinsel Föhr erlebt einen Jahrhundertsommer, die Touristen tummeln sich an den Stränden. Als ein grausam zugerichteter Toter am Dunsumer Deich gefunden wird, reist die Kommissarin Kerrin Iwersen erneut aus Flensburg an, um mit dem Inselpolizisten Hark Hansen zu ermitteln. Der Tote war nach einem Aufenthalt in der Psychiatrie gerade erst auf die Insel zurückgekehrt und hatte versucht, seine zerrüttete Ehe zu retten. Doch trotz allerlei brisanter Details aus seinem Privatleben kommen die Ermittler dem Mörder nicht auf die Spur – bis die Tochter des Toten plötzlich verschwindet ...

Stefanie Rogge ist in Kiel aufgewachsen und hat in ihrer Kindheit alle Ferien auf Föhr verbracht. Die studierte Juristin arbeitet in einer Anwaltskanzlei und widmet sich in jeder freien Minute dem Schreiben. Mit ihrem Mann und ihren Kindern lebt sie heute in Hamburg, doch ihre Bindung zu Föhr ist nie abgerissen.

Die Bände der Reihe „Iwersen und Hansen ermitteln“:

Band 1: Dunkelmeer

Band 2: Gischtgrab

Band 3: Seenebel

€ 11,00 [D], € 11,40 [A]
Erschienen am 01.07.2021
384 Seiten, Broschur
EAN 978-3-492-31603-3
Download Cover
€ 9,99 [D], € 9,99 [A]
Erschienen am 01.07.2021
400 Seiten
EAN 978-3-492-99872-7
Download Cover

Leseprobe zu „Gischtgrab (Iwersen und Hansen ermitteln 2)“

Die Ermittler

Hark Hansen, 55
Beruf: Leiter der Polizeidienststelle in Wyk
Wohnort: Wyk, Insel Föhr
Familienstand: Witwer, seine Frau Heike verstarb vor drei Jahren
Was ihn ausmacht: Hark ist Vollblutinsulaner, Gefühlsmensch, lässt sich als Polizeibeamter oft von seinem Instinkt leiten und fährt damit meist gut. Er geht von April bis Oktober regelmäßig in der Nordsee schwimmen und kann sich nichts Schöneres vorstellen, als mit Bier und Fischbrötchen den Tag an einer Strandbude mit den Füßen im Sand ausklingen zu lassen.
Was ihm wichtig ist: sein Sohn Nils, [...]

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Die Ermittler

Hark Hansen, 55
Beruf: Leiter der Polizeidienststelle in Wyk
Wohnort: Wyk, Insel Föhr
Familienstand: Witwer, seine Frau Heike verstarb vor drei Jahren
Was ihn ausmacht: Hark ist Vollblutinsulaner, Gefühlsmensch, lässt sich als Polizeibeamter oft von seinem Instinkt leiten und fährt damit meist gut. Er geht von April bis Oktober regelmäßig in der Nordsee schwimmen und kann sich nichts Schöneres vorstellen, als mit Bier und Fischbrötchen den Tag an einer Strandbude mit den Füßen im Sand ausklingen zu lassen.
Was ihm wichtig ist: sein Sohn Nils, der in Wyk als Anwalt arbeitet

Kerrin Iwersen, 32
Beruf: Kriminalhauptkommissarin
Wohnort: Flensburg
Familienstand: frisch verliebt
Was sie ausmacht: Kerrin ist ein sportlicher, offener Typ. Sie ist direkt, intelligent und ehrgeizig und verlangt sich oft selbst sehr viel ab. Sie ist auf Föhr geboren und hat bis zum Abitur auf der Insel gelebt. Kerrin liebt ihren Beruf und verbeißt sich in jeden Fall. Da es auf Föhr keine Kripo gibt, übernimmt sie in Zukunft zusammen mit den Föhrer Kollegen die Kriminalfälle auf der Insel und freut sich darauf, wieder in der Heimat unterwegs zu sein.
Was ihr wichtig ist: die Dinge mehr auf sich zukommen lassen


1

Sein Herz schlug so laut, dass er Angst hatte, sie könnte es hören. Schwer lag das kleine Kästchen in seiner Hosentasche. Sie liefen seit zehn Minuten über den Deich von Dunsum und waren bisher keiner Menschenseele begegnet. Dafür allerdings unzähligen Schafen, die sie träge anglotzten, während sie an ihnen vorbeimarschierten. Wie in den vergangenen Wochen knallte die Sonne unbarmherzig vom strahlend blauen Himmel. Selbst die hitzeversessensten Menschen begannen, sich nach Regen zu sehnen.
Er hatte lange überlegt, wo sie trotz der andauernden Saison ungestört sein würden. Es musste in der Natur sein. Und es sollte ein Ort sein, an den sie sich ein Leben lang erinnern würden. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Seine Wahl war perfekt gewesen. Knapp fünfzig Meter voraus sah er einen großen Felsstein. Sein Magen überschlug sich. Dort würde es passieren. Er würde sie bitten, sich hinzusetzen, und dann würde er vor ihr auf die Knie gehen. Eigentlich war er ein moderner Mann, aber heute musste es altmodisch sein. Seine Handflächen waren feucht vor Aufregung, schnell steckte er sie in die Hosentaschen. Sie kannte ihn so gut, dass sie bestimmt bemerken würde, dass ihn etwas beschäftigte. Liebevoll lächelte er sie an, obwohl er kein Wort aufgenommen hatte von dem, was sie sagte. Sie schien es nicht zu merken.
Er hätte ewig so weiterlaufen können, in der Föhrer Sonne, dem lieblichen Singsang ihrer Stimme lauschend, in dem wunderbaren Bewusstsein, die Frau seines Lebens gefunden zu haben. Viel zu schnell kamen sie an dem Stein an, und er blieb stehen. Fragend schaute sie zu ihm auf. Als er sie bat, sich zu setzen, tat sie es. Ihre Wangen färbten sich rosig. Bestimmt ahnte sie, was nun kommen würde. Unbeholfen ließ er sich vor ihr hinab. Bevor er ihre Hände ergriff, ließ er noch einmal seinen Blick schweifen. Er wollte diesen Moment tief in sich aufnehmen und für immer bewahren. Das Wasser lief ab, in einer guten Stunde würde Ebbe sein. Auch dies hatte er geplant, liebte sie doch den Anblick des in der Sonne glitzernden Watts.
Im ersten Augenblick verstand er nicht, woran seine Augen hängen geblieben waren. Unglaube breitete sich in seinen Zügen aus, als er ihr sein Gesicht zuwandte. Ihr freudig gespannter Blick wurde ängstlich, und sie sagte etwas, aber er konnte sie nicht verstehen, Blut rauschte in seinen Ohren. Langsam drehte er den Kopf und schaute wieder zurück. Sie schien es ihm gleichzutun, denn nur Sekunden später gellte ihr Schrei über die Weite der Nordsee.

Der Anblick, der sich Hark Hansen, seinen Kollegen Tom Pahl und Christian Jensen und der Pathologin Elena Bruckner aus Kiel von der Deichkante aus bot, war schauerlich. Das junge Paar, das den Toten gefunden und kurz darauf völlig verstört auf der Dienststelle im Hafendeich in Wyk angerufen hatte, hatte nicht übertrieben. Hark hatte die beiden Urlauber auf dem Parkplatz hinter dem Deich getroffen und kurz mit ihnen gesprochen. Der junge Mann hatte ihm immer wieder ein Kästchen mit einem filigranen Goldring hingehalten. Tränen waren seine Wangen hinuntergelaufen. Seine Freundin hatte sich an ihn geklammert und kein Wort herausgebracht. Sie schienen unter einem so enormen Schock zu stehen, dass Hark schließlich seine Kollegen Fabian Lorenzen und Jan Tolk im Streifenwagen herbeordert hatte, um sie zu einem Arzt zu fahren.
Das Opfer lag lang hingestreckt im Watt, seine Arme und Beine waren an zwei in den Boden geschlagene Pfähle gefesselt. Letzte noch nicht weggetrocknete Pfützen um den Mann herum zeugten davon, dass hier vor einigen Stunden das Wasser gestanden hatte. Einige Möwen stolzierten neugierig neben ihm auf und ab. Das Gesicht des Toten war zum offenen Meer gewandt, sodass sie nicht erkennen konnten, um wen es sich handelte. Dass es keine Frau war, war aber offensichtlich.
„Mein Gott“, entfuhr es Christian. Hark warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie alle hatten in diesem Sommer bereits mehr Tote zu Gesicht bekommen, als sie verkraften konnten. Wie froh waren sie gewesen, als sie vor einigen Wochen zusammen mit Kerrin Iwersen von der Flensburger Kriminalpolizei die Mordserie um eine Föhrer Clique stoppen und den Täter festnehmen konnten. „Ihr bleibt hier“, forderte er Christian und Tom auf. „Elena und ich schauen uns den Mann genauer an.“
Mit diesen Worten schritt er langsam zum Watt herunter. Elena folgte ihm wortlos. Selbst in dieser Situation fühlte Hark sich zu ihr hingezogen. Die Pathologin aus Kiel verbrachte gerade einige Urlaubstage auf Föhr. Um ihre Ehe stand es seit geraumer Zeit nicht zum Besten, und so hatte sie sich nach dem aufreibenden Fall im Hochsommer, bei dem sie mehrfach auf die Insel kommen musste, entschieden, hier einige Tage Ferien zu machen. Hark und sie hatten sich bereits einmal zum Abendessen getroffen.
Wenige Meter vor dem Opfer blieben sie stehen. Hark warf Elena einen besorgten Blick zu. Obwohl er wusste, dass sie ihren Lebensunterhalt damit verdiente, Leichen aufzuschneiden, hatte er das Gefühl, sie vor dem grauenhaften Bild, das sich ihnen bot, beschützen zu müssen. Elena schien seine Gedanken zu erraten. Mit einem warmen Lächeln im Gesicht sah sie zu ihm auf. „Mach dir um mich mal keine Gedanken, ich bin schlimme Anblicke gewöhnt. Anders als du.“ Eine leichte Sorge schwang in ihrer Stimme mit.
„Passt schon“, brummte er. Es gefiel ihm nicht, dass Elena zu bemerken schien, wie sehr der Anblick des Toten ihn schockierte. „Kannst du schon etwas dazu sagen?“, versuchte er, das Gespräch auf eine professionelle Ebene zu heben.
Zum Glück ging Elena sofort darauf ein. Sie trat noch ein Stück näher an den Mann, der nur eine kurze Hose und T-Shirt trug, heran und beugte sich zu ihm hinunter. „Das ablaufende Wasser mit seiner starken Strömung hat ihn in diese Position gebracht. Ich gehe davon aus, dass es sich um einen Fall des atypischen Ertrinkens handelt.“
„Atypisch?“, fragte Hark. „Was meinst du damit?“
„Von einem typischen Ertrinken sprechen wir, wenn ein Mensch noch mehrmals die Möglichkeit hat, Luft zu holen, bevor er stirbt. Zum Beispiel ein erschöpfter Schwimmer, der immer wieder untergeht und auftaucht, so lange, bis ihn seine Kräfte verlassen. Doch bei einem atypischen Ertrinken hat der Sterbende keine Chance, noch einmal Luft zu holen. Der Erstickungstod tritt dann schnell ein.“ Sie warf einen weiteren Blick auf den Toten und erhob sich dann. „Seine Arme und Beine sind mit diesen Ketten stramm an die Ösen in den Pfählen gebunden. Wie tief ist das Wasser hier bei Flut?“
Hark blickte sich um. Sie befanden sich ungefähr zwanzig Meter weit im Watt. „Mindestens Kopfhöhe, würde ich schätzen.“
Elena nickte. „Aufgrund seiner strammen Fesseln ist er nicht weiter als einen halben Meter hochgestiegen. Er konnte sich nicht abstützen, keine Schwimmbewegungen machen, nichts.“
Hark sah sie erschüttert an. „Du meinst also, dass dieser Mann bei Ebbe hier angekettet wurde und dann das Wasser langsam auf sich zukommen sah, ohne eine Chance, sich zu retten?“ Er rüttelte an einem der massiven Holzpfähle. Dieser gab einige Zentimeter nach, war aber viel zu tief verankert, um sich weiter zu bewegen. Der Täter musste sie mit einem Vorschlaghammer in den Wattboden gerammt haben.
„Zumindest hörte er es. Flut war heute Morgen um 6 Uhr, da wurde es erst langsam hell.“ Elena ging mit einigem Abstand vorsichtig um den Toten herum. „Komm mal her“, bat sie Hark dann und kniete nieder.
Beklommen folgte Hark ihr. Als er dem Toten ins Gesicht sehen konnte, wusste er sofort, was sie meinte. Sein Mund war mit schwarzem Klebeband verschlossen.
„Der Täter wollte wohl verhindern, dass er sich bemerkbar machen konnte.“ Sie erhob sich wieder. „Nach meiner ersten Einschätzung ist der Mann heute bei auflaufendem Wasser gestorben. Wenn er durch den zugeklebten Mund nicht schon vorher kollabiert ist.“
Hark sah starr an ihr vorbei und reagierte nicht auf ihre Worte. Irritiert schaute Elena ihn an. „Alles in Ordnung?“, fragte sie und strich sanft über seinen Arm.
Langsam schüttelte er den Kopf. „Gar nichts ist in Ordnung“, flüsterte er. „Ich kenne diesen Mann.“


2

Mit klopfendem Herzen eilte Kerrin zum Büro von Peter Heyden, ihrem Dienststellenleiter im Flensburger Kommissariat. Bei ihrem gegenwärtigen Fall war sie mit ihrer Kollegin, der allseits verhassten Annette Kuhlmann, mal wieder aneinandergeraten. Aus irgendwelchen für Kerrin völlig unverständlichen Gründen nahm Heyden diese unfähige und unkollegiale Person immer wieder in Schutz. Und so fürchtete sie nun, einen Vortrag über das richtige Verhalten in der Dienststelle über sich ergehen lassen zu müssen.
„Setz dich.“ Heyden lächelte ihr entgegen. „Hark Hansen hat eben angerufen. Es gibt einen neuen Fall auf Föhr.“
Kerrins Herz machte einen kleinen Sprung. Seit ihrem ersten Einsatz auf der Insel vor einigen Wochen waren sie und Harks Sohn Nils, der in Wyk als Anwalt arbeitete, ein Paar. Sie sahen sich, so oft es ihre Arbeit zuließ, aber natürlich viel zu wenig, wie sie beide fanden. Wenn sie jetzt zusätzlich ein paar Tage in seiner Nähe verbringen könnte, wäre das großartig. Ihre Eltern waren gerade für zwei Wochen in Griechenland, sodass sie keine Rücksicht auf deren Bedürfnis, ihre einzige Tochter sehen zu wollen, nehmen musste.
„Hinter dem Deich von Dunsum ist eine Leiche gefunden worden. Einzelheiten erfährst du vor Ort. Schnapp dir bitte Jörn, packt schnell das Nötigste, und dann ab mit euch. Mark und Kai kann ich im Moment nicht abziehen, aber ihr schafft das schon zusammen mit Hark und seinen Föhrer Jungs. Lukas Marxen und Hauke Bremer von der Spusi sind informiert und machen sich auch gleich auf den Weg. Ihr müsst die Fähre ab Dagebüll um 14:05 Uhr bekommen, dann seid ihr gegen 15:30 Uhr am Tatort.“
„Das wird aber sportlich“, wandte Kerrin nach einem Blick auf ihre Uhr ein. Es war bereits halb eins.
„Zur Not mit Blaulicht. Hochwasser ist heute Abend gegen Viertel nach sechs, und das Opfer liegt im Watt.“
Kerrin musste sich zusammenreißen, um nicht in lautes Jubelgeschrei auszubrechen, als sie in den Flur trat. Sofort griff sie nach ihrem Handy und wählte Nils’ Nummer. Leider sprang nur die Mailbox an. Egal, dachte sie. Dann überrasche ich ihn halt.

Eine halbe Stunde später saßen Jörn Höpfner und sie mit gepackten Taschen im Wagen und rasten nach Dagebüll. Kerrin hatte schon oft mit Jörn zusammengearbeitet. Er war mit seinen achtunddreißig Jahren zwar sechs Jahre älter als sie, auf der Karriereleiter aber nicht so weit hinaufgeklettert. Heyden hatte es nicht infrage gestellt, dass sie diese Ermittlungen leiten würde, und so hoffte Kerrin, dass dies nicht zu Spannungen zwischen ihnen führen und die Arbeit beeinträchtigen würde. Es würde der erste Fall sein, bei dem sie seine Vorgesetzte wäre. Eigentlich war Jörn ein lustiger und kommunikativer Mann, mit dem es im Dienst nie langweilig wurde. Zurzeit war seine Stimmung allerdings etwas gedrückt, da sich seine Frau vor vier Monaten unter anderem wegen seiner familienfeindlichen Arbeitszeiten von ihm getrennt hatte und er seine beiden kleinen Kinder nur noch unregelmäßig sah. Jörn hatte seine eigenen Konsequenzen aus dem Scheitern seiner Ehe gezogen und lautstark verkündet, dass er zukünftig nur noch mit Kolleginnen eine Beziehung eingehen würde.
„Weißt du schon, worum es geht?“, fragte er, als er auf die B 199 einbog.
„Nein, ich rufe Hark mal an.“ Kerrin wählte die bekannte Nummer und stellte den Lautsprecher an.
„Moin, meine Lütte“, schallte es schon nach dem ersten Klingeln durch den Wagen. „Ich hätte nicht gedacht, dass es dich so schnell beruflich wieder zu uns verschlagen würde. Das passt dir bestimmt ganz gut, oder?“ Kerrin sah das Grinsen auf Harks braun gebranntem Gesicht förmlich vor sich. Sie hatten sich bei den Ermittlungen im Sommer erst einmal beschnuppern müssen, sich aber schließlich sehr gut verstanden. In den letzten Wochen waren sie sich auch privat nähergekommen. Kerrin war glücklich, dass Hark sich über die Beziehung zwischen seinem Sohn und ihr so freute.
„Ja, damit habe ich beim Aufstehen noch nicht gerechnet. Ich habe Nils bisher nicht erreicht, aber bitte sag ihm nichts, es soll eine Überraschung werden.“
„Wenn das mal klappt. Du kennst doch die Insel. Wenn sich hier herumspricht, dass jemand ermordet wurde, weiß Nils sofort, dass du auf dem Weg bist.“
„Dann hoffe ich, dass der Buschfunk heute ein bisschen länger braucht.“ Sie wurde ernst. „Was ist denn eigentlich passiert?“
„Eine furchtbare Geschichte.“ Hark berichtete in knappen Worten, was geschehen war. Kerrin und Jörn wechselten einen bestürzten Blick. „Und als wäre das nicht genug, kenne ich den Mann. Ich habe ihn vor zwei Tagen auf die Dienststelle bestellt und vernommen. Arndt Halvorsen, ein Insulaner, Ende vierzig. Seine Eltern haben vor etlichen Jahren die Ferienhausvermittlung Halvorsen gegründet. Das sagt dir bestimmt etwas.“
„Und warum hast du ihn vernommen?“, fragte Kerrin. Jeder Insulaner kannte die Ferienhausvermittlung Halvorsen.
„Seine Frau Lene hatte ihn angezeigt, weil sie sich von ihm bedroht fühlte. Die beiden lebten seit Längerem getrennt. Arndt hatte wohl massive psychische Probleme und war auch dem Alkohol recht zugetan. Die letzten zwei Jahre hat er in Schleswig verbracht und sich dort behandeln lassen. Seit einigen Wochen war er wieder auf der Insel, und das Paar war gerade dabei, sich anzunähern, wohl auch wegen der fünfzehnjährigen Tochter Pia.“
„Aber warum hat Lene sich bedroht gefühlt, wenn sie sich gerade wieder zusammengerauft hatten?“
„Sie hatte das Gefühl, dass er sich mehrfach heimlich in das gemeinsame Haus, in dem sie mit Pia lebt, geschlichen hat. Es gab Hinweise, die eindeutig darauf hingedeutet haben. Er hat es ihr gegenüber jedoch immer wieder abgestritten und ist dann auch wütend und laut geworden.“
„Wenn er es tatsächlich nicht gewesen ist, kann man das doch gut verstehen“, wandte Jörn ein.
„Das stimmt“, gab Hark zu. „Ich hatte auch den Eindruck, dass er die Wahrheit sagt, aber mein Gefühl kann mich natürlich getäuscht haben. Lene Halvorsen zumindest war felsenfest davon überzeugt, dass er sich im Haus aufgehalten hat. Es gab keinerlei Einbruchsspuren, der Täter muss also einen Schlüssel gehabt haben. Und das hatte Arndt. Aufgrund der psychischen Vorbelastungen ihres Mannes hat Lene sich Sorgen um Pia, aber auch um sich selbst gemacht.“
„Verstehe.“ Kerrin dachte einen Moment nach. „Hast du schon mit ihr gesprochen?“
„Nein, wir wollten auf euch warten.“
„Das ist gut. Wir werden die Fähre um 14:05 Uhr bekommen und sind gegen halb vier bei euch“, informierte sie Hark dann.
„Der Tatort ist abgesperrt, und Christian steht auf dem Parkplatz und fordert jeden, der vorbeikommt, dazu auf, weiterzufahren.“
„Hast du schon mit Leif Brodersen telefoniert?“ Kerrin grinste in sich hinein.
„Werd nicht frech, mien Deern“, brummte Hark. „Ansonsten übernehme ich die Kommunikation mit ihm in diesem Fall nicht.“
Kerrin lachte schallend. „Ich habe nichts gesagt.“
„Wer ist Leif Brodersen?“ Jörn sah sie fragend von der Seite an, nachdem sie aufgelegt hatte.
„Der Bürgermeister von Wyk. Ein interessanter Mann, mit dem Hark bestens klarkommt. Wir sollten dringend vermeiden, uns da einzumischen.“

Eine gute halbe Stunde später erreichten sie die Mole von Dagebüll. Die Verladung der Wagen hatte bereits begonnen, und so konnten sie direkt auf die Fähre fahren. Lukas und Hauke hatten es ebenfalls geschafft, und die vier Beamten trafen sich auf dem Sonnendeck.
„Moin.“ Lukas grinste, als Kerrin auf ihn zutrat. „Seitdem du für die Inseln zuständig bist, sterben die Menschen dort wie die Fliegen. Ich war noch nie so oft an der Nordsee wie in diesem Sommer.“
„Spinner“, entgegnete sie lachend. „Da ist das alte Team ja wieder zusammen. Elena ist schon auf Föhr. Nur Jörn muss sich neu bei uns integrieren.“
„Wird bestimmt spannend in dieser Konstellation“, brummte er und warf Kerrin einen kurzen Seitenblick zu.
Nachdem sie den Ablegevorgang beobachtet und die MS Uthlande Kurs auf Wyk auf Föhr genommen hatte, setzten sie sich auf eine Bank. Die Mittagssonne knallte erbarmungslos vom wolkenlosen Himmel, doch durch den Fahrtwind wurde ihre Wärme erträglich. Zufrieden setzte Kerrin ihre Sonnenbrille auf. Das Gekreische der dem Schiff folgenden Möwen schallte zu ihnen hinüber, ein leichter Geruch nach Salz und Seetang hing in der Luft. Das Gespräch der Männer plätscherte dahin, und Kerrin ließ ihre Gedanken schweifen. Es ging wieder nach Hause.
Als sie eine Dreiviertelstunde später mit dem Wagen die Fähre verließen und das laute Klappern der Rampe ihnen anzeigte, dass sie nun auf Föhrer Boden waren, stellte sich bei Kerrin – wie immer, wenn sie die Insel betrat – ein Gefühl von Glück ein. Auch wenn sie schon seit Jahren nicht mehr hier lebte, würde diese Nordseeinsel für alle Zeit ihre Heimat sein. Es war schon etwas Außergewöhnliches, auf einer Insel aufzuwachsen. Menschen vom Festland würden das nie ganz nachvollziehen können. Das Zusammengehörigkeitsgefühl der Insulaner untereinander, der Stolz auf ihre Herkunft und ihre Traditionen, die Naturverbundenheit, die Gezeiten, das freie und unbeschwerte Aufwachsen der Kinder, all das führte dazu, dass die Menschen das Leben hier als etwas Besonderes ansahen.

Die Landstraße über Wrixum, Alkersum und Süderende nach Dunsum war um diese Zeit nicht allzu befahren, und so kamen sie zügig voran. Die Urlauber tummelten sich noch an den Stränden und würden erst später den Heimweg in ihre Ferienwohnungen oder Hotels antreten.
Schon von Weitem sahen sie in Dunsum auf dem Parkplatz hinter dem Deich den Streifenwagen der Wyker Kollegen stehen. Christian saß einige Meter entfernt im Schatten auf einer Bank. Als er sie sah, sprang er auf und kam auf sie zu.
„Moin“, empfing er sie mit dieser in Norddeutschland zu jeder Tageszeit gängigen Begrüßung. „Cool, dass wir unseren nächsten Fall zusammen haben.“ Der Jüngste aus Harks Truppe war gleichzeitig der Ehrgeizigste. Er machte seine Sache gut, musste aber dann und wann in seine Schranken verwiesen werden.
Nachdem sich alle begrüßt hatten, machten die vier sich auf den Weg zum Deich. Lukas und Hauke nahmen ihre Ausrüstung mit, um sofort mit der Arbeit beginnen zu können. Die in Gruppen zusammenstehenden Schafe schauten nicht auf, als sie dicht an ihnen vorbeigingen und sich bemühten, nicht auf die überall herumliegenden Kötel zu treten. Als sie die Kuppe des Deichs erreicht hatten, sahen sie Hark, Tom, Elena und den aufgestellten Sichtschutz schon von Weitem. Elena, die sich ihren weißen Schutzanzug bis zu den Hüften heruntergestreift hatte, entdeckte sie als Erstes und winkte.
Die Begrüßung war herzlich. Jörn war bereits mehrfach mit Kerrins Vorgänger Klaus Martens auf der Insel gewesen, sodass Hark, Tom und er sich kannten. Kerrin seufzte erleichtert auf. Solange Jörn sich im Team wohlfühlte und sie nicht die Chefin heraushängen ließ, würde es bestimmt gut laufen.
Sie warf einen Blick in Richtung Meer. Noch war das Wasser weit entfernt, der Wattboden unter ihren Füßen von der Sonne fast vollständig getrocknet, aber es war deutlich zu sehen, dass es kam und sie keine Zeit vergeuden durften. Hauke verteilte Schutzanzüge an alle. Seufzend schlüpften sie in die unförmigen Kleidungsstücke.
„Ich bin fürs Erste durch hier“, informierte Elena sie. „Wenn ihr den Mann freigebt, habe ich bereits den Transport ins Krankenhaus nach Wyk organisiert. Ich werde dort die erste Inaugenscheinnahme durchführen, und dann kommt er nach Kiel. Meine Kollegen wissen schon Bescheid.“ Sie lächelte leicht. „Danach würde ich gerne meinen Urlaub fortsetzen.“
„Das sei dir gegönnt, Elena“, sagte Kerrin. „Was kannst du uns denn bisher sagen?“
„Der Fundort dürfte auch der Tatort sein. Es scheint, als wäre der Mann während des ablaufenden Wassers heute Nacht hier angebunden zurückgelassen worden und dann am frühen Morgen bei auflaufendem Wasser gestorben. Ob er betäubt wurde, damit der Täter ihn in Ruhe fesseln konnte, weiß ich noch nicht. An seinem rechten Oberarm habe ich einen frischen Einstich gefunden, der darauf hindeuten könnte. Sollte er bei auflaufendem Wasser bei Bewusstsein gewesen sein, kann ich mir kaum einen grausameren Tod vorstellen.“
Kerrin fröstelte trotz der Hitze bei den Worten der Pathologin. „Der Täter muss Arndt Halvorsen aus tiefstem Herzen gehasst haben.“
„Oder er ist ein Psychopath, der sich sein Opfer wahllos ausgesucht und sich an dessen Qualen ergötzt hat“, widersprach Jörn. „Es gibt so viele kranke und durchgeknallte Menschen dort draußen. Ihr müsst später auch den Deich gründlich absuchen. Vielleicht findet ihr irgendwo Spuren, die darauf hindeuten, dass sich hier jemand länger aufgehalten hat.“
„Klar“, stimmte Lukas zu. „Im Watt wird es mit den Spuren natürlich schwer, wir schauen mal.“
Als sie alle die weißen Anzüge nebst Kapuzen und Überschuhen anhatten, traten sie hinter den Sichtschutz. Das Bild, das sich ihnen bot, nahm Kerrin für einen Moment den Atem. In all den Jahren bei der Kriminalpolizei hatte sie schon viel gesehen, aber dieser Tatort zählte zu den abscheulichsten. Es war nicht der Anblick des Toten, der sie schockierte. Er lag mit abgewandtem Gesicht am Boden und war, zumindest auf den ersten Blick, äußerlich unversehrt. Sein blaues T-Shirt und die Shorts waren sandig und nicht ganz sauber, aber durch die Hitze des Tages getrocknet. Schuhe trug er nicht. Ein einsamer Krebs buddelte sich gerade dicht neben seinem Kopf in den Sand. Schlimm war vielmehr die Vorstellung des Horrors, den er durchgemacht haben musste, bevor er gestorben war. Ein Blick in die Gesichter der anderen zeigte ihr, dass es ihnen genauso erging.
„Puh, was für ein Grauen“, durchbrach Jörn die gespenstische Stille, die sich für einen kurzen Moment über sie gelegt hatte.
„Wir machen uns an die Arbeit.“ Lukas kniete sich neben das Opfer.
„Und wir sprechen mit Lene Halvorsen, der Witwe. Einverstanden?“ Kerrin sah auffordernd zu Jörn und Hark.
„Soll ich euch begleiten?“ Hark schaute Kerrin überrascht an. „Jetzt, wo Jörn dabei ist?“
„Klar.“ Kerrin schlug ihm liebevoll auf die Schulter. „Wir sind doch ein gutes Team. Und Mark und Kai fehlen, da brauchen wir dich.“
„Einverstanden.“ Hark wandte sich an Tom. „Bleib du bitte hier, bis die Spusi fertig ist und die Leiche abgeholt wurde. Danach kannst du mit Christian zusammen alle Sachen einpacken und zurück in die Dienststelle fahren.“
Kurz darauf waren Kerrin, Hark und Jörn auf dem Weg über die Dörfer zurück nach Wyk. Der Kirchturm von St. Laurentii in Süderende war schon von Weitem zu sehen und ragte majestätisch in den Himmel. Er schien Wache zu halten über den bekannten Friedhof mit seinen redenden Grabsteinen, auf denen die Insulaner in vergangenen Zeiten die Lebensgeschichten ihrer Verstorbenen niedergeschrieben hatten. Doch keiner der drei Beamten gönnte ihm heute einen Blick. In ihren Gedanken waren sie bei dem Toten aus dem Watt und seiner Witwe.


3

Das Haus der Halvorsens lag in der Strandstraße, direkt neben dem Nordsee-Kurpark. Ein Friesenwall, auf dem die für die Nordfriesischen Inseln so typischen Heckenrosen blühten, umrankte die kleine Rasenfläche des Vorgartens. Grobe Pflastersteine wiesen den Weg zum Eingang. Ein himmelblaues Damenfahrrad lehnte an der Wand. Die kunstvoll geschnitzte Tür des schlichten weißen Reetdachhauses war mit rosa Kletterrosen umrankt.
Auf ihr Klingeln öffnete zunächst niemand. Unschlüssig schaute Kerrin zu Hark hinüber.
„Vielleicht ist sie im Garten“, überlegte dieser laut und spähte um die Hausecke. „Kommt, wir schauen mal nach.“
Kerrin und Jörn folgten ihm. Aufgeregtes Vogelgezwitscher war aus einem dichten Busch zu hören, ansonsten lag eine träge Stille in der Luft. Gespannt gingen die drei Beamten um das Haus herum. Auf einer geräumigen Terrasse befand sich ein großer grober Holztisch mit sechs Stühlen. Er war bis auf ein Stövchen mit einer Teekanne und eine einsame Tasse leer. Der Garten war pflegeleicht angelegt. Mitten auf dem Rasen wuchs ein alter knorriger Apfelbaum. Im Schatten unter seinen ausladenden Zweigen stand eine einzelne Liege. Eine Frau lag darauf und schlief.
Kerrin bedeutete den Männern, stehen zu bleiben, und ging allein weiter.
„Frau Halvorsen“, rief sie mit gedämpfter Stimme.
Mit einem Ruck setzte Lene Halvorsen sich auf. „Wer sind Sie?“, stieß sie schlaftrunken hervor. Ihre schulterlangen blonden Haare fielen ihr ins Gesicht, und sie strich sie automatisch hinter die Ohren. „Was tun Sie in meinem Garten?“
„Entschuldigen Sie bitte unser Hereinplatzen“, sagte Kerrin mit beruhigender Stimme. „Wir sind von der Polizei, Kerrin Iwersen ist mein Name. Und dahinten sind meine Kollegen Hark Hansen und Jörn Höpfner.“ Sie zeigte auf die beiden, die noch immer an der Hauswand standen. „Als auf unser Klingeln niemand geöffnet hat, haben wir uns entschlossen, im Garten nachzusehen, ob Sie zu Hause sind.“
„Polizei?“ Lene erhob sich langsam und sah sie fragend an. „Geht es noch einmal um meinen Mann?“
„Ja, wollen wir uns vielleicht setzen?“ Kerrin wies auf den Tisch.
„Selbstverständlich. Verzeihen Sie bitte, ich bin noch nicht ganz wach. Ich hatte Nachtschicht“, fügte sie erklärend hinzu.
Sie ging Kerrin voran zur Terrasse und begrüßte Hark und Jörn. „Setzen Sie sich doch bitte. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?“
„Nein, vielen Dank“, lehnte Kerrin für alle drei ab. „Wir kommen leider mit schlimmen Nachrichten.“ Sie stockte kurz. Es fiel ihr jedes Mal schwer, Angehörigen die Nachricht des Todes eines geliebten Menschen zu überbringen. Aber jetzt saß Jörn neben ihr, und Kerrin war klar, dass sie sich keine Schwäche erlauben durfte. Auch wenn sie eigentlich gut miteinander auskamen, wollte sie ihm keinen Anlass geben, sie anschwärzen zu können, um sich selbst gut darzustellen.
„Was ist denn? Hat mein Mann sich etwas angetan? Oder jemand anderem?“ Ihre Stimme wurde plötzlich schrill. „Ist etwas mit Pia?“
„Nein, unser Besuch hat nichts mit ihr zu tun, keine Angst.“ Kerrin blickte Lene Halvorsen direkt in die Augen. „Ihr Mann ist heute Vormittag tot aufgefunden worden. Es tut uns sehr leid.“
Lene starrte sie verständnislos an. „Was heißt das, er ist tot aufgefunden worden?“
„Touristen haben ihn im Watt am Dunsumer Deich gefunden.“
„Im Watt? Was ist denn passiert?“ Tränen sammelten sich in den Augen der Frau.
„Nach dem derzeitigen Stand der Ermittlungen gehen wir davon aus, dass Ihr Mann durch Fremdverschulden ums Leben gekommen ist.“ Kerrin merkte selbst, wie gestelzt sie klang, aber in ihren Ohren milderte diese professionelle Umschreibung die Tatsache, dass Arndt Halvorsen grausam umgebracht worden war, zumindest ein wenig ab. Jedenfalls im ersten Moment.
„Jemand hat ihn getötet?“ Die Tränen liefen nun Lenes Wangen herunter. „Warum denn? Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Das wissen wir leider noch nicht.“
Lene stand wie in Trance auf. „Das ist bestimmt ein Irrtum. Ich möchte zu ihm.“
Hark erhob sich ebenfalls und drückte die Frau sanft zurück auf ihren Stuhl. „Leider sind wir uns sicher, dass es sich um Ihren Mann handelt. Unsere Rechtsmedizinerin wird ihn ins Krankenhaus nach Wyk bringen lassen. Dort können Sie ihn sehen, bevor er nach Kiel transportiert wird.“
Lene nickte. Ein erster Schluchzer entrann ihrer Brust. Kerrin rückte dichter an sie heran und strich behutsam über ihren Arm. „Können wir jemanden anrufen, der Ihnen jetzt beisteht?“
Lene schüttelte unter einem Tränenschleier den Kopf. „Pia müsste gleich nach Hause kommen.“ Mit schmerzverzerrtem Blick sah sie Kerrin an. „Wie soll ich es ihr bloß sagen?“
Kerrin spürte einen dicken Kloß im Hals. „Wir bleiben bei Ihnen und unterstützen Sie“, war alles, was ihr einfiel. Lene schlug die Hände vor das Gesicht und weinte nun bitterlich.
„Ich verstehe das nicht“, stammelte sie schließlich, nachdem sie sich ein wenig beruhigt hatte. „Arndt hatte mit niemandem auf der Insel Streit. Er lebte doch erst seit einigen Wochen wieder hier, vorher war er über zwei Jahre in Schleswig.“
„Wo wohnte Ihr Mann?“ Kerrin war froh, auf eine sachliche Ebene ausweichen zu können.
„In einer kleinen Ferienwohnung nicht weit von hier, die schon immer seiner Familie gehört hat.“
„Haben Sie einen Schlüssel zu der Wohnung?“, fragte Jörn ruhig.
Lene nickte unter Tränen.
„Unsere Kollegen von der Spurensicherung werden ihn nachher abholen, um sich dort umzusehen. Hatte Ihr Mann ein Auto?“
„Ja, einen alten, grünen Mercedes. Er steht draußen in unserem Carport. Arndt ist selten gefahren, meist nimmt er das Rad oder geht zu Fuß. Weil zu der Ferienwohnung kein Parkplatz gehört, hat er ihn hier abgestellt.“
„Hat er ihn in den letzten Tagen benutzt?“, wollte Kerrin wissen.
„Nein, das wäre mir aufgefallen. Mein Auto steht vor seinem. Jedes Mal, wenn er es braucht, muss er mich bitten, umzuparken.“
In diesem Moment hörten sie ein lautes Rufen aus dem Haus, und nur Sekunden später kam ein junges Mädchen auf die Terrasse gestürmt. Sie war groß und schlaksig und hatte die aparten Gesichtszüge ihrer Mutter. Die langen, blonden Haare waren zu einem wilden Dutt aufgesteckt.
„Mami, ich …“, rief sie, bevor sie abrupt verstummte, als sie die Fremden auf der Terrasse und ihre verweinte Mutter sah. Lene sprang sofort auf, lief um den Tisch herum zu ihr und zog sie fest in ihre Arme. Pia überragte ihre zierliche Mutter bereits um einige Zentimeter. Beunruhigt entwand sie sich ihrer Umarmung. „Was ist hier los?“ Mit aufgerissenen Augen blickte sie sich um. „Wer sind all diese Leute?“
„Liebling, komm, wir gehen kurz rein, dann erkläre ich es dir.“ Mit diesen Worten schob Lene ihre Tochter durch die Terrassentür und schloss sie mit Nachdruck hinter sich.
„Was für ein Schlamassel.“ Jörn schaute voller Mitleid in Richtung des Hauses.
Kerrin seufzte. Die Geschehnisse gingen auch ihr an die Nieren. Gerade der Umstand, dass eine Jugendliche involviert war, machte es noch schrecklicher, als es eh schon war. „Wir müssen herausfinden, ob Arndt mit einem Taxi oder einem Bus in Richtung Dunsum gefahren ist.“
„Ich setze Tom darauf an“, bot Hark an.
Kerrin lächelte ihm dankbar zu. „Was für einen Eindruck habt ihr von Lene?“, fragte sie dann. Es stand ihr nicht zu, sich ihren Emotionen hinzugeben. Sie musste professionell reagieren und den Fall im Blick behalten. Gerade bei einem Mord waren die ersten Stunden nach dem Verbrechen entscheidend. Je mehr Zeit verstrich, desto kälter wurden die Spuren. Eine Binsenwahrheit aus der Polizeischule.
„Mir erschien sie ehrlich überrascht und getroffen. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie uns etwas vorspielt“, begann Jörn vorsichtig. „Allerdings hat sie ihn angezeigt und lebte schon länger von ihm getrennt. Das könnte gegen sie sprechen.“
Hark wiegte zweifelnd den Kopf. „Ich glaube, dass die Anzeige einer Not entsprungen ist. Sie hatte Angst um ihre Tochter und sich und konnte ihren Mann nach zwei Jahren Abwesenheit nicht mehr richtig einschätzen.“
„Was genau war denn sein Problem, dass er sich so lange in Schleswig behandeln lassen musste? Warum hat sie sich vor ihm gefürchtet?“ Kerrin sah Hark aufmerksam an.
„Tja, wo soll ich da anfangen?“ Hark überlegte einen Augenblick. „Arndt hatte von Beginn ihrer Beziehung an und wahrscheinlich schon lange vorher bestimmte Ticks. Anfangs hat Lene das kaum bemerkt, und wenn, dann fand sie es liebenswert. Die rosarote Brille lässt grüßen. Aber mit den Jahren begann es, sie zu nerven, auch weil die Ticks immer intensiver wurden.“
„Was denn für Ticks?“ Jörn beugte sich neugierig vor.
„Als Oberbegriff würde ich Ordnungsfanatiker wählen. Zahnbürste und -pasta mussten immer auf bestimmte Art und Weise im Badezimmerschrank stehen, die Handtücher waren nach Farben und Größen geordnet, die Lebensmittel im Kühlschrank nach einem Muster sortiert, ebenso der Schreibtisch, der Kleiderschrank und sogar die Besteckschublade. Hätte er sie mit diesem Fimmel verschont, wäre sie damit vielleicht klargekommen, aber im Laufe der Ehe hat Arndt es auch von ihr und später sogar von Pia verlangt. Und wenn die beiden es nicht zu seiner Zufriedenheit gemacht haben, gab es furchtbaren Krach.“
„Kein Wunder, dass sie irgendwann die Nase voll hatte“, bemerkte Kerrin.
„Da wirst du dir bei Nils keine Sorgen machen müssen, meine Lütte“, sagte Hark mit einem Augenzwinkern. „Er tendiert eher zum Gegenteil. Doch Arndts Ordnungswahn wurde im Laufe der Zeit immer schlimmer. Irgendwann war es kaum noch möglich, das Haus pünktlich zu Verabredungen oder Terminen zu verlassen, da er ständig alles noch mal und noch mal kontrollieren musste. Parallel dazu trank Arndt immer mehr Alkohol, wahrscheinlich, um sein abstruses Verhalten einzudämmen. Ein Teufelskreis. Als er dann vor ungefähr zwei Jahren abends im Vollrausch Pia anschrie und in ihr Zimmer sperrte, sodass die Kleine richtig Angst vor ihrem Vater bekam, hat Lene ihn vor die Wahl gestellt: Klinik oder Trennung.“
„Das kann ich verstehen“, warf Jörn ein. „Hat sie denn …?“
Er verstummte, als Lene und Pia in der Terrassentür erschienen. Pia weinte herzzerreißend. Lene setzte sich auf einen der Stühle und zog das Mädchen zu sich auf den Schoß. Trotz ihres Alters ließ Pia es geschehen und klammerte sich an ihre Mutter.
„Meine Freundin Ava ist auf dem Weg“, informierte Lene sie mit bebender Stimme. „Was genau ist Arndt denn geschehen?“
Kerrin schaute Hilfe suchend zu Hark. Wie sagte man Angehörigen, dass ihr Ehemann und Vater auf bestialische Weise zu Tode gekommen war?
„Er ist ertrunken“, entgegnete sie schließlich schlicht. Zu ihrer großen Erleichterung klingelte es in dem Moment, sodass sie zunächst keine weiteren Erklärungen abgeben musste.
Lene wollte aufstehen und schob Pia hoch, aber Jörn kam ihr zuvor. „Bleiben Sie bitte sitzen, ich öffne die Tür.“
Einen Augenblick später kam er mit einer kleinen, etwas rundlichen, dunkelhaarigen Frau in den Vierzigern zurück. Sie trug einen praktischen Kurzhaarschnitt und war kaum geschminkt. Fassungslos trat sie auf Lene und Pia zu, kniete neben ihrem Stuhl nieder und nahm sie für einen Moment fest in die Arme. Dann erhob sie sich und sah in die Runde. „Ich bin Ava Müller, eine gute Freundin von Lene.“ Sie zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht neben die beiden.
„Gut, dass Sie da sind. Lene und Pia können jetzt Unterstützung gebrauchen“, erwiderte Kerrin ernst.
„Selbstverständlich. Ich bleibe auch gerne über Nacht.“ Mit zitternden Händen fuhr sich Ava durch die Haare.
„Das wäre bestimmt hilfreich. Wir werden jetzt mit Frau Halvorsen ins Krankenhaus fahren, damit sie ihren Mann identifizieren kann. Danach können wir weitersprechen.“
„Ich möchte mitkommen.“ Pia blickte ihre Mutter flehentlich an.
Lene schüttelte den Kopf. „Heute nicht, Pia. Aber ich verspreche dir, dass du Papa noch einmal sehen kannst, wenn du das möchtest.“

Stefanie Rogge

Über Stefanie Rogge

Biografie

Stefanie Rogge, Jahrgang 1973, ist in Kiel aufgewachsen und hat als Kind und Jugendliche alle Ferien auf Föhr verbracht. Die studierte Juristin arbeitet seit einigen Jahren in einer Anwaltskanzlei und widmet sich in jeder freien Minute dem Schreiben. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt sie...

Pressestimmen
Ruhr Nachrichten

„Eine wirklich spannende und unterhaltsame Geschichte (..), die von der ersten Seite an zu fesseln versteht.“

magazin-koellefornia.com

„Die Autorin braucht sich mit ihren Roman von den anderen Autoren keineswegs verstecken.“

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