Hättest du geschwiegen (Hannover-Krimis 9) Hättest du geschwiegen (Hannover-Krimis 9) - eBook-Ausgabe
Kriminalroman
Hättest du geschwiegen (Hannover-Krimis 9) — Inhalt
Dein Wort bringt den Tod
Die Leiche des bekannten Journalisten Boris Markstein, mit dem Kommissar Völxens Dezernat schon häufig zusammengearbeitet hat, wird auf einem rostigen Industriegleis in Hannover-Linden entdeckt. Die Liste der Verdächtigen ist lang: Markstein hatte brisante Kontakte und seine Nase in allen möglichen sensiblen Bereichen – vom Drogenhandel über die Rotlichtszene bis zu russischen Banden. Völxens Team tut alles, um schnellstmöglich Licht ins Dunkel zu bringen, doch das ist dieses Mal alles andere als leicht: Völxen erhält Drohungen von der Mafia, und das LKA behindert die Ermittlungen. Schnell wird klar: In diesem Fall ist nichts, wie es scheint …
Der neue Hannover-Krimi von SPIEGEL-Bestsellerautorin Susanne Mischke. „Hättest du geschwiegen“ ist Kommissar Völxens brisantester Fall.
„Gekonnt setzt Susanne Mischke Schauplätze in und um Hannover in Szene. Auch aktuelle Themen verwebt sie elegant mit ihrem fiktiven Stoff.“ NDR 1 Kulturspiegel
Leseprobe zu „Hättest du geschwiegen (Hannover-Krimis 9)“
I.
Hauptkommissar Völxen atmet schwer hinter seinem Mundschutz.
Es ist schon ein Weilchen her, dass er bei einer Obduktion dabei war, so etwas delegiert man für gewöhnlich gern an andere, aber dieses Mal gab es kein Entkommen.
Durchhalten! Bloß keine Schwäche zeigen vor versammelter Mannschaft!
Die Luft im Raum ist aber auch wirklich zum Schneiden. Der Hauptgrund dafür mag sicherlich der Leichnam sein, der mit geöffnetem Brustkorb auf dem Seziertisch liegt. Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass der Sektionssaal von Dr. Bächle, dem Leiter der [...]
I.
Hauptkommissar Völxen atmet schwer hinter seinem Mundschutz.
Es ist schon ein Weilchen her, dass er bei einer Obduktion dabei war, so etwas delegiert man für gewöhnlich gern an andere, aber dieses Mal gab es kein Entkommen.
Durchhalten! Bloß keine Schwäche zeigen vor versammelter Mannschaft!
Die Luft im Raum ist aber auch wirklich zum Schneiden. Der Hauptgrund dafür mag sicherlich der Leichnam sein, der mit geöffnetem Brustkorb auf dem Seziertisch liegt. Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass der Sektionssaal von Dr. Bächle, dem Leiter der Rechtsmedizinischen Abteilung der Medizinischen Hochschule Hannover, an diesem Nachmittag ungewöhnlich stark bevölkert ist.
Außer Völxen selbst ist vom Dezernat für Todesermittlungen der Polizeidirektion Hannover noch seine Kollegin, Hauptkommissarin Oda Kristensen, zugegen. Sie hat zusätzlich zum Mundschutz freiwillig auch noch eine Plastikhaube über ihren hellblonden Haarknoten gezogen, mit der Begründung, dass Haar Gerüche aufnehme und sie nicht für den Rest des Tages wie der Tod riechen wolle.
Auch das Landeskriminalamt hat eine Vertreterin in die Rechtsmedizinische Abteilung der Medizinischen Hochschule geschickt: Jule Wedekin, einst Völxens Lieblingsmitarbeiterin, ehe sie ans LKA gewechselt ist.
Vonseiten der Justiz hat sich Oberstaatsanwalt Roland Funke am Ort des Geschehens eingefunden. Auch er scheint schon längere Zeit keinen Obduktionssaal mehr von innen gesehen zu haben, denn er ist beinahe noch blasser als der Tote auf dem Tisch.
Die Wissenschaft wird repräsentiert durch Dr. Bächle, seinen Assistenzarzt sowie eine Histopathologin und einen Toxikologen. Ganz und gar ungewöhnlich ist jedoch die Anwesenheit eines gewissen Professor Dr. Gröning. Laut Dr. Bächle ist der überaus renommierte Kollege eigens für diese Sektion aus München angereist, um ihm dabei über die Schulter zu sehen. Was dem langen, hageren Rechtsmediziner aus Bayern schon rein physisch nicht schwerfällt, denn Dr. Bächle reicht ihm gerade einmal bis zur Schulter.
Normalerweise hätte Völxen angenommen, dass sich Dr. Bächle jegliche Kontrolle seiner Arbeit durch wen auch immer verbitten würde, zumal der weißhaarige Schwabe mit der Einsteinfrisur im Ruf steht, eitel zu sein – erst recht, wenn es um seine berufliche Reputation geht. Aber zu seiner Verblüffung musste Hauptkommissar Völxen erfahren, dass Dr. Bächle die Koryphäe aus der bayerischen Landeshauptstadt „högschtpersönlich“ zu dieser Autopsie eingeladen hat. Offenbar will Bächle sich absichern, falls im Nachhinein Zweifel an seinem wie auch immer gearteten Befund auftreten sollten.
Als wäre das nicht genug, tummeln sich zusätzlich noch zwei Kriminaltechniker mit Videokameras zwischen den Anwesenden und filmen jedes Detail der Leichenbeschau.
Was für ein Aufriss!
Aber der Tote ist – oder vielmehr, war – ja auch nicht irgendwer. Schon seine Maße fallen aus dem Rahmen: Sein Körper ragt in die Höhe wie ein massiges Gebirge und passt gerade so auf den stählernen Seziertisch. Er misst an die zwei Meter und bringt einhundertzwanzig Kilo auf die Waage. Jedenfalls hat Dr. Bächle diese Zahl vorhin, zu Beginn der Prozedur, in sein Diktiergerät genuschelt. Das meiste dieser Masse sind Muskeln, nur in der Körpermitte des Endfünfzigers hat sich ein alterstypischer Schwimmreif angesetzt, durch den Dr. Bächles Skalpell zuvor mühelos hindurchgeglitten ist. Völxen hat sich dabei der Magen gehoben, und unwillkürlich hat er sich an seine eigene, leicht gerundete Taille gegriffen und gedacht: So sähe das bei mir dann wohl auch aus.
Am 31. August wurde Hannes Piekenbrock im Garten seines Einfamilienhauses im nördlichen Speckgürtel Hannovers von seiner Frau leblos unter einem Apfelbaum aufgefunden. Nichts, aber auch gar nichts, deutete auf Fremdverschulden hin. Dennoch schossen sofort nach Bekanntwerden seines Ablebens die Theorien und Gerüchte wild ins Kraut.
Bei einer derartigen, weit über Hannovers Grenzen hinaus bekannten Rotlichtgröße, die in gewissen Kreisen der Bevölkerung Kultstatus genoss, kein Wunder. Da war zu erwarten gewesen, dass Piekenbrocks Tod für einen gewissen Rummel sorgen würde. Trotzdem ist Hauptkommissar Völxen inzwischen reichlich genervt von der Presse, die während der vergangenen Woche sowohl die Polizeidirektion als auch die Straße vor dem Wohnhaus des Verstorbenen belagert hat.
Das Ableben Piekenbrocks mobilisierte aber nicht nur die Medienvertreter. Kolonnenweise donnerten in den Tagen danach schwere Jungs auf schweren Harleys durch die Straßen des ansonsten ruhigen Wohnviertels und legten Blumensträuße und Kränze auf dem Gehweg vor dem Grundstück ihres Idols ab.
„Geradezu herzerweichend“, wie Oda Kristensen angesichts der entsprechenden Fotos in den sozialen Medien ironisch bemerkte.
Nachdem durchgesickert war, dass der Leichnam keine äußeren Verletzungen aufwies, machte das Gerücht von einem raffinierten Giftmord die Runde. Begriffe wie „Russenmafia“ und „Nowichok“ geisterten durchs Netz. Es gab keine noch so abstruse Theorie, keine Verschwörungstheorie, so weit hergeholt sie auch klingen mochte, die nicht ihren Widerhall und ihre Anhänger gefunden hätte. Sogar die Äpfel des besagten Baums, unter dem Piekenbrock seinen letzten Atemzug getan hatte, gerieten in Verdacht, vergiftet worden zu sein. Das etwa dreißigköpfige Ermittlerteam, das sich des Falles angenommen hatte, bewies Humor und gab sich den Namen Soko Schneewittchen.
Ein Raunen geht plötzlich durch den Seziersaal, alle recken die Hälse. Dr. Bächle hat dem Brustkorb gerade das Herz entnommen, und sein Assistenzarzt trägt es nun wie ein Kellner in einer Schale vor sich her, hinüber an den Tisch der Histopathologin, der mit diversen Mikroskopen ausgestattet ist.
Völxen zieht es vor, die Decke des Sektionssaals einer ausgiebigen Musterung zu unterziehen, während da drüben Dinge mit dem Organ passieren, die er lieber nicht so genau wissen will.
„Na also, do ham mer’s doch scho“, murmelt Bächle nach wenigen Minuten. Er winkt einen der Jungs mit den Kameras heran.
„Was?“, platzt Jule heraus. Mit ihrem abgebrochenen Medizinstudium ist sie wahrscheinlich die einzige unter den Vertretern der Exekutive, die dieser Autopsie etwas abgewinnen kann. Als sie noch in Völxens Dezernat gearbeitet hat, war sie diejenige, die sich zur Freude aller Kollegen stets freiwillig für Besuche in Dr. Bächles Reich gemeldet hat.
„Herr Kolläge, möchten Sie den werten Herrschaften die Todesursache verkünden?“, wendet sich Dr. Bächle, schwäbelnd wie immer, aber ungewöhnlich bescheiden, an seinen Münchner Kollegen.
Professor Gröning genügt ein kurzer Blick durch seine randlose Brille auf den Längsschnitt des Organs. Er räuspert sich und erklärt: „Man erkennt hier sehr deutlich eine Stenose, eine sanduhrförmige Verengung des Herzkranzgefäßes, verursacht durch Einlagerung von Fett und Bindegewebe in die Arterienwand. In der Engstelle befindet sich, ebenfalls deutlich erkennbar, ein Thrombus, also Blutgerinnsel, das zum vollständigen Verschluss des Gefäßes führte.“
„Ein Herzinfarkt?“, platzt Oberstaatsanwalt Funke heraus und reißt sich vor Erleichterung den Mundschutz herunter. Sein schmales, kantiges Gesicht hat inzwischen wieder etwas Farbe angenommen.
„Ganz genau“, antwortet Dr. Bächle.
Ein kollektives Aufatmen geht durch die Gruppe der Beobachter.
„Ganz sicher?“, hakt Völxen nach.
„Ohne jeden Zweifel“, bestätigt Professor Gröning im Brustton tiefster Überzeugung und Autorität. „Ein Myokardinfarkt, wie er im Lehrbuch steht. Die Kollegin von der Histopathologie wird uns dazu sicherlich noch schöne Fotos liefern, die den Befund untermauern.“
„Tja“, seufzt Dr. Bächle. „Wen wundert’s? Der gute Mann war im gefährlichen Alter, und der Läbenswandel fordert halt irgendwann seinen Tribut, gell?“
„Den letzten Spruch hätte sich Bächle auch sparen können“, bemerkt Völxen, als er, flankiert von Oda und Jule, durch die Gänge der MHH eilig ins Freie strebt.
„Fühlst du dich etwa angesprochen?“, fragt Oda. „Hast du mir was verschwiegen? Nutten, Nachtclubs …?“
„Ich wollte eigentlich auf das gefährliche Alter anspielen. Mein Lebenswandel war stets untadelig, wie du weißt.“
„Ach, man denkt immer, man kennt die Leute …“, erwidert Oda.
Die Erleichterung über den Ausgang der Sektion hat alle in eine gelöste, fast schon übermütige Stimmung versetzt.
„Vielleicht hast du heimlich eine Harley im Schuppen stehen?“, fährt Oda fort.
„Das allein wäre ja wohl weder verwerflich noch ungesund“, versetzt Völxen und schmunzelt bei der Vorstellung von sich auf einer Harley. „Aber ich hatte früher nicht einmal ein Mofa. Ich hab’s schon immer gern bequem gehabt.“
Nein, ein Zweirad wäre Hauptkommissar Völxen wahrlich viel zu unkomfortabel. Er hat in der Scheune, die zu seinem umgebauten Bauernhof gehört, eine „schwebende Göttin“ geparkt, eine Citroën DS, mit der er, wenn auch viel zu selten, gemächlich über die Landstraßen schaukelt.
„Mach dir keinen Kopf. Ein Feierabendbierchen ab und zu wird sicher nicht dein Ruin sein“, meint Oda, die selbst gern französischem Rotwein zuspricht.
„Na, ich wäre da vorsichtig“, mischt sich nun Jule Wedekin in die Unterhaltung ein. „Du, Oda, als Raucherin, stehst sowieso mit einem Bein im Grab.“
„Haben wir dir eigentlich schon mal gesagt, wie froh wir sind, dass wir dich ans LKA losgeworden sind?“, erwidert Oda.
„Ja, schon oft“, versichert Jule gut gelaunt und spricht dann aus, was alle seit Verlassen des Seziersaals denken: „Leute, bin ich vielleicht froh, dass es kein Fremdverschulden war! Stellt euch mal vor, es wäre Mord gewesen und ihr hättet den Täter womöglich nie gefunden!“
„Wir haben bis jetzt noch jeden Mörder gefunden“, versetzt Völxen hoheitsvoll. „Sogar nach deinem Ausscheiden aus meinem Dezernat.“
„Was niemand für möglich gehalten hätte, aber es ist so“, fügt Oda hinzu.
Völxen bedauert noch immer, dass er Jule Wedekin verabschieden hat müssen, nachdem sie und ihr Kollege Fernando Rodriguez geheiratet hatten. Eine Vorschrift untersagt es, dass Eheleute im selben Dezernat arbeiten. Die ehrgeizige Jule hatte sich beizeiten fürs LKA entschieden, und ihr Ehemann Fernando Rodriguez ist im 1.1.K, dem Dezernat für Tötungsdelikte und Delikte am Menschen, geblieben.
Draußen werden die drei von lauer Luft und einem tiefblauen Himmel empfangen. Es ist der 6. September, ein Freitag, und ganz unverhofft ist der Sommer noch einmal ausgebrochen.
Völxen atmet tief durch. „Ah! Noch nie war frische Luft so köstlich.“
„Stimmt“, meint Oda und zündet sich die Zigarette an, die sie sich noch im Sektionssaal gedreht hat.
„Wie kannst du jetzt nur rauchen?“, fragt Völxen kopfschüttelnd.
„Ich wollte da drin schon rauchen, aber Bächle hätte mich bestimmt nicht gelassen. – Achtung, Frettchen auf zwölf Uhr!“
Ein Pulk von Reportern strebt im Laufschritt den Gehweg entlang auf die Beamten zu, obwohl sie extra den Seitenausgang genommen haben, den Dr. Bächle ihnen empfohlen hat. Anführer der Meute ist Boris Markstein von der Bild Hannover, den sie hinter seinem Rücken das Frettchen nennen, weil er tatsächlich ein Gesicht hat wie ein kleines, räuberisches Nagetier. Und, weil er sich auch meistens wie ein solches benimmt.
„Nicht schon wieder diese Nervensäge!“, stöhnt Völxen.
„Komm schon. Immerhin hast du dem Mann mal das Leben gerettet“, bemerkt Oda.
„Das ist zehn Jahre her, und ich habe es schon etliche Male bereut“, knurrt Völxen. „Was hat er denn mit seinen Haaren gemacht? Jetzt trägt der Kerl auch schon einen Dutt, das greift langsam um sich.“
„Das nennt sich man bun“, klärt Jule ihren ehemaligen Vorgesetzten auf.
„Was du alles weißt.“
„Ich wohne ja auch im Szeneviertel Linden, sozusagen am Puls der Zeit, und nicht in einem Dorf am Deister, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen.“
„Und Wölfe“, streut Oda ein wenig Salz in die Wunde, denn sie weiß, dass sich Völxen in letzter Zeit Sorgen um seine fünf Schafe macht, die er auf der Obstwiese hinter dem Haus hält.
„Wenn es Männer mit Dutt sind, die den Unterschied ausmachen, dann gönn ich dir Linden von Herzen“, entgegnet Völxen.
„Leute, macht jetzt mal betrübte Gesichter, auch wenn’s schwerfällt“, mahnt Oda angesichts der auf sie gerichteten Kameras. „Wenn die uns grinsend fotografieren, stehen wir bei Piekes Fanclub ganz schnell auf der Abschussliste.“
„Was man bei einigen von denen ruhig wörtlich nehmen darf“, murmelt Jule und beeilt sich, eine dem Anlass angemessene Miene aufzusetzen.
„Herr Hauptkommissar, wie ist die Lage?“, schallt ihnen Boris Marksteins blecherne Stimme entgegen.
„Die Lage? Er ist immer noch tot“, antwortet Völxen, woraufhin ihm Odas Ellbogen zwischen die Rippen fährt.
Markstein hat sich ihnen frech in den Weg gestellt. „Kommen Sie schon, Völxen, ein Statement! Was ist bei der Autopsie herausgekommen?“ Der ganze Pulk hat nun aufgeschlossen, Fotografen und Kameraleute diverser Lokalsender richten die Objektive und Mikrofone wie Waffen auf Hauptkommissar Bodo Völxen.
Der strafft die Schultern und macht dabei, wie angeraten, ein ernstes Gesicht. Dann erklärt er ein wenig gestelzt: „Dem Ableben von Hannes Piekenbrock liegt ohne jeden Zweifel eine natürliche Todesursache zugrunde. Das wurde soeben bei der Autopsie seines Leichnams von unserem renommierten Leiter der Rechtsmedizin, Dr. Bächle, festgestellt, und außerdem von einem unabhängigen Experten aus München, Professor Dr. Gröning, bestätigt.“
„Was war denn die Ursache?“, ruft ihm eine Frau aus der zweiten Reihe zu.
„Das darf ich Ihnen nicht beantworten, da dies in die Privatsphäre des Verstorbenen fällt. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Würden Sie uns jetzt netterweise durchlassen?“
Die Meute streckt die Waffen. Objektive werden eingefahren, man weicht resigniert zur Seite.
„O Mann, alles für ’n Arsch“, hört man jemanden maulen.
Völxen kann den Presseleuten nicht verdenken, dass sie frustriert sind. Hannes Piekenbrock war eine schillernde Figur der Halbwelt und ein Liebling der Medien, mit denen er virtuos spielte. Der Gedanke, dass er Opfer eines Tötungsdelikts geworden sein könnte, war bei seiner Vergangenheit nicht völlig unrealistisch, und ein solches Verbrechen hätte wahrscheinlich bis Weihnachten immer wieder einmal für Schlagzeilen gesorgt. Selbst ein tragischer Unfall – standesgemäß auf einer Harley-Davidson – wäre noch für ein paar rührselige Stories gut gewesen. Nun ist es einfach nur eine abgelaufene Lebensuhr. Ein friedliches, schnelles Ende unter einem Apfelbaum, ein schöner Tod, wie der Volksmund zu sagen pflegt, aber kein Futter für die Boulevardpresse. Es wird ein paar Nachrufe geben und jede Menge Interviews von alten Weggefährten, aber im Grunde ist über Pieke ja längst alles bekannt und bereits geschrieben worden. Der Mann war schon zu Lebzeiten eine Legende, selbst die Leitmedien der Republik haben sich bisweilen seines Werdeganges und seines Wirkens angenommen. In letzter Zeit war es stiller um ihn geworden. Schließlich wird jeder mal ruhiger, wenn er in ein gewisses Alter kommt.
Natürlich werden ein paar ganz Hartnäckige nach wie vor ihre Nowichok- und Pollonium-210-Gerüchte auf einschlägigen Plattformen verbreiten, aber die seriösen und wohl oder übel auch die weniger seriösen Medien werden einsehen müssen, dass diese Zitrone keinen Saft mehr hergibt.
„Frau Wedekin!“ Markstein hat als Einziger noch nicht aufgegeben und wendet sich jetzt an seine alte Bekannte Jule. „Geht es nicht ein bisschen genauer?“
Aus alter Gewohnheit will Völxen Jule ermahnen, den Mund zu halten, da fällt ihm gerade noch ein, dass es ja gar nicht mehr er ist, der für sie verantwortlich ist, sondern ihre Vorgesetzten beim LKA. Er weiß, dass sich Jule einigermaßen gut mit Markstein versteht. Sie war immer schon diplomatischer als Fernando Rodriguez, ihr Ehemann und Ex-Partner im Dienst. Fernando und den Reporter Markstein verbindet eine herzliche Abneigung, bisweilen kam es sogar zu Handgreiflichkeiten vonseiten des Kommissars, wenn Markstein sich an einem Tatort wieder einmal gar zu unverfroren benahm und Fernando es nicht schaffte, sein Temperament zu zügeln.
„Die Herren von der Rechtsmedizin müssten jeden Moment rauskommen, ich möchte denen wirklich nicht vorgreifen, das wäre unhöflich“, sagt Jule. „Tut mir von Herzen leid“, setzt sie hinzu, lächelt Markstein charmant an und legt dabei die Hand auf das Revers ihres Blazers.
Markstein hat den Wink verstanden. Er nickt ihr mit einem kleinen Lächeln zu – und wartet weiter.
„Lernt man das beim LKA, so zu schleimen?“, fragt Völxen, als sie ihren Weg zum Parkplatz fortsetzen.
„Nein, das wurde unserem Professorentöchterchen doch schon in die Wiege gelegt“, stichelt Oda.
Jule lächelt nonchalant. Im Grunde genießt sie die Spötteleien, die sie, wenn sie ehrlich ist, an der neuen Dienststelle sogar vermisst. Ihr fehlt der raue, herzliche Ton, der in Völxens Dezernat zuweilen herrscht. Vor gut zehn Jahren, als sie dort angefangen hat, hat es ihr noch etwas ausgemacht, wenn man ihr das Professorentöchterchen – ihr Vater ist Professor für Transplantationschirurgie an der MHH – unter die Nase gerieben hat. Doch diese Zeiten sind lange vorbei, inzwischen wecken solche Bemerkungen bei ihr eher nostalgische Gefühle. Sie würde es niemals offen zugeben, aber so interessant, wie sie erwartet hat, ist es beim LKA gar nicht, und manchmal, in schwachen Momenten, wünscht sie sich zurück an ihren alten Arbeitsplatz.
„Es ist jetzt … fast fünf. Also Feierabend“, stellt sie fest. „Wollen wir uns bei Pedra im Laden treffen und auf das Obduktionsergebnis anstoßen?“
„Ausgezeichnete Idee“, findet Oda. „Ich habe deine Schwiegermutter schon ewig nicht mehr gesehen, und die spanischen Rotweine kann man zur Not auch trinken.“
„Machen wir“, willigt Völxen ein. „Mir ist eh so komisch im Magen, ich glaube, ich könnte einen Schnaps vertragen. – Klappe, Jule!“
„Ich hab doch gar nichts gesagt!“
„Aber du wolltest.“
Das Dezernat für Tötungsdelikte hat sich vollzählig um eine riesige Platte mit Tapas versammelt. Jule hat natürlich sofort Fernando von dem geplanten kleinen Umtrunk im Laden seiner Mutter in Kenntnis gesetzt, der hat seine Kollegin Elena Rifkin dazu eingeladen, und diese hat es wiederum nicht übers Herz gebracht, Erwin Raukel als Einzigen außen vor zu lassen, noch dazu, wo jeder weiß, wie gern der Kollege ab und zu mal einen hebt.
Der Laden und Imbiss für spanische Weine, Lebensmittel und Tapas befindet sich im Herzen von Linden, Hannovers aufstrebendem Multikultiviertel, in dem die Gentrifizierung seit Jahren unaufhaltsam ihren Lauf nimmt.
Die Stimmung ist gelöst, gerade haben sie mit einer Runde Sherry, die Pedra Rodriguez ausgegeben hat, darauf angestoßen, dass sie keinen Fall zu bearbeiten haben und sich die Soko Schneewittchen wieder auflösen kann.
„Am besten hat mir Marksteins Gesicht gefallen, als Völxen ihm gesagt hat, dass es eine natürliche Todesursache war“, lästert Oda Kristensen. „Armes, trauriges Frettchen, er tat mir beinahe leid.“
„Mir nicht“, bemerkt Fernando. „Aber ich bin froh, dass diese Meute jetzt nicht mehr ständig vor der Pforte rumlungert wie ein Rudel hungriger Wölfe.“
„Auf Pieke! Möge er in Frieden ruhen.“ Hauptkommissar Erwin Raukel, der zuweilen einen Hang zum Pathos an den Tag legt, hebt sein Glas und leert es in einem Zug. Nachlässig unterdrückt er einen Rülpser, ehe er sich über die Tapas hermacht. Denn Essen ist Erwin Raukels zweitliebste Beschäftigung, was man ihm auch deutlich ansieht.
„Ausgezeichnet, Señora Rodriguez, wirklich ausgezeichnet, und das machen Sie alles selber?“, erkundigt er sich zwischen zwei Bissen.
„Das meiste“, antwortet die Besitzerin stolz. „Das Fertigzeug vom Großhandel schmeckt doch nicht, und man muss seinen Gästen schon etwas Besonderes bieten, sonst überlebt man nicht in diesen Zeiten.“ Als ihr ein schwerer Seufzer über die Lippen kommt, horcht Völxen auf.
„Stimmt was nicht?“, fragt er.
„Ach, nein, schon gut“, wiegelt Pedra ab. Normalerweise vertraut sie dem comisario, wie sie ihren alten Freund Völxen zu nennen pflegt, all ihren Kummer an. Sie ist ihm immer noch dafür dankbar, dass er vor vielen Jahren ihrem damals halbwüchsigen Sohn Fernando ein paar Flausen ausgetrieben hat, und wenn man sie fragt, dann ist es nur dem comisario zu verdanken, dass aus Fernando ein Polizist wurde und kein Krimineller.
Anstelle seiner Mutter antwortet Fernando, indem er aus dem Fenster deutet. „Gegenüber hat ein veganer Imbiss aufgemacht. Das vermiest ihr die Laune.“
„Vetisch“, liest Oda vor. „Der Name lässt ja tief blicken.“
„Veganer Imbiss? Pfui Teufel, das ist ja krank“, lässt sich Raukel vernehmen.
„Einer der Betreiber ist ein ganz süßer Schnuffel“, verrät Jule augenzwinkernd, „… mit goldenen Löckchen und einem rosigen Veganerteint.“
„Wenn das so ist“, meint Oda, „sollte man vielleicht doch mal auf einen Smoothie vorbeischauen.“
„Das ist wieder typisch! Goldlöckchen, süßer Schnuffel! Wenn ich so etwas über eine Frau sagen würde …“, plustert sich Fernando auf, was aber nur zur Folge hat, dass sich Oda und Jule anschauen und in Gekicher ausbrechen, als wären sie Teenager.
„Mich kriegen da keine zehn Pferde rein, da können Sie ganz beruhigt sein, Señora Rodriguez!“, lässt Erwin Raukel die Ladenbesitzerin wissen.
„Ja, du …“, meint Rifkin gedehnt. „Aber der Zeitgeist …“
Völxen winkt ab und meint tröstend zu Pedra, die sich hinter ihrer Ladentheke verschanzt hat: „In den dreißig Jahren, die ich diesen Laden hier kenne, haben rundherum schon viele Läden und Imbisse auf- und wieder zugemacht. Und Veganer – das ist doch eine völlig andere Zielgruppe, das wird bestimmt kein großes Problem.“
„Außerdem wäre es doch auch nicht gar so schlimm, wenn du dich langsam zur Ruhe setzen würdest“, bemerkt Fernando. „Immerhin bist du über siebzig.“
Die Retourkutsche lässt nicht lange auf sich warten. „Ich werde mich zur Ruhe setzen, wenn ich endlich von euch einen Enkel bekomme, nicht vorher!“
Prompt errötet nun Jule und wirft Ehemann und Schwiegermutter einen verärgerten Blick zu.
„Also wirklich, Mama“, zischt Fernando.
„Ja, komm endlich mal in die Hufe, Rodriguez“, trompetet Raukel und haut Fernando auf die Schulter. „Oder stimmt was nicht mit den huevos?“
Elena Rifkin, mit Ende zwanzig die Jüngste in der Runde, grinst in ihre Serviette, während Völxen Raukel ermahnt, sich, verdammt noch mal, ein bisschen am Riemen zu reißen.
Oda Kristensen unternimmt den Versuch, vom heiklen Thema abzulenken: „Veganer hin oder her, aber dieser Serranoschinken ist ausgezeichnet!“
Damit hat sie Pedra jedoch, ohne es zu wollen, ein weiteres Stichwort geliefert: „Stellt euch vor, da kommt doch gestern diese tätowierte junge Frau mit den blauen Haaren zu mir in den Laden und fragt mich, ob ich die Schinkenkeule aus dem Schaufenster nehmen könnte. Es stört angeblich ihre Kundschaft da drüben, wenn sie beim Essen gegenüber den Anblick einer Tierleiche in meinem Fenster ertragen müssen.“
„Was?“, fährt Fernando aus der Haut. „Das hast du mir noch gar nicht erzählt. Na warte, denen werde ich …“
„Gar nichts wirst du“, geht Jule dazwischen. „Wie wär’s, wenn ihr zwei mich das regeln lasst? Etwas weniger emotional und dafür diplomatischer …“
„Gut, du hast einen Versuch“, grummelt Fernando und streicht sich wutschnaubend durch die dunklen, an den Schläfen leicht angegrauten Locken.
„Bieten Sie doch vegane Tapas an“, schlägt Rifkin vor. „Oder wenigstens vegetarische.“
„Könnten wir das Thema jetzt lassen?“, beschwert sich Fernando gereizt.
„Ja, mir vergeht dabei schon langsam der Appetit“, behauptet Raukel, was ihn nicht daran hindert, sich noch eine paar in Speck eingerollte Datteln auf den Teller zu laden.
„Deine Kollegin hat recht“, meint Pedra zu ihrem Sohn. „Das habe ich mir auch schon überlegt. Man muss sie mit ihren eigenen Waffen schlagen.“
„Genau!“, bekräftigt Rifkin und wendet sich dann vertrauensvoll an Pedra: „Und nur für den Notfall, Señora: Mein Bruder Sascha hat einen Nachtclub und kennt ein paar Landsleute, die gewisse Probleme schnell und zuverlässig lösen. Wenn Sie wissen, was ich meine …“
Pedra Rodriguez blickt Elena Rifkin mit großen Augen an. Meint sie das ernst? Seit ihre Schwiegertochter Jule nicht mehr in Völxens Abteilung ist, arbeitet Fernando mit dieser undurchsichtigen Person zusammen, die alle immer nur Rifkin nennen, weil sie das angeblich so haben will. Pedra findet das befremdlich, und auch sonst weiß sie nicht recht, was sie von der muskulösen jungen Frau mit dem dunklen, kurz geschnittenen Haar, die ihren Sohn Fernando um einen halben Kopf überragt, halten soll.
Völxen mischt sich nun auch noch ein: „Rifkin, zügeln Sie Ihren schwarzen Humor. Manche der Anwesenden hier könnten Sie beim Wort nehmen.“
„Jawohl, Herr Hauptkommissar“, antwortet Elena Rifkin, wie es ihre Art ist, und Völxen hat wieder einmal den Verdacht, dass Jawohl, Herr Hauptkommissar eigentlich für etwas weit Despektierlicheres steht.
„Wir brauchen keine Russen, die unsere Probleme lösen“, verkündet Fernando. „Wenn diese Luschen da drüben uns noch mal dumm kommen, gibt’s von mir persönlich ein paar aufs Maul.“
„Das habe ich jetzt nicht gehört“, sagt Völxen scharf.
Seit Fernando mit Jule verheiratet ist, gibt er sich diszipliniert und lammfromm – jedenfalls im Vergleich zu früher, aber hin und wieder scheint ihm dann noch der Gaul durchzugehen. Hoffentlich nur verbal. Es reicht schon, wenn man mit Erwin Raukel ein Enfant terrible im Dezernat hat, auf das man ständig ein Auge haben muss.
„Kinder, seid friedlich“, mahnt Oda und wendet sich an Pedra: „Gibt es noch ein Glas von diesem köstlichen Rioja? Ich habe immer noch diesen Leichengeschmack im Mund.“
„Geht mir genauso“, meint Erwin Raukel und streckt der Wirtin das leere Glas entgegen.
„Du warst doch gar nicht bei der Obduktion!“
„Aber ich bin wahnsinnig sensibel, Kollegin Kristensen“, erklärt Raukel. „Allein die Vorstellung einer aufgeklappten Leiche genügt schon, damit ich den üblen Geschmack auf der Zunge spüre. Und der Rioja ist wirklich eine Wucht, Señora Rodriguez, eine absolute Wucht!“
II.
Elsa Dorn ist ausgehfertig und wirft noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Der schwarze Hut verbirgt den breiten grauen Haaransatz, und das seidene Halstuch die abgewetzten Stellen am Kragen ihres beigefarbenen Übergangsmantels. Sie schnappt sich den Hackenporsche, wie neulich jemand bei Lidl ihre Einkaufstasche auf Rollen genannt hat, geht hinaus ins Treppenhaus und schließt sorgfältig die Wohnungstür ab. So leise wie möglich steigt sie die Stufen vom dritten Stock bis ins Erdgeschoß hinab. Sie möchte niemanden aufwecken und vor allen Dingen nicht gesehen werden. Denn dann müsste sie womöglich noch jemandem erklären, wohin sie unterwegs ist. „Zum Einkaufen“ oder „zum Arzt“ kann sie ja schlecht sagen, um halb sechs Uhr in der Früh. Nicht einmal der Bäcker hat schon auf.
Geschafft. Die Haustür fällt hinter ihr ins Schloss. Laut Wetterbericht wird es wieder ein warmer Tag werden, vielleicht einer der letzten in diesem Jahr, immerhin ist schon der 9. September. Aber noch ist es kühl, und im Osten, hinter den drei warmen Brüdern, wie die Schornsteine des Lindener Heizkraftwerks genannt werden, glüht die Morgenröte. Seit einem halben Jahrhundert schon lebt Elsa Dorn in diesem Stadtteil, und sie hat nicht vor, von hier wegzuziehen. Allerdings wird das Wohnen in ihrem geliebten Viertel immer mehr zum Luxus. Erst vor ein paar Monaten gab es wieder eine saftige Mieterhöhung, und die spärliche Rente reicht allmählich hinten und vorne nicht mehr. Deshalb hat sie in den letzten Wochen nach einer einfachen, körperlich nicht zu anstrengenden Beschäftigung gesucht. Sonntags Brötchen verkaufen, Zeitungen austragen, Babysitten, Hundebetreuung … irgendetwas in der Art. Vergeblich. Man traut einer Fünfundachtzigjährigen offenbar nicht einmal mehr zu, einen Mops oder einen Chihuahua Gassi zu führen.
Der vergangene Abend war für die Jahreszeit recht mild gewesen, also wurde bestimmt gefeiert. Limmern nennen es die jungen Leute, wenn sie nächtelang auf der Limmerstraße, der Lebensader des Stadtteils, herumlungern und saufen. Elsa Dorn, die in der Viktoriastraße, einer Seitenstraße der Limmerstraße, wohnt, kann das Grölen und Lachen bis in ihr Schlafzimmer hinauf hören. Früher hat sie sich darüber geärgert, heute denkt sie: gut fürs Geschäft.
Wo gefeiert wird, bleiben Flaschen liegen. Allerdings schläft die Konkurrenz auch nicht. Manche Flaschensammler machen sich noch in der Nacht mit Taschenlampen auf den Weg. Das hat Elsa Dorn bis jetzt vermieden. Zum einen, weil es ihr nachts in Linden nicht ganz geheuer ist, zum anderen, weil sie dann die Flaschen nicht gleich abgeben kann und sie in die Wohnung hochschleppen oder in ihrem Keller zwischenlagern müsste. Es wäre ihr unendlich peinlich, wenn jemand von ihren Nachbarn mitkriegen würde, dass sie Flaschen sammelt. Nicht, dass es irgendjemanden im Haus groß interessieren würde. Die Nachbarschaft hat sich in den letzten Jahren geändert, die Leute, mit denen sie gelegentlich ein Schwätzchen gehalten oder eine Tasse Kaffee getrunken hat, sind gestorben oder umgezogen ins Altenheim. Nur der alte Herr Hoffmann im Erdgeschoss ist noch übrig, allerdings ist der nicht mehr ganz klar im Oberstübchen.
Aber trotzdem.
Elsa Dorn hat ihr Leben lang als Krankenschwester gearbeitet und war immer auf ihren guten Ruf bedacht. Das war ihr wichtig, als alleinstehende Frau. Naiv wie sie früher war, hat sie ihre besten Jahre an einen Verheirateten verschwendet. Später gab es andere Männer, auch ledige, aber es hat einfach nie so richtig gepasst. Bereut hat sie das nie sonderlich. Erst in letzter Zeit kommt ihr manchmal der Gedanke, dass sie als Ehefrau oder Witwe finanziell bestimmt besser dran wäre, als sie es jetzt ist. Aber dieser Zug ist ja nun definitiv abgefahren.
Solchen Gedanken hängt sie nach, während sie die Straße entlanggeht, nach Pfandflaschen Ausschau hält und dabei auch die Abfalleimer nicht auslässt, selbst wenn sie jedes Mal denkt: So tief bis du inzwischen gesunken. Wie hat es nur so weit kommen können?
Keine Flaschen, nirgendwo. Die anderen waren mal wieder schneller als sie.
Sie gibt nicht auf, doch nach einer Stunde hat sie lediglich sechs Bierflaschen auf dem Vorsprung eines Fensters gefunden. Die Glasflaschen sind schwer und bringen nur ein paar Cent, lange nicht so viel wie die aus Plastik. Sie hat sie trotzdem eingepackt. Auf dem Kötnerholzweg scheint alles abgegrast zu sein. Also geht sie weiter und erreicht die Rampenstraße, die sich entlang eines breiten Einschnitts erstreckt, der einem Flussufer ähnelt, in dem jedoch nur eine überwucherte Schienentrasse verläuft, die am östlichen Ende in einen grauen Betonwürfel mündet. Die meisten Leute wissen gar nicht mehr, dass dieser Klotz einst die Kohleentladestation der Stadtwerke war. Elsa Dorn aber erinnert sich noch an die Kohlezüge, die bis vor dreißig Jahren in der lang gezogenen Mulde dort unten verkehrten. Den ganzen Tag pendelten sie hin und her. Die Steinkohle kam per Schiff auf dem Mittellandkanal bis zum Lindener Hafen und wurde dann mit den Zügen hierhergeschafft und entladen. Hinter dem mit Graffiti beschmierten Rolltor der Entladestation liegt ein vierhundert Meter langer Tunnel, der unter der Limmerstraße hindurch bis zum Lindener Heizkraftwerk führt. Die Kohle wurde auf Laufbändern durch diese unterirdische Röhre transportiert, im Kraftwerk zuerst zermahlen und dann verheizt. Die Asche, die dabei anfiel, wurde durch denselben Tunnel wieder zurück in die Entladestation geblasen und von dort – befeuchtet, damit sie nicht in ganz Linden herumflog – mit Lastwagen weggefahren. Elsa Dorn weiß über diese Vorgänge so gut Bescheid, weil einer ihrer ehemaligen Nachbarn, dessen Name ihr gerade entfallen ist, in der Entladestation gearbeitet hat. Der Mann hatte immer ausgesehen wie ein Kumpel aus dem Ruhrpott, wenn er von der Schicht gekommen war, und sie hatte ihn manchmal bedauert. Ob er – sapperlott, wie hieß er nur? – jetzt auch so wenig Rente bekommt wie sie? Ob er überhaupt noch lebt?
Lang ist’s her, seufzt Elsa Dorn in Gedanken. Zu Beginn der Neunzigerjahre stellte das Kraftwerk dann auf Erdgas um, die Kohlebahn wurde nicht mehr gebraucht, aber die Anlage und die Gleise blieben. Neben der Halle steht jetzt eine Moschee.
Mit den Jahren hat sich entlang der Gleise eine veritable Wildnis ausgebreitet, ein kleiner Großstadtdschungel, der, vor allem bei Dunkelheit, ausgesprochen anziehend auf allerlei zwielichtige Gestalten wirkt. Schon öfter hat Elsa Dorn Halbstarke beobachtet, die bei lauter Musik um einen Wegwerfgrill herumgesessen und getrunken haben. Gestern Abend war es noch warm genug für derlei Aktivitäten. Gut möglich, dass dort unten ein paar Flaschen im Gestrüpp liegen geblieben sind – neben einem Haufen anderem Müll. Allerdings ist es ein Wagnis, dort nachzusehen. Das letzte Mal, fällt ihr ein, hat sie sich ihre Schuhe an einer herumliegenden Glasscherbe ruiniert, und außerdem gibt es dort im Gebüsch Ratten. Die wohnen vermutlich im Kohletunnel, tummeln sich aber bisweilen auch draußen an der Luft.
Sie macht einen kleinen Umweg über die Brücke, die die Rampe und die Gleise überspannt, und beginnt mit ihrer Suche ein paar Meter weiter, auf dem Spielplatz Rampenstraße, einem noch leidlich gut gepflegten Areal. Zufrieden stellt Elsa Dorn fest, dass das eine kluge Entscheidung war. Eine große Fantaflasche liegt unter einer Bank in der Nähe des großen Klettergerüsts. Zwar mit feuchtem Sand verschmutzt, weil es gestern Abend einen kurzen Regenguss gegeben hat, aber intakt. Sie säubert die Beute im Gras und steckt sie in ihre Tasche. Hinter den Bänken am Sandkasten findet sie noch ein paar Bierflaschen. Mehr ist hier nicht zu sehen. Schritt für Schritt wagt sie sich vor ins Niemandsland. Ein Einkaufswagen von Rewe liegt umgestürzt im Dreck, daneben eine zerfledderte Plane. Etwas weiter eine Feuerstelle und zertrampeltes Gras, die Party scheint schon ein paar Tage länger her zu sein, keine einzige Flasche ist zu finden. Was ist das da vorn, ein Obdachloser? Schläft da einer seinen Rausch aus? Solchen Individuen geht Elsa Dorn lieber aus dem Weg. Sie will gerade kehrtmachen, als ihr etwas an seiner Haltung verdächtig vorkommt. Der Mann liegt auf dem Bauch, die Arme sind nach vorne ausgebreitet, als wollte er sich im dürren Gras festkrallen. Das Gesicht schaut nach unten. So schläft doch niemand, denkt Elsa. So kriegt man doch gar keine Luft! Ein ungutes Gefühl überkommt sie, alles in ihr schreit danach, zu verschwinden. Aber was, wenn dieser Mensch bewusstlos ist, oder verletzt? Was, wenn er Hilfe braucht? Sie kann doch nicht einfach weggehen, ohne nachzusehen.
Nimm dich gefälligst zusammen, Elsa Dorn!
Sie nähert sich dem leblosen Körper. Der Mann trägt Jeans, Turnschuhe und ein graues Hemd. Eine schwarze Jacke liegt neben seinem Kopf. Er hat längeres Haar, dünn und strähnig sieht es aus. Es ist zusammengebunden, wie es neuerdings bei Männern Mode ist.
„Hallo! Hallo, Sie da!“
Keine Antwort. Sie tritt näher und stößt mit der Fußspitze vorsichtig sein Bein an. „Hallo?“
Wieder keine Reaktion. Im Grunde weiß sie längst, dass sie einen Toten vor sich liegen hat, aber noch will sie es nicht wahrhaben. Doch dann macht sie eine weitere Entdeckung: Da ist Blut am Kopf! Direkt neben diesem Haarknoten ist eine blutige Stelle. Der Schreck fährt ihr durch sämtliche Glieder. Was jetzt? Sie besitzt kein Handy, wozu auch? Vielleicht hat der Tote eines? Aber heißt es nicht immer, man solle an einem Tatort nichts anfassen?
Tatort, wieso Tatort, wie kommst du denn jetzt darauf, zu viele Krimis gesehen? – Das Blut am Kopf, du dumme Nuss! – Der Mann kann doch auch im Suff gestolpert und sich den Kopf aufgeschlagen haben!
Während ihr die Gedanken nur so durch den Kopf jagen, geht sie im weiten Bogen um den leblosen Körper herum. Ohne darüber nachzudenken, bückt sie sich und hebt die Jacke auf. Tatsächlich, da steckt ein Telefon in der Innentasche. Aber es ist eines von diesen modernen ohne Tasten, der kleine Bildschirm ist dunkel und sie hat keine Ahnung, wie man so ein Ding bedient. Noch etwas befindet sich in der Tasche. Eine Geldbörse. Sie ist braun und hat ein Relief wie Schlangenleder. Vielleicht ist sie sogar tatsächlich aus Schlange? Wie geschmacklos. Elsa Dorn klappt sie auf. Viele verschiedene Plastikkarten stecken in den dafür vorgesehenen Fächern, darunter auch ein Personalausweis. Vorsichtig zieht sie ihn heraus. Der Tote hat jetzt einen Namen, aber der sagt ihr nichts, und sein Gesicht auf dem Foto auch nicht. Schmale Lippen, spitze Nase, tief liegende Augen. Etwas anderes sticht ihr ins Auge: Geld. Vier Fünfzigeuroscheine, zwei Zwanziger. Im Kleingeldfach Münzen, schätzungsweise vier, fünf Euro. Elsa Dorn war ihr Leben lang ehrlich, nie hat sie auch nur das Geringste mitgehen lassen, obwohl ihr in letzter Zeit im Supermarkt schon ab und an der Gedanke kam, besonders dann, wenn sie sich wieder einmal etwas verkneifen musste, was früher selbstverständlich war. Ein Lippenstift. Ein Haarfärbemittel. Pralinen. Doch sie hatte viel zu viel Angst, erwischt zu werden.
Doch hier lauert kein Ladendetektiv, und es gibt nirgendwo eine Kamera. Um sie herum herrscht Wildnis.
Wie bitte? Du kannst doch keinen Toten bestehlen, das ist ja wohl das Allerletzte! – Wieso nicht? Ihm selbst nützt es ja nichts mehr.
Sie schaut sich um. Kein Mensch ist zu sehen. Was wird sonst mit dem Geld passieren? Die Polizei wird es beschlagnahmen, und keiner wird etwas davon haben. Oder jemand anderes, der hier demnächst vorbeikommt, nimmt es mit, während sie brav nach Hause dackelt, um die Polizei anzurufen, wie es sich für eine gesetzestreue Staatsbürgerin gehört.
Der Staat. Schuldet sie dem wirklich etwas? Wenn es in dieser Welt auch nur halbwegs gerecht zuginge, wäre es eher umgekehrt.
Zweihundertfünfundvierzig Euro. Damit könnte sie wieder einmal zu einem ordentlichen Friseur gehen, danach vielleicht eines dieser schicken Cafés besuchen, an denen sie sonst nur vorbeiläuft, und dort einen Cappuccino trinken. Sie könnte sich ein ordentliches Brot bei einem anständigen Bäcker kaufen und die Absätze an ihren Schuhen richten lassen, oder sich vielleicht sogar ein ganz neues Paar gönnen …
III.
Es ist Montagmorgen kurz vor acht. Zeit genug, um noch kurz bei den Schafen vorbeizuschauen. Völxen hat es gern, wenn er den Tag auf seiner Schafweide beginnen kann. Früher war das lediglich ein Ritual, aber seit es hierzulande immer mehr Wölfe gibt und dadurch auch die Wolfsrisse an Nutztieren zunehmen, dient der morgendliche Besuch auch seiner eigenen Beruhigung. Er steckt ein paar Scheiben Zwieback in die Taschen seines zerschlissenen gestreiften Bademantels. Der ist sozusagen seine zweite Haut, zumindest früh am Morgen.
Gestern hat er seine Frau Sabine doch tatsächlich dabei erwischt, wie sie das gute, geliebte Stück in eine Tüte für die Altkleidersammlung steckte. Unter Protest hat er es wieder herausgezogen und so gerade noch vor einem verfrühten Textiltod bewahrt.
„Was ist mit dem neuen Bademantel, den Wanda dir zu Weihnachten geschenkt hat?“, hat sie gefragt und kopfschüttelnd hinzugefügt, man müsse sich ja schämen mit dem schäbigen, ollen Teil.
„Schämen? Vor wem? Vor den Schafen?“, hat Völxen gekontert. „Oder vor dem Hühnerbaron, der seit dreißig Jahren dieselbe Latzhose anhat?“
„Seit wann ist Jens Köpcke ein Maßstab in Sachen Stil?“, hat Sabine erwidert.
Zugegeben, der Nachbar ist alles andere als eine Modeikone, genauso wenig wie Völxen selbst. Beide sind, ähnlich wie der Bademantel, wohl auch schon etwas schäbig und oll. Doch für seine Begriffe gehört es zu den Vorzügen des Landlebens, dass man sich in Haus und Garten leger kleiden kann, ohne damit bei irgendwem anzuecken. Zudem hegt er den Verdacht, dass Sabine seine Tochter dazu angestiftet hat, ihrem Vater einen neuen Bademantel zu schenken. Von allein wäre Wanda doch nie auf diese Idee gekommen.
„Die Schafe sind aber an die Streifen gewöhnt“, hat Völxen argumentiert. „Die erkennen mich sonst womöglich gar nicht.“
Vor dieser bestechenden Logik hat Sabine kapituliert und etwas von einem sturen Bock gemurmelt – womit sie vermutlich Amadeus, den Schafbock, meinte.
Heute verzichtet sie auf jeglichen Kommentar und macht sich stattdessen gähnend an der Kaffeemaschine zu schaffen.
„Bin gleich wieder da“, brummt Völxen und schlüpft in die Gummistiefel. Oscar, der Terriermischling, springt freudig an der Tür hoch. Völxen will sie gerade öffnen, da klingelt auf dem Küchentisch sein Handy. Es ist der Dienstklingelton.
„Herrgott noch mal!“
Sabine reicht ihm den Apparat.
Ein Anruf um diese Uhrzeit, das kann nur Ungemach bedeuten.
Fernando Rodriguez ist dran und wünscht seinem Chef mit müder Stimme einen guten Morgen.
„Moin. Was gibt’s?“
„Wir haben einen Leichenfund in Linden.“
„Kriegt ihr das nicht ohne mich geregelt?“, fragt Völxen, aber dann verspürt er plötzlich ein Flattern im Magen. Linden. Seine Tochter Wanda wohnt in Linden, in einer Studenten-WG.
„Du solltest vielleicht besser herkommen“, hört er Fernando erwidern.
Das Flattern wird heftiger.
„Es ist doch nicht …“ Völxen bringt es nicht fertig, Wandas Namen auszusprechen, obwohl er sich im selben Moment sagt, dass er überreagiert, dass seine Ängste völlig unbegründet sind. Wäre irgendetwas mit seiner Tochter, dann würde Fernando ihn nicht anrufen, sondern stünde mit ernstem Gesicht hier auf der Matte. Wahrscheinlich würde er ohnehin Oda schicken, Völxens langjährige Kollegin und studierte Psychologin …
„Es ist Boris Markstein.“
„Du machst Witze!“, entschlüpft es Völxen.
„Nein! Es ist Markstein, und er ist mausetot“, wiederholt Fernando.
„Unser Markstein?“, vergewissert sich Völxen, wobei das Wort unser weniger für Zusammengehörigkeit als vielmehr für das gemeinsame Feindbild steht.
„Jawohl. Er liegt neben dem alten Industriegleis in der Rampenstraße, in der Nähe vom Spielplatz.“
Leicht beschämt stellt Völxen fest, dass das Flattern aufhört und eine gewisse Erleichterung an dessen Stelle tritt. Er rettet sich und fragt: „Fremdverschulden?“
„Sehr wahrscheinlich“, lautet die Antwort. „Sieht aus, als wäre er erschlagen worden. Hoffentlich haben wir alle ein gutes Alibi für die Tatzeit.“
„Das ist nicht witzig!“, pflaumt Völxen Fernando an.
„Sorry.“
„Halte die Stellung, und ruf die anderen an, ich will alle vor Ort haben.“ Völxen legt auf. Müssen die Schafe halt heute ohne ihren gewohnten Leckerbissen auskommen. Schon eilt er die Treppe hinauf, um sich umzuziehen.
„Willst du nicht noch schnell was essen?“, ruft ihm Sabine nach.
„Keine Zeit.“
Fernando hat richtig gehandelt, indem er ihn angerufen hat, überlegt Völxen, während er sich in Windeseile rasiert. Der Tod eines stadtbekannten Pressevertreters ist Chefsache, da gibt’s nichts dran zu rütteln.
„Was ist denn passiert?“, fragt Sabine, als ihr Gatte in Hemd, Hose und Sakko wieder herunterkommt.
„Markstein ist tot. Das ist dieser Reporter von der Bild.“
„Der, den du immer zum Teufel gewünscht hast?“
Völxen erspart sich die Antwort. Er muss daran denken, wie er und Oda vor ein paar Tagen noch auf makabre Weise über Markstein gelästert haben. Hat er nicht sogar gesagt, er bereue es, ihm seinerzeit das Leben gerettet zu haben? Ein geschmackloser Scherz, aber er konnte ja nicht wissen … Trotzdem tut ihm dieser Ausspruch jetzt leid. Der Mann war zweifellos eine Nervensäge erster Güte, aber so ein Ende hat er dann doch nicht verdient.
„Ermordet?“, fragt Sabine.
„Weiß nicht“, murmelt Völxen, während er im Flur nach seinen Schuhen Ausschau hält.
„Oje“, seufzt Sabine. „Ich kann nachfühlen, wie es dir geht. Ich habe mal einen meiner Lehrer zum Teufel gewünscht. Nicht nur ich konnte ihn nicht leiden, sondern die ganze Klasse, er war ein echter Widerling. Aber dann war er plötzlich wirklich tot. Wir haben uns schrecklich gefühlt, ich habe sogar noch heute ein schlechtes Gewissen, wenn ich an ihn denke.“
„Danke, mein Schatz. Du verstehst es wie immer, mich moralisch aufzurichten. – Verdammt, wo sind denn meine Schuhe? Oscar …?“
„Im Schuhschrank.“ Sabine deutet darauf, während sie die Augen verdreht.
Völxen wird fündig.
„Trink wenigstens einen Kaffee.“ Sie streckt ihm die Tasse entgegen.
Lustlos nimmt er einen Schluck und gibt sie ihr, nur halb geleert, wieder zurück. „Nein, du bleibst heute hier“, meint er zu Oscar.
Wenn seine Frau Klarinettenunterricht an der Musikhochschule gibt, muss der Hund mit zum Dienst, da man ihn nicht allein zu Hause lassen kann. Zumindest nicht, wenn man Wert auf eine einigermaßen intakte Einrichtung legt. Aber Sabine arbeitet inzwischen nur noch drei Tage die Woche, und heute ist Montag, da hat sie frei. Zum Glück, denn es ist Völxen immer ein bisschen unangenehm, mit Oscar an einem Tatort aufzukreuzen, und die Polizeihundscherze kann er langsam auch nicht mehr hören.
„Kann ich den Golf nehmen?“
„Klar. Oscar und ich bleiben heute hier und räumen den Garten auf.“
„Würdet ihr gleich mal nach den Schafen sehen?“
„Machen wir. Halt die Ohren steif“, ermuntert Sabine ihn zum Abschied. Oscar hingegen legt die seinen als Zeichen der Enttäuschung an, während Hauptkommissar Völxen sein trautes Heim verlässt und einem sicherlich langen, anstrengenden Tag entgegengeht.
Völxen scheint heute der Letzte am Leichenfundort zu sein. Die übliche Phalanx an Einsatzfahrzeugen ist bereits vor Ort, die Spurensicherung hat ihre Arbeit aufgenommen, und sogar Dr. Bächle selbst hat sich offenbar herbemüht, jedenfalls hat Völxen den schwarzen Audi des Rechtsmediziners am Straßenrand stehen sehen.
Fernando Rodriguez und Elena Rifkin unterhalten sich mit zwei halbwüchsigen Jungen, die betont lässig an einem Streifenwagen lehnen. Ihre Schulranzen stehen neben ihren Füßen auf dem Boden. Oda Kristensen kommt ihm entgegen. Eine Sonnenbrille bedeckt ihre Augen, ihr hellblonder Haarknoten schimmert in der Morgensonne.
Vor der abschüssigen Böschung und rund um den Spielplatz wurden Absperrbänder aufgespannt. Dahinter hat sich bereits die übliche Schar an Neugierigen eingefunden. Den Toten hat man nach allen Seiten mit Sichtschutzblenden abgeschirmt, sodass auch Völxen den Leichnam nicht sehen kann. Er schickt sich an, zum Ort des Geschehens hinabzugehen, aber Oda rät ihm, das lieber zu lassen: „Dr. Bächle ist gerade am Werk.“
Der Rechtsmediziner reagiert ausgesprochen verstimmt, wenn man ihn bei der ersten Inaugenscheinnahme einer Leiche stört und ihn vorzeitig mit Fragen bedrängt. Da wartet man besser ab.
Beide Ermittler stehen eine Weile stumm nebeneinander und beobachten die anderen bei ihrer Arbeit.
„Es ist komisch, wenn es Leute trifft, die man kennt“, meint Oda schließlich.
„Mhm“, brummt Völxen. „Ich musste sofort daran denken, wie wir vor ein paar Tagen noch über ihn hergezogen sind.“
„Bist du deswegen so erschüttert?“ Oda nimmt die Sonnenbrille ab und wirft ihm aus ihren hellblauen Augen einen prüfenden Seitenblick zu.
„Ich bin nicht erschüttert“, erwidert Völxen. Aber ein wenig ist er es doch. Jedenfalls lässt ihn die Sache nicht kalt.
Oda zuckt mit den Schultern. „Unser dummes Geschwätz hat ihn sicher nicht umgebracht.“
Völxen fühlt sich unverstanden und hadert gleichzeitig mit sich. Was ist los mit mir? Bin ich auf meine alten Tage zu weich für den Job geworden? Vielleicht sollte ich doch vorzeitig in Pension gehen … Er reißt sich zusammen und fragt Oda, wer die beiden Jungs sind, mit denen Fernando und Rifkin sprechen.
„Die haben ihn gefunden. Hier …“ Oda zeigt Völxen ihr Handy mit den Bildern, die sie von dem Toten gemacht hat, ehe sie der Spurensicherung und Dr. Bächle weichen musste. Boris Markstein liegt auf dem Bauch, er trägt Jeans und ein langärmeliges graues Hemd. Eine Großaufnahme zeigt eine blutige Kopfwunde.
„Sieht aus, als wäre er mit dem berühmten stumpfen Gegenstand erschlagen worden“, hört Völxen eine Stimme dicht neben seinem Ohr sagen. „Moin, Völxen.“
„Jule! Was machst du denn hier?“
„Och, ich bin nur neugierig.“
Das Anschwindeln ehemaliger Vorgesetzter müssen sie ihr beim LKA noch besser beibringen, findet Völxen. Er fragt sich, was wohl an Marksteins Tod für das LKA interessant sein könnte. Während er dies tut, sieht er Erwin Raukel näher kommen, einen Pappbecher in der Hand.
„Völxen, alter Freund! Auch schon aus dem Bett gefallen?“, begrüßt Raukel seinen Vorgesetzten mit der gewohnten Respektlosigkeit. „Heiliger Strohsack, und sogar das LKA ist hier. Was verschafft uns die Ehre?“
„Hi, Erwin. Na, schon fleißig am Kiosk recherchiert?“, entgegnet Jule, deren Verhältnis zu Raukel noch nie ein besonders herzliches war.
„Was für eine Schande!“, meint Raukel und deutet in Richtung der Sichtschutzblenden, die den Toten verbergen. „Immer trifft es die Besten.“
Täuscht sich Völxen, oder wischt Raukel sich da tatsächlich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel?
Alle sehen den Kollegen verwundert an. Normalerweise lassen ihn Leichenfunde ziemlich kalt, allenfalls bei schönen jungen Frauen hört man ihn über die verschwenderische Laune des Schicksals klagen. Immerhin noch einer außer mir, dem der Tod von Markstein nahegeht, denkt Völxen. Verwunderlich ist es dennoch, denn Völxen kann sich nicht erinnern, dass Erwin Raukel und der Journalist Markstein ein besonders gutes oder überhaupt irgendeine Art Verhältnis zueinander gehabt hätten.
Mit einem großen, wohl von seiner Putzfrau frisch gebügelten Stofftaschentuch tupft Raukel sich den Schweiß von der Stirn. Der Morgen ist sonnig, aber noch ist es nicht besonders warm. Allerdings braucht es nicht viel, damit Raukel ins Schwitzen gerät. Der ist schon schweißgebadet, wenn er nur einen Aktendeckel hochhebt, hat Oda einmal über den Kollegen gelästert.
Völxen gähnt demonstrativ und meint dann: „Kann ich vielleicht zum Wachwerden einen Schluck von deinem Kaffee haben, Erwin?“
Oda und Jule verbeißen sich das Lachen.
„Normalerweise gern“, windet sich Raukel. „Aber ich spüre seit Tagen so ein verdächtiges Kratzen im Hals, ich möchte nicht riskieren, dass du dich mit irgendwas ansteckst.“
„Soso, ein verdächtiges Kratzen. Na, dann natürlich nicht.“
„Aber ich hol dir gern einen frischen!“, setzt Raukel übereifrig nach. „Milch, Zucker?“
„Nein, lass nur, Erwin, schon gut. Danke, dass dir mein Wohlergehen so am Herzen liegt“, versetzt Völxen, der unter dem Plastikdeckel Kaffee mit Jägermeister vermutet.
„Endlich“, stöhnt Oda, denn gerade taucht Dr. Bächles weißer Haarschopf hinter der Sichtblende auf. „Dachte schon, unser schwäbischer Leichenfledderer metzgert ihn gleich an Ort und Stelle.“
„Lass das bloß nicht den Bächle hören“, wirft Raukel ein. Offenbar konnte er seine Trauer zwischenzeitlich überwinden, denn er fügt grinsend hinzu: „Sonscht gibt’s was aufs Dächle.“
„Hanno, der Anruf von deinem Handy kam um sieben Uhr einundzwanzig bei der Leitstelle an. Was habt ihr beiden so früh da unten gemacht?“
Fernandos Frage scheint Hanno Volkers und Cem Özgen in Verlegenheit zu bringen, jedenfalls wechseln der Zehn- und der Elfjährige einen verstohlenen Blick, ehe Hanno, der Ältere, sagt: „Gechillt.“
„Chillen am frühen Morgen, soso.“
Hanno, blond und sommersprossig, überragt seinen Freund Cem um fast einen Kopf. Wie Fernando bereits herausgefunden hat, wohnen die beiden in der Fössestraße im selben Haus und waren angeblich auf dem Weg zur Schule, als sie den Toten entdeckt haben.
„Schreiben Sie uns eine Entschuldigung für die Schule, weil wir doch die Leiche gefunden haben?“, fragt Cem.
„Mal sehen“, meint Fernando, der Cems Ablenkungsmanöver durchschaut, und hakt nach: „Jetzt mal Klartext: Was wolltet ihr da unten in aller Herrgottsfrühe?“
„Das ist Privatsache“, piepst der kleine Türke.
Fernando muss sich ein Grinsen verkneifen und sagt mit aufgesetzt strenger Miene: „Jungs, das ist kein Spaß, sondern eine Mordermittlung, da gibt es keine Privatsache. Also?“
„Alter! Was soll ’n das? Immerhin haben wir die Bullen gerufen“, ereifert sich Hanno. Nachdem Fernandos Blick nun wirklich finster wird, räumt er ein: „Okay, Mann, okay. Wir wollten am Spielplatz in Ruhe eine qualmen. Kommen wir jetzt deswegen in den Knast, oder was?“
„Nicht frech werden“, ermahnt ihn Rifkin, die der aufsässigen Lindener Jugend an diesem Morgen noch gar nichts abgewinnen kann.
„Auf welche Schule geht ihr?“, will Fernando wissen.
„IGS Linden“, antwortet Hanno.
Das ist nur ein kleiner Abstecher vom Schulweg, also durchaus plausibel, findet Fernando.
„Erzähl mal, wie war das, als ihr den Toten gefunden habt?“, fordert Rifkin Hanno auf.
„Wir dachten erst, da liegt ein Penner. Aber dann haben wir gesehen, dass der irgendwie komisch daliegt, und dann haben wir das Blut gesehen …“
„Das war hier oben, am Kopf“, erklärt Cem und tippt sich auf seinen dunklen Schopf.
„Und dann?“, fragt Rifkin.
„Dann haben wir die Bullen gerufen. Mit meinem Handy“, antwortet Hanno stolz.
„Wie lange hat es gedauert, bis die Bullen da waren?“, will Rifkin wissen.
Hanno und Cem wechseln erneut einen Blick. „Fünf Minuten?“, antwortet Hanno.
„Ja, fünf Minuten“, bestätigt Cem.
„Was habt ihr solange gemacht?“, hakt Fernando nach.
„Nichts“, lautet Hannos Antwort. „Gewartet.“
„Wo?“
„Na, hier. Damit die uns sehen.“
„Habt ihr bei der Leiche irgendwas angefasst?“, fragt Rifkin.
„Was meint die?“, wendet sich Hanno an Fernando, dem er offenbar mehr Kompetenz zutraut. „Ob wird den Toten angefasst haben?“
„Zum Beispiel, ja.“
„Näh!“ Cem schüttelt sich. „Als wir kapiert haben, dass der tot ist, haben wir Schiss gekriegt und sind erst mal abgehauen.“
„Ja, aber nicht weit“, korrigiert Hanno seinen Freund, dem er einen verärgerten Blick zuwirft. „Wir sind gleich wieder stehen geblieben und haben telefoniert.“
„Habt ihr die Jacke angefasst, die neben dem Toten gelegen hat?“, fragt Fernando streng.
„Nein!“, tönt es im Chor.
„Was soll denn die Fragerei?“, setzt Hanno betont genervt hinzu.
„Wir vermissen bei der Leiche eine Geldbörse, eine Brieftasche, so etwas in der Art“, kommt Rifkin auf den Punkt. „Wenn ihr uns also etwas zu sagen habt, dann raus damit. Noch ist Zeit dafür.“
„Wir haben nichts weggenommen!“, sagt Cem mit vor Entrüstung weit aufgerissenen Augen.
„Echt nicht“, versichert Hanno. „Vielleicht hat er das Ding zu Hause gelassen, schon mal daran gedacht?“, setzt er aufsässig hinzu.
„Möglich“, sagt Fernando. Aber nicht wahrscheinlich.
„He! Was machen Sie da?“, fragt Hanno entrüstet.
„Wonach sieht’s denn aus?“ Rifkin hat sich einen der zwei Schulranzen geschnappt und beginnt damit, ihn zu durchsuchen.
„Darf die das?“, will Hanno von Fernando wissen.
„Dürfen halbe Portionen wie ihr rauchen?“, erwidert Rifkin und hält eine Packung Lucky Strikes in die Höhe, ehe sie sie in der Tasche ihrer schwarzen Lederjacke verschwinden lässt.
„He, das ist Diebstahl!“, quäkt Hanno.
„Jetzt halt mal die Luft an!“, rät ihm Fernando.
Rifkin nimmt sich den zweiten Ranzen vor.
„Das darf doch nicht wahr sein!“
„Ups“, meint Cem verlegen.
Die Ranzenrazzia hat zwar weder die Brieftasche oder Geldbörse von Markstein noch Zigaretten zum Vorschein gebracht, dafür aber ein grünlich verschimmeltes Käsebrot.
„Das hat schon Beine! Du solltest da drin ab und zu mal aufräumen“, empfiehlt Rifkin dem Jungen und klappt den Ranzen wieder zu. „Vielleicht haben die zwei die Brieftasche hier irgendwo versteckt“, meint sie danach deutlich vernehmbar zu Fernando. „Aber die Hunde werden sie schon finden.“
„Die Hunde … ja, klar, die Hunde finden alles“, bestätigt Fernando eifrig. „Die müssten jeden Moment hier sein, versteh gar nicht, wo die so lange bleiben.“ Er wendet sich an die Jungs. „Wenn ihr uns also etwas über die Sache zu sagen habt, dann wäre jetzt noch die letzte Gelegenheit. Denn wenn die Hunde die Brieftasche mit euren Fingerabdrücken darauf hier irgendwo in der Nähe finden, dann wird’s hässlich.“
„Wir haben nichts genommen!“, ruft Hanno erbost. „Es stimmt, was Cem sagt. Wir sind weggelaufen, und danach haben wir telefoniert. Wir sind da nicht noch mal hin.“
Fernando schaut den beiden prüfend in die Augen. Hanno erwidert trotzig den Blick, Cem tritt von einem Bein aufs andere, als müsste er dringend mal.
„Gib mir mal dein Handy“, fordert Rifkin Hanno auf.
Der zögert.
„Los!“, herrscht Rifkin ihn an. Der Junge fasst in die hintere Tasche seiner Jeans.
„Anschalten. Ich will sehen, ob du Fotos von der Leiche gemacht hast.“
„Hab ich nicht.“
„Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, meint Rifkin.
Hanno gehorcht und reicht ihr sein älteres Samsung-Modell. Rifkin sieht nach und findet nichts. Falls er lügt, hätte er allerdings schon mehr als genug Zeit gehabt, um die Fotos von der Leiche in die Welt hinauszuschicken und anschließend vom Handy zu löschen. Sie gibt Hanno sein Telefon zurück.
„Ich hab nur eins, das keine Fotos machen kann“, gesteht Cem verschämt, als Rifkin auch ihn nach seinem Handy fragt. Es ist tatsächlich ein museumsreifes Nokia. Bestimmt wird er deswegen von seinen Kameraden aufgezogen.
„Okay, ihr könnt gehen“, beschließt Fernando. „Aber ihr müsst heute Nachmittag noch einmal zu uns kommen und alles zu Protokoll geben. Wir setzen uns derweil mit euren Eltern in Verbindung.“
„Sagen Sie denen was wegen der Zigaretten?“, fragt Cem ängstlich.
„Wir sind Bullen, keine Petzen“, entgegnet Fernando. „Und jetzt macht, dass ihr zur Schule kommt.“
Die beiden schultern ihre Ranzen und begeben sich schnurstracks zu der Gruppe von Gaffern hinter dem Absperrband, wo sie in aller Ruhe stehen bleiben.
„Echt frech, diese Jugend heutzutage“, bemerkt Fernando, der ihren beiden Zeugen grinsend nachschaut.
„Warst du nicht auch ein ziemliches Früchtchen – was man so hört?“
„Ich habe allerlei angestellt, ja, aber gegenüber Erwachsenen war ich immer höflich.“
„… bevor du sie beklaut hast“, murmelt Rifkin.
„Wie bitte?“
„Nichts. Die sehen heute garantiert keine Schule mehr von innen“, prophezeit Rifkin und fragt: „Glaubst du ihnen?“
„Du nicht?“
„Dem kleinen Türken schon, der andere scheint mir nicht ganz koscher.“
„Eine Leiche zu finden ist trotzdem keine Kleinigkeit, in dem Alter. Die sind noch nicht so cool und durchsuchen einen Toten nach seiner Brieftasche.“
„Besonders geschockt kamen sie mir aber nicht vor.“
„Wenn sie schon am Klauen waren, warum haben sie dann sein Handy dagelassen? Das ist ein nagelneues Huawei“, gibt Fernando zu bedenken.
„Weil die heutzutage genau wissen, dass man die Dinger orten kann“, meint Rifkin. „Vielleicht haben sie nur das Geld rausgenommen und die Brieftasche in den nächstbesten Gully oder ins Gebüsch geworfen.“
„Die Gegend wird ja noch gründlich abgesucht“, sagt Fernando und deutet auf die Mannschaft der Spurensicherung. „Du hast es nicht so mit Kindern, oder, Rifkin?“
„Was spielt das denn für eine Rolle?“
„Ich wäre in dem Alter auch vor Schreck weggerannt, wenn ich beinahe über eine Leiche gestolpert wäre. Und ich hätte bestimmt nicht brav die Polizei gerufen, wenn ich dem Toten vorher die Brieftasche gemopst hätte.“
„Wie auch?“, versetzt Rifkin. „Als du klein warst, waren Handys noch lange nicht erfunden.“
Fernando ist mit seinen Gedanken bereits woanders, denn gerade wird der Transportsarg davongetragen. „Es ist schon ein komisches Gefühl. Weißt du, ich konnte den Kerl wirklich nicht ausstehen. Er hat sich an Tatorten oft aufgeführt wie die Axt im Walde, und ich habe ihm mehr als einmal Prügel angedroht. Aber dass er mal so endet …“, sinniert er, während er die Vorgänge am Leichenfundort beobachtet. Er kennt diese Ecke von Hannover-Linden recht gut, denn er wohnt nicht weit entfernt, und als Junge hat auch er diese urbane Wildnis für allerlei Heimlichkeiten krimineller oder auch amouröser Art genutzt. Solche Orte wirken geradezu magisch auf halbwüchsige Jungs. Und nicht nur auf die. Fernando weiß, dass hier viel gefeiert und auch gedealt wird. Die Frage ist, was Markstein dort unten wollte. Einen Informanten treffen? Drogen kaufen? Das wäre gut möglich, der Reporter kam Fernando schon immer vor, als wäre er auf Koks, Speed oder sonst irgendwelchen Aufputschmitteln.
„Bächle ist fertig“, stellt er fest. „Lass uns mal hören, was er zu sagen hat.“
„Todeszeitpunkt geschtern Abend, zwischen zweiundzwanzig und dreiundzwanzig Uhr“, lässt der Rechtsmediziner sein Publikum wissen. „Keine Abwehrverletzungen sichtbar. Todesursache: Schädelfraktur. Ihre Kollägen von der Spurensicherung haben einen Betonbrocken sichergestellt, der högschtwahrscheinlich als Tatwaffe infrage kommt. Genaueres kann ich erscht nach der Obduktion sagen.“ Dr. Bächle schaut mit gerunzelter Dackelstirn in die Runde, in Erwartung weiterer Fragen. Doch eigenartigerweise scheint niemand eine zu haben, was die Dackelfalten nur noch vertieft.
„Dann derf i mi verabschieden. Adieu, die Herrschaften!“
„Adieu, Dr. Bächle, à bientôt“, antwortet Oda mit charmantem Lächeln.
„Tja, ich muss dann auch mal wieder“, sagt Jule und hebt im Weggehen lässig die Hand. „Man sieht sich.“
Nachdem die beiden aus dem Blickfeld verschwunden sind, wagt sich Erwin Raukel aus der Deckung. „Brieftasche weg, Schädel eingeschlagen, Tatwaffe improvisiert … Bestimmt Junkies oder anderes Lindener Gesocks. Selber schuld, wer sich nachts hierherwagt …“
„Hey, pass auf, was du sagst!“ Fernando sieht seinen Kiez nicht gern verunglimpft.
Völxen geht dazwischen. „Rodriguez und Rifkin, fahrt doch schon mal in die Redaktion der Bild und sprecht mit Marksteins Kollegen.“
„Glaubst du, die wissen es noch gar nicht?“, fragt Fernando.
„Wüsste nicht, woher. Also, Abflug.“
„Jawohl, Herr Hauptkommissar“, kommt es, zackig wie immer, von Rifkin, und die beiden wenden sich ab.
„Erwin, konntest du inzwischen Marksteins Adresse rauskriegen und ob es Angehörige gibt?“, erkundigt sich Hauptkommissar Völxen bei Raukel.
Der nickt. „Die Aufgabe hat mich zwar ungemein herausgefordert, aber ich konnte sie dennoch bewältigen.“
„Herrgott, Raukel!“ Völxen hat heute gar keinen Nerv für dessen Faxen.
„Er wohnt in Limmer und hat einen sechzehnjährigen Sohn, Felix Rossbach, und eine Ex-Frau. Sie ist zweiundvierzig und heißt Nina Rossbach. Wohnen beide in der Nieschlagstraße, also praktisch um die Ecke.“
„Gut, geh hin und bring es ihnen schonend bei.“
Raukel deutet eine Verbeugung an. „Stets zu Diensten.“
Im Augenwinkel registriert Völxen, wie Oda die Augenbrauen hebt. „Aber bitte, Erwin …“, fügt er vorsichtshalber hinzu, „… sei ein bisschen sensibel, ja?“
Raukel setzt eine gekränkte Miene auf. „Ich bitte dich, du kennst mich, Völxen. Jeder weiß, dass ich ein Händchen für Witwen und Waisen habe.“
„Besonders für die Witwen“, grinst Oda.
„Entschuldigung!“, ertönt eine kräftige, raue Frauenstimme hinter ihnen. Alle drei wenden sich um. Eine große Frau mit halblangen rötlichen Haaren, etwa Mitte vierzig, hat sich aus der Meute der Medienvertreter gelöst, offenbar frech die Absperrung ignoriert und kommt auf den Leichenfundort zu.
„Hey! Sie da! Zurück!“ Einer der Spurensicherer stellt sich ihr breitbeinig in den Weg. „Ist ja gut, ist ja gut!“ Sie dreht sich um und steuert nun auf die Ermittler zu. „Nadja Brenninger von der Bild Hannover. Was ist passiert?“
Völxen macht Raukel, der bereits jenen Blick über die Reporterin gleiten lässt, mit dem er Frauen grundsätzlich erst einmal mustert, ein Zeichen, den Mund zu halten. Er schaut sich um. Zum Glück ist der Leichenwagen schon unterwegs in die Rechtsmedizin, und auch Dr. Bächle steigt gerade ein wenig hüftsteif in seinen Audi. Völxen ertappt sich bei dem absurden Gedanken, dass Markstein – wäre er nicht selbst das Opfer – garantiert deutlich früher als seine Kollegin am Tatort erschienen wäre, um alle zu nerven, nicht erst, wenn die Leiche schon abtransportiert wurde und sogar schon die ersten Neugierigen angefangen haben, sich zu verkrümeln.
Die Spurensicherung dagegen ist noch eifrig am Werk, und das wird bestimmt noch den ganzen Tag dauern, spekuliert Völxen, denn nichts ist schlimmer als ein vermüllter Tatort im Freien. Aber sollte diese impertinente Person es wagen, dem Fundort der Leiche auch nur einen weiteren Schritt näher zu kommen, wird sie nicht nur ihn, Völxen, sondern auch Rolf Fiedler, den stets überkorrekten und etwas steifen Chef der Spurensicherung, von seiner unangenehmen Seite kennenlernen.
Völxen hat außerdem nicht die Absicht, nassforsches Benehmen zu belohnen, nicht einmal, wenn die Person persönlich betroffen ist, weil das Opfer des Verbrechens ihr Kollege ist. Das scheint sie allerdings noch nicht zu wissen. Aber er wird sich hüten, ihr diese Tatsache jetzt mitzuteilen, denn sonst hat er die Journalistin ab sofort an den Hacken hängen und den ganzen Tag keine ruhigen fünf Minuten mehr, so viel ist sicher. Deshalb zieht er seine imposanten grauen Augenbrauen zusammen und sagt in sehr abweisendem Tonfall: „Frau Brenninger, Sie befinden sich innerhalb des abgesperrten Bereiches eines Tatorts, ich muss Sie bitten, diesen umgehend zu verlassen.“
„Aber Sie können mir doch wenigstens …“
„Ich kann gar nichts. Begeben Sie sich hinter die Absperrung, oder noch besser: Fahren Sie zurück in Ihre Redaktion, und wenden Sie sich heute Nachmittag an den Pressesprecher der Polizeidirektion.“
Die Journalistin würdigt Völxen keines Blickes mehr und dreht sich stattdessen um zu Oda Kristensen und Erwin Raukel, in der Hoffnung, dass von denen etwas kommt. Doch Oda schüttelt den Kopf, und Raukel – wieso, fragt sich Völxen, steht der eigentlich immer noch hier herum, anstatt seinen Auftrag auszuführen? – grinst über die gesamte Breite seines runden Mondgesichts, zuckt bedauernd mit den Achseln und meint: „Howg, der Häuptling hat gesprochen.“
Erbost macht die Reporterin kehrt und stapft davon.
„Wie heißt es immer? Es kommt meistens nichts Besseres nach“, seufzt Oda.
„Was für ein Dragoner“, bemerkt Raukel halb angewidert, halb fasziniert. „So was haben sie früher vor die Bierkutschen gespannt. – Was denn, was guckt ihr mich so an? Stimmt doch, oder?“
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