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Große Lieben Große Lieben - eBook-Ausgabe

Katharina Hartwell
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Roman

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Große Lieben — Inhalt

Maren und Inga sind dreizehn, als sie über das Tennisspiel Freundinnen werden. Doch ist auch das keine echte Gemeinsamkeit, denn die Mädchen trennt ihre soziale Herkunft. „Große Lieben“ verfolgt beider Leben von den 90er-Jahren bis in die Gegenwart – während die eine sich weiter in der Welt des Geldes bewegt, wird die andere Schriftstellerin. Mit Lakonie und viel Witz erzählt Katharina Hartwell davon, was es heißt, als Mädchen aufzuwachsen, über Identitätsfindung, patriarchale Strukturen und die schwierige Balance zwischen Selbstverwirklichung und Mutterschaft.

„Katharina Hartwell erzählt mit herzzerreißender Komik und schonungslosem Scharfsinn. Ich wünschte, ich hätte dieses Buch als junge Frau lesen können. Es zählt schon jetzt zu meinen großen literarischen Lieben.“ Isabelle Lehn

€ 24,00 [D], € 24,70 [A]
Erscheint am 27.02.2025
368 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1501-3
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€ 19,99 [D], € 19,99 [A]
Erscheint am 27.02.2025
368 Seiten
EAN 978-3-8270-8107-0
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Leseprobe zu „Große Lieben“

1. Pool

Als Inga und ich uns das erste Mal verabredeten, sagte sie am Telefon, ich solle einen Badeanzug mitbringen. Sie hätten einen Pool zu Hause, sagte sie, und weil wir telefonierten und ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, dachte ich, sie hätte einen Witz gemacht, und brachte keinen mit.

In Ingas Haus gab es aber tatsächlich einen Pool, außerdem eine Sauna, einen Induktionsherd, einen Crosstrainer, einen Fernseher, so groß wie eine Kinoleinwand, und eine Alarmanlage. Dann gab es noch zwei Zimmer, die nur Inga gehörten: das Kinder- und das Spielzimmer. [...]

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1. Pool

Als Inga und ich uns das erste Mal verabredeten, sagte sie am Telefon, ich solle einen Badeanzug mitbringen. Sie hätten einen Pool zu Hause, sagte sie, und weil wir telefonierten und ich ihr Gesicht nicht sehen konnte, dachte ich, sie hätte einen Witz gemacht, und brachte keinen mit.

In Ingas Haus gab es aber tatsächlich einen Pool, außerdem eine Sauna, einen Induktionsherd, einen Crosstrainer, einen Fernseher, so groß wie eine Kinoleinwand, und eine Alarmanlage. Dann gab es noch zwei Zimmer, die nur Inga gehörten: das Kinder- und das Spielzimmer. Damals dachte ich lange darüber nach, was man wohl im Kinderzimmer machte, wenn man zum Spielen ins Spielzimmer ging.

Meine Mutter brachte mich zu meiner ersten Verabredung mit Inga. In den Jahren danach nahm ich den Bus oder das Fahrrad, aber zu unserer ersten Verabredung fuhr sie mich. Warum, weiß ich nicht genau. Ich war dreizehn und eigentlich schon zu alt, um von meiner Mutter irgendwohin eskortiert zu werden. Allerdings wohnten die meisten meiner Freunde fußläufig und waren meinen Eltern bekannt. Die Stroms wohnten nicht direkt in Hanau, sondern in einer der umliegenden noch kleineren Kleinstädte. Das könnte der Grund gewesen sein. Vielleicht aber war es auch bloß Neugier.

Wir hielten vor Ingas Haus, und meine Mutter sagte erst mal nichts. Stumm saßen wir im Auto und schauten uns um. Viel sehen konnte man nicht. Das Haus lag versteckt hinter einer hohen Buchsbaumhecke, einer Mauer, zwei Bäumen und einer Garage mit zwei Toren.

„Aha“, sagte meine Mutter dann. Irgendwie wusste ich, was sie damit meinte, und irgendwie wusste ich es nicht, traute mich aber auch nicht zu fragen.

In der Mauer war ein Tor, und neben dem Tor war ein Klingelschild, und auf dem Schild stand kein Name. Inga hatte mir Straße und Hausnummer genannt und am Telefon gesagt, dass ich mir beides merken müsse. Ich verstand nicht, warum es den Stroms so wichtig war, dass niemand wusste, dass sie in diesem versteckten Haus lebten. Ihre Vorsicht hatte wohl etwas mit ihrem Geld zu tun, aber hätten mögliche Einbrecher nicht alleine wegen der Lage des Hauses wissen können, dass sich hier ein Einbruch lohnte? Welchen zusätzlichen Erkenntnisgewinn würden sie aus dem Namen Strom ziehen? Kurz zuvor hatte ich im Fernsehen einen Bericht über das Leben der Hollywoodstars gesehen, die nicht in Häusern wohnten, sondern in mansions. Ihre Namen standen nie neben dem Eingangstor, und man brauchte einen Experten, jemanden, der sich in Hollywood auskannte, wenn man einen bestimmten Star in seiner mansion aufspüren und fotografieren wollte. Wie auch immer, die Stroms waren bloß die Stroms, und ich hätte gern den gesehen, der sie aufspüren und fotografieren wollte.

Ein Summton erklang, aber wir reagierten nicht schnell genug und rüttelten zu spät an dem Tor. Meine Mutter klingelte ein weiteres Mal, und als es wieder summte, rissen wir das Tor auf und stürmten hindurch. An der Garage vorbei ging es durch einen Vorgarten zum Haus, das groß war, aber, soweit ich es beurteilen konnte, keine mansion. Ingas Mutter öffnete die Tür. Inga war klein, kleiner noch als ich, und ihre Mutter war klein, kleiner noch als meine Mutter. Sie tat mir leid. Bis ich sie besser kennenlernte, tat sie mir immer leid. Sie war nicht schön wie meine Mutter und wusste nichts aus sich zu machen. Sie kleidete sich auf eine unbeholfene Weise, wie ich fand. Lange Zeit dachte ich, sie hätte keinen Geschmack, aber heute weiß ich, dass ich es war, die keinen Geschmack hatte. Ingas Mutter war elegant, zu elegant für Hanau, elegant auf eine ganz bestimmte mondäne Art, die mir nichts sagte, weil ich ihr so noch nie begegnet war und sie nicht einzuordnen wusste. Oft trug sie weiße Blusen, die asymmetrisch geschnitten waren oder über ein bestimmtes, auffallendes Detail verfügten, einen ungewöhnlich breiten oder aber schmalen Kragen, speziell geformte Knöpfe oder vermeintlich sinnlose Raffungen im Stoff. Zu besonderen Anlässen sah man sie in voluminösen, dunklen Kleidern, die an Säcke oder Ballons erinnerten und ihre Taille nicht betonten. Von meiner Oma, die einmal Schneiderin gewesen war, hatte ich gelernt, dass Frauen immer ihre Taille betonen sollten. Es sei denn, sie hatten keine. Dann mussten sie sich auf andere Vorzüge besinnen. Zur Not die Knöchel.

Noch merkwürdiger als Frau Stroms Kleidung war ihr Haar. Es saß auf ihrem Kopf wie ein silbern glänzender Helm; in seiner Beschaffenheit hatte es nichts gemein mit der Art Haar, die ich bisher auf den Köpfen anderer Leute hatte wachsen sehen. Es wirkte künstlich. Seine Farbe, seine Struktur, der akkurate Schnitt. Scharfe Kanten über blassen Augenbrauen, neben den Schläfen, über den Schultern.

Ingas Mutter und meine Mutter begrüßten sich und tauschten ein paar Floskeln. Ich dachte, dass Frau Strom sie hereinbitten würde, so wie die Mütter meiner anderen Freundinnen es getan hätten, aber sie blieb in der Tür stehen, mitten in der Tür, als müsste sie darauf achten, dass niemand sich an ihr vorbei ins Haus schlich. Wahrscheinlich war es meiner Mutter ganz recht so. Sie mochte Ingas Mutter nicht. Meiner Mutter konnte man immer ganz genau ansehen, ob sie jemanden mochte oder nicht. Das hatte ich von ihr, auch mir konnte man alles immer ansehen, und manchmal war es ein Vorteil, meist aber nicht.

Ingas Mutter, vermutete ich, mochte meine Mutter ebenfalls nicht. Aber das war bloß eine Vermutung, denn Ingas Mutter war das genaue Gegenteil meiner Mutter; man konnte ihr überhaupt nichts ansehen. Sie hätte von einer Affäre ihres Mannes erfahren können oder dass sie selbst an einer tödlichen Krankheit litt oder dass ein Trickbetrüger sich mit ihrem gesamten Vermögen davongemacht hatte, man hätte es ihr nicht angesehen. Ihr Gesicht war immer glatt und ausdruckslos und so, als wäre sie neu in der Welt und hätte noch nichts erlebt und keine Meinung zu irgendwas.

 

Das Haus der Stroms hätte eher in ein Magazin gepasst als in eine triste, mansionarme Kleinstadt. Oh und Wow, sagte ich, als ich eintrat, aber ich sagte es, weil ich irgendwie wusste, dass es von mir erwartet wurde, nicht weil ich das Oh, das Wow wirklich fühlte. Durch einen kurzen Flur gelangte man in eine Art Halle. Die Halle selbst war groß und weiß, und alles andere darin war es auch. Der Boden etwa bestand aus weißen, glänzenden Steinfliesen. Inga tat mir leid. Ich fand Teppich am besten, schön flauschig wie bei meiner Oma. Zu Hause hatten wir nur Linoleum, aber selbst das war besser als Fliesen. Die Fenster der Stroms waren eigentlich keine Fenster, sondern gläserne Wände, die man aufschieben konnte, um in den Garten zu spazieren. Zumindest theoretisch konnte man das, praktisch nicht, weil irgendetwas mit der Alarmanlage nicht stimmte. Nur Herr Strom war befugt und fähig, diese Fenstertüren zu öffnen, und das auch erst, nachdem er etwas in ein kleines Gerät in der Wand getippt hatte. Jedes Mal, wenn ich zu Besuch war, schärfte mir Inga ein, dass ich auf keinen Fall die Türen öffnen dürfe. Das sagte sie so oft zu mir, dass es mich in den Fingern juckte, es doch zu tun, auch wenn ich ja gar nicht in den Garten wollte.

In der großen weißen Halle standen ein großes weißes Sofa und ein großer weißer Tisch. Es gab auch Bilder an den Wänden – keine schönen wie im Haus meiner Oma, auf denen es viel zu entdecken gab, Berge und Elche und kleine Häuser und, wenn man genauer hinsah, auch den ein oder anderen Wanderer. Die Bilder der Stroms zeigten irgendwelche Formen und Farben. Eine Reihe dieser Bilder, alle in Schlammfarben gehalten, hing über einer Vase, die mir in etwa bis zum Kinn reichte und die, anders als zu erwarten, nicht mit baumgroßen Blumen gefüllt war, sondern mit überhaupt nichts. Sämtliche Einrichtungsgegenstände legten nahe, dass Riesen an diesem Ort lebten und nicht die kleine Inga mit ihrer kleinen Mutter und ihrem Vater, der eigentlich nie da war und irgendetwas mit Büromöbeln machte.

Von der Halle aus führte eine geschwungene Treppe in die obere Etage hinauf. Die Treppe war das Protzigste im Haus und gefiel mir, weil sie mich an Beverly Hills und Melrose Place erinnerte. Es schien möglich, ja wahrscheinlich, dass jeden Moment eine hochgewachsene, untergewichtige Frau mit platinblondem Haar und glitzerndem Paillettenkleid die Treppe herunterkommen könnte. Als ich hinter Inga die Stufen hinaufging, stellte ich mir vor, ich wäre eine hochgewachsene, untergewichtige Frau mit platinblondem Haar und glitzerndem Paillettenkleid. Ich würde Jennifer heißen oder Heather und ein Alkoholproblem haben und vielleicht bald im Rollstuhl sitzen oder jemanden umbringen.

 

Ingas Zimmer hatten beide einen mintgrünen Teppich und waren sehr aufgeräumt. Das Kinderzimmer zeigte sie mir zuerst; sie zeigte mir ihren Fernseher und ihren Gameboy und ihren CD-Spieler und ihre CDs. Im Spielzimmer zeigte sie mir dann auch noch ihre alten Spielsachen, über die wir uns lustig machten, weil wir uns zu gut erinnern konnten, was uns diese Dinge gerade erst, vielleicht noch im Jahr zuvor, bedeutet hatten: ein pinkfarbenes Barbie-Haus, ein pinkfarbener Barbie-Ferrari und ein pinkfarbenes Barbie-Pferd. Nachdem wir über Ingas Spielsachen gelacht hatten, gingen wir zurück ins Kinderzimmer und lackierten uns die Fingernägel. Inga schlug vor, im Pool zu schwimmen, und ich gestand, dass ich meinen Badeanzug nicht mitgebracht hatte. Ein wenig überraschend bot sie an, mir ihre Schwimmsachen zu leihen – überraschend, weil Inga spindeldürr war, ich eher kurvig. In einer Zeitschrift hatte ich gelesen, dass ich eine Birne sei. Da Inga meine Birnenhaftigkeit bisher wohl nicht bemerkt hatte, wollte ich sie nicht mit der Nase drauf stoßen und überlegte, stattdessen einen Grund zu erfinden, warum ich nicht ins Wasser konnte. Zum Beispiel eine Wasserallergie. Ich weiß nicht, weshalb, aber wenn ich log – was oft vorkam, immer wenn ich mir eine Demütigung ersparen wollte –, dann log ich extravagant, so übertrieben, dass die Lüge für jeden, der seine fünf Sinne beisammenhatte, offensichtlich war. Inga gegenüber behauptete ich, gerade erst eine neue Zahnfüllung bekommen zu haben, die nicht in Kontakt mit gechlortem Wasser kommen dürfe.

„Na, dann nächstes Mal“, sagte sie, und ich versprach, bei meinem nächsten Besuch einen Badeanzug mitzubringen.

 

Bei meinem nächsten Besuch brachte ich einen Badeanzug mit. Von der großen weißen Halle aus gingen wir diesmal nicht die Beverly Hills-Treppe hinauf, sondern stiegen eine andere, bescheidenere Treppe in den Keller hinab.

„Hier ist der Partykeller“, sagte Inga.

Auf den ersten Blick unterschied sich der Partykeller nicht von einem ganz normalen Keller. Das Einzige, was in dem modrig riechenden Raum an Party denken ließ, war eine Lichterkette. Schaltete man sie an, leuchteten Glühlampen in Blau, Rot, Grün und Gelb. Ausgeschaltet aber wirkte sie so trist wie das ausrangierte Ledersofa, das Regal, in dem sich Brettspiele in ausgeblichenen Kartons stapelten und Getränkekisten mit Mineralwasser (Klassik). Ich war noch nie auf einer Partykeller-Party gewesen, und während Inga mir von den Runden Twister berichtete, die ihre Freunde und sie hier unten an ihrem elften, zwölften und dreizehnten Geburtstag gespielt hatten, hoffte ich, dass sich daran auch nie etwas ändern würde. Die Hölle war ein Partykeller, in dem man von früh bis spät Twister spielen musste. Oder Trivial Pursuit.

Vom Partykeller aus gelangten wir in einen gekachelten Zwischenraum. Geradeaus weiter ging es in den Pool-Raum, zur Rechten befand sich ein Holzverschlag – die Sauna. Inga und ich wussten, dass dicke, alte Menschen in Saunen saßen, und auch wenn Ingas Eltern weder dick noch besonders alt waren, stellten wir sie uns in der Sauna so vor. Als ob die Hitze eine andere Wahrheit aus ihren Körpern locken würde.

„Ich würde niemals in eine Sauna gehen“, sagte Inga schnell.

„Ich auch nicht“, sagte ich.

Wir waren beide erleichtert, vielleicht auch, weil wir endlich eine Gemeinsamkeit gefunden hatten, etwas, das uns verband.

 

Der Pool war nichts Besonderes, gleichzeitig aber sehr besonders. Was ihn besonders machte, war, dass er sich im Haus der Stroms befand. Es gab Dinge, die erwartete man nicht in den Häusern anderer Leute. Ein Kino zum Beispiel, einen Operationssaal, eine Disco oder eben: einen Pool. Diese Dinge, hatte ich bisher immer angenommen, gehörten der Allgemeinheit, allen Menschen. Man konnte keinen Bus besitzen, keine Schule, keine Bibliothek, kein Schwimmbad.

Ingas Pool, sagte ich im Kopf zu mir und kicherte stumm. Wir schwimmen jetzt in Ingas Pool, und diese Worte waren irgendwie gleichzeitig lächerlich und beeindruckend und unanständig. Das verstand ich zwar nicht, ich fühlte es aber. Hätte Inga mir ein Dokument gezeigt, das besagte, ihrem Vater würde die ganze Stadt gehören, ich hätte genauso gekichert.

Das Besondere an dem unbesonderen Pool war also, dass man etwas, das man hätte teilen müssen, nicht teilen musste. Keine kleinen Kinder, die heimlich ins Wasser pinkelten, keine alten Frauen mit Badehauben, die tratschend nebeneinanderher schwammen. Weil ich noch nie einen Pool für mich alleine gehabt hatte, brauchte ich eine Weile, bis ich begriff, dass ich auch gar keinen Pool für mich alleine haben wollte, zumindest nicht den der Stroms. Er war so klein, dass man mit fünf Schwimmzügen von einem Ende zum anderen gelangte – was im Grunde keinen Unterschied machte; ich war ja viel zu faul, um tatsächlich schwimmen zu wollen. Wir hielten uns am Beckenrand fest und strampelten mit den Beinen. Anschließend sprangen wir vom Rand des Pools ins Wasser, weil man das in einem normalen Schwimmbad nicht gedurft hätte, und johlten und schrien dabei – unsere Stimmen klangen unheimlich; die gekachelten Wände warfen sie merkwürdig schrill zurück.

Hinter jedem großen Spaß lauert die nächste Langeweile, und so wurden wir immer wilder. Bei einem besonders waghalsigen Sprung schlug ich mit dem Hintern mit voller Wucht auf der Wasseroberfläche auf. Der Aufprall trieb mir Tränen in die Augen, und ich hätte am liebsten laut geheult vor Scham, vor Wut und Schmerz, doch dafür war mir mein Übermut zu peinlich. Also ließ ich mich bloß mit unbeteiligtem Gesicht im Wasser treiben.

In der einen Ecke des Pools hatten die Fugen zwischen den Kacheln angefangen zu schimmeln, und auch sonst ekelte ich mich ein wenig vor dem Becken. Ab und an waren gluckernde Geräusche zu hören, als würde etwas eingesaugt oder ausgespuckt werden. In den Wänden befanden sich Öffnungen, kleine dunkle Schlünde, die unter Wasser nur verschwommen zu erkennen waren.

„Gibt es hier unten eigentlich Ratten?“, fragte ich Inga. Ich fragte beiläufig, weil ich meinen Ekel für mich behalten wollte. Sich vor einem privaten Pool zu ekeln, war unangebracht. Man durfte sich so wenig vor einem Pool ekeln wie vor einem Einhorn, das plötzlich im eigenen Badezimmer stand. Es blieb einem gar nichts anderes übrig, als niederzuknien und andächtig den Kopf zu senken, selbst wenn die Mähne des Einhorns stumpf und sein Fell struppig war, selbst wenn es lahmte und stank und einen mit seiner klebrigen Zunge ableckte. Ein Einhorn war ein Einhorn, war immer etwas Besonderes. Genau wie so ein Pool immer etwas Besonderes war, selbst wenn er schimmelte und man ihn vielleicht mit Ratten teilen musste.

Laut Inga gab es aber keine Ratten, und so ließen wir uns eine Weile auf dem Rücken treiben und schauten zur grau-braun gefleckten Decke hinauf. Als auch das zu langweilig wurde, kletterten wir aus dem Becken und trockneten uns ab. Die Fliesen unter unseren Füßen waren warm. Die Sonne konnte sie nicht aufgeheizt haben, der Pool-Raum lag ja im Souterrain, ein Wort, das die Stroms für Keller benutzten, wahrscheinlich weil es schwedischer klang. Inga erklärte, der Boden sei beheizt. Von so etwas hatte ich noch nie gehört – ein Boden wie eine einzige große Heizung. Wir legten uns auf die Fliesen und redeten über die neue Folge Beverly Hills, die wir zwar noch nicht gesehen, von der wir aber bereits gehört hatten.

In den nächsten Tagen gab ich zu Hause und in der Schule bei jeder Gelegenheit mit dem Pool an. Ich erzählte allen, die es hören wollten, und meiner Schwester Caro, dass ich in einem privaten Pool geschwommen und gleich mehrmals vom Beckenrand gesprungen war. Meine Rattenangst und den Ekel vor den braunen Flecken behielt ich für mich, ebenso wie die Tatsache, dass mir die warmen Fliesen viel besser als der Pool gefallen hatten. Wie die Wärme von dem Stein in meine Haut übergegangen war, in Fußsohlen, Waden, in die Unterseite der Schenkel, Schulterblätter und in den Hinterkopf. Ich hatte die Augen geschlossen und mich sicher und geschützt gefühlt, ganz anders als in dem kühlen Wasser, das durch das grelle Türkis der Wände abweisend und irgendwie feindselig gewirkt hatte.



2. Tennis

Schwer zu sagen, warum Inga Strom und ich überhaupt Freundinnen wurden. Wir gingen nicht auf dieselbe Schule, hatten also weder gemeinsame Freunde noch gemeinsame Feinde. Wir wohnten nicht in derselben Gegend und interessierten uns nicht für dieselben Dinge. Wenn uns etwas verband, dann Tennis, aber eigentlich verband uns auch das nicht, weil es für uns beide nicht dasselbe bedeutete. Für Inga war es eine Selbstverständlichkeit, ihre Mutter spielte Tennis, ihr Vater und all ihre Onkel. In meiner Familie machte niemand Sport, und warum ich mir ausgerechnet Tennis in den Kopf gesetzt hatte, verstand keiner. Der Tennislehrer nicht, meine Mutter am wenigsten, und selbst ich war mir nicht ganz sicher.

Der Unterricht kostete meine Eltern wahrscheinlich ziemlich viel Geld, aber darüber machte ich mir damals keine Gedanken. Mir kam es ja so vor, als würde ich ihnen einen Gefallen tun. Wenn ich mein Zimmer verließ, dann immer nur, weil ich ihnen einen Gefallen tat. Oder weil ich Hunger hatte oder auf die Toilette musste. In meiner Familie nannten sie mich Milbe, weil man mich in der Regel im Bett oder auf dem Teppich fand.

Meine Eltern sahen die Sache ein wenig anders als ich: Sie glaubten, mir einen Gefallen zu tun, weil es gesund war, sich zu bewegen und möglichst viel Zeit unter Menschen zu verbringen. Sie waren der Meinung, dass ich zu viel über mich selbst nachdachte und dass man besser nicht zu viel, eigentlich sogar überhaupt nicht über sich selbst nachdachte. So handhabten sie das ja auch.

Wäre es jedenfalls nach mir gegangen, hätte ich gar keinen Sport gemacht. Am liebsten tat ich Dinge, bei denen man saß oder – besser noch – lag, wie beim Lesen oder Fernsehen. Aber meine Mutter bestand auf einem Sport, wahrscheinlich weil Brigitte, ihre Freundin, die am liebsten herumsaß und Russischbrot aß, gesagt hatte, dass Sport ja sehr wichtig sei für Körper und Geist. Meine Mutter war um beides besorgt, vor allem seitdem meine Oma ihr am Telefon erzählt hatte, dass sie der Meinung sei, ich hätte Tendenzen. Darunter konnte meine Mutter sich nichts vorstellen und erzählte meinem Vater abends aufgebracht in der Küche davon. Wie immer sprach sie sehr laut. Wenn meine Eltern sich geheime Dinge über meine Schwester und mich anvertrauen wollten, gingen sie in die Küche, um sie sich dort zuzuschreien. Die Küche lag ungefähr vier Meter von unseren Kinderzimmern entfernt, aber unsere Eltern waren von Natur aus laute Menschen, außerdem fehlte es ihnen an Vorstellungskraft. Sie konnten einfach nicht glauben, dass es Caro und mich auch dann gab, wenn man uns nicht sah.

„Mama sagt, ihr sei aufgefallen, dass Maren Tendenzen hat“, rief meine Mutter an diesem Abend.

„Tendenzen!“, rief mein Vater zurück. „Was soll das denn heißen?“

„Ich weiß nicht, aber du hast selbst gesagt, dass Maren zu viel alleine in ihrem Zimmer ist. Und dann immer diese Außerirdischen.“

Ich war gespannt, was mein Vater zu mir und den Außerirdischen zu sagen hatte, aber wie in den meisten Unterhaltungen, die sich nicht unmittelbar um ihn drehten, hatte er nach etwa zwanzig Sekunden das Interesse verloren und erinnerte meine Mutter daran, dass in fünf Minuten der Tatort anfing.

 

Als feststand, dass ich mich für irgendeinen Sport würde entscheiden müssen, traf ich meine Wahl: Ballett. Nach der ersten Stunde aber nahm die Ballettlehrerin meine Mutter beiseite und riet ihr, mich wieder aus dem Kurs zu nehmen, dann könne man das Ganze auch als Probestunde verbuchen und die Gebühr erstatten. Ich hatte eine auffällige Hüftfehlstellung und ein Hohlkreuz, das war bereits bekannt, aber laut der Ballettlehrerin hatte ich außerdem keine Körperintelligenz.

„Es tut mir leid, aber Ihre Tochter hat überhaupt keine Körperintelligenz“, sagte sie zu meiner Mutter, und meine Mutter gab mir das so weiter, da sie mir oft weitererzählte, was andere Leute über mich dachten.

Nach dem Ballett-Desaster versuchte ich es mit Rollschuhkunstlauf, doch auch dafür brauchte man anscheinend Körperintelligenz oder irgendetwas anderes, das ich nicht hatte. Ohnehin war Rollschuhkunstlauf ein Kompromiss gewesen, denn eigentlich wollte ich Eiskunstläuferin sein. Drei Jahre zuvor hatte ich Oksana Baiul Gold bei der Winterolympiade in Lillehammer gewinnen sehen, und es war neben dem Serienstart von Akte X – Die unheimlichen Fälle des FBI einer der Höhepunkte meines Lebens gewesen. Eine Zeit lang vergaß ich, dass Oksana Baiul nicht meine beste Freundin war und auch gar nichts von mir wusste. Ich liebte sie nicht wegen, sondern gegen etwas: gegen meine Eltern, die sie albern fanden, ihr Kostüm, ihren Gesichtsausdruck, ihre Frisur. Meine Mutter nannte Oksana puppig. Die Frauen in meiner Familie nannten andere Frauen stets puppig, statt sie geradeheraus als dumm zu bezeichnen. So war es leichter, zu behaupten, man habe ja niemanden beleidigen, sondern lediglich eine Beobachtung machen wollen. (Gleiches galt für: gesund statt dick, lebenslustig statt dick, kurvenreich statt dick. Unkompliziert statt dumm.) Ich fand Oksana nicht puppig. Ich liebte sie als schwarzen Schwan, als weißen Schwan, als pinken Pudel. Ich liebte sie, wenn sie sprang, und ich liebte sie, wenn sie fiel. Als ich sah, wie sie mit rosafarbenen Federn geschmückt einer euphorischen Kinderbraut gleich übers Eis sprang, musste ich die Hände zu Fäusten ballen, weil ich so viel Schönheit kaum aushalten konnte. Was es damals für mich bedeutete, Oksana Baiul zu lieben, kann ich im Nachhinein schlecht erklären. Einerseits malte ich mir aus, sie sei meine beste Freundin, und auf dem Nachhauseweg von der Schule stellte ich mir vor, sie würde neben mir herlaufen, und ich könnte mich bei ihr über die Hausaufgaben beschweren und über den Unterricht. Gleichzeitig träumte ich davon, selbst Oksana zu sein, übers Eis zu fliegen und so zu strahlen, als hätte ich keine Zähne im Mund, sondern radioaktive kleine Perlen.

In den Wochen nach der Winterolympiade sah ich mir gleich mehrere Reportagen über Oksana Baiul an, ihre tragische Vergangenheit, ihr Schicksal, ihren Aufstieg und Triumph. Sie war ein Waisenkind, lebte unter katastrophalen Umständen in einem Hochhausghetto, trainierte unter katastrophalen Umständen auf löchrigem Eis. Während ich vor dem Fernseher kauerte und mich durch eine Tüte Snackbrezeln snackte, hatte ich das Gefühl, hier werde meine Geschichte erzählt. Als würde jemand endlich über die katastrophalen Umstände berichten, unter denen ich aufgewachsen war und gekämpft hatte, auch wenn ich heute nicht mehr weiß, wo genau ich die Parallelen sah. Ich war kein Waisenkind und hatte nie auf löchrigem Eis trainiert. Ich besaß nicht einmal Körperintelligenz. Und trotzdem weinte ich im Winter 1994 oder tat zumindest so, als würde ich weinen vor Rührung, als Oksana Baiul ihre Wertung erfuhr und sich schluchzend die roten Hände vors Gesicht schlug, während meine Eltern stöhnten. Nummer eins. Gold. Gold. Gold. Ein großer Sieg für Oksana, ein kleiner Sieg für mich.

 

Noch besser als an Oksanas dreifachen Flip kann ich mich daran erinnern, wie wütend ich damals auf meine Eltern war, weil sie sich über Oksana lustig machten. Unter all meinen Tendenzen war es die Wut, die meiner Mutter die größten Sorgen machte. Ich war ein wütendes Baby gewesen, ein wütendes Kleinkind, das zu einem wütenden Mädchen herangewachsen war. In meiner Familie und angeblich auch in der Nachbarschaft war ich für meine Wutanfälle bekannt. Manchmal tobte ich, bis ich zu hyperventilieren begann oder einen Schluckauf bekam.

Die meisten Frauen in meiner Familie – meine Oma, meine beiden Tanten, meine Großtanten – hatte ich noch nie wütend gesehen. Wenn die Wut sich ankündigte, so wie sich eine Erkältung etwa durch ein erstes Niesen oder Kratzen im Hals ankündigt, dann flohen sie umgehend. Ich nehme an, dass sie sich irgendwo im Haus versteckten, wahrscheinlich im Keller oder im Waschraum, wo sie ihre Wut zu einer kontrollierten Explosion brachten, indem sie, so stellte ich mir das zumindest vor, ein hasserfülltes Wort fauchten oder besonders aggressiv bügelten. Wenn sie wieder hervorkamen, war ihr Haar gerichtet, ihre Miene unbewegt, ihre Stimme hell, ja beinahe fröhlich.

Mit zehn hatte ich zwei Strategien, um meine Wut zu kontrollieren. Die erste war, mir in die Hand zu beißen, die zweite, Dinge kaputt zu machen, manchmal meine eigenen, öfter aber die der anderen. In dem Jahr, in dem Oksana in Lillehammer lief, machte ich kaputt: eine Bee-Gees-Platte meines Vaters, drei T-Shirts und einen Pullover von Caro, einen Bildband über den Schwarzwald, zwei Mathematik-Nachhilfebücher, einen goldenen Gel-Stift, der nie richtig schrieb, zwei Gläser (unabsichtlich), ein weiteres Glas (mit Absicht), eine Schmuckausgabe der Buddenbrooks, die meinem Vater gehörte, eine Drei Fragezeichen-Kassette (meine), eine TKKG-Kassette (Caros), einen besonders schönen Teller und zwei hässliche, eine kleine Porzellanfigur, die ich meiner Oma hatte schenken wollen, eine Topfpflanze, einen Schal, die aussortierten Turnschuhe meines Vaters. Zerbrechliches zerbrach ich, in Textilien schnitt ich, aus Kassetten zog ich das Band.

Meine Mutter sagte häufig, auch viele Jahre später noch, dass sie nie habe verstehen können, warum ich mich so oft über Dinge ärgerte, die doch gar nichts mit mir zu tun hätten. Aber natürlich hatten sie nur auf den ersten Blick nichts mit mir zu tun. Auf den zweiten alles. Wer über Oksana Baiul lachte, lachte auch über mich, die ich sie ja liebte. Wer Oksana Baiul lächerlich machte, der machte mich lächerlich. Und eine meiner Tendenzen war, dass ich immer hoffte, die Welt werde mich sehr ernst nehmen.

 

Wahrscheinlich hatte ich geglaubt, mich beim Rollschuhkunstlauf wenigstens einmal die Woche wie Oksana fühlen zu können, aber Rollschuhkunstlauf ist nicht Eiskunstlauf, und die einzige (eher unelegante) Figur, die wir über Wochen einstudierten, war die Kanone, bei der wir auf dem Boden kauern und ein Bein von uns strecken mussten. Statt dass wir uns in luftige Höhen schwangen und atemberaubend schnell um die eigene Achse drehten, würden wir nach Monaten anstrengenden Trainings wohl nur einen Hüpfer zustande bringen. Und eine weitere meiner Tendenzen war, dass ich mich nicht gerne anstrengte.

Warum ich mir als Nächstes Tennis aussuchte, weiß ich nicht mehr genau. Wahrscheinlich hatte es etwas mit dem Fernsehen zu tun; alle meine Entscheidungen damals, meine Wünsche, Träume, Hoffnungen und Befürchtungen hatten etwas mit dem Fernsehen zu tun. Ich hatte wohl eine Serie gesehen, in der schöne, reiche Menschen Tennis spielten. An Tennis gefiel mir, dass man nicht in einer Mannschaft spielte. Wenn wir in der Schule zu Gruppenarbeit gezwungen wurden, weil wir Teamwork lernen sollten, dann lachte ich insgeheim, weil ich bereits wusste, dass ich niemals in Teams worken würde. Lieber alleine sterben als im Team worken.

Was mich das Fernsehen über Tennis gelehrt hatte, war, dass man seinem Gegner kleine gelbe Bälle entgegenschmetterte. Das gefiel mir. Es ging eben nicht darum, etwas miteinander zu machen, sondern gegeneinander. Außerdem ging es immer ums Gewinnen. Auch das gefiel mir, weil ich kompetitiv war. Schon immer wollte ich alles gewinnen, auch wenn es gar nichts zu gewinnen gab. Vor allem dann.

 

Unser Tennislehrer hieß Georgi und kam aus Bulgarien. Wenn ich heute, da ich mich nicht einmal mehr an sein Gesicht erinnere, an ihn denke und ihn mit einem einzigen Wort beschreiben müsste, wäre es müde. Er war ein müder Mann, der mit schwerfälligen, trägen Schritten über den Tennisplatz schlurfte und uns hin und wieder die Bälle mit lustloser Gleichgültigkeit zuspielte. Meistens schaltete er aber bloß die ballspuckende Maschine an oder ließ uns gegeneinander antreten. Ich kann mich nicht daran erinnern, ihn je selbst spielen gesehen zu haben.

Lange Zeit hatte ich von einer bedeutungsvollen Lehrer-Schüler-Beziehung geträumt, von einem strengen, aber weisen Mentor, der mir gegenüber eine unerklärliche, aber tiefe Verbundenheit empfände, so wie auch umgekehrt ich mich ihm tief verbunden fühlte, ein moderner Gandalf, der mich erkennen und meine Begabung fördern, so wie ich ihn erkennen und ihm Lebensfreude zurückgeben würde, das Gefühl, eine echte Aufgabe zu haben.

Georgi war nicht mein Gandalf. Weder erkannte er eine geheime, auch mir verborgene Begabung noch gelang es mir, ihm Lebensfreude zu schenken. Damals hätte ich ihn sogar als meinen Feind bezeichnet, aber mit dieser Bezeichnung ging ich recht großzügig um. Unsere Feindschaft beruhte vor allem darauf, dass Georgi wollte, dass ich mich bewegte, und ich das nicht wollte. Außerdem störte ihn mein Fluchen. Es stimmte; auch meine Oma beschwerte sich oft über mein Schandmaul. Ich fluchte allerdings nicht, um Georgi zu provozieren, zumindest nicht am Anfang, sondern weil mir die Flüche so selbstverständlich über die Lippen gingen wie die Luft, die ich atmete.

„So spricht keine Dame!“, bemerkte Georgi oft. Und darauf wusste ich nichts zu antworten. Konnte er mir nicht ansehen, dass ich so wenig eine Dame sein wollte wie eine Amöbe oder ein Kaugummiautomat?

Den größten Ärger hatten Georgi und ich wegen meiner Schuhe. Die Regeln besagten, dass in der Halle Tennisschuhe zu tragen waren – Turnschuhe also mit hellen, sauberen Sohlen. Natürlich hatte ich keine solchen Schuhe. Die Vereinbarung mit meiner Mutter war, dass sie mir den Kurs bezahlte – sie hatte mir auch noch einen Tennisschläger gekauft –, die weitere Ausstattung und Sportkleidung aber musste ich von meinem eigenen Geld besorgen, was bedeutete, dass ich keine besaß, weil ich mein Taschengeld lieber für Käsebrötchen und Schoko-Croissants, Zeitschriften mit Abnehmtipps und Romane in meinem liebsten Literaturgenre ausgab: Bücher zur Serie (Akte X, Star Trek, Xena – Die Kriegerprinzessin). Im Sommer kam ich gut damit durch. Draußen fiel niemandem auf, dass ich Straßenturnschuhe trug. In der Halle aber hinterließen sie dunkle Streifen, und etwa alle drei Wochen stellte Georgi mich zur Rede. Dann duckte ich mich unter seinem verdrossen schwerlidrigen Blick hinweg und murmelte vage Zusicherungen. Dabei wussten wir beide, dass ich, wäre ich jemals in den Besitz einer so außerordentlichen Summe wie achtzig Mark gelangt, sie niemals für Tennisschuhe ausgegeben hätte.

Einmal tauchte ich in der Halle auf, nachdem ich am Vortag im Wald gewesen war. Wenn ich Caro nachmittags lange genug bei ihren Telefongesprächen belauscht hatte und mich langweilte, ging ich in den Wald und stellte mir vor, in einer postapokalyptischen Welt zu leben, in der meine einzigen Freunde mutierte Eichhörnchen waren sowie eine Handvoll anderer Überlebender, die sich von mutierten Eichhörnchen ernährten, weil ihnen nichts anderes übrig blieb. Erst in der Umkleidekabine bemerkte ich, dass meine Schuhe noch erdverkrustet vom Waldboden waren. Inga war noch nicht da und auch nicht das andere Mädchen, das wir Tori nannten, weil wir der Meinung waren, sie sähe aus wie die Schauspielerin Tori Spelling aus Beverly Hills.

Schwarze Streifen, wusste ich, waren eine Sache, Erdplacken eine andere. In kopfloser Verzweiflung fing ich an, die Turnschuhe gegen die gekachelte Wand zu schlagen, bis sich die Klumpen aus dem Profil lösten. Damit war ich eine ganze Weile beschäftigt gewesen, als sich die Tür öffnete und Georgi hereinkam. Der Lärm musste ihn angelockt haben; ich hatte unterschätzt, wie laut ich war.

Er starrte mich an, ich starrte zurück.

Weil mir die schmutzigen Sohlen erst aufgefallen waren, als ich mich bereits aus meiner Jeans geschält hatte, stand ich in Unterhose und Hoodie vor ihm. Ich war sicher, dass er sich bei meinem Anblick umdrehen und aus der Umkleide fliehen würde. Es war offensichtlich, dass er sie nie hätte betreten dürfen. Aber er drehte sich nicht um, und er floh auch nicht. Er stand bloß weiter in der Tür, ein großer Mann, das war er ja schon immer gewesen, aber es fiel mir erst jetzt so richtig auf, hier in der Mädchenumkleide, als wäre diese nicht ein Raum wie jeder andere auch, sondern speziell für Mädchenkörper gemacht.

Georgi deutete auf meine Schuhe, und ich konnte sehen, wie seine Hand dabei zitterte. Ich hörte, dass er sprach, auf mich einredete, aber ich verstand nicht richtig, was er sagte, ich war mit den Gedanken bei seiner zitternden Hand und bei dem Raum und bei mir selbst, und nur einzelne Worte drangen bis zu mir vor. Obwohl er zu schimpfen schien, klang er eher enttäuscht als wütend.

„So was macht man nicht“, sagte er dann. „So was darf man doch nicht einfach so machen.“ Die Zitterhand deutete auf die bröcklige Erde auf den Bodenfliesen, und er schüttelte den Kopf. „Das geht doch nicht, das ist verboten.“

Er ermahnte mich wegen des Lärms und wegen der Dreckspuren, und die ganze Zeit über stand ich in Unterhose vor ihm, und ich wusste nicht mehr, ob tatsächlich bloß die Sohlen schmutzig waren oder ob nicht auch ich irgendwie schmutzig war, ob mir der Wald mit seiner schwarzen Erde, seinen Würmern, seinen mutierten Eichhörnchen, seinem Geruch nach Moos und Moder nicht noch irgendwie anhaftete und sehr viel besser zu mir passte als weiße Tennisschuhe. Ich war keine Dame, ich war Amerikanerin, ich war Überlebende einer postapokalyptischen Welt. Zur Not würde ich mich von Eichhörnchen ernähren.

Während ich mich weiter an den Schuhen festhielt, spürte ich, dass eine große Verfehlung begangen worden war oder noch begangen wurde, ohne dass ich hätte sagen können, ob ich die Übeltäterin war oder Georgi.

Katharina  Hartwell

Über Katharina Hartwell

Biografie

Katharina Hartwell, 1984 geboren, studierte Anglistik und Amerikanistik sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Sie war u.a. Gewinnerin des MDR-Literaturpreises und Stipendiatin des Landes Hessen und des Freistaates Sachsen. 2013 war sie die Sylter Inselschreiberin. Ihr erster Roman »Das...

Veranstaltung
Buchpremiere
Freitag, 28. Februar 2025 in Berlin
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Buchhandlung Montag,
Pappelallee 25
10437 Berlin
Lesung und Gespräch
Freitag, 28. März 2025 in Leipzig
Zeit:
19:00 Uhr
Ort:
Deutsches Literaturinstitut Leipzig,
Wächterstraße 34
04107 Leipzig
Lesung und Gespräch
Dienstag, 06. Mai 2025 in Frankfurt
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Romanfabrik,
Hanauer Landstr. 186 (Hof)
60314 Frankfurt
Katharina Hartwell mit "Große Lieben" in Wiesbaden
Mittwoch, 07. Mai 2025 in Wiesbaden
Zeit:
19:30 Uhr
Ort:
Literaturhaus Villa Clementine,
Schillerplatz 1-2
65185 Wiesbaden
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