Gnadenhof (Allgäu-Krimis 2) - eBook-Ausgabe
Ein Allgäu-Krimi
„Spannend mit viel Lokalkolorit und liebenswerten Akteuren. Als unterhaltsame Krimilektüre nicht nur für Allgäu-Büchereien zu empfehlen.“ - Bayern im Buch
Gnadenhof (Allgäu-Krimis 2) — Inhalt
Ein Niedersachse im Allgäu
Das Museumsdorf in der Nähe von Memmingen bereitet sich auf einen anstrengenden Sonntag vor. Zahlreiche Vorführungen sollen vor allem Familien anlocken. Am Vorabend macht Museumspädagoge Ulrich Stadler bei seinem letzten Rundgang eine schauerliche Entdeckung: Im alten Uttenhof sitzen drei sehr lebensecht wirkende Figuren um den Esstisch. Erst fällt ihm nur auf, dass die Gestalten für das Ambiente zu modern gekleidet sind – dann sieht er das Blut am Boden.
Leseprobe zu „Gnadenhof (Allgäu-Krimis 2)“
Samstag, 31. Mai
Es war schon nach halb sieben, als die letzten Besucher das Gelände verließen. Ulrich Stadler sah den Senioren nach, die schwatzend und lachend auf dem Weg zum Parkplatz waren. Morgen würde das Publikum deutlich jünger ausfallen. Dann war Familiensonntag im Bauernhofmuseum Illerbeuren, und die Aktionen, Spiele und Vorführungen würden vor allem Eltern mit kleinen Kindern anlocken.
Stadler sah in den Himmel: Auch das Wetter würde wohl mitspielen. Für Memmingen und Umgebung war ein prächtiger Frühsommertag vorhergesagt, und das blaue, nur [...]
Samstag, 31. Mai
Es war schon nach halb sieben, als die letzten Besucher das Gelände verließen. Ulrich Stadler sah den Senioren nach, die schwatzend und lachend auf dem Weg zum Parkplatz waren. Morgen würde das Publikum deutlich jünger ausfallen. Dann war Familiensonntag im Bauernhofmuseum Illerbeuren, und die Aktionen, Spiele und Vorführungen würden vor allem Eltern mit kleinen Kindern anlocken.
Stadler sah in den Himmel: Auch das Wetter würde wohl mitspielen. Für Memmingen und Umgebung war ein prächtiger Frühsommertag vorhergesagt, und das blaue, nur hier und da mit weißen Wölkchen betupfte Firmament schien die Prognose zu bestätigen.
Er ließ seinen Blick über die umstehenden Gebäude schweifen, dann wandte er sich dem Gromerhof zu, in dem eines der Museumsgasthäuser eingerichtet war. Im Biergarten halfen seine Kollegen einer Kellnerin, einige Tische zu einer großen Tafel zusammenzuschieben. Stadler packte mit an, damit ihnen die Bedienung möglichst bald die gefüllten Gläser bringen konnte. Mit einem frischen Weißbier würde sich die Abschlussbesprechung schon fast wie Feierabend anfühlen.
Die Gestalt, die sich an das Fachwerk des großen Zehentstadels drückte und aufmerksam um die Ecke lugte, sah sich noch einmal um, aber im Museumsdorf schien nun niemand mehr unterwegs zu sein. Höchste Zeit, die Sache zu ihrem Ende zu bringen.
„Na ja“, sagte Tom Schaber leichthin und zuckte mit den Schultern. „Frechenrieden ist zwar nicht gerade der beste Standort für ein Elektrogeschäft, aber was soll’s? Mein Vater war halt hier Elektriker.“ Lachend deutete er auf den knallbunten Prospekt des Memminger Großhändlers, der ihm eben aus der Tageszeitung gerutscht war. „Immerhin hab ich hier im Dorf keine solche Konkurrenz!“
Resi und Hansen saßen im Garten und unterhielten sich prächtig mit Tanja und Tom Schaber, Resis bester Freundin und ihrem Mann. Die Sonne überzog nur noch einen kleinen Teil des Gartens mit sattem Gelb, der Rest lag schon im Schatten, aber die Luft war noch so warm, dass sie sich das Abendessen draußen schmecken lassen konnten.
Seit fast einem Jahr leitete Eike Hansen nun schon das Kommissariat 1 der Kripo Kempten, und gleich durch den ersten Fall hatte er Resi Meyer kennengelernt, die als Rechtsmedizinerin an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität arbeitete. Sie war gerade zu Besuch bei ihren Eltern in Roßhaupten gewesen, als nach dem Mord an einem Lechbrucker Pferdezüchter jemand gebraucht wurde, der sich das Opfer ansah und es später obduzierte. Diesem Umstand hatte Hansen in den vergangenen Monaten ein unverhofft schönes Privatleben zu verdanken, auch wenn Resi die eine oder andere Nacht ihren Eltern zuliebe nicht in Hansens gemietetem Bauernhaus am Füssener Stadtrand, sondern in Roßhaupten verbracht hatte. Sogar seiner in Hannover gebliebenen Frau, die noch nicht so recht in die Scheidung einwilligen wollte, war aufgefallen, dass Hansen schon in seinem ersten Sommer im Allgäu aufgeräumter und fröhlicher wirkte als die Jahre zuvor.
Er nahm ein Stück Käse, hörte den anderen zu und betrachtete versonnen seine Freundin. Resi war groß und schlank und trug wie meistens Jeans und Karohemd. Ihre kurz geschorenen Haare waren weißblond und bildeten einen starken Kontrast zu ihrer sonnengebräunten Haut, und ihre blauen Augen funkelten hinter einer randlosen Brille.
Resi war im Reinen mit sich und der Welt. Sie schminkte morgens keine Falten weg, und ihre Frisur war dann gelungen, wenn sie sich nur schnell mit feuchten Fingern durch die Stoppeln fahren musste, um das Haus hinreichend gestylt verlassen zu können. Nur eines mochte sie überhaupt nicht an sich: ihren Vornamen Therese, den deshalb allenfalls ihr Vater ungestraft aussprechen durfte, wenn er seine Tochter mal wegen einer allzu flapsigen Bemerkung tadelte.
Jetzt lachte sie gerade herzlich über eine Anekdote, die Tom zum Besten gab, und Hansen musste schmunzeln, als er sah, wie Resis ganzes Gesicht mitlachte und ihre Augenfältchen noch ein wenig tiefer wurden. Entspannt lehnte er sich in den bequemen Gartenstuhl zurück. So angenehm durfte sein Leben im Allgäu gerne bleiben.
Die Besprechung war dann doch noch anstrengend geworden, aber schließlich konnten auch die letzten Details für den anstehenden Familiensonntag geklärt werden. Die Kollegen teilten sich die Gebäude auf dem Areal des Bauernhofmuseums auf, um sich dann zu einer letzten Inspektion der Häuser zu zerstreuen und dabei auch gleich die Eingangstüren abzuschließen.
Sebastian Zang, der den Empfang leitete und zu dessen Aufgaben es normalerweise gehörte, allabendlich mit dem Zentralschlüssel eine Runde durch das Museum zu machen, freute sich, dass er heute ausnahmsweise früher Feierabend machen konnte, weil die Kollegen nach der Besprechung die Inspektion übernehmen wollten.
Auf Ulrich Stadler entfiel der Kontrollgang durch einige Gebäude am Nordrand des Alten Museumsdorfs, und während er den Gromerhof mit dem Gasthaus, den Nattererhof linker Hand und den Kleinbauernhof St.-Ulrich-Sölde hinter sich ließ – ein Ensemble, das gewissermaßen die Keimzelle des Museums bildete –, legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Als Museumspädagoge hätte er es weiß Gott schlechter treffen können als hier in Illerbeuren. Gerade jetzt, wenn die Schatten allmählich ein wenig länger wurden und das ganze Gelände zur Ruhe kam, genoss er die Stimmung sehr.
Seit etwa fünf Jahren arbeitete er nun schon für den Zweckverband Schwäbisches Bauernhofmuseum Illerbeuren, und so sperrig der Name seines Arbeitgebers auch klang, so spannend und abwechslungsreich waren seine Aufgaben. Das Team passte gut zusammen, und bis auf gelegentliche Ausreißer waren auch die Gäste angenehm.
Ulrich Stadler erreichte sein erstes Ziel, einen Pfarrstadel, der 255 Jahre lang in Erkheim-Arlesried gestanden hatte, bevor er 1967 im Museum neu aufgebaut worden war. Das Holztor schwang mit leisem Knarren auf, im düsteren Innenraum roch es irgendwie heimelig, und ein kurzer Rundblick zeigte: Alles war an seinem Platz. Auch im schmalen Woringer Häusle mit seinem rauchgeschwärzten Brettergiebel und den Blumenkästen vor den Fenstern war alles für morgen vorbereitet.
Der nächste Bau, den er inspizierte, war das Göpelhaus. Der nach Osten hin offene Innenraum lag zwar schon weitgehend im Dämmerlicht, aber Stadler konnte alles vom Vorplatz aus einsehen. Früher waren Pferde oder Ochsen in der Mitte des Gebäudes angeschirrt worden, die dann stundenlang im Kreis gingen und über die drehbaren Teile des Göpels und einen Riemen Maschinen antreiben konnten. Für morgen hatte er sich vorgenommen, willige Besucher für den Antrieb einzuspannen. Dafür hatte er an die Holzkonstruktion mehrere gepolsterte Schulterhalfter anbringen lassen, und er freute sich schon auf die Aha-Erlebnisse der Gäste, wenn sie merkten, wie schwer diese Arbeit war.
Auf dem Weg zum Uttenhof, dem letzten Gebäude auf seiner Runde, sah er einige Meter entfernt das neue Bienenhaus. Stadler musste lächeln. Dem Häuschen verdankte er eine amüsante Erinnerung, denn dahinter hatte er einmal zwei junge Leute entdeckt, die sich von ihrer Schulklasse abgesetzt und es sich in ihrem Versteck gemütlich gemacht hatten. Er hatte sie in einem denkbar ungünstigen Moment erwischt, und es war den beiden reichlich unangenehm gewesen. Auch sein Chef, Museumsleiter Dr. Ernst Fessler, kannte solche Anekdoten in großer Zahl, und immer wieder lockerte er die freitags stattfindenden Dienstbesprechungen durch Erzählungen aus seinem schier unerschöpflichen Fundus auf.
Stadler ging die Stufen zum Scheuneneingang des Uttenhofs hinauf und schloss die offen stehende Tür, dann kletterte er auch die Treppe zur Tenne hinauf und sperrte oben ebenfalls ab. Bevor er das Wohnhaus inspizierte, gönnte er sich noch einmal den Anblick der dunklen, verwitterten Außenbretter des fast 270 Jahre alten Holzbaus, die im Kontrast zu den hell gestrichenen Torflügeln und Klappläden standen. Über dem Eingang hing der Widderschädel mit seinen gewundenen Hörnern, und links daneben waren eine Sense und eine Infotafel an der Wand befestigt.
Nur die Tür selbst stand nicht offen wie üblich, sondern war angelehnt. Ulrich Stadler stutzte, und einen Moment lang war es ihm, als würde er auf der Wiese hinter dem Haus gedämpfte Schritte hören, doch als er kurz den Atem anhielt und lauschte, war alles still, und er schüttelte den Kopf über sich selbst.
So umtriebig tagsüber alles wirkte, so deutlich brachten die Abende und mehr noch die Nächte die Erinnerungen hervor. Die Erinnerung an die Jahrhunderte, die diese Häuser aus Holz und Stein überdauert hatten, die Menschen, die in ihren Zimmern gestorben waren, die Schicksale, die Männer und Frauen, Kinder und Greise hier erlebt und teils ertragen hatten ...
Manchmal, bevor er nach Feierabend heimfuhr, setzte sich Stadler in eine der Stuben, sah durch die kleinen Sprossenfenster und genoss die Ruhe. Ab und zu nahm er an einem der großen Holztische auch seine Vesper ein, trank ein Bier dazu und dachte über dies und jenes nach. Das Knacken der Holzbretter, das Rascheln der Kleintiere draußen in den Büschen – Stadler fand diese Atmosphäre sehr beruhigend. Und wenn dann vor seinem geistigen Auge die längst verstorbenen Bewohner der Häuser wiedererstanden, sich zu ihm an den Tisch setzten und schwatzten, brachte ihn das auch nach besonders hektischen Tagen gründlich zur Ruhe.
Die drei Gestalten, die um den Esstisch im Uttenhof saßen, waren allerdings keine Geister. Im ersten Moment keimte Ärger in Stadler auf, weil ihm niemand von dieser neuen Attraktion berichtet hatte, wo sie doch vorhin so lange im Biergarten zusammengesessen und jede Kleinigkeit durchgehechelt hatten.
Im zweiten Moment war er irritiert, weil der Uttenhof mit viel Sorgfalt in einen Zustand gebracht worden war, der dem bäuerlichen Leben um das Jahr 1900 entsprach – und weil die drei Gestalten dafür eindeutig zu modern gekleidet waren.
Im dritten Moment sah er das Blut.
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