Handbuch der Erfolglosen - eBook-Ausgabe
Jahrgang zweitausendundelf
Handbuch der Erfolglosen — Inhalt
Das Jahr, in dem der deutsche Ausstieg vom Ausstieg aus dem Atomausstieg beschlossen wurde, der Euro gerettet werden sollte und Nordafrika sich umkrempelte. Aufgefordert dazu, ein Tagebuch zu schreiben, notierte Patricia Görg wöchentlich die hereinflutenden Medialitäten und ergänzte sie um Erlebnisse mit Künsten und Wissenschaften sowie um fast erfundene Fallgeschichten, deren Helden, wie wir alle, letztlich erfolglos bleiben müssen. Entstanden ist nicht nur die Chronik eines bewegten Jahres, sondern auch ein lehrreiches Brevier des Normalen, in dem sich Revolutionen, Rücktritte, Unfälle und Finanzmarktpaniken abwechseln. Also: ein Handbuch. Während Teilchenbeschleuniger versuchen, ins Innerste der Materie vorzustoßen, Hirnforscher Illusionen entlarven, Archäologen alte Götter zusammenkleben und Osama bin Laden erschossen wird, überlegt eine Figur namens Großmann unverdrossen, ob sie die ganze Wirklichkeit nicht einfach für zwei Pfennige kaufen soll.
Leseprobe zu „Handbuch der Erfolglosen“
KW 1
Tausende Rotschulterstärlinge fallen in der Neujahrsnacht in
einer US-amerikanischen Kleinstadt tot vom Himmel.
Auf den deutschen Straßen liegen leere Feuerwerksbatterien und
die Worthülsen des Vorjahrs im Schnee: Verbraucht und durchnässt
gammeln „Bringschuld“ und „Holschuld“ neben dem
„Wutbürger“.
Die Züge fahren nicht
Die Eier sind giftig
In Australien ist eine Fläche überschwemmt, so groß wie
Deutschland und Frankreich zusammengenommen. Einwohner
sitzen auf den Treppen ihrer Häuser, winken dem Hubschrauberpiloten
zu. Sie bewachen ihr Hab und Gut. [...]
KW 1
Tausende Rotschulterstärlinge fallen in der Neujahrsnacht in
einer US-amerikanischen Kleinstadt tot vom Himmel.
Auf den deutschen Straßen liegen leere Feuerwerksbatterien und
die Worthülsen des Vorjahrs im Schnee: Verbraucht und durchnässt
gammeln „Bringschuld“ und „Holschuld“ neben dem
„Wutbürger“.
Die Züge fahren nicht
Die Eier sind giftig
In Australien ist eine Fläche überschwemmt, so groß wie
Deutschland und Frankreich zusammengenommen. Einwohner
sitzen auf den Treppen ihrer Häuser, winken dem Hubschrauberpiloten
zu. Sie bewachen ihr Hab und Gut. Krokodile,
Kröten und Schlangen schwimmen in der braunen Brühe.
Der ewige Kommunarde Rainer Langhans (70) bestätigt, dass er
ins RTL-Dschungelcamp einziehen wird. Er sieht die Entwicklung
der ganzen Gesellschaft in Richtung auf eine große Kommune.
Er sagt: „Die jungen Menschen sind mehr im Internet als
hier. Das Internet ist die große Kommune, es ist genau das, was
wir damals gewollt haben.“ Am Tag, an dem dieses Interview
erscheint, findet morgens eine Sonnensichelfinsternis statt.
China meldet, Atommüll so aufarbeiten zu können, dass die
eigenen Uranbestände jetzt noch bis zu dreitausend Jahre ausreichen.
Außerdem erschwert das Land dem Westen den Zugang
zum Rohstoff „Seltene Erden“. Wirtschaftsminister Rainer
Brüderle drängt den chinesischen Vizepremier Li Kequiang, den
Export dieser seltenen Metalle, die für Computer, Monitore und
Akkus unverzichtbar sind, nicht wie angekündigt um fünfunddreißig
Prozent einzuschränken. Beide treten anschließend vor
die Kameras und lächeln, aber nur Li ist munter genug, um auch
noch grüßend die Hand zu heben.
Im javanischen Hinterland greifen Islamisten Schattenspieltheateraufführungen
an.
VORSTOSS INS INNERSTE DER MATERIE heißt ein
Vortrag, den der Direktor am Max-Planck-Institut für Physik,
Prof. Dr. Siegfried Bethke, hält. Bethke räuspert sich beinahe ununterbrochen,
aber es gelingt ihm trotzdem, den Elementarteilchenzoo
an die Leinwand zu werfen und zu beschreiben, dem die
Physiker mittels des Teilchenbeschleunigers CERN nachspüren.
Er berichtet vom Urknall bis zum Augenblick eine Sekunde danach
und vom siebenundzwanzig Kilometer langen Tunnelring,
hundert Meter unter der Erde, in dem Situationen wie kurz nach
dem Urknall noch einmal nachgestellt werden. „Eine Million
Kollisionsereignisse pro Sekunde, und das zwanzig Jahre lang“,
freut sich Bethke.
Vielleicht hilft das weltweit größte und komplexeste Unternehmen
der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung,
folgende schmerzlich offenen Fragen zu klären: Warum gibt
es uns eigentlich (denn Antimaterie hätte die Materie gleich
zu Anfang vernichten müssen)? Was sind dunkle Materie und
dunkle Energie, die immerhin fünfundneunzig Prozent des Universums
ausmachen? Existieren verborgene Raumdimensionen?
Wie könnte die vereinheitlichende Feldtheorie, also die Weltformel
aussehen, nach der schon Einstein verzweifelt suchte?
Um das zu erkunden, wurden Monstren in Kavernen versenkt:
Auslesegeräte, schwer wie der Eiffelturm und so kompliziert
konstruiert, dass sie die Ultima Ratio heutiger Möglichkeiten
darstellen. Der größte von ihnen, ATLAS genannt, verwandelt
einen danebenstehenden Menschen in eine Kleinigkeit, soll aber
Spuren von Dingen finden, für die der Begriff Kleinigkeit in
jeder Hinsicht eine Grobheit wäre. Der Logik zweier grotesk
miteinander verbundenen Sphären gehorchend, blähen die Instrumente
sich immer extremer auf, je weiter sie ins extrem Kleine
vordringen. Der Titan ATLAS stemmt also das gegenwärtige
Standardmodell der Physik, soll es halten und untermauern, soll
es ergänzen um Erhofftes und Unerhörtes, lässt es womöglich
jedoch im Laufe der Forschungen fallen.
Und es wird geforscht: Beschleuniger und Detektoren arbeiten.
„Die Daten kommen mit 7,5 Nanosekunden Abstand rein“, so
Bethke, „und ein Millionstel von ihnen wird aufgezeichnet.“
Routiniert räumt er ein, bislang sei nichts Neues entdeckt.
Der Erwartungsdruck ist riesig: Solch eine titanische Versuchsanordnung,
die Hypothesen durch Filter treibt, sollte wenigstens
unser Weltbild erneuern, um sich zu rentieren.
Siegfried Bethke aber, frei von Renditezwängen, gesteht gelassen,
am spannendsten wäre die Lage für ihn, falls der große Beschleuniger
überhaupt nichts Neues fände, denn Bewegung in
die Teilchenphysik käme auch dann – eine andere zwar als die
erhoffte, aber vielleicht sogar eine interessantere.
Um in Erinnerung zu rufen, wie wichtig Grundlagenforschung
ist, zeigt Bethke einen Cartoon, in dem der Vater seinem Sohn
erklärt, die Sonne ginge nur deshalb auf, weil sich morgens die
Luft erwärme und sie mit nach oben trüge, und sie sinke abends
wieder herab, weil die Luft dann abkühle. „Und warum wandert
sie von Ost nach West?“, fragt der Knabe. „Sonnenwind“,
lautet die Antwort.
Obwohl dieses Späßchen nicht viel mit jener galaxienweit von
jeder Alltagserfahrung entfernten Welt zu tun hat, in welcher die
CERN-Physiker nach Erkenntnissen suchen, merke ich, wie ich
Bethke um seine gute Laune beneide.
Am meisten beneide ich ihn um die scheinbar unkündbare Geborgenheit in seiner Materie: um die Fraglosigkeit von Fragestellungen,
um Aufgaben, die nicht er sich stellen muss, sondern
die sich ihm stellen. Um Befunde, die er in allgemein gültige
Formeln konvertieren kann, während in der Kunst jeder seine
eigene Währung ausgibt. Um seinen Arbeitsplatz in einem solchen
festumrissenen mentalen Bezirk. Aber auch um seine Kollision
mit den sagenhaften Abgründen der Leptonen, Quarks
und vielleicht dereinst Higgs-Bosonen – einem Zusammenprall
mit Elementarteilchen, bei dem sein Kopf vermutlich niemals
hohl klingt.
So stößt er vor ins Innerste der Materie.
Während der Professor, sympathisch und zuversichtlich, sich
immer wieder räuspern muss, hat ein guter Geist hinter seinem
Rücken ein Glas Wasser auf das Pult gestellt. Er bemerkt es lange
nicht.
SIMON MAGUS
Muskelmann Simon Magus sitzt vor zwei Handvoll Leuten in
einer Literaturwerkstatt und klopft die Versfüße Daktylus und
Trochäus auf den Tisch.
Er beherrscht die antike Metrik wie die Verstellung, denn sein
wahrer Name ist Johnny Barto Smith.
Gestern hat er vor mehr als tausend Leuten Klavier gespielt.
Alle Augen hingen an dem Hünen, während er spinnenbeinzart
die Tasten des Instruments anschlug und sich selbst und das Publikum
in Sensibilitäten einwob. Hier hängen wieder alle Augen an ihm.
Magus lebt doppelköpfig. Seine Karriere als Pianist hindert ihn
nicht daran, täglich viele Stunden an einem eigenen Werk weiterzuschreiben,
aus dem er jetzt vor verschwindend wenigen Menschen liest.
Er liest ein Gedicht, das im Rhythmus von Daktylen und Trochäen
über die Sterne klagt, sich dann lächelnd aufgegangenen
Schnürsenkeln zuwendet.
Die Versfüße arbeiten. Sie folgen dem, was ihnen auf dem Tisch
vorgeklopft wurde. Und Simon Magus gerät fast beiläufig, ohne
jede Ekstase, ins Levitieren. Während er vorträgt, was er geschrieben
hat, löst er sich aus dem Stuhl und beginnt vor dem
Fensterausschnitt des Abendhimmels und dessen eiskalten Sternen
zu schweben, macht keinerlei Aufhebens darum, fährt fort,
zu rezitieren, wobei die Lyrismen eines derart starken Mannes
nicht nur die Schwerkraft, sondern auch andere Gesetze der
Lüge überführen:
So muss der Geist offenbar weder in Hungerleidern noch in bebrillten
Handtüchern wohnen. Er wohnt, wo er will. Und zieht
er in grimmer Zärtlichkeit ein in einen, der sich gegen Schwäche
wehrt, indem er Kraft trainiert, so ist der Geist dort keineswegs
schlechter aufgehoben als in schmächtigeren Körpern. Vielleicht
lebt er sogar lieber an einem geräumigen Ort.
Magus liest. Mit antikem Schwung setzt er über zu heutigem
Leiden.
Er gestikuliert, schwingt mit dem Gelesenen mit.
Seine Haltung angesichts des beinahe leeren Raums ist mustergültig.
Konzentriert lässt er sein Publikum glauben, was es sieht und
hört: den Relativismus echter Dichtung.
Sterne, an Schnürsenkeln aufgehängt, schweben durchs Bild.
Zeit vergeht. Manchmal verlagert der eine oder andere sein Gewicht
auf dem Stuhl, um weniger schmerzhaft zu sitzen, denn
die Auswahl dessen, was Dichtung sein könnte, wächst sich aus
zum Epos, das zu balancieren dem Levitierten nicht mehr ganz
so leichtfällt. Hinter Wendungen, die viel miteinander verketten,
glauben zwei Handvoll Leute allmählich Muskelkatergrimassen
zu entdecken.
Johnny Barto Smith alias Simon Magus ist zu Hause auf einer
Ranch in Florida. Dort lässt er sein Werk in Stein meißeln. Zwinkernd
will er überdauern, indem er 3367 Granitstelen errichtet,
die seine Dichtung tragen, wohl nur langsam verwitternd unter
der ewigen Sonne, 3367 Granitstelen, konzeptionell verteilt im
Imaginären, das in Florida immer ein trockengelegter Sumpf ist.
Smith braucht also keinen Verleger, sondern Steinmetze.
„Warum 3367 Stelen?“, werden sie fragen. „So viele Male ist
der Name Gottes im Alten Testament umschrieben“, würde
er antworten, falls er seine Spielregel preisgibt. Buchstabe um
Buchstabe seines Werks gelangt also in ein vielfaches Monument,
das gotteslästerlich haltbar aufragt – und doch nur ein
multiplizierter Grabstein ist, wie Johnny Barto Smith ohne
Zweifel weiß.
3367-mal wird er gegen dieses Wissen anrennen und es gleichzeitig
bewahren.
Ein Hüne trotzt dem Markt, der sein Werk nicht vervielfältigen
will, indem er Granit aufstellt, zwischen dem der Wind hindurchfährt
und singt.
In der Literaturwerkstatt schaukeln die Füße des Dichters vor
den Augen des Publikums. Noch hält er sich in der Luft. Silben,
lang oder kurz betont, Daktylen und Trochäen, viele von ihnen
mit antiken Anspielungen befrachtet, füllen den Raum.
Doch das Schwingende hat sich unversehens in Kraftmeierei
verwandelt.
Wie ein Autodidakt, der sich maßlos an seinem Können berauscht,
gerät der Mann, der den Künstlernamen eines Zauberers
trägt, zurück in die Schwerkraft.
Petrus bat Gott, den geschwätzigen Schweber Simon Magus hart
zu strafen: Dreifach möge er sich den Schenkel brechen.
Simon Magus wurde mit Steinen vom Himmel geholt.
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